Musik und Vergangenheit in Wien um 1900

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Schwierige, aber gewinnbringende Kost: Liegt es an einer Ahnung vom baldigen Untergang des Vielvölkerstaats Habsburgerreich und seiner Monarchie, dass um das Jahr 1900 herum ein heftiger Kampf um die Einschätzung der kulturellen Vergangenheit und deren Bedeutung für Gegenwart und Zukunft stattfand? Michael Meyer hat unter dem Titel Moderne als Geschichtsvergewisserung- Musik und Vergangenheit in Wien um 1900 verfasst, dass sich hoch anspruchsvoll und tief wissenschaftlich mit umfangreichem kritischem Apparat des Themas annimmt und dazu längst vergessene, aber auch noch heute beliebte Kunstwerke einer intensiven und ausführlichen Betrachtung unterzieht. Das hat natürlich auch zur Folge, dass an den Leser einige Ansprüche gestellt werden, und der nicht Fachkundige sollte zuerst die Anmerkungen unberücksichtigt lassen, wenn er den Faden nicht verlieren will.

Die Einleitung beruft sich auf Robert Musil und die Meinungen seiner Romanhelden über Kultur als gleichzeitigen Reichtum und gleichzeitige Last, auf das zur damaligen Zeit herrschende Gefühl von Kultur, an der Wien so überreich war und ist, zugleich von Reichtum und Last, an die Furcht vor Identitätsverlust angesichts vieler Neuerungen, nicht zuletzt in der Stadtarchitektur. Eindrucksvoll wird das Schwanken zwischen dem Bemühen um Geschichtsvergewisserung und Traditionsbruch geschildert, ein Überblick über bisher zum Thema erschienene Literatur gegeben.

Im Kapitel über sein Vorgehen berichtet der Verfasser zunächst nachvollziehbar über die von ihm verschmähten Methoden, bekennt sich zur Freude des Lesers zur klassisch historisch-hermeneutischen Betrachtungsweise, die er in den drei folgenden Kapiteln Urbanität und Fortschritt, Geschichte und Erneuerung und Distanz und Auflösung anwendet.

Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen steht nicht nur die Musik, sondern auch die Gebäude, in denen sie erklingt, werden berücksichtigt, also das Konzertgebäude des Musikvereins  und das Konzerthaus. Außerdem finden die großen Ausstellungen und Gedenktage die ihnen gebührende Beachtung, so die Jubiläumsfeiern für Schubert (1897) und Haydn (1909) und die große Internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen. In den Gebäuden, das eine im „griechischen Renaissance-Stil“, das andere im Empire-Stil errichtet, sah man durchaus „klassische Musik fürs Auge“.  Arbeitersinfoniekonzerte werden als Versuch einer neuen Klasse gesehen, neben Adel und Bourgeoisie Teilhabe an der Kultur zu gewinnen, Der Rosenkavalier entpuppt sich  gleichzeitig als Verklärung und als Quelle der Erneuerung und zugleich als Ironisierung. Die zweite, die Wiener Fassung der Ariadne auf Naxos, greift ebenfalls indirekt in die Auseinandersetzung um die Rolle der Kultur mit ein.

Für den willigen, aber nicht bereits auf das Thema spezialisierten Leser ist es nützlich, die vielen Hinweise auf bereits erschienene Sekundärliteratur außer Acht zu lassen und dem enger auf das Sujet bezogenen Roten Faden durch das Buch zu verfolgen, allerdings nicht ohne die aufschlussreichen Abschnitte über  die Deuter des Geschehens aus der Zeit selbst wie Eduard Hanslick, Robert Hirschfeld oder Guido Adler zu vernachlässigen. In diesem Zusammenhang ist es auch sehr interessant zu erfahren, dass die deutschen Arbeiterführer Lassalle und Karl (!) Liebknecht eine idealistische Kunstauffassung vertraten.  

Schon beinahe belustigend sind die erbitterten Kämpfe um die Deutungshoheit über den Wiener Walzer als Identitätsstifter und Zankapfel zugleich, das Phänomen, dass dieser zum Beispiel im zur Zeit Maria Theresias spielenden Rosenkavalier eine bedeutende Rolle spielt, obwohl er damals noch gar nicht existierte. Der Verfasser betrachtet auch die Rezeptionsgeschichte des Ballett-Divertissements „Wiener Walzer“, das als „Produkt des Aufblühens der modernen Geschichtskultur“ angesehen wurde, während mit der Haydn-Ehrung die Erinnerung an die Schlacht bei Aspern verbunden wurde, den ersten Sieg Österreichs über Napoleon.    

Hochinteressant ist die Zweiteilung der Meinungen über die Stellung der sogenannten „Wiener Moderne“, die einerseits als ein Wiederaufgreifen musikalischer Gesetze aus der Renaissancemusik gesehen wird, sich über ein Urteil wie das von Hanslick hinwegsetzend, für den Musik erst mit Händel und Bach interessant zu werden schien. Das ist nach Meyer jedoch nicht der einzige Grabenkampf nicht nur in der Wiener Gesellschaft, sondern genauso gespalten ist man auch in der Einschätzung der Wissenschaft und ihrer Erkenntnisse, die von den einen als purer Fortschritt, von den anderen als Verlust an Poesie oder gar Profanierung des Heiligen angesehen wird. In diesem Zusammenhang wird dann auch die Legitimierung der „Moderne“ in dem „Rückbezug auf ältere Musik“ gesehen. Mit unendlich vielen Beispielen weiß Meyer seine Thesen zu untermauern, den Leser bereichernd, aber manchmal auch überfordernd, der schmunzelnd feststellt, dass auch damals schon Der Merker ein Wörtchen bei der Auseinandersetzung um klassische Musik mitzureden hatte.

Im Mittelpunkt des Kapitels III steht dann die Operette Alt-Wien, die gleichermaßen Nostalgie und Spott auslöste, und der Leser erfährt schmunzelnd von der alten Fürstin Metternich, die im Walzer die machtvolle Waffe gegen die sich ausbreitende Tangoseligkeit sah.

Stefan Zweigs Zehn Wege zum Deutschen Ruhm und andere Beispiele zeigen, mit wie viel Esprit und feinem Florett diese Kämpfe ausgefochten wurden, nicht nur literarisch, sondern auch musikalisch mit einer Verhohnepiepelung der Kaiserhymne, was mit vielen Notenbeispielen nachgewiesen wird. Als Leser weiß man nicht, ob man die Österreicher dafür beneiden oder bemitleiden soll, dass sie kurz vor dem Zusammenbruch all der Kaiser-Vielvölker-Kultur-Herrlichkeit mit so großem Engagement den Kampf um die Deutungshoheit über den musikalischen Geschmack führen konnten, aber eigentlich ging es ja um wesentlich mehr, wie das Buch auch eindrucksvoll zu vermitteln weiß.   Ein umfangreicher Anhang beinhaltet Primär- und Sekundärquellen, Danksagung und Personenregister (245 Seiten, Bärenreiter Verlag 2021). Ingrid Wanja