Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Sternstunde

 

Man sollte beides genießen: die Live-Aufführung des Rosenkavaliers in der Berliner Staatsoper wie die Videoaufzeichnung davon, denn wenn die erstere den Zuschauer schier atemlos in der Bewunderung von  Formen und Farben des opulenten Bühnenbilds von Xenia Hausner , der phantasievollen Kostüme von Arthur Arbesser zurücklässt, bereichert ihn die letztere durch das Geschick des Video Directors Felix Breisach, die handelnden Personen aus der Überfülle der optischen Reize herauszudestillieren, das Stück zum bitter-süßen Kammerspiel werden zu lassen.

André Heller, selbst noch relativ unerfahren in der Opernregie, hatte  sich als Co-Regisseur  den auf der DVD unterschlagenen Wolfgang Schilly an die Seite geholt, und gemeinsam gelingt es ihnen durch eine einfühlsame Personenregie, japanisches Schlafgemach, neureiches Stadtpalais mit Klimt samt Entourage und orientalisches Palmenhaus aus dem letzten Jahr der Donaumonarchie zum Hintergrund  für menschliche Emotionen, Tragödien wie Komödien werden zu lassen. Ideal wie auch in der Live-Aufführung dank des einfühlsamen Dirigats von Zubin Mehta ist die Ausgewogenheit von Orchester- und Stimmklang, nie werden die Sänger zugedeckt, sie haben alle Zeit, kostbare Stücke wie den Monolog der Marschallin im 1. Akt zu entwickeln, Textverständlichkeit wird nicht der Opulenz des Orchesterklangs zum Opfer gebracht und Regisseurseitelkeit strebt nicht danach, das Vorspiel zum 3. Akt zu „inszenieren“. Bei diesem hat der Zuschauer auch die Gelegenheit, die sympathische, zurückhaltende Art des Dirigierens zu beobachten, zu sehen und zu  hören, wie elegante Duftigkeit und üppiger Glanz aus sparsamer Zeichengebung erwachsen.

Fast fünf Stunden dauert die Aufführung ohne Striche, also auch mit dem brutal-selbstverliebten Bericht des Ochs von Lerchenau über seine Art, sich die Mägde seines Guts gefügig zu machen. Da dürfte der Zuschauer hin- und hergerissen sein zwischen Abscheu angesichts der mitleidslosen Brutalität verbunden mit dem Charme, den Günther Groissböck der hier durchaus zwielichtigen Figur zu verleihen versteht, verbunden mit einer so schlank geführten wie bis in die tiefsten Tiefen hinunter höchst präsenten Bassstimme.

Eine nicht nur wegen ihrer phantastischen Kostüme höchst attraktive Marschallin ist Camilla Nylund mit schlankem, kühlem Sopran und unendlich vielen vokalen Facetten wie des feinen Tongespinsts „Rose“ am Schluss des 1. Akts, des akustischen  Schleiers über „vorbei“ im 3. Akt. Nicht zu soubrettig ist die hübsche Sophie von Nadine Sierra, eher ein lyrischer Sopran, der den Wandel der Klosterschülerin zur selbstbestimmten jungen Frau glaubwürdig machen kann. So androgyn der Mezzosopran von Michèle Losier klingen kann, wenn sie Männerhosen trägt, so herrlich süffig hört sich ihr Mariandl an, kann sie auch darstellerisch die doppelte Brechung von einer Frau, die einen Mann darstellt, der eine Frau spielt, vermitteln. Roman Trekel ist der neureiche Faninal im Goldanzug und mit kultiviertem Gesang. Anna Samuil ist mit der Leitmetzerin im Charakterfach angekommen. Karl-Michael Ebner und Katharina Kammerloher singen und spielen rollengerecht Valzacchi und Annina, das Intrigantenpaar. Atalla Ayan bemüht sich um Tenorglanz als Italienischer Sänger. Daneben gibt es viele, viele durchweg gut besetzte Rollen, die leider auf der Rückseite der Videokassette ohne Booklet nicht aufgeführt sind und die man doch dankbar für die wunderbare Aufführung lobend erwähnt hätte. Aber vielleicht ist das nur bei dem Besprechungsexemplar so. Festzustellen bleibt, dass man in den letzten Jahrzehnten selten so glücklich aus einem Opernhaus kam oder einen Videorecorder abschaltete wie nach dem Genuss dieser Aufführung (Arthaus 109445). Ingrid Wanja  

Und noch eine …

 

Einen Riesenpublikumserfolg garantiert immer noch, wenn so gut gemacht wie an Londons Opernhaus Covent Garden, Mozarts Zauberflöte, und selbst hundertmal belachte Scherze Papagenos finden immer wieder dankbare Zuhörer. Dabei ist auch dieses Werk nicht ohne Fallstricke und könnte den Zorn von Feministinnen und Cancel Culture Verfechtern erwecken mit Sarastros oder des Sprechers, von Tamino kritiklos aufgenommen und wiedergebenen, Aussagen. Obwohl von Schikaneders Weltoffenheit zeugend, der durch Papagenos Mund schwarzen Menschen wie schwarzen Vöglen ihre Daseinsberechtigung garantiert, wird in London aus dem Mohren Monostatos ein einem blassweißen Nosferatu ähnlicher Höfling und aus dem „weil ein Schwarzer hässlich ist“ wird ein  „weil ein Sklave hässlich ist“. Ansonsten hat im September 2017 Thomas Guthrie die Produktion von David MacVicar angenehm aufgefrischt, entfaltet die Bühne von John MacFarlane märchenhaften Zauber, sorgt die Lichtregie von Paule Constable für wohliges Erschauern bei den Proben, die Tamino und Papageno bestehen müssen.

Zufriedenstellen bis sehr gut ist die Besetzung. Von der Deutschen Oper Berlin kennt man die Australierin Siobhan Stagg, die eine bezaubernde Pamina ist, deren leuchtender lyrischer Sopran ein strahlendes „die Wahrheit“ verkündet, eine schöne Arie  mit feinen Piani und ein sehr zärtliches „Tamino“ singt. Dieser ist Mauro Peter, ein ansehnlicher  Märchenprinz mit angenehmem Tenor, empfindsam in der Bildnisarie, allerdings nicht immer ganz frei in der Tonproduktion. Auch ohne jede weanerische Attitüde kann Roderick Williams die Zuneigung des Publikums mit den üblichen Späßen gewinnen, verliert nicht einmal dessen Sympathie durch Vogelmord und darf sogar einmal das Wandern als des Müllers Lust intonieren. Seine Papagena Christina Gansch tritt gleich mit einer Schar im Libretto doch nur angedachter Kinder auf. Den größten Applaus heimst die Königin der Nacht von Sabine Devielhe ein, obwohl die Sopranstimme recht dünn klingt, aber die Koloraturgeläufigkeit, die Souveränität im Umgang mit den Extremhöhen sind  erstaunlich . Eine gewaltige Röhre setzt der Bass Mika Kares für den Sarastro ein, in der Tiefe brummelig, ansonsten hart und hölzern klingend, da hätte man sich mehr vokalen Balsam gewünscht. Auch sein Sprecher Darren Jeffery ertönt recht dumpf, während der Tenor von Peter Bronder eher dünn als prägnant erscheint. Gut aufeinander abgestimmt sind die drei Damen mit Rebecca Evans, Angela Simkin und Susan Platts, natürlich Publikumslieblinge die drei Knaben. Julia Jones steht am Dirigentenpult, und was man aus dem Orchestergraben hört, klingt so angenehm wie angemessen, sieht man die Dirigentin, so erscheint ihre Zeichengebung  als eine besonders fürsorgliche (Opus Arte OA1343D). Ingrid Wanja

 

Halb Flotows Martha, halb Monty Python’s Flying Circus ist die Produktion von Mozarts allzu dokumentierte Oper  Die Zauberflöte für die Glyndebourner Festspiele im Jahre 2019 in der Regie und mit dem Bühnenbild von Barbe & Doucet, wer immer das sein mag. Die Geschichte ist in einem viktorianischen Hotel angesiedelt, Sarastro ist der Chefkoch, und Taminos und Paminas Bestreben richtet sich auf die Aufnahme in die edle Gesellschaft der Sterneköche. So besteht die endgültige Entscheidung auch nicht aus dem Bestehen von Feuer-und Wasserprobe, sondern aus dem Kochen eines Gerichts mit anschließendem Abwasch. Die Verlegung in ein Hotel früherer Zeiten hilft auch aus der Verlegenheit, den Monostatos als Schwarzen auftreten zu lassen zu müssen, er ist nun Heizer und dadurch nur vom Ruß geschwärzt, so dass niemand Rassismus wittern kann. Die Königin der Nacht und ihre Damen kämpfen für das Frauenwahlrecht und dürfen zum Finale mitfeiern. Das ist alles sehr lustig und abwechslungsreich, vor allem weil neben den Sängern auch allerlei Pappfiguren und Marionetten auftreten (Patrick Martel), Groteskes und auch ab und zu Obszönes geboten wird und immer wieder überrachende Gags die Aufmerksamkeit wachhalten. Die humane Botschaft des Stücks allerdings ist nun, erdrückt von Jux und Tollerei, nicht mehr wahrnehmbar. Unterhaltsam ist die Aufführung ohne jeden Zweifel.

The Orchestra of the Age of Enlightenment unter Ryan Wigglesworth spielt einen frischen, espritreichen Mozart, der Glyndebourne Chorus unter Aidan Oliver hat sichtlich und hörbar am munteren Spiel wie am Singen Freude.

Der Tamino von David Portillo, zunächst im Schlafanzug, dann in karierten Knickerbockern, aber immer mit bravem Krägelchen, singt nicht ganz akzentlos, aber empfindsam die Bildnisarie, hat mehr Schmelz in seinem Tenor, als ein englischer Mozarttenor wohl aufzubieten hätte. In der Höhe wird die Stimme etwas eng. Eher ein Koloratursopran als ein lyrischer mit entsprechender Wärme in der Stimme ist Sofia Fomina, die Pamina, die so auch in ihrer Arie etwas gläsern-kühl wirkt. Auch Caroline Wettergreen ist nicht die ideale Königin der Nacht, dazu ist er Sopran zu soubrettig, man wünscht ihn sich einfach dramatischer. In ihrer ersten Arie will sie noch höher hinaus, als man es gewöhnt ist, und wird dann schrill, perfekt gelingt Der Hölle Rache. Gut aufeinander abgestimmt sind die drei Damen mit Esther Dierkes, Marta Fontanals-Simmons und Katharina Magiera. Brindley Sherrat hat trotz komischer Kochmütze die optische Autorität für den Sarastro, der Bass klingt mittlerweile etwas schütter. Verquollen hört sich die Stimme von Michael Kraus für den Sprecher an, sehr präsent ist auch vokal Jörg Schneider als Monostatos. Obwohl natürlich Weanerisches gegenüber einem englischen Publikums seine Wirkung verfehlen würde, kann sich Björn Bürger als Papageno auch mit Hochdeutsch und einer schönen Baritonstimme zum Zentrum des Geschehens und zum Publikumsliebling machen. Alison Rose ist ihm eine attraktive Partnerin als Papagena. So kann man Zauberflöte machen, muss man aber nicht unbedingt Opus arte (OABD 7268D). Ingrid Wanja     

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Der Kini höchstpersönlich lässt sich von Zettler, dem Ersten Hofillluminator, und Klarei, dem Chef des Livrées, in die Geheimnisse der neuen Theatertechnik einführen und besteht auf einer Lichtprobe. Er ist entzückt von den neuen technischen Möglichkeiten. Dann erreichen bereits die  ersten Gäste die Herreninsel (Bühne: Volker Thiele). Gräfin Larisch-Wallersee, die Erbprinzessin von Thurn und Taxis und die Freifrau Truchsess von Wetzhausen gehen auf Position. Schon eilt Kaiser Franz Joseph II. in seiner Paradeuniform als Tamino durch den Park und lässt sich von den drei adeligen Damen, die sich nach ihrem kurzen Auftritt mit einer Maß stärken, aus seiner Ohnmacht wecken. Es ist mehr als nur eine hübsche Idee, die Enoch zu Guttenberg dieser bayrischen Zauberflöte zu Grunde legte, indem er ein Fest des Märchenkönigs im Spätsommer 1884 auf Herrenchiemsee mit der Tradition der in Adelskreisen beliebten Scharaden verband, bei der die Adeligen in die Theaterrollen schlüpften, zum Ausgangspunkt eines Spiels im Spiel und einer zumeist kurzweiligen Inszenierung der zu Des Königs Zauberflöte umfunktionierten Zauberflöte machte – erstmals 2010 in Herrenchiemsee sowie im November 2013 im Münchner Prinzregententheater. Ich gebe zu, ich hatte das zuerst für eine der üblichen Zauberflöten-Fassungen für Kinder gehalten.

Mit Jankerl und Alltagskleidung führt ein altersloser Papageno durch das Geschehen, was der mit allen komödiantischen Wassern gewaschene Gerd Anthoff mit der raumgreifenden Fabulierkunst des Volksschauspielers und geistreichen Seitenhieben auf Opern- und Weltgeschehen bewerkstelligt. Er dient als Scharnier zwischen den einzelnen Zeit- und Spielebenen. Sein singendes Alter Ego ist Max Emanuel Herzog in Bayern (Jochen Kupfer), der jüngste Bruder der Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn. Sie selbst, Sissi, spielt die Pamina, der Franzl, Kaiser Franz Joseph I., ist, wie gesagt, der Tamino, Cousin Ludwig II. übernimmt den Sarastro (Tareq Nazmi). Jörg Dürrmüller, der einen reifen Tamino und Franz Joseph gibt, und Susanne Bernhard, können nicht das Karlheinz Böhm- und Romy Schneider-Bild ersetzen; doch am meisten vermisst man als Erzherzogin Sophie von Österreich, die selbstredend die Königin der Nacht gibt, die spätere Doyenne des Josefstädter Theaters Vilma Degischer. Es fehlt auch eine Hand, wie die Ernst Marischkas, der zwischen Kitsch und Kunst, zwischen historischer Plausibilität und „so könnte es gewesen sein“ etwas mehr Ordnung in das brillant ausgetüftelte Geschehen und seine weltpolitische Dimension bringt.

Das Beiheft der DVD (FARAO Classics A 108095) nennt Enoch zu Guttenberg für die Musikalische Leitung und Inszenierung, es singt die Chorgemeinschaft Neubeuern, es spielt das von Guttenberg 1967 gegründete Orchester KlangVerwaltung. Anfangs witzelt der Dirigent mit Anthoffs Papageno, der die „wahre Geschichte der Zauberflöte“ erzählt und auf erfrischende Weise auf Distanz zu dem esoterischen Geschwätz der Eingeweihten und den freimaurerischen Ritualen geht. Den Text hat ihm Klaus Jörg Schönmetzler vorgeschrieben, die Dialoge wiederum stammen von zu Guttenberg und Schönmetzler.  Die feinsinnig erdache und bewusst amateurhaft angezettelte Aufführung bewegt sich trotz aller netten Ideen – Otto Fürst Bismarck, welchen Papageno als „gescheiter als wie hier alle zusammen“ vorstellt, spielt den Pickelhauben-Monostatos (Martin Petzold) – doch in den Bahnen einer braven Liebhaber-Aufführung aristokratischer Theater-Fans. Enoch zu Guttenberg dirigiert diese Zauberflöte als drastisch zupackenden, in der Szene der Geharnischten – mit dem preußischen Kronprinzen und dem später in Sarajewo ermordeten österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand – bedrohlich überdüsterten Theaterspaß, an dessen Gelingen Susanne Bernhard, Antje Bitterlich, der edle Tareq Nazmi, Jörg Dürrmüller, Jochen Kupfer als hoch besetzter, schuhplattelnder Papageno, Martin Petzold als Monostatos, die drei Damen Miriam Meyer, Olivia Vermeulen und Heike Andersen sowie Gudrun Sidonie Otto als Papagena, als deren mögliche historische Darstellerin die Macher die ungarische Schauspielerin Lila von Bulyovsky ausgemacht hatten, großen Anteil haben. Zu den „Strahlen der Sonne“ erscheint Sissi dann endlich im Sternenkleid (Kostüme: Claudia Krämer, Ingrid Bettega, Brigitte Huber).        Rolf Fath

„Schön, dass es viel zu tun gibt!“

 

Der in Berlin ansässige Komponist Max Doehlemann ist in vielen Genres tätig, hat aber eine besondere Vorliebe für Vokalkompositionen. Neben dem Musiktheater bespielt er vor allem auch Genres wie das Kunstlied, das heute in einer Krise zu sein scheint. Über die Frage, was das Lied im 21. Jahrhundert noch erhaltenswert erscheinen lässt, und warum jüdische Inhalte in der zeitgenössischen Musik so selten thematisiert werden, hat sich René Brinkmann mit dem Berliner Musiker unterhalten.

 

Sie sind einer der wenigen zeitgenössischen Komponisten, die sich immer wieder dem Thema „Lied“ in verschiedensten Besetzungen angenommen haben. Ist das Kunstlied heute lediglich etwas aus der Mode oder was hindert Komponistinnen und Komponisten daran, das Genre zu bespielen? Ich finde, dass es schon sehr interessante Lied-Kompositionen von „Zeitgenossen-Kollegen“ gibt. Ich arbeite ja viel mit Sängern, manchmal auch als deren Klavierbegleiter – da kam mir schon manches großartige, aktuelle Lied-Werk unter die Finger. Aber generell haben Sie recht, das Genre scheint irgendwie aus der Zeit gefallen…Vielleicht fehlen im Musikleben heute dazu ja Räume und Konzert-Formate. Auch Attitüden der Zeit könnten eine Rolle spielen: Neben einem Singer-Songwriter, der scheinbar „befreit“ über sich und seine Probleme singt, wirken klassische Liedabende auf viele heute vielleicht steif und künstlich. Ich halte das für einen Irrtum.

Oder auch: Viele Komponisten heute suchen sehr spezielle Herausforderungen. Sie begründen, mal böse gesagt, ihre Ästhetik oft eher mit Vermeidung von Tradiertem, als mit dem Wunsch, selbst eine originäre, eigene musikalische Sprache zu sprechen. Es fragt sich nur, ob man so -allein durch Vermeidung – zu echtem, persönlichem Ausdruck findet. Ich glaube: nein. Lied-Komposition verlangt Formung und man muss wie in einem Musik-Labor quasi eine musikalische Essenz entwickeln. In unserer Zeit-Ästhetik wollen sich viele aber nicht festlegen, sie trauen dem eigenen musikalischen Ausdruck im Grunde nicht so recht und bevorzugen deshalb wabernde, offenere Formen. Vielleicht auch ein Grund?

Was sind denn aus Ihrer Sicht die besonderen Herausforderungen für Komponisten im 21. Jahrhundert in Bezug auf Vokalkompositionen, abseits der Oper? Mir fällt dazu ganz praktisch ein, dass es doch ganz verschiedene Arten des Singens gibt, die praktiziert werden. Neben klassischem Gesang gibt es Musical-Gesang, Jazz, Rock oder auch Rap – ganz zu schweigen von den Gesangs-Arten anderer Kulturen. Es gibt in Europa schon lang keine klare Formung mehr in die Richtung, dass man die klassische Art zu singen (wie in Oper oder Oratorium) als Leitbild oder besonders zentrale Kunstform ansieht. Singen ist natürlich per se eine menschliche Grund-Äußerung und ein Grundbedürfnis jeder Kultur, aber wenn eine Kunstform daraus wird, kann sich das sehr unterschiedlich anhören. Die damit verbundenen musikalischen Horizonte sind total verschieden.

Ich selber habe zum Beispiel auch schon Musical-Songs komponiert, habe jahrelang mit singenden Schauspielern gearbeitet (besonders am Berliner Ensemble). Jazz ist mir auch nicht fremd und ich habe in Projekten gespielt mit orientalischen oder nordafrikanischen Sängern. Wenn ich als Komponist dann immer wieder „zeitgenössisches Kunstlied“ entwickelt habe, geschah das aus einer Erfahrung von Vielfalt heraus. Ich denke, viele Musiker heute gehen solche verschlungenen Wege durch verschiedene Stilwelten. Es gibt eine große Freiheit, Musik kann so vieles ausdrücken – und natürlich auch Schönheit. Eine Gefahr liegt vielleicht darin, dass man im künstlerischen Weg durch die große Welt der Möglichkeiten Abkürzungen nimmt, ohne die Welten wirklich durchdrungen zu haben – da kommt als schlechter Mix so eine Verflachung oder „Verpoppung“ dabei heraus. Letzteres bitte nicht falsch verstehen: Ich habe grundsätzlich nichts gegen Pop, wohl aber gegen eine anbiedernde Verpoppung, die ich zutiefst ablehne – ein wichtiger Unterschied ist das für mich!

Ich könnte mir vorstellen, dass auch die Wahl des Textes eine Rolle spielt, denn ähnlich wie das Lied in der Musik ist in der Literatur auch die Lyrik schon seit Jahren in einer Krise: Die großen Verlage veröffentlichen nicht mehr sehr viel moderne Lyrik, die anscheinend auch vom Publikum nicht mehr viel nachgefragt wird. Da hatten es die romantischen Komponisten zur Hoch-Zeit des Liedgenres schon besser, oder? Nachdem Bob Dylan für seine Songtexte den Literatur-Nobelpreis bekommen hat, könnte man vielleicht auch der Meinung sein, dass sich die Idee „Lyrik“ eben auch eher in den Bereich des Pop verlagert haben könnte. Viele Singer-Songwriter machen doch auf ihre Weise moderne, vertonte Lyrik. Das klassische Kunstlied-Genre ist sicherlich eine Musik mit viel größerer harmonischer und melodischer Komplexität – diese Art, Musik zu denken, war im 19. Jahrhundert konkurrenzlos anerkannt. Dann hat sich die klassische Musik des 20. Jahrhunderts vielfach in sehr spezielle Richtungen entwickelt – Richtungen, die nur selten das ins Zentrum gerückt haben, was die menschliche Stimme ausmacht. So gesehen hatten es die Romantischen Komponisten wohl wirklich besser. Es gab damals einen viel klareren, vorgegebenen Stilrahmen, den das Publikum auch verstand. Auch Stilbrüche oder sogar Umbrüche waren da leichter. Aber jede Zeit hat ihre interessanten Seiten, und genauso die heutige!

Inwiefern muss es denn überhaupt Lyrik von heute sein? Ist es nicht auch interessant sich einen, sagen wir, Heine-, Goethe- oder Schiller-Text herzunehmen und diesen mit moderner Musik neu zu interpretieren? In meinem Zyklus „Orte“ (davon ist gerade eine Studioaufnahme entstanden) habe ich unter anderem tatsächlich einen Goethe-Text vertont. Außerdem Trakl. Ich habe auch schon Paul Valéry, Shakespeare oder Eugenio Montale zur Grundlage genommen, meist in der Originalsprache. Oder Robert Gilbert, oder auch Jahrtausende alte Psalmen. Natürlich geht das alles. Aber es zählt bei jeder Komposition die Einzel-Lösung. Die Musik muss immer wieder individuell auf die Welten des Textes eingehen, was hätte es sonst für einen Sinn?

Auf Ihrem neuen Album „Ruach“, einem Doppelalbum, dass Sie sich mit dem Schweizer Komponisten Bo Wiget sozusagen teilen, gehen Sie ausgehend von diesem Wort aus dem hebräischen Bibel-Text auf eine recht komplexe und zum Teil ziemlich ironische Spurensuche nach der Bedeutung dieses Worts, das – wenn ich das richtig verstanden habe – einerseits in einer gewissermaßen metaphysischen Sicht als „Geist Gottes“ gedeutet werden kann oder aber auch ganz schlicht und einfach als „Wind über dem Wasser“. Ist das so in etwa richtig erfasst? In der traditionellen jüdischen Haltung ist es absolut üblich, hebräische Traditions-Worte auf ihren Bedeutungsgehalt abzuklopfen. „Ruach“ ist so ein Wort, es kann heißen „Geist“ (so verstanden es aber eher die Christen), hat aber auch andere Bedeutungen. Maimonides oder Spinoza begründeten den Rationalismus, indem sie so Schlüsselworte der hebräischen Bibel auf ihre Bedeutung hin diskutierten – eine Tradition, die das Christentum meines Wissens nicht kennt. Ich selbst bin ja Mitglied der Jüdischen Gemeinde. Ich toure viel als Klavierbegleiter eines Rabbiners mit Kabarett-Programm, Ironie gehört schon deshalb zum Tagesgeschäft. Natürlich reflektiere ich auch viel ernsthaft über jüdische Inhalte. Ironisch bei meinen Stücken auf der CD ist wohl vor allem das erste enthaltene Stück, meine Kantate „Der Bär antwortet“ (nach einem Text von Sören Heim). Das ist eine feierliche, pantheistische Hymne an das Sternbild des Großen Bären – für Sopran, Orgel und Trompete. Bo Wiget hat natürlich auch einen feinen Sinn für Humor, auch er ist ja bisweilen im kabarettistischen Bereich tätig. Nur wichtig: Nur, weil manchmal etwas ironisch klingt, heißt das lange noch nicht, dass es nicht auch ernst gemeint sein kann.

Wie kamen Sie denn auf die Idee, von diesem Bibelbegriff aus der Genesis ausgehend, Instrumentalmusik und Lieder zu kombinieren? „Ruach“ hat viele Bedeutungen:  Geräusch, Lärm, Wind, Atmosphäre, Stimmung. Nicht unbedingt nur „Geist“. In anderen Kontexten (zum Beispiel im von mir hebräisch vertonten jüdisch-liturgischen Text „Uwa Lezion“) heißt es eher „großer, donnernder Krach“. Ich finde, gerade in diesem Spannungsfeld Geist (christliche Interpretation) versus Wind (jüdisch-rationalistische Interpretation) hat das Wort eine besondere Aura, mal frei nach Walter Benjamin gesagt. Bo und ich haben länger nach dem passenden Titel gesucht, wir waren zwischendurch schon, weil wir beide so gern Tee trinken, bei „TeeOLogische Reflektionen“ (da sollte man uns beide auf dem Cover mit Teetasse sehen, ich hatte sogar schon einen Fototermin dafür klargemacht). Aber Ruach drückt dann doch besser aus, was diese Zusammenstellung ausmacht..!

Was ich interessant finde, ist, dass die jüdische Kultur in der Musik des 21. Jahrhunderts bis dato deutlich seltener öffentlich wahrgenommen wird als beispielsweise in der Literatur, wo es nach meinem Eindruck eine lebhafte Beschäftigung mit jüdischen Themen gibt, die immer wieder auch für Diskurse in den Feuilletons sorgt – wie beispielsweise erst kürzlich beim Konflikt zwischen den Publizisten Max Czollek und Maxim Biller, auch, wenn dieses Beispiel nun ein eher unerfreuliches ist. Im Prinzip kann man sich aber ob solch breiter Aufmerksamkeit aus Sicht eines Musikschaffenden doch nur wundern: Wo sind denn die Feuilletonisten in Bezug auf die neueste Musik mit jüdischen Themen? Gibt es denn da gar nichts zu diskutieren oder wenigstens zu entdecken? Zum Thema Czollek/Biller möchte ich mich nicht äußern, obwohl ich eine Meinung dazu habe. Sie sprechen von Musik „mit jüdischen Inhalten“ – das finde ich gut formuliert, denn es ist ja durchaus fraglich, was jüdische Musik per se überhaupt sein soll. Jüdische Inhalte kommen in der öffentlichen Debatte, in Zeitungsartikeln und so weiter ja durchaus vor, aber selten dabei geht es darum, was jüdische Kultur, was jüdische Perspektiven tatsächlich aus sich selbst heraus auszeichnet. Diese Perspektiven fehlen im Bildungskanon, ganz besonders im Bereich der Musik – vielleicht hat hier insgeheim immer noch Richard Wagner die Lufthoheit? Im 19. Jahrhundert wurde Jüdisches von Musikschriftstellern wie Hugo Wolf und anderen verächtlich gemacht – das könnte fortwirken. Ein Mendelssohn- Bartholdy konnte zwar genau wie ein Gustav Mahler oder Heinrich Heine den Platz im allgemeinen Bildungskanon einnehmen, aber nur, weil sie alle zum Christentum konvertierten und nichts oder wenig explizit Jüdisches produzierten (sie wurden trotzdem weiterhin als Juden angesehen). Die Leute heute wissen überhaupt nicht, was „jüdisch“ alles bedeutet oder bedeuten kann. Vor der NS-Zeit gab es deutsch-jüdische Denker mit Weltgeltung, die über explizit jüdische Inhalte schrieben – etwa Gershom Scholem oder Franz Rosenzweig. Wir wissen, wie die Geschichte weiterging. Auch heute werden natürlich fantastische Bücher geschrieben, so hat etwa der Philosoph und Judaist Christoph Schulte, (mit dem ich auch befreundet bin) ein tolles Buch über den kabbalistischen Begriff des Zim Zum geschrieben. Das Thema kommt auch auf der CD vor! Doch all das hat in der Musikwelt erstmal keine Relevanz. Man billigt dem Judentum musikalisch jenseits von Klezmer nicht allzu viel zu. Auch nicht, dass es völlig andere Sichtweisen beinhalten kann, dass ganz eigene geistige, kulturelle oder auch spirituelle Welten inbegriffen sein können. Vielleicht kann ich in meiner kleinen Welt ja dazu beitragen, dass sich das ändert. Es gibt die kabbalistische Idee von verstreuten Funken, die es aufzusammeln gilt – diese Vorstellung mag ich sehr.

Inwieweit ist überhaupt Ihr Selbstbild mit dem Begriff „Neue Musik“ vereinbar? Sie selbst entstammen ja nicht einer „typischen“ Komponisten-Laufbahn… Ich finde den Begriff „Neue Musik“ abgenutzt. Sicher mag es Zeiten gegeben haben, wo der Aufbruch in unbekannte Gefilde aufregend und interessant war. Auch ich habe eine Menge ausprobiert, merkte aber eigentlich schon zu Studienzeiten in den frühen 90ern, dass ich mit der intellektualistischen, vor allem zur Klangcollage neigenden Haltung vieler Kollegen nichts anfangen konnte. Ich fand diese Musik kalt und sie erzählte für mich nichts. Ich war dann über Jahre eher mit Buchautoren befreundet als mit Komponisten-Kollegen. Ich habe Filmmusik gemacht und langjährig an Sprechtheatern gearbeitet (an Opernhäusern übrigens auch, aber weniger). Herausgekommen ist dabei eine kompositorische Haltung, dass ich mit Musik unbedingt etwas ERZÄHLEN will. Ich habe nichts gegen eine experimentelle Haltung, ich mache das selber ja auch – suche aber Anlass und Inspirationen dazu mehr im Theatralischen und Performativen als in der Montage von Klängen.

Max Doehlemann und Rabbi Walter Rothschild/doehlemann.berlin

Wie entgegnen sie der häufig vertretenen kritischen Position, die moderne Literatur hätte es geschafft, ein Publikum bei der Stange zu halten, die moderne Musik jedoch nicht? Ich finde, dass diese Position leider nicht völlig von der Hand zu weisen ist. Was mich übrigens an der Haltung mancher Neue-Musik-Kollegen immer besonders gestört hat, ist dieser insgeheime Erziehungs-Anspruch, also diese Behauptung, ihre Musik sei perfekt so, aber das Publikum noch nicht so weit und müsse irgendwo „hingeführt“ werden. Ich dagegen möchte mit meiner Kunst niemanden erziehen. Sollte jemand sie nicht mögen, ist das O.K. und es ist nicht nötig, dann am Hörer nachzubessern. Voraussetzung ist natürlich schon, dass man solcher aktueller, nicht-kommerzieller Musik überhaupt eine Chance gibt – also dass man sie ernsthaft und mit offenen Sinnen anhört. Vielleicht auch zweimal. Dafür, dass das passieren kann, muss man Gelegenheiten schaffen. Und vorhandene Gelegenheiten unbedingt pflegen und erhalten.

 Sie haben in diesem Interview ja nun die Gelegenheit für Ihre und die Musik Bo Wigets zu sprechen: Wen geht Ihre Musik an, wer sollte sich Ihre Musik anhören? Grundsätzlich jede oder jeder mit Interesse an Musik jenseits von Hintergrund-Berieselung. Wer für gute Party-Stimmung sorgen will, sollte vielleicht lieber eine chillige Jazz-CD einlegen (habe ich auch schon gemacht). Hier, bei „Ruach“, muss man richtig zuhören. Vielleicht bei längeren Fahrten im Auto oder in der Bahn? Gern auch zu Hause. Es besteht die Chance, gut unterhalten zu werden, vielleicht Anregungen zu erfahren oder neue Perspektiven zu gewinnen. Es gibt auch eine philosophisch-religiöse Perspektive, angesprochen fühlen dürfen sich gleichermaßen Religiöse, „Aber“-Gläubige, Atheisten oder Spötter. Ich denke, es gibt nicht nur wegen Corona ein Bedürfnis nach tieferer Reflektion, Sinnfragen und dergleichen. Vielleicht kann man sich mit unserer Musik so beschäftigen, wie man es mit einem Buch kann. Die Frage, wie man das jetzt alles in Marketing-üblichen Begriffen taggen kann, war für uns offen gestanden zweitrangig.

Sie sind, wenn ich richtig informiert bin, als Komponist ausgehend von Berlin aktiv. In meiner Wahrnehmung gibt es in Berlin eine sehr vitale Szene zeitgenössischer Musik, die aber weniger wahrgenommen wird, als die klassischen „Leuchttürme“ der Neuen Musik in Donaueschingen, Darmstadt, usw. Woran liegt das? Ist die klassische Musik in Berlin so omnipräsent, dass sich die Feuilleton-Redaktionen ein leichtes Leben machen können, indem sie immer nur über die Konzerte der Weltstars berichten? Berlin ist überhaupt sehr voll mit Kultur. Hier finden (sehen wir mal von der Corona-Zeit ab) täglich so viele Veranstaltungen statt, dass man einzelne oft kaum noch mitkriegt. Dann ist Berlin ja vieles: Hauptstadt, Flickenteppich, zerrissen durch die Geschichte, es gibt überall viel Fluktuation – wenig Ruhe und Konstanz. In etwas ruhigeren, kleineren Orten ist neue Musik vielleicht besser wahrnehmbar. Was die Feuilletons angeht: ich habe den Eindruck, dass die heute auch mehr in Richtung „Star“-Vermarktung tendieren, als dass sie lebendigem Kulturleben oder wichtigen Gegenwartsdebatten der Kultur (jenseits einiger Reizthemen) einen größeren Raum einräumen. Gleichzeitig scheint es im Musikbereich ungeheuer fest gefügt zu sein, wer oder was als wichtig und relevant angesehen wird. Während im Literaturmarkt andauernd interessante, neue Talente in den Medien auftauchen, geht es in zumindest der Klassischen Musik ziemlich altväterlich zu: Da ist nur das gut und bewährt, was man kennt und was schon mindestens 75-mal besprochen wurde.

 Ist es abseits der großen Metropolen einfacher für zeitgenössische Komponisten, sich zu etablieren? Es fällt ja doch auf, dass viele der Zentren für zeitgenössische Kultur eben nicht in den klassischen Kulturmetropolen entstanden sind, sondern eben in Städten wie Darmstadt, Kassel, Donaueschingen usw. Das ist schon möglich. Aber dass ich zum Beispiel in Berlin wohne, heißt ja nicht, dass deswegen jetzt alle Stücke nur in Berlin gespielt werden oder werden sollten. Sie haben natürlich recht, dass es in Deutschland kleinteilige regionale Netze gibt, mit Hilfe derer entsprechende Komponisten oft langjährig promotet werden und dann irgendwann als „etabliert“ gelten. Ich habe leider über solche Netze nie verfügt.

 Anschließend: Was sind Ihre Pläne für die nähere Zukunft? Ich bereite mehrere Musiktheater-Projekte vor. Ich bin involviert in das neu gegründete Jüdische Theaterschiff MS Goldberg, das im Mai seinen Betrieb aufnehmen wird. Mit dem Brandenburgischen Staatsorchester steht eine Jazz-Kooperation mit mir als Solisten und Komponisten bevor. Ich werde konzertieren, unter anderem mit der Geigerin Liv Migdal oder dem Cellisten Ramón Jaffé. Verschiedene Kompositionen sind in Arbeit und neue Veröffentlichungen wird es auch geben- als Tonträger und als Noten bei der Universal Edition. Schön, dass es viel zu tun gibt!

Keusch und innig

 

Ihrem neuen Star Sabine Devieilhe öffnet ERATO regelmäßig die Aufnahmestudios. Jüngstes Zeugnis ist die CD Bach – Handel, welche im Dezember 2020 im Temple du St-Esprit von Paris entstand (0190296677861). Die Sängerin wird begleitet vom Ensemble Pygmalion unter Leitung von Raphaël Pichon. Das Programm umfasst weltliche und geistliche Werke von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel. Es beginnt mit dem Gesang „Mein Jesu! was für Seelenweh“ von Bach, dem die Sinfonia aus der Kantate „Wir müssen durch viel Trübsal“ folgt. Die Sopranistin singt mit klarer, reiner Stimme von keuschem Klang und innigem Ausdruck. In der Sinfonia hat der Organist Matthieu Boutineau ein virtuoses Solo, das Orchester imponiert mit forschem Zugriff. Danach erklingt das erste Hauptwerk der Anthologie, die Kantate „Mein Herze schwimmt in Blut“ BWV 199. Sie ist achtteilig, besteht aus vier Rezitativen, drei Arien und einem Choral. Das erste Rezitativ gab der Komposition den Titel, Devieilhe gestaltet es voller Inbrunst, wie auch die folgende Arie „Stumme Seufzer“. Von Reue erfüllt ist „Tief gebückt“, die abschließende Arie „Wie freudig ist mein Herz“ von jubilierenden Koloraturen.

Die Beiträge von Händel stammen aus Oratorien des Komponisten und seiner Oper Giulio Cesare in Egitto. Letztere wurden sicherlich  ausgewählt, um die Virtuosität der Interpretin auszustellen. Zu hören sind „Se pietà di me“ aus dem 2. und „Piangerò“ aus dem 3. Akt. Ist Devieilhes Stimme in ihrer Keuschheit für die sakralen Werke geradezu ideal, kann sie auch in diesen beiden Soli mit deren lamento-Duktus überzeugen. Im Mittelteil der zweiten Arie („Ma poi morta“) ist zudem ihre Koloraturbravour gefragt und sie erfüllt diesen Anspruch meisterlich. Aus der Brockes Passion erklingen das Duett Maria/Jesus „Ja, ich sterbe dir zu gut“, wo der renommierte Bariton Stéphane Degout Partner der Sopranistin ist und sich mit empfindsamem Gesang bemerkenswert einbringt, sowie die Arie der Gläubigen Seele„Hier erstarrt mein Herz“.Die Solistin kann hier mit dramatischem Gestaltungswillen aufwarten. Schließlich gibt es noch einen Ausschnitt aus Händels Oratorium Il trionfo del Tempo e del Disinganno – die Arie der Bellezza „Tu del Ciel“, in der die Sopranistin mit überirdischem Gesang betört. Mit Bachs berühmter Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ BWV 51 endet das Programm. Hier kann die Sängerin nochmals mit ihrem virtuosen Vermögen punkten, das vor allem im ersten und letzten Teil gefragt ist. Der Trompeter Hannes Rux liefert sich mit der Solistin einen virtuosen Wettstreit, der im finalen „Alleluja!“ zu zweistimmigem  Jubel führt.

Fehlerhaft ins Deutsche übersetzt ist Devieilhes Statement im Booklet, dass „ in der Kantate BWV 199 Figuren von Cleopatra bis hin zum Sünder tränenreich nach ihrem inneren Frieden streben“. Natürlich existiert in Bachs Komposition keine Cleopatra. Die Aussage der Sängerin war, dass „von der Cleopatra bis zur Figur des Sünders in der Kantate BWV 199 Tränen fließen und die Seele ewigen Frieden sucht“. Bernd Hoppe

Festivalecho

Nicht unterkriegen lassen von Covid-19 wollte sich die Donizetti-Stadt Bergamo, die zu Beginn der Pandemie als abschreckendes Beispiel für eine verfehlte Krisenpolitik bekannt wurde, und so führte sie trotz allem ihr alljährliches Festival im Herbst auch im Jahr 2020 durch. Anders verhielt man sich in Wien, wo für Aufführungen von Donizettis Belisario am Theater der Stadt Wien sogar teilweise, mit Roberto Frontali und Carmela Remigio, dieselben Sänger für die Titelpartie und die Antonina verpflichtet waren, wo die Aufführungen jedoch ersatzloch gestrichen wurden.

Natürlich gab es nicht wie vorgesehen eine szenische, sondern eine konzertante Aufführung, vom Label Dynamic dankenswerterweise aufgezeichnet. Das Parkett war dafür leergeräumt worden, sodass die Sänger viel Platz für beachtliche Abstände voneinander hatten, zwischen den ebenfalls über einen gewaltigen Raum verteilten, dazu noch mit Masken versehenen Chor, den Bläsern ohne und den Streichern mit Masken waren Plexiglaswände aufgestellt, auch Dirigent Riccardo Frizza trug eine Maske, die ihm allerdings regelmäßig unter die Nase rutschte. Eine eigenartig beklemmende Atmosphäre also, und umso größer die Bewunderung dafür, dass eine überaus mitreißende Aufführung von hohem künstlerischem Rang gelingen konnte.

Noch während Donizetti an seiner Lucia di Lammermoor für Neapel feilte, hatte er die Arbeit am Belisario begonnen, an der Vertonung des Schicksals eines oströmischen Feldherrn, der von Vandalen bis Persern alles besiegte, was dem oströmischen Kaiserreich als Bedrohung erschien, der sich schließlich eines ruhigen Lebensabends erfreute, was natürlich wenig operntauglich ist, so dass das Libretto lieber der Legende folgte, die von Blendung  und frühem Tod nach einer ungerechten Anschuldigung wissen will.

Ursprünglich war Placido Domingo, der immer bestrebt ist, sein Bariton-Repertoire zu erweitern, für die Titelpartie vorgesehen, sagte jedoch ab, so dass Roberto Frontali die Rolle übernahm und sich als wahrer Glücksfall erwies. Übrigens hatte bereits 1970 das Stück mit Leyla Gencer als Antonina eine promintente Besetzung erfahren. Der italienische Bariton nun gleicht von Mal zu Mal stärker Renato Bruson, was Legato und Phrasierung betrifft, die Stimme ist mit den Jahren etwas dunkler geworden, trägt auch in der mezza voce sehr gut und ist purer vokaler Balsam im Duett mit seiner Bühnentochter Irene „Ah se potessi piangere“. Letztere wird vom Mezzosopran Annalisa Stroppa gesungen, mit einer Stimme bis in die höchsten Höhen wie aus einem Guss, die die Töne raffiniert modelliert, feinste Tongespinste für  „Amici, è forza separarci“ hat und die das Terzett im letzten Akt nicht nur mit leuchtender Stimme anführt, sondern auch noch mit einem schönen Schlusston krönt.  Die aus gutem Grund intrigante Gattin Belisarios mit Namen Antonina wird von Carmela Remigio angemessen exaltiert, doch nie Belcantogrenzen überschreitend  gesungen, mit tollem Pianissimo in „Sin la tomba“, ebenmäßig bis in die Tiefe bei „é a me negata“, geschickt Belcanto an die Grenzen des Möglichen, was Expression betrifft, treibend. Ein echter tenore di grazia ist Celso Albelo, der als Alamiro seine Stärken in der leider nicht oft geforderten Höhe hat, während die Mittellage recht flach klingt, in „A si tremendo annunzio“ bewegt er sich leider nicht in seiner Komfortzone, erst in der folgenden Cabaletta geht es endlich in die bemerkenswerte Höhe. Es gibt noch einen zweiten Tenor, Klodjan Kacani als Eutropio, optisch wesentlich attraktiver als die Nummer 1 und vokal durchaus markant. Den Kaiser Giustiniano singt mit machtvoller Röhre Simon Lim.

Riccado Frizza ist ein erfahrener Kapellmeister, der bereits in der Sinfonia sowohl die tiefe Tragik wie das befremdend fröhlich Beschwingte auszuloten weiß mit einem Orchester, das natürlich seinen Donizetti im Schlaf spielen könnte. Die Oper Belisario verdient, da sie hinter der gleichzeitig entstandenen Lucia musikalisch in nichts zurücksteht, unbedingt einen Platz im Repertoire (Dynamic 57907 +7907.02 2 CDs/Audio)Ingrid Wanja     

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Ungekürztes aus Innsbruck

 

Il matrimonio segreto von Domenico Cimarosa ist ein melodramma giocoso in zwei Akten nach einem Libretto von Giovanni Bertati, das am 7. Februar 1792 unter der Leitung des Komponisten im k.k. Theater nächst der Burg (Burgtheater) in Wien uraufgeführt wurde. Obwohl Cimarosas bekannteste Oper relativ selten auf der heutigen Bühne und Tonträger zu finden ist (wenngleich doch einige ältere, wenngleich gekürzte  Aufnahmen wie z. B. die von der DG, Decca oder die alte verdienstvolle RAI-Einspieling in Erinneriung bleiben), seine Zeitgenossen, unter anderen Kaiser Leopold II., jedoch so begeistertwaren, dass das ganze Stück am Abend der zweiten Aufführung wiederholt werden musste.

Die vorliegende Aufnahme (CPO 555 295-2), ein Live-Mitschnitt von der Innsbrucker Festwochen den Alten Musik (August 2016), bietet, insofern ich weiß, die einzige ungekürzte Fassung der Oper.  Alessandro De Marchi dirigiert das Orchester der Academia Montis Regalis auf historischen Instrumenten mit Präzision, Scharfsinnigkeit und Detailgenauigkeit sowie emotionale Ausdruck in eine durchaus fesselnde und überzeugende Einspielung. Das Publikum ist meistens nur zwischen den musikalischen Nummern hörbar: ihr Applaus sowie Gelächter vermitteln den Eindruck einer echten Theateraufführung.

Il matrimonio segreto enthält keine Chöre, die Oper besteht aus Arien und Ensembles. Die hervorragende Sängerbesetzung umfasst Renato Girolami (Conte Robinson), Donato Di Stefano (Geronimo), Loriana Castellano (Fidalma), Klara Ek (Elisetta), Giulia Semenzato (Carolina) und Jesús Álvarez (Paolino). Da etwa 80 Prozent von ihnen Muttersprachler sind, merkt man, dass sie verstehen was sie singen und den komplexen Text idiomatisch ausdrücken können.

Semenzato und Álvarez wirken sympathisch als ein junges Liebespaar, das heimlich geheiratet hat; Girolami verkörpert einen lustigen Grafen der sein Versprechen, Elisetta zu heiraten erfüllt, obwohl er Carolina eigentlich liebt; Castellano schildert mitfühlend die Enttäuschung von einer reichen Witwe, die in Liebe zu Paolino entbrannt ist, ohne ihr Wissen, dass er bereits mit Carolina verheiratet ist; Ek porträtiert eine eifersüchtige, wütende ältere Schwester, die möglicherweise um eine Ehe mit einem adligen Mann betrogen werden könnte; Di Stefano gibt das Gefühl von einen liebevollen, aber verwirrten Vater, der das Beste für seine beiden Töchter will.

Diese Aufnahme gehört zu der Sammlung von jeden Kenner und Liebhaber der Wiener Klassik, nicht nur weil es eine Lücke in unserer Auffassung dem musikalischen Zeitgeist in Wien während der 1790er Jahre füllt, sondern als auch eine große Vergnügung. Die Präsentation von CPO ist insgesamt gut, ein Beiheft mit vollständigem Libretto in italienischer, deutscher und englischer Sprachen ist dabei. Leider gibt es weder Seitenzahlen für einzelne Titel noch Kommentar auf Italienisch, der Sprache des Werkes.

Es wäre eine große Freude, mehr von Maestro De Marchi und seiner Academia zu hören. Wünschenswert wären Aufnahmen von Nicolò Jomellis Armida abbandonata, was Mozart und sein Vater im Teatro die San Carlo in Neapel am 30. Mai 1770 erlebt haben, sowie Martin y Solers Una cosa rara und Giovanni Paisiellos Il Barbiere di Siviglia. Daniel Floyd

Domenico Cimarosa: Il matrimonio segreto, mit Renato Girolami, Donato Di Stefano, Loriana Castellano, Klara Ek, Giulia Semenzato, Jesús Álvarez, Academia Montis Regalis, Alessandro De Marchi; CPO 3 CD 555 295-2

Achtungserfolg aus Wien

 

Platée, eine lyrische Komödie („ballet bouffon“) von Jean-Philippe Rameau mit einem Libretto von Adrien-Joseph Le Valois d’Orville, besteht aus einen Prolog und drei Akten und wurde am 31. März 1745 in Versailles uraufgeführt. Das Werk fand erstmals wenig Erfolg, erst neun Jahre später mit einer Wiederaufnahme des Werkes erlebte es einen Triumph. Dann verschwand die Komposition aus dem Repertoire bis zu einer Wiederentdeckung im Mitte des 20. Jahrhunderts, dank einer Produktion des Aix-en-Provence Festspiels im 1956.

Es gibt nur eine kleine Auswahl von Aufnahmen auf dem Markt: u.a. eine aus der obengenannten Aufführung von Aix-en-Provence unter der Leitung von Hans Rosbaud, sowie eine von Marc Minkowski, die 1990 veröffentlicht wurde. Eine kürzlich erschienene Aufnahme von Les Arts Florissants mit dem Arnold Schoenberg Chor unter der Leitung von William Christie wurde im Theater an der Wien in Dezember 2020 aufgenommen (Harmonia Mundi,  HAF890534950). Es handelt sich um eine Live-Aufführung ohne Publikum, die sehr klar, frisch, lebendig, detailliert und warm klingt.

Bedauerlicherweise kann Christies Aufnahme der Platée nur eingeschränkt empfohlen werden, obwohl es viele positive Eigenschaften, insbesondere das ausgezeichnete Barockorchester, hat. Die Verpackung scheint eher ein Souvenir der Bühnenproduktion als eine ernsthafte Audioaufnahme von Rameaus Werk. Als Beispiel könnten die vielen Fotos von der Inszenierung, die nicht für eine Audioaufnahme relevant sind (für eine DVD-Video hätten sie mehr Sinn), mit ausführlichen Kommentar und ein paar Bildern der ursprünglichen Interpreten und Veranstaltungsorte, in denen Rameau dieses Werk aufführte, ersetzt werden.

Ein vollständiges Libretto im französischen Original mit Übersetzungen ins Englische und Deutsche ist erfreulicherweise im Textheft zu finden. Der Aufsatz von Lionel Esparza bietet Hintergrundinformationen zur Oper an, aber das Interview mit Christie gibt mehr Auskunft über seine persönlichen Erfahrungen als über die Komposition selbst (es beginnt mit der Frage, ob ihm das Stück wirklich gefällt). Als renommierter Rameau-Experte, hätte Christie einen eigenen wissenschaftlichen Aufsatz über das Werk verfassen können. Er deutet an, dass eine Mischung von Ausgaben (der Uraufführung und der Wiederaufnahme) verwendet wurde, aber weitere Einzelheiten zu den getroffenen Entscheidungen wären wünschenswert. Weiterhin wäre es hilfreich, die Schlussszene, die Rameau für die Wiederaufnahme komponierte, in einem Anhang zu haben, um die beiden Fassungen vergleichen zu können.

Die Sängerbesetzung ist für dieses Repertoire gut, allerdings gibt es den Eindruck, dass sie durch Konzentration auf die Inszenierung von der Musik abgelenkt werden. Die namensgebende Rolle ist mehr als ein lächerlicher, eitler Charakter, sie hat Gefühle und wird manipuliert, um zu glauben, dass Jupiter sie wirklich liebt. Am Ende wird sie gefühllos zurückgewiesen, verhöhnt und erniedrigt, ohne dass sie dafür entschädigt oder ihr erklärt wird, warum sie missbraucht wurde. Daher würde eine komplexere Darstellung von Platée besser zum wiederholten Hören passen als die eindimensionale Charakterisierung auf dieser Aufnahme (vielleicht könnte Marcel Beekman auf der Bühne als Schauspieler überzeugen, aber seine stimmlichen Manierismen sind nervig).

Insgesamt ist dies ein lohnender Beitrag zur winzigen Diskographie der Platée-Aufnahmen, aber es lässt mehrere Wünsche offen und gilt als eine Fallstudie, die veranschaulicht, warum eine Audioaufnahme anders als eine Bühnenproduktion konzipiert werden muss. Die Kenntnis von Rameaus Musik ist wichtig, um einen umfassenden Überblick über die Entwicklung des Musikdramas im 18. Jahrhundert zu gewinnen. Mit einigen Verbesserungen könnte diese Aufnahme als Referenz für dieses Schlüsselwerk gelten und, hoffentlich, könnte Harmonia Mundi sie wiederveröffentlichen mit einem Ansatz, den ich oben angedeutet habe. Daniel Floyd

 

Jean-Philippe Rameau: Platée, mit Marcel Beekman, Jeanine de Bique, Cyril Auvity, Marc Mauillon, Edwin Crossley-Mercer, Emmanuelle de Negri, Emilie Renard, Arnold Schoenberg Chor, Les Arts Florissants, William Christi; harmonia mundi 2 CD  HAF890534950

Hommage und Visitenkarte

 

Nach und neben Karl Böhm war der gebürtige Salzburger Leopold Hager lange Zeit der herausragende Zeuge für einen authentischen Mozart-Stil, bevor „Revoluzzer“ von Nikolaus Harnoncourt bis Teodor Currentzis mit ihren alternativen Klangvorstellungen auch bei den Salzburger Festspielen für einen grundlegenden Paradigmen-Wechsel sorgten. In gewisser Weise ist dieses von dem Bariton Rafael Fingerlos im zurückliegenden Frühjahr in Salzburg produzierte und sängerisch bestrittene Recital Mozart made in Salzburg eine nostalgische Zeitreise, bei der sich Hörer, die noch mit Böhm und Hager aufgewachsen sind, entspannt zurücklehnen können. Der zum Zeitpunkt der Aufnahme 85jährige Hager zeigt mit dem Salzburger Mozarteum-Orchester, dessen Chefdirigent er von 1969-81 war, keine Spur von Altersmüdigkeit und lässt Mozarts Musik mit weitgehend beschwingten Tempi in üppiger Klangpracht erblühen. Die generationenübergreifende Zusammenarbeit im Dienste Mozarts war dem jungen Bariton ein Herzensanliegen und sollte zugleich eine Hommage an die Stadt werden, von der seine rasche Karriere ihren Ausgang genommen hatte.

Das Recital enthält alle Mozart-Opern, in denen Fingerlos aufgetreten ist, dazu eine bravouröse Arie aus der unvollendet gebliebenen „Zaide“, vier Konzertarien und das von Hager am Klavier begleitete Kunstlied „An Chloë“. Dazu das kurze Lamento „Wie unglücklich bin ich nit“ von 1772. Dass diese große Huldigung an Mozart zugleich eine tönende Visitenkarte des Sängers ist, steht außer Zweifel und er ist sich auch wohl bewusst, dass er sich bei dieser Gelegenheit mutig einer langen und großen Tradition stellen muß.

So locker und verschmitzt, wie er sich auf dem Cover präsentiert, mit Hosenträgern über dem T-Shirt, ist Fingerlos als Sänger nicht. Da ist schon etwas eine spätere Kammersängerwürde zu ahnen. Die Stimme ist kernig und der Vortrag zeigt Energie und Autorität. Die dargestellten Charaktere aber teilen sich nur verschwommen mit, vor allem fehlt es durchweg an komödiantischer Nuancierung. Und wenn wir schon in Salzburg sind: In den beiden Papageno-Arien vermisst man den Volkstheaterton, wie ihn Erich Kunz und Walter Berry so unvergeßlich trafen. In Guglielmos Arie „Donne mie“ drängen sich Vergleiche mit dem ungleich witzigeren und charmanteren Hermann Prey auf und für das Ständchen des Don Giovanni fehlt es an dem verführerischem Schmelz eines Cesare Siepi. Mag sein, dass Fingerlos in allen drei Rollen auf der Bühne und ohne die Last bedeutender Vorbilder auf dem Rücken stärkere Wirkungen erzielt.

Auf Hagers Vorschlag hin hat er in diesem Recital auch die Arien des Leporello und des Figaro aufgenommen. An sich eine reizvolle Idee, viele Sänger haben ja abwechselnd den Herrn und den Diener gesungen – man denke an Samuel Ramey, Ferruccio Furlanetto und Bryn Terfel – und ihre jeweiligen Rollenprofile haben von diesem Wechsel profitiert. Auf der Klangbühne aber sind im Falle von Fingerlos die farblichen Kontraste zwischen den Gegenspielern nicht scharf genug. Leporello ist stimmlich imposant, auch Figaro weniger aufmüpfig als herrisch. Das überraschende Prunkstück der Sammlung, auch in sängerischer Hinsicht, ist die veränderte Cabaletta der Grafen-Arie, die Mozart für den Sänger der Wiener Premiere geschrieben hatte und die selbst der Mozart-Experte Hager vorher nicht kannte. Sie erfordert eine ungeheure stimmliche Flexibilität und ist mit 14 hohen G’s eine Herausforderung für jeden Bariton. Für Fingerlos, der kein Bassbariton ist, wie er in vielen Mozartrollen angelegt ist, sondern mehr in die tenorale Richtung neigt, ist das ein gefundenes Fressen. (Solo Musica SM 377Ekkehard Pluta

Bekenntnisse eines Kiri-Te-Kanawa-Fans

 

Dieser Rosenkavalier aus Covent Garden mit Kiri Te Kanawa als Marschallin hat in meinem Leben eine derart zentrale Rolle gespielt, dass ich ihn jetzt, wo er nochmals neu bei Opus Arte als DVD (OA1341D DVD) erschienen ist, nicht sehen kann, ohne dass gleich eine ganze Backstory mitschwingt. Wegen der ich diese von Georg Solti dirigierte Produktion mit Kostümen von Maria Björnson und in der Regie von John Schlesinger immer mehr lieben werde als alle anderen Fassungen. Mit Ausnahme des Schwarzkopf/Karajan-Films, der (für mich) außer Konkurrenz läuft.

Im Jahr 1985 war ich 18 Jahre alt und hatte im deutschen Kino gerade den E.-M.-Forster-Film Zimmer mit Aussicht gesehen, der mein Leben nachhaltig verändern sollte – Italiensehnsucht und all das. Im Film hört man zweimal Te Kanawa mit Puccini-Arien. Ich verfiel dieser Stimme unmittelbar und hörte über Wochen und Monate den Soundtrack rauf und runter, wie man das mit pubertärem Enthusiasmus halt so tut. Kiri Te Kanawa selbst hatte ich nie gesehen (YouTube gab es noch nicht), live konnte ich sie in Berlin auch nicht hören, weil sie dort erst sehr viel später einmal als Arabella auftrat.

Deshalb war ich einigermaßen aufgeregt, als während der Sommerferien bei meinen Großeltern in Irland jemand sagte: „Deine Kiri ist heute im Fernsehen!“ Es war eine Übertragung dieses Rosenkavalier aus London. Und ich sehe mich noch mit fast religiösem Ernst vorm kleinen TV-Gerät meines Großvaters in Belfast sitzen, der glaubte, ich sei verrückt, drei Stunden vorm Fernseher zu verbringen. Aber genau das geschah. Ab und zu brachte meine Großmutter eine Tasse Tee vorbei und fragte, wann es denn endlich vorbei sei, damit sie wieder ins Wohnzimmer könne. Sie musste sich gedulden, weil mein Großvater entschied, dass man die Kulturbegeisterung seines ältesten Enkels nicht abwürgen sollte. (Danke! Danke! Danke!)

Ja, natürlich hat die Marschallin nicht viele Passagen im ersten Akt, wo es um Stimmschönheit geht. Jedenfalls nicht in einer Weise, die mit Puccini-Arien vergleichbar wäre und Zimmer mit Aussicht. Deshalb läuft alles auf den Moment zu, wo die Marschallin am Ende des ersten Akts auf das hohe As segelt, ein Ton, den Te Kanawa mit einer Weltentrücktheit hält, der mich mitten ins Herz traf. (Vorher gab’s auch weitere solche Passagen, etwas „Und in dem wie… da liegt der ganze Unterschied“.)

Man sieht dazu opulente Kostüme von der Frau, die zeitgleich The Phantom of the Opera kreierte. Hier gibt’s zwar keine herabstürzenden Kronleuchter und Masken, aber es ist eine ausladende Barockwelt mit Goldprunk und Liebe zum Detail. Die Farben wirken in der Neuausgabe etwas matt. Ich bin sicher, dass das live im Theater gleißender zwischen Gold und Silber (im 2. Akt) changierte. Das zu restaurieren wäre lohnend.

In diesem Gold-und-Silber-Ambiente singen neben Te Kanawa weitere vorzügliche Solisten. Besonders Barbara Bonney ist eine fabelhafte junge Sophie, die die Rosenübergabe mit berückenden Oktavsprüngen gestaltet und für mich angenehmer anzuhören ist als Barbara Hendricks auf der späteren EMI-Einspielung mit Te Kanawa. Während dort Anne Sofie von Otter als herb-sinnlicher Octavian brilliert, tritt hier Anne Howells an. Sie ist international kaum bekannt geworden, war damals aber ein Ensemblemitglied von Covent Garden und liefert einen souveränen Octavian mit heller höhensicherer Stimme ab. Und mit viel Spielbegeisterung.

Die drei Damen zusammen bilden im dritten Aufzug dann das Trio für den Moment-der-Momente. Selbstredend ist Te Kanawas „Hab mir’s gelobt“ das gesangliche Highlight dieser Aufführung. Ich erinnere mich, wie ich vor lauter E.-M.-Forster-Begeisterung 1987 nach London zog, erstmals weg von Berlin und von zuhause (nach Italien kam ich erst später als Student). In London ergatterte ich einen Job als Platzanweiser in Covent Garden. Gleich in meiner ersten Woche stand eine Abschiedsgala für den scheidenden Intendanten Sir John Tooley an. Und Te Kanawa sollte kommen, um mit Solti das Rosenkavalier-Trio zu singen. Schließlich fiel die vorliegende Rosenkavalier-Inszenierung in Tooleys Amtszeit.

Ich schlich mich also am Probentag auf einen Platz ganz hinten im Theater und wartete auf Dame Kiri. Genau wie das Orchester. Als sie mit zirka 20 Minuten Verspätung im weißen Tennisoutfit und mit vielen zusammengeklebten A4-Seiten unterm Arm auf die Bühne schlenderte, sagte Solti mit seiner unverwechselbaren Stimme aus dem Orchestergraben: „Kiri, you naughty, naughty girl!“ Sie lächelte und entschuldigte sich. Faltete die geklebten Seiten auseinander. Und fing an zu singen. Ich weiß leider nicht mehr, wer die anderen Solisten waren, weil alles von Te Kanawa überstrahlt wird in meiner Erinnerung. Denn was dann bei der Probe an Tönen bis in den obersten Rang von Covent Garden herüberwehte, gehört für mich zum Eindringlichsten, was ich je live gehört habe. Es war meine erste direkte Begegnung mit der Stimme, die ich so sehr verehrte. Und ich weiß noch, dass ich so gerührt davon war, dass ich weinen musste. Besonders als dann beide Soprane aufs hohe H zusteuerten und dieser Ton durchs Auditorium flog – bis zu mir, unterm Dach im Dunkeln. Man könnte sagen es war ein „Operntuntentraum“, und ich muss heute selbst lachen wenn ich das sage.

An diesen Live-Effekt kommt die DVD nicht heran. Denn Kiris Stimme hatte in der Höhe eine schwebende körperlose Qualität, die Tonträger nur ansatzweise einfangen können. Aber wie die Kameras von Brian Large die drei Damen einfangen und übereinander montieren, um das Gegeneinander der Gefühle zu verdeutlichen, das ist schon großartig. Und wenn Kiri am Schluss wieder ihren Betroffenheitsblick mit den gespannten Lippen aufsetzt, dann verfehlt das seine Wirkung nicht. Offensichtlich weiß sie immer, wo die Kamera ist. Und sie kommuniziert durch die Kamera direkt mit ihren Fans, ohne dabei die Rolle der Marschallin zu verlassen. Das hier ist keine Marie-Theres, die lange allein sein wird. Dafür ist sie viel zu souverän und sich ihrer Anziehungskraft bewusst. Was eine interessante Interpretation der Rolle ist.

Aage Haugland ist ein guter Baron von Ochs, rund und plump, wie aus dem Bilderbuch. Auch die übrigen Rollen sich mit Sorgfalt besetzt: Dennis O’Neill als italienischer Sänger, Jonathan Summers als Faninal, Phyllis Cannan als Marianne etc. Aber: Schlussendlich bleibt es die Te-Kanawa-Show, getragen von Georg Solti am Pult. Dass er seine Diva liebt, spürt man in jedem Moment, denn er gibt ihr immer wieder Zeit zum Atmen. Und wenn die Herzstillstandmomente kommen, erlaubt er sogar ein Ritardando, was bei Solti nicht unbedingt selbstverständlich ist. Das gilt übrigens auch für Bonney, die vom Dirigenten ebenfalls wie auf Händen getragen wird. Von den diversen Gerüchten rund um Beziehungen zwischen Dirigent und Sopranen hörte ich während meiner Platzanweiserzeit von einem Geiger im Orchester. Auch ihn hier im Film kurz zu sehen … ist eine Erinnerung an meine „wilden“ Tage in London und Covent Garden, die mein Verständnis von Oper nachhaltig geformt haben.

Schwärmt für Kiri Te Kanawa: Autor und Operettenchampion Kevin Clarke/Foto ORCA

Das alles nun nach 35 Jahren nochmals komplett zu sehen, statt nur Ausschnitte auf YouTube, ist wunderbar. Ob die Magie sich auch auf andere überträgt, die keine hoffnungslosen Kiri-Fans  sind, kann ich nicht beurteilen. Als Rosenkavalier-Film ist die Schwarzkopf-Fassung viel überzeugender, gar keine Frage. Verglichen mit etlichen Regieexperimenten der letzten Jahre finde ich die Schlesinger/Björnson-Fassung wie eine Flaschenpost aus einer anderen Zeit, als man Oper – zumindest in England – noch im historischen Kontext der Originalhandlung beließ und klar eine Geschichte erzählte, die mit dem Libretto deckungsgleich ist.

Man kann die Opus-Arte-Neuausgabe auf DVD also als historisches Dokument sehen. Auf der EMI-Einspielung von 1991 mit der Staatskapelle Dresden, unter Bernhard Haitink, klingt Te Kanawa noch souveräner als hier, allerdings finde ich Soltis raschere Tempi und Energie überzeugender. Das Covent-Garden-Orchester spielt unter Soltis Drill hervorragend. Und die Kostüme von Björnson für Dame Kiri – inklusive weißer Perücke im letzten Akt – bleiben singulär schön (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)Kevin Clarke

 

Der Artikel von Freund Kevin Clarke hat uns bei operalounge.de zutiefst gerührt, erinnert seine nostalgische Schwärmerei uns doch alle an eben diese unvergesslichen Momente im Leben jedes einzelnen, in denen die Zeit stillstand und die uns alle so nachhaltig geprägt und beeinflusst haben. Ein jeder hat diesen Schatz an Eindrücken und erinnert sich an eben diesen einen, ganz wichtigen, unvergleichlichen Moment wie durch eine Lupe schauend in das eigene Erleben. Wir haben deshalb beschlossen, mit Kevins Artikel eine neue Reihe zu begonnen: „Glück, das mir verblieb …“ und werden solche bleibenden Eindrücke sammeln und vorstellen. Danke Kevin.

Aufregend

 

Sie war in vielen Produktionen der erotischste, liebenswerteste Cherubino in Mozarts Le Nozze di Figaro, jetzt hat sich die französische Sängerin  mit auch spanischen Wurzeln Marianne Crebassa mit der Seguedilles genannten Erato-CD einer der weiblichsten Heldinnen der Oper, nämlich Bizets Carmen angenommen, deren drei Arien sie zu Beginn, in der Mitte und ganz am Schluss ihrer Aufnahme zum Besten gibt. Dazwischen allerdings wird man mit weit weniger Bekanntem konfrontiert, Opernarien und Chansons in französischer oder spanischer Sprache, erstere vom Orchestre National du Capitole de Toulouse unter Ben Glasberg, letztere von Alphonse  Cemin auf dem Klavier begleitet.

Crebassas Carmen ist keine schwerblütige, dunkle Erotik versprühende, sondern eine sehr moderne mit straffer und manchmal ganz leicht scharfer Stimme dem Hörer mitteilend, dass mit ihr nicht gut Kirschen essen ist. In der Habanera versieht sie „L’amour“ mit vielen unterschiedlichen Schattierungen, zieht das Schlank- dem Üppigsein vor, ist voller vokaler Raffinessen wie einer Piano-Fermate, einem Schluss mit bemerkenswertem Crescendo, üppig nicht durch Klangvolumen, sondern durch die schöne dunkle Farbe. Auch die Séguedille ist von verführerischer, maliziöser Leichtigkeit, rhythmisch ausgefeilt und sich bedeutsam gebend erst mit „qui m’aime“. Das Chanson bohéme schließlich besticht durch die Atemlosigkeit, besser Hurtigkeit, die schon beinahe schwindelerregend ist. Es gibt natürlich auch einen Don José, Stanislas de Barbeyrac, der auch in anderen Tracks und dort ausführlicher werdend auftaucht und eine sehr angenehme Tenorstimme hören lässt.

Als Salud aus De Fallas La vida breve scheut die Sängerin auch ein schönes Pathos nicht, erfreut den Hörer durch eine schwelgerische Trauer in der Stimme, die schlank und farbig in die Tiefe hinabsteigt. Massenets Dulcinée ist von eleganter Leichtigkeit mit schönem Triller prunkend, lässt den dunklen Hintergrund des Geschehens erahnen, während Offenbachs Périchole in ihrer Séguedille Leichtigkeit und Spritzigkeit versprüht.

Vier aus den sechs Canciones Castellanas von Jesús Guridi verzücken den Hörer durch feine Tongespinste, durch ein zartes Leuchten der Stimme, durch duftig Hingetupftes. In Massenets Nuit d’Espagne wetteifern Stimme und Gitarre (Thibaut Garcia) im zunehmend Fordernden miteinander. Camille Saint-Saens ist mit El Desdichado vertreten, in dem Mezzosopran und der Sopran von Adriana Gonzáles reizvoll miteinander wetteifern. Es folgen fünf Chansons von Federico Mompou, in denen die Stimme, wo es angebracht erscheint, sehr schön instrumental geführt wird, bitter-süß klingt und alles von einer sehr interessanten Begleitung profitiert. Fast in Sopranhöhen und das ohne Mühe schwingt sich der Mezzosopran in De Fallas Séguedille, ehe mit Ravels L’Heure espagnole der vorläufige und mit Bizets Carmen der endgültige Schlusspunkt für eine wegen ihrer eindringlichen Schönheit, ausgefeilten Technik und bestechenden Stilgefühls überaus hörenswerte Stimme und deren CD erreicht ist. Übrigens gibt Marianne Crebassa ihr Rollendebüt als Bellinis Romeo 2022 an der Mailänder Scala.( Erato 019296676895Ingrid Wanja

 

Merrie England

 

Arthur Sullivan (1842-1900) ist heutzutage in erster Linie als Komponist leichter Opern und Operetten bekannt, was ihn im angelsächsischen Raum zu einer der populärsten Gestalten in der Musikgeschichte macht. Dass ihm indes aufgrund der Wertschätzung seitens des britischen Königshauses auch andere Kompositionen zukamen, ist mittlerweile beinahe vergessen. Festmusik für die Royals komponierte er schon in den 1860er Jahren, darunter ein Festival Te Deum (1872), mehrere Oden, den Imperial March (1893) und ein weiteres Te Deum (1900) – sein letztes vollendetes Werk. Anlässlich des Diamantenen Thronjubiläums von Königin Victoria im Jahre 1897 schrieb er nicht nur die Jubilee Hymn, sondern auch das Ballett Victoria and Merrie England. Die Zuneigung der Queen für Sullivan zeigte sich schon 1883, als er den Ritterschlag erhielt – seinerzeit für einen Komponisten eine alles andere als selbstverständliche Auszeichnung. Tatsächlich unterschieden sich die damaligen englischen Ballette deutlich von jenen aus Russland (Tschaikowski) und Frankreich (Delibes). Stets einaktig angelegt, waren sie vielmehr Mimendramen in zahlreichen Szenen.

 Victoria and Merrie England wurde am 25. Mai 1897 am 1936 abgerissenen Alhambra Theatre in London uraufgeführt, erfreute sich großen Zuspruchs und hielt sich bis 1912 im Repertoire. In acht Szenen untergliedert, ist das Stück eine Apotheose auf die britische Geschichte, beginnend mit Ancient Britain, also dem vorchristlichen Britannien, über die elisabethanische Epoche in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (May Day in Queen Elizabeth’s Time – zwei Szenen umfassend), die legendäre Jagdgottheit Herne, derer sich Shakespeare bediente (The Legend of Herne the Hunter – wiederum zwei Szenen), die Zeit des Stuartkönigs Karl II. in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Christmas Revels in the Time of Charles II) bis hin zur 1838 erfolgten Krönung Victorias (Coronation of Queen Victoria) und dem nämlichen Jubiläumsjahr als glorreichen Abschluss (1897 – Britain’s Glory). Die Szenen dauern zwischen sechs und gut zwanzig Minuten. Musikalische Zitate aus Rule, Britannia, The British Grenadiers und am Ende der Nationalhymne God Save the Queen sind geschickt eingebaut. Ein wirkliches Meisterwerk ist diese Ballettmusik eher nicht. Die Musik wirkt vielfach austauschbar. Am stärksten ist sie tatsächlich in den wenigen dramatischen Momenten, besonders beim Sturm im Wald von Windsor aus Herne the Hunter. Gleichwohl wird ein spannender Blick auf den Komponisten Arthur Sullivan abseits seiner ungleich berühmteren Bühnenwerke eröffnet.

Die Weltersteinspielung des Werkes besorgte – wie so häufig – das umtriebige Label Marco Polo (Aufnahme: Dublin, September 1993; erschienen 1995). Fast drei Jahrzehnte später sorgt Naxos für eine Neuauflage (8.555216). Es zeichnet verantwortlich die irische RTÉ Sinfonietta unter dem Dirigat des in diesem Repertoire bewährten Andrew Penny. Die Darbietung ist künstlerisch vollkommen angemessen und überzeugt auch klanglich. Die Textbeilage (bloß auf Englisch) fällt labeltypisch spartanisch, aber noch ausreichend aus. Daniel Hauser

Überwältigende Konkurrenz

 

Die beste aller möglichen Candide-Aufnahmen zu finden ist schwer. Weil Leonard Bernsteins eklektisches Werk von 1956 – seine einzige echte „Operette“ – so oft umgeschrieben und überarbeitet wurde, dass es unendliche viele (interessante) Fassungen gibt. Und entsprechend viele Herangehensweisen ans Stück.

Auf der neuen Doppel-CD hält sich Dirigentin Marin Alsop mit dem London Symphony Orchestra an jene Konzertversion, die bereits das New York Philharmonic 2004 sehr erfolgreich präsentiert hatte. Davon gibt’s zwar keine CD oder DVD, aber viele atemberaubende Ausschnitte auf YouTube. Atemberaubend, weil die Besetzung Musical-Stars allererster Güte bietet. Allen voran Kristin Chenoweth als Cunegunde, die kurz nach ihrem Wicked-Triumpf zeigt, wie sehr diese Rolle von perfektem Comedy Timing profitiert und wie wichtig es ist, „Glitter and be Gay“ auch zu spielen, um maximalen Effekt aus dem Koloratur-Blockbuster herauszuholen.

Dann ist da auch noch die one-and-only Patti LuPone (Broadways erste Evita) als Old Lady, die sich mit Chenoweth ein Diven-Doppel liefert, bei dem die Fetzen fliegen, wenn‘s darum geht, wer „die erste Sängerin“ sei. Paul Groves trat damals als Candide an, Thomas Allen war in der Doppelrolle des Erzählers und des Dr. Pangloss dabei.

Und Alsop dirigierte. Sie fiel mir jedoch nie auf, weil die Solisten – allen voran Chenoweth/LuPone – alles überstrahlen. Nun also nochmals Alsop und Candide. Diesmal auf CD, statt gefilmt.

Leider hat sich Alsop für die zwei Aufführungen im Londoner Barbican 2018 keine Musicaldarsteller aus dem West End geholt, sondern ein reines Opernteam zusammenstellen lassen. Zu dem gehört abermals Thomas Allen als Dr. Pangloss/Erzähler, ohne dass er großartig Neues mitzuteilen hätte. Und letztlich auch keinen Vergleich aushält mit Adolph Green, der 1989 den Erzähler auf der berühmten von Bernstein selbst dirigierten Aufnahme bei Deutsche Grammophon gibt. Überhaupt: Bei Bernstein/DG ist viel mehr Musik zu hören, und Hand aufs Herz: neben Bernstein am Pult wirkt Alsop nicht sonderlich fetzig. Was man bereits bei den ersten Takten der Ouvertüre merkt, wo der Drive und der Mut zur Operettengroteske fehlen. Da kann die Dirigentin sich im Booklet noch so sehr als enge Freundin des Komponisten darstellen – sie hätte besser von ihm lernen sollen. Ja, müssen.

Im Barbican traten Leonard Capalbo als Candide, Jane Archibald als Cunegonde, Marcus Farnsworth als Maximilian, Thomas Atkins als Gouverneur und Anne Sofie von Otter als Old Lady an. Sie alle singen gut. Aber es ist niemand von so überragender Persönlichkeit bei, weswegen ich mir unbedingt diese neue Candide-CD anschaffen würde. Wer „Glitter and be Gay“ nicht à la Chenoweth mag, sondern die Rolle lieber von einer Operndiva interpretiert hören will, ist bei June Anderson besser aufgehoben, die die Koloraturkaskaden mit jener Übertreibung und Selbstpersiflage singt, die Archibald vollkommen fehlt. Natürlich trifft Jane Archibald alle Töne, aber der Spaß bleibt (rein akustisch) auf der Strecke, als würde sie sich nicht trauen, over-the-top zu gehen. Und das betrifft nicht nur die Arie, sondern die gesamte Aufführung. Diese wirkt oft steril. Und anteilnahmslos abegeliefert.

Capalbo fehlt die honigsüße Unschuld, um ein idealer Candide zu sein. Robert Rounseville auf der Originalaufnahme von 1956 ist da unterreicht in seinem jugendlichen Optimismus. Unerreicht ist auch Irra Petina als originale Old Lady. Selbst im Vergleich zu Christa Ludwig (1989) wirkt von Otter hier lediglich passabel, ohne besondere Hingabe zu Details des gewitzten Textes. Manche werden sich an sie in der Barrie-Kosky-Inszenierung an der Komische Oper Berlin erinnern, wo sie auch eher blass blieb; zumindest für mein Empfinden. Und ich bin ein großer von-Otter-Fan!

Schmissiger und lustiger: Bernsteins von ihm selbst dirigierte Fassung bei DG

Es gibt von den diversen Candide-Fassungen hochindividuelle Aufnahmen: von der späteren Harold-Prince-Produktion von 1974, auch die New-York-City-Opera-Fassung wurde 1982 aufgenommen (nein, nicht mit Beverly Sills als Cunigonde, sondern mit Erie Mills), es gibt Aufnahmen von der erfolgreichen Fassung der Scottish Opera (1991 mit Marilyn Hill Smith als Cunegonde, Ann Howells als Old Lady und Mark Beudert als wunderbar singendem Candide), es gab eine weitere Broadway-Produktion 1997, die auf CD vorliegt mit dem famosen Jason Danieley als Titelheld, und dann existiert eine Aufnahme des Royal National Theatre (1999 mit Alex Kelly als spektakulärer Cunegonde und Daniel Evans als Candide). Die erwähnte halbszenische Aufführung des New York Philharmonic Orchestra 2004 findet sich auf YouTube. Und ja, die Deutsche-Grammophon-Aufnahme ist neben dem Original-Broadway-Cast-Album (mit der jungen Barbara Cook als frecher Cunigonde) weiterhin der Maßstab aller Dinge hier. Gemessen an all den vorangegangenen Aufnahmen ist die LSO-Einspielung wirklich nicht individuell genug, um echte Interesse zu wecken.

Es ist schon schade, dass nach so vielen Jahren wieder eine neue Candide-Aufnahme rauskommt, und die nachgerückte Künstlergeneration absolut gar nichts Neues zum Stück zu sagen hat. Die Dirigentin offensichtlich auch nicht. Da ist der ebenfalls neue West Side Story-Soundtrack zum Steven-Spielberg-Film ein gutes Beispiel, dass es auch anders geht. Dort treten Rachel Zegler und Ansel Elgort (bekannt aus Baby Driver) als Tony/Maria an und schaffen eine emotionale Direktheit, die in dieser Form neu und verblüffend ist. Ariana DeBose singt als Anita „A Boy Like That“ derart aggressive und dramatisch, dass man als Hörer umgehauen wird und meint, das noch nie so gehört zu haben. Und Rita Moreno demonstriert, dass man auch ohne Stimme eine herzergreifende Version von „Somewhere“ abliefern kann (Moreno hatte im Film von 1961 die Anita gespielt). Dazu Gustavo Dudamel als Dirigent, der mit Spielbergs Tontechnikern eine raffiniert neu ausbalancierte Lesart der überbekannten Partitur bietet, die von David Newman adaptiert wurde (John Williams war als Berater tätig, was man hört, in der besten aller möglichen Weisen). Das ist insgesamt vorbildlich. Denn: Wenn schon eine Neueinspielung, dann sollte sie auch etwas Neues zu sagen haben (LSO0834/ 10. 12. 21). Kevin Clarke

Belcanto mit Corona-Masken

 

Ausnahmsweise nicht aus Bergamo, sondern aus Florenz stammt die Aufnahme von Donizettis Linda di Chamounix, und zwar aus diesem Jahr mitten in einer Corona-Welle, sodass nicht nur Dirigent und Orchester, mit Ausnahme natürlich der Bläser, Masken tragen, sogar der Chor, der wohl deswegen oft nur wie aus einem Scherenschnitt stammend am Horizont erscheint. Immerhin wirkt das Ganze nicht allzu verstörend, da im Orchester die Masken in Schwarz gehalten sind und fast wie ein modisches Accessoire passend zum gleichfarbigen Frack erscheinen.

Neben Stilisiertem findet sich in der Inszenierung von Cesare Lievi auch Naturalistisches, so ein Häufchen Sand, dass man schön durch die Finger rieseln lassen kann. Zu Ersterem allerdings ist die Bühne von Luigi Perego zu zählen, der im zweiten Akt den Aufenthaltsort Linas in Paris nur andeutet, im ersten und letzten Akt den Schreibtisch des Präfekten unweit des Riesentisches der Dorfgemeinschaft platziert. An ersterem sitzt fast durchgehend Il prefetto, so dass man auch annehmen könnte, die Regie habe hier den Komponisten, der die Aufführung seines Werks beobachtet, in die Produktion eingefügt. Neben einer fast durchweg stimmigen Personenregie finden sich auch peinliche Ungeschicklichkeiten, so hätte ein Diwan im zweiten Akt verhindert, dass  das junge Paar beim Verführungsversuch des Visconte ungeschickt auf dem Fußboden herumrobbt. Alles in allem aber ist das eine weder im guten noch im schlechten Sinn aufregende Inszenierung, und die Kostüme von ebenfalls Luigi Perego sind sehenswert.

Sehr ansehnlich ist die Sängerbesetzung, von der sicherlich dem Prefetto die Krone gebührt. Michele Pertusi scheint auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn angekommen zu sein, sein geschmeidiger Bass weist Eigenschaften eines basso profondo auf, ohne die für den Belcanto unverzichtbaren Qualitäten eines basso cantante verloren zu haben. So nimmt es nicht wunder, dass eine absolute Rarität, das Duett zweier Bässe, denn auch der Vater Lindas, Antonio, ist ein solcher, zum sängerischen Höhepunkt der Oper wird. Vittorio Prato heißt der zweite Vertreter des tiefen Fachs, ein auf „alt“ geschminkter  Sänger mit gut konturierter, junger, gesunder Stimme. Die Oper ist ein melodramma semiserio, d.h. ist gibt zwar tragische Verwicklungen, ja, Linda wird sogar zeitweise wie auch andere Damen des Belcanto, wahnsinnig, aber es gibt ein happy end. Kennzeichnend für die Gattung ist auch das Vorhandensein komischer Figuren, hier des Marchese di Boisfleury, des Möchtegernverführers, der seiner musikalischen Ausstattung nach dem Don Pasquale oder Liebestrank entsprungen sein könnte.  Dem Sänger wird also viel vokale Geläufigkeit abgefordert, und Fabio Capitanucci geizt damit nicht, so in seiner großen Arie „È un giglio di puro candore“.

Entspricht eine Sängerin in unseren Zeiten nicht dem landläufigen, an Models orientierten Schönheitsideal, dann kann man sicher sein, dass sie eine besonders schöne Stimme hat. Das trifft auch auf Teresa Iervolino zu, die den sympathischen Pierotto darstellt und ihn mit einem Mezzosopran wie kostbarer Samt, warm und rund und farbig bis hinaus zum Spitzenton ausstattet. Wunderschön melancholisch klingt „Cari luoghi“, und reizvoll ist das Duett mit Linda. Diese wird von Jessica Pratt gesungen, und ihr weicher, geschmeidiger Sopran dominiert schön die Ensembles, klingt wie fein hingetupft in „Oh luce“, zeigt sich souverän in den Intervallsprüngen und wahnsinnsumflort im „Carlo, Carlo“. Dieser ist  mit Francesco Demuro leider eine Schwachstelle der Produktion, nicht nur wegen der sehr unvorteilhaften Frisur, sondern wegen des manchmal recht weinerlich klingenden Tenors, zwar höhensicher und mit manch schönem diminuendo aufwartend, aber insgesamt doch nicht das Ideal eines tenore di grazia.

Michele Gamba dirigiert das Orchestra del Maggio ( aber im Gennaio) Musicale Fiorentino und erweist sich als zuverlässiger Begleiter der Solisten.

Dem Label Dynamic aus Genua ist es zu verdanken, dass man ansprechende Produktionen wie diese im rauen Opernnorden genießen kann. (Dynamic 57911). Ingrid Wanja  (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.) 

Edita Gruberová

 

Die verstorbene Edita Gruberová (* 23. Dezember 1946 in Bratislava-Rača, Tschechoslowakei; † 18. Oktober 2021 in Zürich) hat eine Opern-Ära geprägt: Dass sie „die letzte Assoluta“ war, wie Jürgen Kesting in seinem Nachruf in der Frankfurter Allgemeinen behauptet, ist fraglich, da eine Cecilia Bartoli, die diesen Rang ebenfalls für sich in Anspruch nehmen kann, noch immer aktiv ist. Den Titel einer Jahrhundert-Primadonna, die mehr als 50 Jahre mit gleich bleibendem Erfolg auf der Bühne stand, kann ihr dagegen niemand bestreiten. Edita Gruberová, die am 18. Oktober – wenige Wochen vor ihrem 75. Geburtstag – in ihrer Wahlheimat Zürich an den Folgen eines häuslichen Unfalls überraschend gestorben ist, hat in der Nachfolge von Maria Callas, Joan Sutherland und Montserrat Caballé eine Ära des Belcanto-Gesanges geprägt und dabei einen unverwechselbaren Stil gefunden, der alle Vergleiche mit den großen historischen Vorgängerinnen aushält.

Am 23. Dezember 1946 als Tochter einer ungarischen Mutter und eines deutschstämmigen Vaters im slowakischen Bratislava-Rača geboren, begann sie ihre Ausbildung schon mit 15 Jahren am Konservatorium von Bratislava. Schon während der Studienzeit wirkte sie am dortigen Opernhaus als Choristin und gab ebenda am 19. Februar 1968 ihr Solo-Debüt als Rosina im Barbier von Sevilla. Die kommenden drei Spielzeiten war sie dann Ensemblemitglied des Theaters in Banská Bystrica, wo sie schon einige große Fachpartien singen konnte, darunter Violetta in La Traviata und die vier Frauenrollen in Hoffmanns Erzählungen. Am 7. Februar 1970 gab sie als Königin der Nacht ihren beachtlichen Einstand an der Wiener Staatsoper, dem fünf Tage später ein weiterer Auftritt als Olympia folgte, was zu einem festen Engagement führte. Das Jahr darauf siedelte sie nach Wien über.

Ein märchenhafter Beginn. Aber von einer Blitzkarriere konnte nicht die Rede sein, denn in den kommenden fünf Jahren musste sie sich mit kleinen und kleinsten Rollen wie der Modistin im Rosenkavalier, Ida in der Fledermaus oder Stimme vom Himmel in Don Carlos regelrecht „hochdienen“. Das Archiv der Staatsoper verzeichnet in dieser Zeit nur vereinzelte Auftritte als Konstanze, Rosina, Zerbinetta und in den beiden Einstandspartien. Vielleicht mussten erst die auswärtigen Erfolge als Königin der Nacht bei den Festspielen in Glyndebourne und Salzburg (unter Herbert von Karajan) kommen (beide 1974), bevor sie an ihrem Stammhaus wirklich ernst genommen wurde. Als 1976 eine Neu-Inszenierung der Ariadne auf Naxos unter Karl Böhm angesetzt wurde, konnte sie ein Vorsingen beim damals schon legendären Maestro durchsetzen und hatte bei der Premiere einen Sensationserfolg, der sich zwei Jahre später bei einer neuen Lucia di Lammermoor wiederholte. Und bei der Silvesterpremiere der Fledermaus 1979 machte sie  schließlich als Adele Furore.

Mit diesen vier Rollen – Königin der Nacht, Zerbinetta, Lucia und Adele – wurde ihr Name in den folgenden Jahren vor allem identifiziert. Nach und nach fand sie – zunächst in Wien – neue Aufgaben im französischen Fach (Manon) und auf dem Gebiet der Belcanto-Oper (Maria Stuarda, Giulietta in Capuleti e Montechi), aber auch als Gilda, Violetta, Rosina, Norina. Mit diesem Repertoire festigte sie international ihren Ruf als „slowakische Nachtigall“. Daneben vertiefte und erweiterte sie ihr Mozart-Repertoire, wobei die Zusammenarbeit mit Nikolaus Harnoncourt von zentraler Bedeutung für sie war. Zahlreiche Aufnahmen auch weniger gespielter Werke wie Lucio Silla und La finta giardiniera legen davon Zeugnis ab.

Der Nimbus der unübertroffenen Virtuosa, die sich mühelos in stratosphärischen Höhen bewegen konnte, reichte ihr auf Dauer aber nicht und sie begann mit über 40 Jahren gleichsam eine zweite Karriere im dramatischen Belcanto-Fach, ohne Koloraturpartien wie Amina (La sonnambula), Elvira (I Puritani), Marie (La fille du régiment) und Linda di Chamounix  zu vernachlässigen. Als Startschuß für den Neuanfang kann man ihre frenetisch gefeierte Elisabetta in Donizettis Roberto Devereux am Teatre Liceu in Barcelona (1990) ansehen, die in den folgenden Jahrzehnten bis zu ihrem Bühnenabschied ihre Paraderolle wurde, vergleichbar der Adriana Lecouvreur von Magda Olivero. Von da an eroberte sie sich weitere Belcanto-Rollen, die mithilfe ihrer Regisseure (erst Daniel Schmid und Giancarlo del Monaco, später vorzugsweise Christof Loy) auch in schauspielerischer Hinsicht Kabinettstücke wurden: Donizettis Anna Bolena, Maria Stuarda und Lucrezia Borgia, Bellinis Beatrice di Tenda und Alaide (La straniera). Mit Norma, die sie erstmals 2006 in München auch szenisch ausprobierte, begab sie sich in einen Grenzbereich, womit sie bei der Kritik ein geteiltes Echo fand. Als dramatische Belcanto-Sängerin hatte sie weltweit nur eine Konkurrentin, die im deutschen Sprachraum weniger bekannte Italienerin Mariella Devia, die auch eine annähernd lange Karriere (1973-2018) aufzuweisen hatte.

Kontinuität und künstlerische Entwicklung über die Jahrzehnte hinweg waren nur möglich, weil sich Edita Gruberová nicht damit begnügte, als virtuoser Superstar durch die Welt zu jetten, sondern an einigen Theatern ein künstlerisches Zuhause suchte und fand. Der Wiener Staatsoper hielt sie ein Leben lang die Treue. 711 Vorstellungen hat sie dort in 48 Jahren gesungen. München folgt mit 308 Vorstellungen, ihre Wahlheimat Zürich brachte es auf immerhin 200 Vorstellungen in 17 Rollen. Aber auch am Teatre Liceu in Barcelona und an der Metropolitan Opera war sie über viele Jahre ein regelmäßiger Gast. Berlin bekam sie erst seit 2013 in konzertanten Aufführungen regelmäßig zu sehen. Ihre Treue zu den Stammhäusern wurde belohnt, vor allem in München und Zürich erhielt sie die Möglichkeiten, neue Partien auszuprobieren, man richtete den Spielplan nach ihren Wünschen aus.

Was war das Besondere an Edita Gruberová? Alle Kritiker waren sich von Anfang an in ihrer Bewunderung ihrer makellosen Technik einig und über den abgerundeten Wohlklang ihrer hellen und klaren, gut fokussierten Stimme. „Ein Sonnenstrahl, durch einen Diamanten gebrochen“, dichtete Jürgen Kesting im schon erwähnten Nachruf in der FAZ. Und dieses poetische Bild entspricht durchaus der überlieferten klanglichen Realität, jedenfalls in der ersten Hälfte ihrer Karriere. Damals gab es aber auch Kritiker – wenn ich mich recht erinnere, gehörte ich selbst dazu -, die von der kühlen Vollkommenheit ihres Vortrags unberührt blieben und geprägt von Höreindrücken bei Maria Callas oder Renata Scotto das dramatische Feuer vermissten. Heute höre jedenfalls ich aus der Kenntnis ihrer späteren Aufnahmen auch in den Dokumenten der Frühzeit das innere Feuer heraus. Harnoncourt, der gleichzeitig ihre Abkehr von Mozart bedauerte, hatte Recht, als er in einem Interview behauptete, sie sei „wahrscheinlich die einzige Sängerin, die Koloraturen nicht als Sport betreibt, sondern als Ausdrucksmittel“. Und die Diva selbst meinte als 65jährige in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau rückblickend, „dass ihr als junger Sängerin schon oft der Vorwurf gemacht wurde, eine kalte Technikerin zu sein. Jetzt habe ich das Handwerkszeug, eine Emotion ganz gelassen in eine Koloratur, eine Verzierung hineinfließen zu lassen. Weil ich über Technik nicht mehr nachdenken muss.“

Um den Nachruhm Edita Gruberovás muß man sich keine Sorgen machen, denn ihre diskographische und videographische Hinterlassenschaft ist gewaltig und schier unübersichtlich. Alle ihre erfolgreichen Bühnenrollen sind dokumentiert, teilweise mehrfach und aus verschiedenen Phasen ihrer Karriere. Doch auch ihr Konzertrepertoire ist so gut wie komplett aufgezeichnet. In der ersten Phase ihrer Karriere stand sie bei tonangebenden Firmen wie Decca, EMI und Teldec unter Vertrag, aber die Unzufriedenheit mit den Produktionsbedingungen und den vielen technischen Manipulationen bei den Aufnahmen bewog sie dazu, 1992 ihr eigenes Label Nightingale zu gründen, wo sie in der Folge vor allem ihre Belcanto-Rollen in kompletten Konzertmitschnitten einspielte. Perfektionistin, die sie von Anfang an war, vertraute sie der Perfektion ihrer Live-Auftritte mehr als der synthetischen Studio-Perfektion. Bei nochmaliger Durchsicht ihrer wichtigsten Aufnahmen muß ich konstatieren, dass sie Recht hatte. Die Mitschnitte ihrer ersten Wiener Triumphe (Ariadne auf Naxos und Lucia di Lammermoor), beide bei Orfeo veröffentlicht, dürfen in keiner Sammlung fehlen, auch die Nightingale-Aufnahmen aus späterer Zeit sind für alle Freunde des Belcanto ein Muß, wobei Semiramide, La straniera und Maria di Rohan besonders hervorzuheben sind, da sie nicht in anderen Aufnahmen mit ihr vorliegen. Von ihren zahlreichen Recitals empfehle ich vor allem die in München produzierte Kunst der Koloratur (Orfeo), die auch die einschlägigen Konzertarien von Glière, Proch und Alabieff enthält, und die bei Nightingale publizierten Programme mit Schubert- und Dvořák-Liedern sowie die Duett-Platte mit Vesselina Kasarova (Wir Schwestern zwei, wir schönen).

Wohl keine andere Primadonna ist auch auf Video so umfassend dokumentiert wie Edita Gruberová, von den Anfängen in der Slowakei 1968 bis zum Bühnenabschied in München im März 2019. Auf der Internet-Seite Opera on Video finden sich an die 100 Dokumente, in der Mehrzahl komplette Aufzeichnungen von Opern und Konzerten. Zweifellos sehenswert sind die im Studio entstandenen Verfilmungen von Arabella (Schenk/Solti, Decca 1977), Ariadne auf Naxos (Sanjust/Böhm, DG 1978) Hänsel und Gretel (Everding/Solti, DG 1980) Rigoletto (Ponnelle/Chailly, DG 1982) und Cosi fan tutte (Ponnelle/Harnoncourt, DG 1988). Noch spannender sind aber auch hier ihre Live-Auftritte. In einigen Partien (z. B. Lucia, Elisabetta) ist sie gleich mehrfach vertreten. Einiges davon ist in hoher technischer Qualität als DVD erhältlich, anderes – darunter viele amateurhafte Privataufnahmen von Verehrern – ist bei youtube einsehbar.

Die frühesten Studio-Dokumente haben besonderen historischen Wert. Im Jahr ihres Debüts in Banská Bystrica hat das slowakische Fernsehen ein kleines Recital und eine komplette Traviata mit ihr aufgenommen. Im 19minütigen Recital, das Arien von Scarlatti und Hasse sowie Lieder von Mozart, Schubert, Beethoven und Strauss enthält, singt sie mit silberklarem, filigranem Sopran und bestrickendem Charme. Diese Stimme, prädestiniert für Rollen wie Norina und Gilda, kann natürlich nur eine Seite der Violetta abdecken, doch auch wenn sie in dieser Partie noch keine tragische Größe gewinnt, erscheint die erst 21jährige Sängerin doch schon erstaunlich reif in der Gestaltung. Ein kurioses Dokument entstand drei Jahre später beim ORF. Hier singt sie schülerhaft brav und dramatisch unbeteiligt, dafür gestochen scharf die zweite Arie der Königin der Nacht, wobei sie beim hohen f jedes Mal die Zunge herausstreckt („Ich dachte damals einfach, nur so kriege ich den Ton optimal.“)

 Aus den frühen Wiener Jahren gibt es einige sehenswerte Videos kompletter Vorstellungen. Erst vor ein paar Monaten kam bei Naxos ein deutsch gesungener Don Pasquale heraus, mit dem die Staatsoper 1977 in der Steiermark gastierte. Er wurde auf dieser Seite schon gebührend gewürdigt. Wir erleben hier die Komödiantin Gruberová in ihrer ersten Blüte, wenig später auch in Otto Schenks unverwüstlicher Fledermaus-Inszenierung (Arthaus, 1980), wo sie als Adele auf ihre slowakische Kollegin Lucia Popp in der Rolle der Rosalinde trifft. Ein noch immer erfrischendes Hör- und Sehvergnügen. Mit Massenets Manon hat sie sich in Jean-Pierre Ponnelles Inszenierung (DG, 1983) lyrisches Terrain erobert. Gleichwohl überzeugt sie im koloraturengespickten 3. Akt auf dem Cours-la-Reine am meisten.

Die Münchner Video-Dokumente beginnen mit einer Entführung aus dem Serail von 1980 (DG) mit dem greisen Karl Böhm am Pult. Gruberová singt da eine fulminante Marternarie mit metallischen Spitzentönen, bleibt aber darstellerisch im Rahmen der relativ konventionellen Inszenierung von August Everding. Auch für ihr szenisches Norma-Debüt hätte man der da schon 60jährigen Sängerin einen anderen Regisseur gewünscht als den sehr formal arrangierenden Jürgen Rose. Stimmlich ist das ein hochrespektables Rollenporträt, zu den ganz großen Interpretinnen dieser Partie zählt sie gleichwohl nicht. Als singende Schauspielerin sui generis zeigt sie sich in den Produktionen von Lucrezia Borgia (2009, Unitel) und Roberto Devereux (2009, DG), wo sie in den spannenden, wenngleich umstrittenen Inszenierungen von Christof Loy Mut zur auch stimmlichen Hässlichkeit beweist und durch den Gesang zugleich psychologische Innensichten vermittelt. Diese beiden DVDs müssen Gruberová-Verehrer unbedingt besitzen.

Einer von diesen hat ihren definitiven Bühnenabschied in der Rolle der Elisabeth I. an der Bayerischen Staatsoper (27. März 2019) aufgezeichnet, eine in jeder Hinsicht amateurhafte Aufnahme, aber ein sehr bewegendes Dokument. Eine Königin der Opernszene tritt ab wie die von ihr dargestellte englische Königin („Non regno! Non vivo!“ – Ich herrsche und ich lebe nicht mehr) und das Publikum huldigt ihr eine dreiviertel Stunde lang mit Ovationen, die einen eigenen Opernakt darstellen.

Einen sehr aparten Nachklang zu diesem pathetischen Opernschluss bildet die Aufzeichnung ihres tatsächlich letzten Auftritts, eines Konzerts in der Stadthalle von Gersthofen (bei Augsburg), am 20. Dezember aufgenommen, drei Tage vor ihrem 73. Geburtstag. Sie wurde am Klavier von ihrem slowakischen Landsmann, dem Dirigenten Peter Valentovic begleitet. Und sie inszeniert diesen Abgang in den Zugaben (die beiden Adele-Arien) mit hinreißender Komik und ausgebufften Nuancen auch im Gesanglichen. Und ihr launiger Klavierpartner spielt auch szenisch hübsch mit. Eine Primadonna persifliert ihren eigenen Status. Ein würdiger Abschluss. Ekkehard Pluta

 

 

Die Deutsche Oper Berlin schreibt: in der Welt der Oper, die von persönlichen Urteilen und Vorlieben geprägt ist, geschieht es sehr selten, dass einer Sängerin unbestritten der Titel einer Königin zuerkannt wird. Edita Gruberová (* 23. Dezember 1946 in Bratislava-Rača, Tschechoslowakei; † 18. Oktober 2021 in Zürich) war einer dieser seltenen Fälle: als Königin des dramatischen Belcanto regierte sie über ein Vierteljahrhundert lang ein Reich, dessen Kernlande sich um die romantischen Opern Bellinis und Donizettis konzentrierten. Und wie Elisabeth I., die sie in Donizettis Roberto Devereux so eindrucksvoll porträtierte, zog sie umher, hielt Hof und zeigte sich ihren treuen, jubelnden Untertanen.

In Berlin war die Deutsche Oper Berlin der Ort, an dem Gruberová empfing: seit 2013 war sie bis zu ihrem Bühnenabschied im Jahr 2019 regelmäßig hier zu Gast und demonstrierte, eskortiert von einem auserlesenen Hofstaat an Comprimarii, als Norma, Elisabetta und Lucrezia Borgia in konzertanten Aufführungen ihre ungebrochene Souveränität in diesem Repertoire. Mit diesen Auftritten knüpfte die 1947 in Bratislava geborene Sängerin inhaltlich direkt an ihr Hausdebüt 1980 in der umjubelten Premiere von Donizettis Lucia di Lammermoor an und bewies, dass sie sich in der dazwischenliegenden Zeitspanne nicht nur ihre blendenden Spitzentöne bewahrt, sondern an Gestaltungskraft noch hinzugewonnen hatte. Tatsächlich hat sich Edita Gruberová, deren Karriere lange an Partien des Koloraturfachs wie Mozarts Königin der Nacht und Konstanze und vor allem die Zerbinetta in Strauss‘ Ariadne auf Naxos geknüpft war, ihre Herrschaft im Reich der romantischen, zumeist italienischen Oper erst erkämpft und damit auch ein Vakuum ausgefüllt, das nach dem Abschied der voraufgegangenen Generation einer Joan Sutherland, Montserrat Caballé und Leyla Gencer entstanden war. Diese erstaunliche Spätkarriere war auch das Resultat einer Zusammenarbeit mit dem Regisseur Christof Loy, mit dem Gruberová maßstäbliche Produktionen der großen Opern Bellinis und Donizettis erarbeitete und sich so auch als Darstellerin von dramatischem Format etablierte. Jetzt ist Edita Gruberová überraschend in ihrer Zürcher Wahlheimat verstorben. Berlin bleibt der Trost, den glanzvollen Karriereherbst eine der großen Opernsängerinnen unserer Zeit miterlebt zu haben. Die Deutsche Oper Berlin wird Edita Gruberová ein ehrendes Angedenken bewahren. Kirsten Hehmeyer/ Pressebüro/ Deutsche Oper Berlin/Foto Copyright: Bettina Stöß 

 

Ein ausführlicher Nachruf von Ekkehard Pluta folgt.

Verdis „Macbeth“ 1865

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Verdi-Fans und besonders Freunde der französischen Oper wird das Herz schneller geschlagen haben, als sie die Ankündigung eines Macbeth in der Pariser Fassung (von 1865 für das Théatre Lyrique Impérial) nun beim Verdi Festival Parma 2020 hörten. Diese ist von Dynamik mitgeschnitten und veröffentlicht worden. Der Jubelkelch beinhaltet allerdings kleine Wermutstropfen, denn nicht alle italienischen Mitwirkenden sind im Französischen zu Hause…. Wie man auch beim Trouvere in der Dynamic-Einspielung aus Parma feststellen konnte. Dieser Macbeth bleibt auf weite Strecken eine italienische Affaire.

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Aber Ludovic Tézier sorgt in der Titelrolle des Macbeth für das richtige idiomatische Ambiente und singt fabelhaft wie stets, unglaublich wortdeutlich, vielleicht ein wenig weich im Timbre, was aber der Rolle gerecht wird. Schon seinetwegen lohnt sich die Anschaffung: Seine Szene mit den Hexen im 3. Akt und vor allem auch seine letzte Arie sind ein weiterer Beweis für seine wunderbare Stimme und seine Gestaltung, sonor, absolut wortverständlich und einen plastischen Charakter erschaffend. Ich muss gestehen, dass ich seine Teile der Aufnahme mehrfach hintereinander gehört habe und nicht genug davon bekommen konnte! Hier steht ein Künstler auf dem Zenith seines Könnens.

Die in letzter Minute eingesprungene und außerordentlich tapfere  Silvia Dalla Benedetta macht einen jener kleinen Wermutsanteile nella tazza del delizio aus, ist doch die Stimme recht unruhig und auch scharf unter Druck, und man versteht nicht all zuviel vom  französischen Text Nuitiers (dem Tüchtigen, der auch Wagners Tannhhäuser für die Opéra verarbeitete). Aber der gewisperte Brief im 1. Akt zeigt, dass sie beim Sprechen des Französischen hervorragend mächtig ist. Und sie steigert sich namentlich im zweiten Akt sehr. Die Nachtwandlerszene hat man schon eindrucksvoller gehört, trotz der Bemühung zur Gestaltung. Banquo und Macduff bleiben im italienischen Mittelfeld. Und einen Macduff stellt man sich strammer vor als Giorgio Berrugi. den er mit recht trockenem Timbre abliefert. Riccardo Zanellato macht als Banquo gute Figur, aber mehr gibt die Rolle ja auch nicht her. Francesco Leone fällt mir mit seinen drei Worten als Medico angenehm auf.

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Wir von operalounge.de halten jedoch diese erste  Aufnahme (und Aufführung!) unter einem schwungvollen Roberto Abbado am Pult des Filarmonico Arturo Toscanini und des schlagkräftigen Teatro Regio di Parma (und des flotten Chores der Hexen und Höflinge am Ende des 1. Aktes!) für eine überaus wichtige Neueinspielung und eine mehr als ersehnte Ergänzung für den Kanon des französischen Verdi. Und sie ist unglaublicherweise wirklich eine Erstaufführung in moderner Zeit – denn selbst die beim französischen Rundfunk von 1972 ausgestrahlte Macbeth-Fassung mit Robert Massard und Michelle LeBris wurde in Italienisch gesungen. Soweit der Franzosen und ihr nationales Erbe …

Nachstehend folgt zum allgemeinen Verständnis der Artikel von Giuseppe Martini aus dem Beiheft der Dynamic-Aufnahme mit freundlicher Genehmigung des Teatro Regio di Parma in unserer eigenen Übersetzung von Daniel Hauser. G. H.

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Verdis „Macbeth“ 1865 in Parma 2020 konzertant/ Teatro Regio Parma

Nun also der Text von Giuseppe Martini: Im März 1864 teilte Léon Carvalho, der Intendant des Pariser Théâtre Lyrique Impérial, Verdi mit, dass er eine französische Version von Macbeth inszenieren wolle; einen Titel, den der Komponist bereits 1847 kurz nach seiner Uraufführung im Pergola-Theater in Florenz für die Opéra übersetzen wollte, obwohl der Plan keine Gestalt annahm. Nachdem er Carvalhos Vorschlag erhalten und die sechzehn Jahre zuvor fertiggestellte Partitur ausgegraben hatte, erkannte Verdi sofort, dass viele Teile der Oper von 1847 weder mehr den Geschmack Mitte der 1860er Jahre trafen noch seine eigene musikalische Entwicklung widerspiegelten, nämlich Lady Macbeths Arie im zweiten Akt, einige Teile der Erscheinungsszene mit Macbeths Arie im dritten Akt und die ersten Szenen des vierten Aktes; sie mussten von Grund auf neu geschrieben werden, und um dem Geschmack des Pariser Publikums zu entsprechen, musste er das obligatorische Ballett einfügen und auf Carvalhos Wunsch Macbeths Schlussarie durch einen Chor ersetzen. Auf Verdis Warnung hin, dass er Zeit brauchen würde, antwortete Carvalho mit dem großzügigen Angebot einer Entschädigung und der Zusage, die Übersetzung des Librettos zu bezahlen. Von diesen Argumenten überzeugt, machte sich Verdi Anfang Dezember 1864 an die Arbeit und schickte am 3. Februar 1865 die fertige Partitur an Ricordi. Die neuen Teile des Librettos wurden Francesco Maria Piave anvertraut. Das Ballett wurde passenderweise im dritten Aufzug eingefügt (als Macbeth zu den Hexen geht): ein Ballabile in fünf Sätzen mit der Erscheinung von Hécate, beschlossen durch einen Sabbat vor Macbeths Ankunft und einen Tanz von Nymphen und Sylphen über dem besinnungslosen Macbeth, der nach den Prophezeiungen in Ohnmacht gefallen war.

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Verdis „Macbeth“ Paris 1865/ Bühnenbildentwurf für den 1. Akt/ Gallica/BFN

Der neue Macbeth, der am 21. April 1865 im Théâtre Lyrique – übrigens ohne Verdis Anwesenheit und mit mäßigem Erfolg – inszeniert wurde, war also eine musikalisch überarbeitete Oper nach dem italienischen Libretto von 1847, teilweise umgeschrieben und dann wieder exklusiv für die Pariser Aufführungen ins Französische übersetzt. Das Theaterleben der Oper setzte sich danach in der italienischen Neufassung fort, die 1874 an der Mailänder Scala uraufgeführt wurde und bis heute am häufigsten an den Opernhäusern der Welt vertreten ist. Im Vergleich zur Fassung von 1847 verzichtet die neue Fassung auf die traurige Intimität von Macbeths letzter Szene – er stirbt nun hinter den Kulissen – und verstärkt den trüben Farbton, der Verdis Wunsch entsprach, Shakespeares Realitätsnähe und Geschmack für das Phantastische zu vermitteln, das gleich zu Beginn seine Möglichkeit widerspiegelte, sich mit ungewöhnlichen Opernfiguren im Vergleich zu den Standards der italienischen Oper auseinanderzusetzen und ausdrucksstarke Lösungen anzustreben, die seinen Ambitionen von Innovation und Realismus näher kamen.

Verdis „Macbeth“ 1865: Jean Vital Jammes war der erste Titelsänger/ Gallica/BFN

Daher Verdis Interesse an spektakulären Effekten und der Kraft von Worten und Gesten, auf die er sich auch 1865 konzentrierte und für die er kategorische Vorgaben machte. Neben der Inszenierung des Übernatürlichen war es Verdis Ziel, in Macbeth das obskure Durcheinander der menschlichen Seele zu vermitteln, indem er die Priorität bürgerlicher Werte und die Bedrohung durch die Zerbrechlichkeit der Psyche aufzeigte, ein Ziel, das nur durch eine brutale Wirkung zu erreichen war; dies kam im Jahre 1865 aufgrund der ästhetischen Parameter der Zeit unerwartet und wurde erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollständig gewürdigt.

Das Libretto: Die zwischen 1864 und Anfang Februar 1865 von Francesco Maria Piave vorgenommene Überarbeitung des Librettos von 1847, die teils sein eigenes Werk war, teils (die letzten beiden Akte) Andrea Maffei verfasst hatte, betraf vor allem die Neufassung von Lady Macbeths Arie im ersten Akt („Trionfai“, ersetzt durch „La luce langue“), das Rezitativ und die Erscheinungsszene, das Duett im dritten Akt („Ora di morte“ anstelle von „Vada in fiamme“) und das letzte Finale, in dem ein Siegeslied Macbeths „Mal per me che m’appressai“ ersetzt. Die Änderungen erschienen Verdi notwendig, nachdem er die Oper nach so vielen Jahren noch einmal studiert hatte, und erfolgten auch auf Wunsch des Impresarios Carvalho, der ausdrücklich um einen Chor anstelle von Macbeths Tod gebeten hatte.

Verdis „Macbeth“ 1865: Amélie Rey-Balla war die erste Lady, hier in reizvoller Pose auf einer Künstlerpostkarte/ Foto operamania ipernity.com

Piave arbeitete hauptsächlich in Venedig, aber im Jänner 1865 auch zweimal mit Verdi in Sant’Agata. In vielen Fällen waren Verdis Vorschläge sehr explizit, und für „La luce langue“ wurden die Verse sogar vollständig von ihm und Strepponi geschrieben. Die sprachlichen Grundlagen der Erstfassung jedenfalls blieben unangetastet: scharfe Verse, prägnante Worte, vielfältige Ausdruckslagen, hoch und tief, komisch und erhaben. Verdi hatte Piave gebeten, das Sprachregister für die Hexenchöre schon bei der ersten Fassung zu senken, deren Layout auf der Grundlage von Carlo Rusconis italienischer Übersetzung von Shakespeares Tragödie von 1838 erstellt worden war. Verdi arbeitete an dem neuen italienischen Libretto, als er seine musikalischen Stimmen neu schrieb und daraus die französische Übersetzung – die der Pariser Verlag Léon Escudier von Anfang an zugesagt hatte – angefertigt wurde. Eine italienische Oper ins Französische zu übersetzen war schon immer ein heikles Thema aufgrund der Klangfarben und der prosodischen Unterschiede zwischen den beiden Sprachen. Tatsächlich hatte Duprez‘ Übersetzung, die so sehr darauf bedacht war, wörtlich zu sein, einen anderen Rhythmus als die Musik; nachdem man dies erkannt und Verdis es missbilligt hatte, vertraute Escudier im Jänner die Arbeit Charles Nuittier und Alexandre Beaumont an, die bereits die Libretti der Zauberflöte und des Tannhäuser ins Französische übersetzt hatten; Mitte April war die Arbeit getan.

Verdis „Macbeth“ von 1865: der Tenor Juies Monjauze war der erste Macduff, hier mit Partnerin in Donizettis „Dom Sébastien“/ Iperniti operamania

Tatsächlich ist die französische Übersetzung von Macbeth nicht immer wortwörtlich (sie es ist in der Schlafwandler-Szene, aber deutlich weniger im Finale oder im Chor, der den vierten Akt eröffnet), da sie dem Rhythmus des italienischen Originaltextes folgt (nach dem Verdi seine Musik modelliert hatte), und greift manchmal sogar auf Shakespeares Text zurück (der Beginn der Hexenszene im dritten Akt). Giuseppe Martini/ mit freundlicher Genehmigung des Teatro Regio di Parma/ Übersetzung Daniel Hauser/ Abbildung oben: „Die drei Hexen“ zu „Macbeth“ von Shakespeare, Gemälde von Johann Heinrich Füssli/ 1785/ Wellcome Collection, CC BY/ Wikipedia

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Giuseppe Verdi: Macbeth (1865 French version) / Ludovic Tezier, bar (Macbeth); Silvia Dalla Benetta, sop (Lady Macbeth); Riccardo Zanellato, bs (Banquo); Giorgio Berrugi, ten (Macduff); David Astorga, ten (Malcolm); Francesco Leone, bs (Doctor); Natalia Gavrilan, mezzo (Countess); Jacobo Ochoa, bs (Assassin/Servant/1st Ghost); Pietro Bolognini, ctr-ten (2nd Ghost); Pilar Mezzardi Corona, mezzo (3rd Ghost); Teatro Regio di Parma Chorus; Arturo Toscanini Philharmonic Orch.; Roberto Abbado, cond / Dynamic CDS7915.02

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.