Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Malerisches

 

In Italien werden seine Opern gelegentlich noch gespielt, im übrigen Europa ist wenigstens seine Römische Trilogie noch immer fester Bestandteil des Konzertrepertoires. Was für ein vielseitiger und eigenartiger Liedschöpfer Ottorino Respighi (1879-1936) war, haben jetzt der Tenor Ian Bostridge und die Pianistin Saskia Giorgini in einer mustergültigen Interpretation beim Label Pentatone unter Beweis gestellt.

Mit den teilweise zur selben Zeit entstandenen Romanzen eines Francesco Paolo Tosti und den Gelegenheitsarbeiten von Puccini, Leoncavallo und Mascagni haben seine als „liriche“ bezeichneten Lieder nicht viel gemein. Sie stellen hohe literarische Ansprüche und ihre Besonderheit liegt nach Auffassung der Pianistin Giorgini in der völligen Verschmelzung von Dichtung und Musik. Dabei ist die Auswahl der Texte ein Spiegel der literarischen Strömungen des Fin de siècle und des frühen 20. Jahrhunderts. Gabriele d’Annunzio, der Dichterheros seiner Generation, steht da obenan, aber auch hier weniger bekannte Autoren wie die Lyrikerin Ada Negri, der dem Jugendstil nahe stehende Antonio Rubino, der sich später vor allem als Illustrator einen Namen machte, oder der französische Symbolist Jean Moréas kommen zum Zuge.

Die meisten Gedichte kreisen um das Thema Mensch und Natur, die oft eine mythologische Überhöhung erfährt, in Deità silvane (Waldgottheiten, 1917) etwa befinden wir uns unter Faunen und Nymphen. Titel wie Nebbie und Pioggia oder Notte und La sera beschreiben in erster Linie Seelenzustände.

Respighi war, das zeigt sich in dieser Liedersammlung noch mehr als in seinen Opern und Orchesterstücken, ein literarisch und musikalisch umfassend gebildeter Komponist, ein Eklektiker im besten Sinne des Wortes, der seine Vorbilder nicht leugnet, dabei aber zu einem eigenständigen Stil findet. Vor allem die frühen Arbeiten, darunter das Klavierstück Notturno,  zeigen Einflüsse von Debussy und den französischen Impressionisten, andererseits hat auch Wagners Tristan Spuren hinterlassen. Ob er eher den Traditionalisten als den Avantgardisten zuzurechnen ist, lässt sich schwer entscheiden. Die italienische Musikwissenschaft zählt ihn neben Casella, Malipiero und Pizzetti zur „generazione dell’ottanta“ (der Generation der 80er Jahre), die in strikter Abkehr von Puccini und den Veristen einen Neo-Klassizismus kultivierte, dabei aber harmonischen Experimenten nicht abgeneigt war. Anders als etwa Alfredo Casella, der mit der 12-Ton-Technik spielte, hat Respighi die Tonalität aber nicht aufgegeben, seine Spielart der Modernität ist in der Nähe von Prokofjew anzusiedeln.

Sein besonderes Interesse galt von Anfang an dem Volkslied, das deshalb auch den starken Abschluß des Albums bildet. Die Beschäftigung damit umspannt ein Vierteljahrhundert, von der mittelitalienischen Stornellatrice (1906) bis zum Gesang aus den Abruzzen La furtanella (1930). Doch der polyglotte, weitgereiste Komponist wurde auch im Ausland fündig. 4 Scottish Songs (1924) zeigen seine Kunst der Aneignung. Das populäre Lied My heart’s in the Highlands gewinnt in der kunstvollen, aber nicht gekünstelten klavieristischen Ummantelung einen zusätzlichen Reiz.

Respighi zeigt sich in allen Liedern als Erzähler und Maler in einem und Saskia Giorgini bringt diese Qualitäten in ihrem im Wortsinne zauberhaften Vortrag optimal zur Geltung. Man atmet beim Zuhören die Gerüche der mythischen Welten förmlich ein. Und Ian Bostridge, dessen Schubert-Interpretationen ich immer mit etwas distanzierter Bewunderung gegenüberstand, offenbart hier eine vokale Farbpalette, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Da ist nicht nur die helle, etwas ephebenhafte Klangfarbe, die in arkadische Gefilde entführt, sondern auch eine kernig-virile baritonale Grundierung zu bewundern, und – wie bei diesem Sänger gewohnt – eine markante Durchdringung der Texte. Und immer wirkt er idiomatisch, vor allem in den grandios gestalteten schottischen Volksliedern, aber auch in den italienischen Pendants in regionalen Dialekten (Sardinien, Abruzzen). Klavier und Stimme verschmelzen, ganz im Sinne des Komponisten, überall zu einer Einheit. Deshalb meine vorbehaltlose Empfehlung (Pentatone PTC 5186 872). Ekkehard Pluta

Erstmals vollständig, aber …

 

Hat es wirklich bis zum Jahr 2021 gedauert, um eine vollständige Gräfin Mariza-Gesamtaufnahme herauszubringen? Natürlich gibt es schon lange verschiedene, durchaus berühmte Gesamtaufnahmen: erinnert sei an die mit Sena Jurinac, Karl Terkal und dem Hamburger Rundfunkorchester unter Wilhelm Stephan 1952, an die mit Anneliese Rothenberger und Nicolai Gedda unter Willy Mattes mit dem Symphonie-Orchester Graunke von 1972 oder als bislang letztem Eintrag in die Diskographie die von Uwe Theimer 1999 dirigierte Doppel-CD, mit dem Wiener Opernball Orchester sowie Izabel Labuda und Ryszard Karczykowskí als Mariza und Tassilo. Erwähnt werden müssen auch die unendlichen vielen Highlight-Aufnahmen, wo man die Haupthits dieses Welterfolgs von 1924 umfangreich hören kann: sei es mit Fritz Wunderlich, Peter Minich oder Nikolai Schukoff, sei’s mit Sari Barabas, Friedl Loor oder Margit Schramm. Nicht zu vergessen: Eine Gesamtaufnahme auf Englisch von der Ohio Light Opera gibt’s auch, 2004 in Wooster live eingespielt mit Julie Wright als Titelheldin und Brian Woods als smartem Tassilo. Diese Einspielung enthält sogar den Schlager, den Emmerich Kálmán für die Verfilmung 1932 nachkomponierte.

Aber auf all den genannten Aufnahmen fehlt an irgendeiner Stelle etwas, mal der Kinderchor im 1. Akt, mal der Tassilo-Song aus dem 3. Akt („Wer hat euch erdacht, ihr holden Frau’n“), mal die unterlegte Begleitmusik als Einleitung zu den großen Hits usw. usf. Nun hat also Dirigent Ernst Theis mit dem Münchner Rundfunkorchester die erste Aufnahme vorgelegt, die alle (wirklich alle!) Musiknummern inklusive Tanzevolutionen enthält, wie sie im Octava-Klavierauszug enthalten sind. Chapeau!

Die von cpo (8992793) veröffentlichte Aufnahme basiert auf einem Konzert im Münchner Prinzregententheater vom April 2018, mitgeschnitten vom Bayerischen Rundfunk. Ob von Anfang an eine CD-Ausgabe geplant war, weiß ich nicht. Aber: Wenn man schon auf den mit so vielen prominenten Vorgängeraufnahmen übersättigten Markt drängt, wäre es meines Erachtens sinnvoll gewesen, über einen „Unique Selling Point“ der neuen Einspielung nachzudenken. Oder ist „Vollständigkeit“ ausreichend als Kaufanreiz?

Was sofort auffällt ist, dass zwar die komplette Fassung eingespielt wird, aber den vielen Anmerkungen im Octava-Klavierauszug keine Beachtung geschenkt wurde. Da wird beispielsweise sehr genau angegeben, wie der Kinderchor gleich zu Beginn des Werkes zu gestalten sei („1. und 2. Kind“, dann „3. und 4. Kind“, oder „das kleinste Kind allein“). Bei Theis singt durchweg der gesamte Kinderchor, wodurch jede Differenzierung verloren geht. Und das setzt sich fort.

Wenn man mit Mehrzad Montazeri einen Tenor zur Verfügung hat, der zwar eifrig die Schluchzer von Fritz Wunderlich kopiert (was effektvoll ist, wenn auch an der Grenze zur Parodie), wenn dieser Tenor aber eben kein Wunderlich sein kann, sondern „nur“ ein angenehm kompetenter Sänger ohne besonderen Gestaltungswillen, dann hätte man ihm als Dirigent schon unter die Arme greifen und ihn eine Fassung von „Grüß mir die süßen, die reizenden Frauen im schönen Wien“ singen lassen können, bei der das „da capo“ der Hauptmelodie gepfiffen wird, wie im Klavierauszug vorgeschlagen. Das wäre dann „Anders als die Anderen“ gewesen. Und eine interessante Nuance. Auch das nur ein Beispiel von vielen.

Ernst Theis ist an solchen Nuancen nicht interessiert. Er dirigiert eine geradeheraus interpretierte Gräfin Mariza ohne besondere Vorkommnisse. Das bedeutet auch, dass er die Jazz-Instrumentation der Tanzschlager – etwa beim Shimmy „Komm mit nach Varasdin“ – nur im Hintergrund erahnen lässt. Dass Kálmán sich hier deutlich am Broadway und an Jerome Kern orientiert, muss man wissen. Hören tut man’s nicht. Wie überhaupt der eigenwillige Klangreiz dieses Werks nur in Bezug auf die ungarischen Elemente betont wird (Táragotó: Péter Horváth; Cimbalom: Olga Mishula). Dabei hieß es in einem zeitgenössischen Cartoon zu Kálmán: „Zwei Seelen wohnen auch in meiner Brust, die eine csardast und die andere bluest!“ Dazu sah man den Komponisten wild auf einem Xylophone spielen, das er auch in der Gräfin Mariza eifrig einsetzt. Im Mund hat er ein Saxophon.

Nach den vielen Einspielungen mit Opernstars fällt Theis und dem BR nichts weiter ein, als ebenfalls eine Opernbesetzung aufzubieten, allerdings ohne Stars. Statt sich darauf zu berufen, dass 1924 am Theater an der Wien kein einziger Opernsänger dabei war: vielmehr gestaltete damals Hubert Marischka den Tassilo „auf Burgtheaterniveau“, wie’s in einer Kritik hieß (die auch von Stefan Frey im Booklet zitiert wird). Wer den Film von 1932 kennt, mit Marischka als Tassilo, der weiß, dass er „Auch ich war einst ein feiner Csardaskavalier“ („Komm Zigány“) wie eine große soziale Anklage rezitiert – nicht aussingt –, und dann in einen rauschhaft getanzten Csardas übergeht, bei dem Kálmán es wirklich krachen lässt. (Auf CD kriegt das Robert Stolz als Dirigent am wirkungsvollsten hin.) Ich bin sicher, das hätte Montazeri vorm Mikrophon à la Marischka hingekriegt, wenn ihn jemand dazu animiert hätte. So wirkt er leider nur wie der Abklatsch von hundertfach besser gehörten Alternativen.

Als Mariza steht Betsy Horne bereit. Die bemerkenswerte Textgestaltung, die Rothenberger in ihr Auftrittslied steckt („Klingt ein heißer Csardastraum sinnbetörend durch den Raum“) wird man bei ihr nicht finden, den durch alle Lagen perfekt geführten Sopran der Rothenberger auch nicht. Von den Sehnsuchtstönen einer Jurinac ist Horne ebenfalls weit entfernt. Und die Quicklebendigkeit von Sari Barabas, die die vielleicht überzeugendste Aufnahme von „Höre ich Zigeunergeigen“ vorgelegt hat (1962 mit den Berliner Symphonikern unter Frank Fox) fehlt gänzlich. Barabas ist die Einzige auf Tonträger, die in den schnellen Parlando-Passagen („Willst du toll der Freude leben, soll das Herz vor Lust erbeben“) wirklich mit einem Jauchzen durch das endlosen Achtelketten gleitet, trotz fulminantem Accelerando. Jedes Wort ist bei ihr eine Aussage. Barabas hat in den 1950ern noch mit Kálmán selbst zusammengearbeitet und war später lange mit seinem Sohn Charles befreundet, sie wusste sehr genau, wie diese Musik „geht“.

Übrigens: Truesound Transfers hat kürzlich ein Album mit Aufnahmen der Uraufführungssängerin Betty Fischer herausgegeben. Auch das – nochmals – eine ganz andere Stimme, an der man sich hätte orientieren können, um auf CD neue interpretatorische Mariza-Wege zu beschreiten. Von Kálmán selbst dirigiert gibt’s immerhin das Duett „Sag‘ ja, mein Lieb, sag‘ ja“ mit Gitta Álpár und Felix Knight (auf Englisch, 1940 in New York aufgenommen). Was Kálmán bei dieser kurzen Nummer an Schmelz und Schmachten herausholt, von Álpár mit einer Sinnlichkeit gesungen, die niemand sonst erreicht, das wäre ebenfalls ein lohnendes Vorbild gewesen. Denn niemand dirigiert einen Slow Walz und (!) einen rauschhaften Walzer so wie Kálmán. Auch nicht Konkurrent Robert Stolz, der in New York Kálmáns Nachbar war und selbstredend in den 1920er-Jahren die Aufführungen mit Fischer und Marischka erleben durfte. Immerhin kommt Stolz solch einen Ideal recht nahe, und er hat auf seiner Aufnahme neben Schramm auch Rudolf Schock zur Verfügung, der einen effektvollen Tassilo singt. Nicht auf „Burgtheaterviveau“, aber definitiv mit Niveau.

Aber wozu sich die Genies der Vergangenheit anhören und von ihnen lernen? Das gilt letztlich ebenso für die Buffo-Rollen, die 1924 Elsie Altmann und Max Hansen kreierten (und Hans Moser). Hier hört man Lydia Teuscher und Jeffrey Treganza als Lisa und Zsupán. Ein Comedy-Glanzlicht sind sie sicher nicht, und vom Witz eines Max Hansen ist das neue „Behüt dich Gott, komm gut nach Haus“ mit seinem augenzwinkernden Quickstep-Rhythmus weit entfernt.

Als Fürst Dragomir wird vom Bayerischen Rundfunk Peter Schöne aufgeboten, der für diesen Charakter-Part völlig falsch ist, weil keine Charakterstimme. Und Pia Viola Buchert als wahrsagende Zigeunerin Manja ist letztlich keine Konkurrenz für Edda Moser auf der alten EMI-Aufnahme unter Mattes (wo ihre Szene übrigens vollständig enthalten ist und Moser sogar die halsbrecherischen Triller singt, die Kálmán vorschreibt und um die sich Buchert drückt).

Was bleibt also? Ist es zu harsch, die cpo-Aufnahme mit all den älteren Einspielungen zu vergleichen? Ist es zu viel verlangt, vom Bayerischen Rundfunk oder vom selbsterklärten Operettenexperten Ernst Theis mehr zu erwarten als nur eine routiniert Gräfin Mariza?

Wo so viel von „Original“ und „historisch informierter Aufführungspraxis“ die Rede ist: Wieso will niemand dieses Kálmán-Opus aus dem Geist der Zwanziger neu entdecken? Wieso immer wieder die aufgewärmte Puszta-Romantik, die nach dem Zweiten Weltkrieg so an Kálmán geliebt wurde und die auf Tonträger bis zum Überfluss dokumentiert ist? (Am schrecklichsten auf der Aufnahme mit René Kollo und Erzsebét Hazy unter Wolfgang Ebert, der Soundtrack zum entsprechenden TV-Operettenfilm.)

Wer bei Gräfin Mariza etwas „Neues“ entdecken will, kann umfangreiche Ausschnitte aus den 1940er-Jahren auf der CD Kálmán on Broadway hören, vom Operetta Archive in Los Angeles liebevoll herausgegeben (und über dieses bestellbar). Die originale Broadwayfassung, die einst erfolgreich in den USA lief, ist bislang nicht eingespielt, Ohio Light Opera hat ihre neue englische Version auf Basis des Wiener-Originals erstellt. Was Glanz der Stimmen angeht, kann diese ebenfalls vom Operetta Archive veröffentlichte Aufnahme mit der hier diskutierten Konkurrenz auch nicht mithalten.

Ich selbst muss gestehen, dass ich trotz aller Kritik an der Affektiertheit von Anneliese Rothenberger die Souveränität und Stilsicherheit der EMI-Aufnahme doch sehr zu schätzen gelernt habe. Und dass ich Sena Jurinac im Zweifelsfall lieber höre … zudem mit der blutjungen Rothenberger als Lisa neben Rupert Glawitsch als Zsupán. Der klingt auch nicht wie Max Hansen, aber damals hat so etwas niemanden interessiert. Auch Willi Brokmeier klingt bei EMI 1972 nicht wie Hansen, aber er zieht eine zeittypische Buffo-Show ab. Ist das, was Treganza, Teuscher, Horne und Montazeri bei cpo abliefern auch „zeittypisch“ für die 2020er-Jahre?

Elsie Altmann war die erste Lisa in Kálmáns „Gräfin Mariza“/Wikipedia

All das ändert nichts daran, dass hier eine vollständige Gesamtaufnahme vorliegt, die erste ihrer Art. Muss man dankbar sein, dass sich endlich jemand diese Mühe gemacht hat. Ob diese CD genauso schnell wieder vergessen sein wird, wie die Aufnahme unter Dirigent Uwe Theimer, muss sich zeigen. Das Cover sieht nahezu identisch aus, in beiden Fällen wird das kolorierte Bild vom Octava-Klavierauszug verwendet, auf dem eine kesse Gräfin in Fantasiekostümierung zu sehen ist, die weder bei Theimer noch bei Theis so kess klingt, wie sie auf dem Bild wirkt.

Zum Schluss sei noch eine kleine Nachbemerkung erlaubt: Wenn man meint, in den Dialogen auf das Wort „Zigeuner“ eingehen zu müssen und dieses im Sinn von „Virtue Signaling“ zu problematisieren, dann sollte das intelligenter geschehen als hier von Paul Esperanza („Dialogregie“) vorgeführt. Der Rassismusvorwurf, der hinter der Verwendung des Z-Worts steht, ist wichtig und ernst. Aber dazu wurde vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma schon gesagt, dass es lächerlich sei, sich hierüber im Operettenkontext zu streiten, wenn es wichtigere Aspekte der Diskriminierung von Sinti und Roma gibt, die angegangen werden müssten. Und wenn man schon auf Rassismus eingeht (wie beim Bayerischen Rundfunk), dann kann man nicht anschließend die Darsteller mit lächerlich-stereotypem ungarischen Akzent sprechen lassen. Entweder ist man „wach“ für solche Ausgrenzungen und schreibt die Dialoge um (was kaum geht, bei diesem Stück) – oder man steht zum Original und macht etwas daraus. Kevin Clarke

 

Pacinis „Medea“

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Das Theater für Niedersachsen (TFN) ist seit einer Zeit für Opern-Überraschungen gut. Unter Florian Ziemen hat sich die Hildesheimer Bühne zu einem veritablen Zauberkasten gewandelt, man erinnert sich noch an Donizettis Adelia und Mercadantes Briganti (sorry, natürlich auch an Wagners Tristan, Offenbachs Trapezunt & Co.), wo vor allem bei Letzteren dem Belcanto-Fan das Wasser im musikalischen Mund zusammenlief (und wir bei operalounge.de beide Aufführungen gebührend würdigten).

Pacinis „Medea“ am TFN Hildesheim/Szene/ Foto Tim Müller

Nun also Pacinis Medea in m. W., deutscher Erstaufführung und als zweiter europäischer Versuch nach der auch bei Agora dokumentierten Aufführung in Savona 1993 unter Richard Bonynge (immerhin). Hier nun in Hildesheim dirigiert der Chef Florian Ziemen (der dafür erfreulicherweise einige Striche aufgemacht hat, die man in  Savona beanstandete), und die Besetzung ist mit Robyn Allegra Parton, Yohan Kim, Zachary Wilson, Uwe Tobias Hieronimi, Xin Pan und Neele Kramer besetzt. Gerhard Eckels bespricht die Aufführung für uns (folgt), und der renommierte Musikwissenschaftler und Belcanto-Spezialist Alex Weatherson von der Londoner Donizetti Gesellschaft steuert einen Artikel zum Komponisten und dem Werk bei. Chapeau für das TFN und Florian Ziemen für deren Mut und Kreativität.

Belcanto-Ausgrabung: Bei operalounge-de  gab und gibt es zu Recht immer wieder Lob für Florian Ziemen, den GMD am Theater für Niedersachsen (TfN), für seinen Mut, in dem kleinen, aber keineswegs provinziellen Theater weitgehend Unbekanntes aufzuführen. Dort wird der Medea-Stoff ähnlich wie im Vorjahr bei Mercadantes Briganti im Rahmen einer Trilogie verarbeitet. Neben der Oper Medea von Giovanni Pacini gibt es die Tragödie von Pierre Corneille und ein Tanztheater mit dem Donlon Dance Collective. G. H.

Pacinis „Medea“: Figurinen zur Uraufführung/ Ricordi

Und nun also Alex Weatherson: „Il maestro delle cabalette“: Zur Besorgnis und Bestürzung von weniger produktiven Komponisten unterteilt sich die Karriere des unermüdlichen Giovanni Pacini, eines Opernlieferanten im Handumdrehen, in zwei gleichermaßen erfolgreiche Hälften: Diejenigen Opern, die vor 1835 geschrieben wurden, eine unaufhaltsame Flut von Arien, Duetten und Trios; Strettas und Cabalettas in Hülle und Fülle (so viele, dass er von einem nicht immer dankbaren Publikum den Spitznamen „Maestro delle cabalette“ erhielt), zusammengeschustert in jeder Art von Handlung, ernsthaft, halbernst und komisch. Und diejenigen, welche nach 1839 komponiert wurden, als er sich selbst an die Hand nahm, seine Orchestrierung und seinen Ruf für Leichtfertigkeit überdachte und mit einer ganzen Reihe solide geplanter Werke zurückschlug, deren Ehrgeiz und Bandbreite nur von Verdi übertroffen werden. Ein schelmischer, aufreizender Mensch, zu leichtsinnig für sein eigenes Wohl, schockierte er alle mit seinen Liebesbeziehungen (mit Pauline Bonaparte, die doppelt so alt war wie er) und monopolisierte das Repertoire überall in Italien, indem er schneller als jeder andere komponierte, mit mehr Schwung und nicht wenig Gespür, sich Aufträge schnappte und Rivalen so sehr verdrängte, dass er sich den Respekt von Rossini und Donizetti und den unsterblichen Neid und die Verachtung von Bellini und Berlioz verschaffte. Geboren und aufgewachsen im Theater, begründete er 1813 im Alter von siebzehn Jahren seine Karriere und blickte niemals zurück, fast jede Stunde des Tages bis zu seinem Tode im Jahre 1867 komponierend verbringend.

Giovanni Pacini/ OB

Wie Rossini konnte er eine lange Liste vertonen, mit dem Ergebnis, dass er zurückging bis Zeno und Metastasio, mit Handlungen „so alt wie Noah“, darunter Cesare in Egitto (1821) oder Temistocle (1823) und Alessandro nell’Indie ( 1824). Er versuchte sich an einem Proto-Lucia-artigen, von Scott inspirierten Vallace (1820), nahm Bellinis berühmte Norma zehn Jahre früher mit seiner La sacerdotessa d’Irminsul (ebenfalls 1820) vorweg und schlug Donizetti mit seinem aufrührerischen Il falegname di Livonia (1819), der 47 Abende an der Mailänder Scala lief. Zwei Bühnenspektakel legten den Grundstein für seinen reifen Ruf, L’ultimo giorno di Pompei (1825), der nicht mit einem rasanten Arienfinale, sondern mit einem erschreckend realistischen Ausbruch des Vesuvs endete; und Gli arabi nelle Gallie (1827) mit ihrem stereoskopischen Panorama von bande, Trompeten hinter den Kulissen, aufeinander zu marschierenden Chören und anderen gewaltigen Gerätschaften. Beide wurden international  gespielt und wurden in eine Vielzahl unwiderstehlicher Partituren eingebettet: Amazilia (1825), komponiert für Fodor-Mainvielle, Giovanni David und Lablache; Niobe (1826) für Pasta und Rubini, I cavalieri di Valenza (1828) für Méric-Lalande und Carolina Ungher, sogar eine vorverdianische Giovanna d’Arco (1830) mit der glänzenden Besetzung von Méric-Lalande, Rubini und Tamburini, alle wunderbar bei Stimme. Er war in der Opernszene unablässig präsent, hyperaktiv, schrieb für jedes große Theater Italiens, komponierte seine nächsten Oper in Intervallen zu den gerade gespielten, heiratete dreimal, hatte neun Kinder und komponierte nicht weniger als hundert Bühnenwerke (was er zumindest behauptete) und für alle großen Sänger: für Malibran, Camporesi, Mariani, Pisaroni, Maffei-Festa, für Velluti, Nicola Taccinardi, Donzelli – und später für Tadolini, Frezzolini, Barbieri-Nini , Delagrange, De Giuli-Borsi, Ronconi, Fraschini und Varesi, unter vielen anderen. Mario, Jenny Lind und Wilhelmine Shroeder Devrient fanden in ihren Konzerten einen Platz für ihn.

Pacinis „Medea“: Figurinen zur Uraufführung/ Ricordi

Er liebte Sänger und passte seine Musik an deren Bedürfnisse an, schrieb für sie, wenn nötig, ganze Partituren um (für Gli arabi nelle Gallie lieferte er nicht weniger als neunzehn zusätzliche Arien). Seine zweite Karriere begann mehr oder weniger mit Saffo (1840), welche zum Triumph seines Lebens wurde. Mit seinem überstürzten Melodienrausch, seiner verrückten Fantasie, seiner leidenschaftlichen Virtuosität und seiner Vorliebe für Innovationen erfüllte er stets die Erwartungen des Publikums. Zwei Jahrzehnte lang hielt er seinen Platz in einer zunehmend von Verdi dominierten Ära, mit bitterem Ausgang, als der kommerzielle Wettbewerb eine Fermate in seiner Opernflut erzwang und das Angebot an großen Sängern versiegte.

Medea ist eine Oper seiner zweiten schöpferischen Phase. Für eine Inszenierung am Teatro Carolino von Palermo am 28. November 1843 komponiert, hatte er sich dezidiert für ein althergebrachtes Thema entschieden, um die Kontinuität seiner Muse und seine Erneuerungsfähigkeit zu betonen. Mit Geltrude Bortolotti als Medea, Luigi Valli als Creonte und Giovanni Pancani als Giascone machte die Oper die erhoffte Furore. Tatsächlich hatte er sich ungewöhnliche Mühe gegeben, obwohl er gleichzeitig zwei Opern schrieb (die andere war Luisetta o La cantatrice del molo, die am 13. Dezember 1843 in Neapel glücklich inszeniert wurde). Es ist klar, dass er sich immens bemüht hat. „Guai se conoscesse la musica!“ hatte Rossini von Pacini „nessuno potrebbe resistergli“ gesagt, und wie als Antwort darauf wird Medea so stark wie möglich besetzt mit dynamischen Markierungen aller Art, Spitzkehren und Bögen; nichts wird dem Zufall überlassen, interpretative Angaben finden sich in fast jedem Takt, jede gesangliche und instrumentale Nuance ist vollständig detailliert.

Pacinis „Medea“: die bislang einzige Aufnahme, Savona 1993 Savona, vergriffen

Es gibt sogar eine allgemeine Tonartstruktur, die er überraschenderweise während der unglaublichen Neufassung, der seine erfolgreiche Oper unterzogen wurde, aufrecht erhalten wollte, noch bevor der Applaus in seinen Ohren aufgehört hatte. Fast jedes Element der Originalpartitur wurde in späteren Inszenierungen ersetzt, mehrere Schlüsselstücke mehr als einmal. Cassandra, die in der ersten Fassung eine Arie hatte, verlor sie fast augenblicklich; das Preludio wurde alsbald zu einer vollwertigen Sinfonia, und sogar die beiden großartige Duette, die den Kern der Handlung bilden, wurden anschließend bis zur Unkenntlichkeit überarbeitet. Die Oper wurde für eine Wiederaufnahme in Vicenza am 22. Jänner 1845 umgeschrieben, erneut für Turin am 20. August 1845 und noch einmal für Florenz am 12. Juni 1850, um dann eine letzte glanzvolle Neuinszenierung in Neapel zu erfahren, drei Jahre später.

Pacinis „Medea“: Adelaide Cortesi war einer der ganz großen Primadonnen der Zeit, die mit Pacis Oper einen gigantischen Erfolg hatte; sie brachte sogar die Oper 1860 nach New York,  „(1860 …) And tickets to see the famed soprano Madame Adelaide Cortesi portray the title role in Giovanni Pacini’s “splendid tragic opera Medea” at Niblo’s Garden ranged from two bits for a ticket in ‘Family Circle’ to $10 for an exclusive private box. The first performance was promised for the evening of Thursday, September 27 at eight o’clock, with a “farewell performance” at the one o’clock matinee on the following Saturday.
The Niblo’s production of „Medea“ by Madame Cortesi’s Italian opera troupe was the United States premiere of Pacini’s opera. (…) 
Over the previous year, Cortesi had taken the opera scene in New York by storm; she was a versatile singer and actress, first reported in New York papers to be a mezzo-soprano. (…) Daughter of a choreographer and sister to an opera composer. She debuted in 1847 at La Scala in the title role in Donizetti’s Gemma di Vergy, rising to prominence as the lead soprano of that house.She became known for such roles as Norma, Lucrezia Borgia, Poliuto, and Il Trovatore. She sang all over the world, creating a furor wherever Italian opera was popular, though in London and Paris she was not as successful. She was especially liked in Havana, Mexico City, and South America; indeed, it was glowing reports from such far-flung locales that led to her first engagement to sing in New York.
Cortesi was also no stranger to the music of Pacini, for she not only sang Saffo and Medea frequently, but also created the title role in his lurid gothic melodrama „Malvina di Scozia“ in 1851. Her New York debut was, in fact, as Saffo at the Academy of Music. She drove her audience wild, and is said to have had to wade through flowers to reach the footlights when taking her curtain call at the end of that performance. The announcement of Medea on the September 27 New York Herald’s front page trumpeted Cortesi’s previous triumphs in Pacini’s “grandest tragic opera”, in which she had, we are told, “invariably created so startling a sensation”. (Quelle: La Strega)

Pacinis Medea steht in nichts Cherubinis berühmter Meédée (1797) oder Mayrs Medea in Corinto (1813) mit ihrem neoklassischen Libretto von Romani nach. Fast jeder Fetzen antiker Würde wurde abgelegt und sie ist zu einer für das melodramma romantico typischen arcivittima geworden; gewiss wütend, rachsüchtig und einschüchternd, aber auch voller tödlicher Schwäche. Es gibt keine Zauberei, sie ist einfach eine ausrangierte Frau, ohne Liebhaber und Kinder, für die der Komponist Mitgefühl empfindet. Der übergroßzügige, verschwenderische Pacini findet etwas Neues über sie zu sagen und vertritt ihre Sache mit jeder gewitzten melodischen Wendung, die ihm zur Verfügung steht. In Medea zeigt Pacini den mit Donizetti geteilten Einfallsreichtum, Konventionen für ihn arbeiten zu lassen. Auf diese Weise nutzt er den traditionellen Tempo- und Stimmungswechsel zwischen Arie und Cabaletta aus, indem er diesen letzten schizophrenen Trieb seiner dämonischen Heldin ausnutzt. In ihren ruhigeren Momenten ist sie eine liebevolle Mutter und Frau mit gebrochenem Herzen, aber wenn sie von gefühlloser Wut verzehrt wird, bricht sie in eine leidenschaftliche Stretta oder Cabaletta mit pochendem Rhythmus und angeschwollener Fioritur aus. Diese brillanten Stücke sind nicht nur allein um des Effekts willen erdacht und haben den Anspruch, verdianischer als Verdi selbst zu sein. Natürlich ruft das moderne Publikum mit frischem Verdi in den Ohren „Verdi!“ aus, wenn es Medeas Cabaletta im ersten Akt hört, aber dieser berühmte „Maestro delle cabalette“ brauchte keine Lektionen von anderen; die Beweise, die wir haben, ergibt eine umgekehrte Nachfolge. Verdi gab eine Kopie von Medeas cavatina d’entrata in Auftrag und verwahrte sie in seinem Archiv (die Kopie befindet sich heute in der Bibliothek des Conservatorio Padua). Wer was und wann in der Oper des 19. Jahrhunderts initiierte, ist noch immer ein Buch mit verschlossenem Siegel

Die ganze Partitur, vor allem die Orchestrierung, ist leicht französifiziert. In den 1840er Jahren richteten italienische Komponisten, einschließlich Verdi, ihren Blick auf Frankreich. Aber die zu hörende Fassung von Medea ist weitgehend die der letzten Ausgabe, welche am 26. Februar 1853 am Teatro San Carlo in Neapel mit Carolina Alaimo in der Titelrolle gegeben wurde. Darin wurden die meisten Verfeinerungen für Vicenza und Turin sowie die bereits drei Jahre zuvor für Alaimo in Florenz vorgenommenen Verbesserungen zusammengefasst. Ebenfalls enthalten ist die große Arie für Giasone (welche diejenige für Cassandra ersetzt) zu Beginn des zweiten Aktes, die speziell für die heikle Stimme von Settimio Malvezzi – Verdis erstem Rodolfo (Luisa Miller) – komponiert wurde, der diese in Turin sang. Diese San-Carlo-Ausgabe hat zusammen mit der heutigen Aufführungsrealität bestimmte Kürzungen vor allem der Chöre, aber auch bezüglich der Instrumentierung untermauert. Die zwei bemerkenswerten bande sul palco, die Pacini zur Feier von Giasones unglückseliger Hochzeit eingefügt hat, wurden im Allgemeinen in die Orchestertextur aufgenommen (wodurch die Tatsache verschleiert wird, dass Medeas letzte Cabaletta zu Giasones Hochzeitsmusik gesungen wird). Auch das schallende Ritornell für diese letzte lyrische Szene ist etwas gedämpft. Pacini hat für das Instrumentalsolo ein Kornett vorgesehen, für das der helle Klang einer modernen Trompete unangenehm schrill ist. Vermutlich beabsichtigte er ein cornet-à-pistons gemäß seines französifizierten Geschmacks anderswo (aber es ist nicht unmöglich, dass er das traditionelle Kornett beabsichtigte, das von Komponisten im frühen 18. Jahrhundert verwendet wurde – man sollte Pacinis Liebe für das Althergebrachte nie unterschätzen; ein moderner Ersatz wären dann Klarinetten und Oboen im Unisono). Es sind die in die Länge gezogenen Duette, die das volle Ausmaß von Pacinis hyper-erfinderischer Vorstellungskraft zeigen.

Pacinis „Medea“: Figurinen zur Uraufführung/ Ricordi

Seit L’ultimo giorno di Pompei hat er mit langen, langen Duetten, fast generisch in ihrer Form, einen nahtlosen melodischen Umgang mit den Veränderungen seines Textes und ihren dramatischen Implikationen ausgenutzt. Diese sind voll von seinen eigenen bizarren Modulationen und Dissonanzen, improvisierte Kleinode, die kommen und gehen, manchmal zusammengehalten von der Skelettform eines rossinianischen gran duetto, aber häufiger sowohl in Stimmung als auch Inhalt wild abschweifend, trotz der abgedroschenen Stretta, die sie normalerweise abschließt. Hier wird das erste der Duette, die flammende Begegnung von Medea und Giasone, als Abschluss des ersten Aufzugs verwendet, eine echte Neuheit für die damalige Zeit. Und das zweite, das hektische Duett des zweiten Akts zwischen Medea und Creonte, ist der Höhepunkt des Terrors, der Angst und List, der Drohungen und der unzureichend unterdrückten Wut der Antiheldin, somit das absolute Herz der Partitur. Man beachte die Leichtigkeit von Pacinis ausdrucksstarkem Gesang, ebenso die beiden unheimlichen Pizzicato-Akkorde, denen er die beiden Schlüsselwörter, Medeas furor und Creontes duol, beifügt, beide im Gefolge von sieben wiederholten Stakkato-Noten von wunderbar tragischer Bedeutung.

Pacinis „Medea“: Jolanta Omilian und Sergio Panajia in Savona 1996/ Agora

Nur zwei Teile der Partitur scheinen Pacinis Umarbeitungsdrang entgangen zu sein: die gesamte Introduzione, einschließlich des Chors und der Cavatine „Voice di morte“, gesungen von Creonte (obwohl es einige Hinweise darauf gibt, dass sie ursprünglich für Cassandra bestimmt war), mit ihrer schnippische Cabaletta, die der Komponist anscheinend schon seit der Erstaufführung in Palermo intakt hielt, und das trendige concertato, welches den zweiten Akt beschließt, wo Medea beinahe die korinthischen Frauen auf ihre Seite zieht. Der zynische Pacini zeigt hier wie auch in ihrer köstlichen vorletzten Äußerung „Ah dolci! … Nel seno“, wie sehr seine Schwäche für die unheilvolle Prinzessin seine Leidenschaft für Brillanz versüßen konnte.

Mehr von Pacini gibt es bei Opera Rara mit dieser Zusammenstellung aus seinen Opern; und natürlich ist die „Medea“ nicht die einzige dokumentierte Pacini-Oper: Sammler haben „Amazilia“, „Carlo di Borgogna“/Opera Rara, „Il Corsaro“, „“Don Giovanni“, „Edipo re“, „Malvina di Scozia“, „Maria Regina Inghilterra“/Opera Rara, „Maria Stuarda“/ Opera Rara, „Maria Tudor“, „Saffo“/Naxos u. a., „L´ultimo giorno die Pompei“/ Dynamic und weitere

Sie war beinahe die letzte seiner klassischen Heldinnen (Merope von 1846 war die allerletzte). Mit Medea gab er praktisch die mythischen Wesen auf, mit denen er sich früher einen Namen gemacht hatte, und mit ihr auch die überlebensgroßen Gesten und überdimensionalen Emotionen, die das melodramma romantico zu solchen Höhen des Blutvergießens und der Extravaganz geführt hatten. Von nun an widmete er sich trotz der malerischen Natur einiger seiner Handlungen il vero.

Hat er die Cabaletta aufgegeben? Nein, nicht wirklich. Eine kompositorische Eigenart, die ihn in den Schatten stellte, als das späte 19. Jahrhundert solche Künstlichkeit des goldenen Zeitalters des Gesangs verachtete (eine Verachtung, die Verdi nicht teilte – wenn man ihn beim Wort nehmen will). Aber was seine Rivalen verärgerte, ist in Wirklichkeit seine Rettung. Alle seine Opern enthalten einiges an ausgezeichneter Musik, lebendige Ideen, plötzliche Aufwallungen von Originalität, in denen die populistischen, extravertierten, holterdiepolter Cabalettas – das schiere Allheilmittel der Stimmdarstellung – der Schlüssel zum Herzen dieses großartigen Melodisten sind, dessen Opernstrom von 1813 bis 1867 das Zeitalter Rossinis mit seinen Verismo-Erben verbindet. Mit oder ohne Unterstützung von Bellini, Donizetti, Verdi et al. Alexander Weatherson

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In Hildesheim hat die Ausstatterin Anna Siegrot für alle drei Medea-Produktionen  ein Stahlgerüst bauen lassen, das in seiner Grundstruktur an ein Baugerüst erinnert. Zwei durchsichtige Plastikplanen sind angebracht, die wie Vorhänge auf- und zugezogen werden können. Die Kostüme charakterisieren die Akteure sinnfällig: So treten die Choristen in schwarzen Kostümen auf; warum sie zeitweise mit einer auf den Hinterkopf gesetzten Maske versehen sind, erschließt sich nicht ohne weiteres. Während die übrigen Korinther in kaltes Schwarz-Grau gekleidet sind, an das sich auch Giasone allmählich annähert, wurde die Außenseiterrolle Medeas durch feuerrote Haare und ein Kleid mit warmen Farben verdeutlicht.

Pacinis „Medea“ am TFN HIldesheim/Szene/© Tim Müller

Die serbische Regisseurin Beka Savić gab sich redlich Mühe, jeden Anflug von Stehoper zu vermeiden, was bei den gesangstechnisch höchst anspruchsvollen Partien nicht immer gelang. So ließ sie die Akteure die Treppen des Gerüstes herauf- und heruntergehen und die Vorhänge auf- und zuziehen, was oft reichlich krampfhaft wirkte. Manches in den Aktionen blieb rätselhaft: So wurde die stumme Rolle der Creusa (Neele Kramer) stark aufgewertet, indem sie immer wieder mit weitem, weißen Tüll-Rock auftauchte und sich auch als Cassandra verkleidete. Unklar war auch die eingefügte stumme Rolle des Lisimaco (Julian Rohde), der auf der Bühne wie ein Arrangeur der jeweiligen Szene  herum wuselte. Schließlich war der Schluss reichlich merkwürdig: Die beiden Kinder (offenbar ca. halbjährige Zwillinge) erhielten aus einer großen Wasserschale, in das Calcante zuvor eine Flüssigkeit (Gift?) geträufelt hatte, eine Art Taufe. Anschließend fesselte Creusa die beiden kleinen Bündel mit einem schwarzen Strick, vielleicht, um sie in der Schale zu ertränken. Doch Medea verhinderte ihr Vorhaben, erdolchte sie und befreite die Kinder, die  sie schließlich selbst in der Schale ertränkte.

Pacinis „Medea“ am TFN Hildesheim/Szene/© Tim Müller

In der besuchten Vorstellung, der zweiten nach der deutschen Erstaufführung in Hildesheim am 2. Oktober 2021, sorgte Florian Ziemen am Pult des in allen Gruppen tüchtigen Orchesters des TfN mit schwungvollem und zugleich präzisem Dirigat dafür, dass der typische Belcanto-Klang, der vielfach den frühen Werken Verdis ähnelt, mehr als nur angemessen zur Geltung kam. Die sängerische Bewältigung der alles andere als einfachen Partien der Oper ließ aufhorchen, gab es doch Leistungen von beachtlich hohem Niveau: Das gilt in erster Linie für die Robyn Allegra Parton, die die Titelpartie in ihrer Vielschichtigkeit (liebende Mutter und rachsüchtige Furie) glaubhaft verkörperte. Mit ihrem volltimbrierten Sopran beherrschte sie durchgehend die strapaziöse Partie; sie führte ihn sicher durch alle Lagen bis hin zu bombensicheren Höhen und begeisterte mit sauber gesungenen Intervallsprüngen, ausgeprägten Koloraturen, aber auch mit lyrischen Passagen, die sie mit feinem Legato präsentierte. Mit seinem apart timbrierten, kräftigen Tenor kam auch Yohan Kim als Giasone mit den belkantistischen Anforderungen seiner Partie gut zurecht. Auffällig war, dass er die Intervallsprünge ebenso wie die zurückgenommene Lyrik intonationsrein zur Geltung brachte. Die Rolle des Königs Creonte war Zachary Wilson anvertraut, der seinen markigen, abgerundeten Bariton überzeugend einsetzte und niemals forcierte, obwohl er im 1. Akt vom zeitweise zu starken Orchesterklang bedrängt wurde. Uwe Tobias Hieronimi (Calcante) und Steffi Fischer (Licisca) ergänzten. Der von Achim Falkenhausen einstudierte, wohl wegen der Pandemie auf vier Damen und sechs Herren reduzierte Chor klang weitgehend ausgewogen.

Mit starkem, lang anhaltendem Beifall dankte das begeisterte Publikum allen Mitwirkenden für die vor allem hörenswerte Aufführung. Gerhard Eckels  (besuchte Vorstellung 09.10. 2021)

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(Alexander Weathersons Artikel entnahmen wir mit freundlicher Genehmigung des Autors dem Beiheft zur Agora-Ausgabe der Oper im Mitschnitt aus Savona 1993/ Übersetzung Daniel Hauser. Foto oben Giovanni Pacini/ Wikipedia)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Hommage an Senesino

 

Im Teatro Municipale di Piacenza hat GLOSSA im Oktober des vergangenen Jahres Händels Serenata Aci, Galatea e Polifemo aufgenommen und auf zwei CDs herausgebracht (GCD 923528). Das Besondere dieser Veröffentlichung liegt in der gewählten Fassung – der Version for Senesino aus London um 1718. Die in Sizilien spielende Handlung erzählt Ovid im 13. Buch seiner Metarmophosen: Die idyllische Liebe zwischen der Meeresnymphe Galatea und dem Hirtenknaben Acis erregt die Eifersucht des Zyklopen Polifemo, der den Hirten tötet. Auf Bitten Galateas verwandelt ihr Vater Nereus dessen Blut in einen Fluss, der sich im Meer wieder mit Galatea vereinen kann. Das Stück entstand als Auftragswerk der Herzogin Aurora Sanseverino anlässlich der Hochzeit ihrer Nichte Beatrice mit dem Herzog von Alvito. Händel hat das Stück nach der Uraufführung 1708 in Neapel immer wieder umgearbeitet. Allein am Ort der Kreation gab es 1711 und 1713 zwei Neuaufführungen, in London ab 1718 mehrere Umarbeitungen, bis die Serenade dort ein neues Libretto in englischer Sprache bekam.

GLOSSA hat der spektakulären Londoner Besetzung des Aci mit dem legendären Kastraten Rechnung getragen und für die Aufnahme den namhaften Countertenor Raffaele Pe verpflichtet. Seine Stimme ist klangvoll und gerundet, kann auch selbstbewusst auftrumpfen, wie in Acis erster Aria, „Lontan da te“, zu hören ist. Die Koloraturen von „Dell’aquila l’artigli“ geraten ihm trefflich, das wiegende Melos von „Qui l’augel da pianta“ ertönt in besonderer Klangschönheit. Seine letzte Aria,“Verso già l’alma“, ist ein Klagegesang von entrückter Stimmung, in welchem berückende Töne zu hören sind. Galatea war ursprünglich eine Altistin und wurde später für einen Sopran umgeschrieben, was der berühmten Anna Maria Strada del Po’ die Chance bot, die Partie in ihr Repertoire aufzunehmen. Sie sang sie in der letzten italienischen Wiederaufnahme des Werkes 1713. Bei GLOSSA ist die italienische Mezzosopranistin Giuseppina Bridelli zu hören. Die beiden Interpreten der Titelpartien beginnen mit dem munteren Duetto „Sorge il di“ in perfekter stimmlicher Verblendung. In Galateas erstem Solo, „Sforzano a piangere“, klingt der Mezzo reif und in der Höhe heulend, vermag die Jugendlichkeit der Nymphe nicht zu imaginieren. Besser gelingt ihr das übermütige „Benchè tuoni“, dessen Koloraturen sie keck jubiliert. In ihrer letzten Szene hört man zunächst keifende Töne im Recitativo, danach aber dramatisch aufgewühlte in „Del mar fra l’onde“.

Der berühmte Barock-Kastrat und Superstar Senesino/ Wikipedia

Der Bariton Andrea Mastroni komplettiert die Besetzung als Polifemo. Mit der Aria „Affano tiranno“ fällt ihm das erste Solo zu – die Stimme ist gewichtig und sonor, meistert aber auch die Koloraturläufe souverän. Davon profitiert die energische Aria „Ferito son d’amore“, während er in „Fra l’ombre e gli orrori“ seine stupende Extremtiefe effektvoll einsetzen kann.

Das Ensemble La Lira du Orfeo musiziert unter Leitung seines Konzertmeisters Luca Gugliemi. Mit einer zunächst gravitätischen, dann lebhaften Ouverture stimmt es auf das Geschehen ein und setzt auch in der Begleitung der Sänger (so in deren Terzetto „Delfin vivrà sul monte“ oder dem jubelnden finalen Coro „Chi ben ama“) immer wieder starke Akzente (08.10.21). Bernd Hoppe

Barockes Gipfeltreffen

 

Für ihr neues Recital bei ALPHA mit dem Titel Passion kehrt Véronique Gens zu ihren Wurzeln zurück (747). Die französische Sopranistin lässt Armide (neben weiteren Heroinen von Lully und seinen Zeitgenossen) bis zu Charpentiers Médée wieder aufleben. Der Solistin stehen das Ensemble Les Surprises unter Leitung von Louis-Noël Bestion de Camboulas und Les Chantres du Centre de Musique Baroque de Versailles (Einstudierung: Olivier Schneebeli) zur Seite. Das Programm der CD imaginiert ein Opernsujet, dessen 1. Akt „Der Ruf der Unterwelt“ lauten könnte. Der 2. ist mit „Unglückliche Mutter“ überschrieben, der 3. mit „Grausamer Amor“. „Ruhiger Schlaf, verhängnisvoller Tod“ stehen für den 4., „Die rasende Médée“ für den 5. Akt.

Es ist aber auch eine Hommage an zwei legendäre französische Sängerinnen: Mademoiselle Saint-Christophe und Marie Le Rochois. Letztere triumphierte 1684 in der Rolle der Arcabonne in Lullys Amadis. Deren Air „Toi qui dans le tombeau“ eröffnet die Anthologie. Die Stimme der Sopranistin hat grandeur, ist von majestätischer Erhabenheit. Le Rochois sang auch die Titelrolle in der Armide, deren Air „Enfin, il est en ma puissance“ im 3. Akt folgt. Es wechselt zwischen pathetischer Strenge und aufbrausendem Zorn. Schließlich hatte die Diva nach Lullys Tod einen Riesenerfolg als Titelheldin in Marc-Antoine Charpentiers Médée. Daraus singt Gens zwei ihrem Zuschnitt extrem unterschiedliche Airs: „Quel prix de mon amour“ und „Noires filles du Styx“. Erstere ist von schmerzlicher Erkenntnis, die zweite von düsterer Umnachtung, die sich zu wilder Raserei steigert. Für Saint-Christophe schrieb Lully Rollen höchst unterschiedlicher Charaktere: Königinnen, Mütter, Zauberinnen, Göttinnen. Gens singt aus Proserpine die Partie der Cérès (tragisch umflort„Ô! Malheureuse mère“ und deklamatorisch„Que tout se ressente“), aus Atys die der Cybele (wehmütig„Espoir si cher et si doux“) und aus Alceste die Titelrolle (existentiell„La mort, la mort barbare“). Ein Riesenspektrum an Emotionen wird der Interpretin hier abverlangt und die Französin kann ihre reichen Erfahrungen in diesem Genre Gewinn bringend einbringen. Schon 2018 hatte sie mit dem Ensemble Les Surprises im Rahmen eines Festivals in Ambronay die Zusammenarbeit erprobt und dabei ein ähnliches Programm gewählt.

Kompositionen von Lullys Schülern und Zeitgenossen ergänzen die Werkauswahl. Von Pascal Collasse (1649 – 1709) erklingt das Air der Junon („Calme tes déplaisirs“) aus Achille et Polyxène, in welchem sie den Trojanern mit Höllenqualen und Hochwasser droht, was die Sopranistin mit flammenden Tönen und höchster, bis zur Hysterie reichender Expressivität umsetzt. Von Henry Desmarets (1661 – 1741) ist das wiegende Air der Éolie („Désirs, transports“) aus Circé zu hören, welches in seinem lyrischen Charakter die Stimme leuchten lässt.

Das Orchester mit schlankem, federndem Klang und der Chor brillieren in einigen Ballettszenen – der rasenden „Tempête“ aus Colasses Thétis et Pélée, dem betont rhythmischen „Entrée des Bretons“ und „Passepied“ aus Lullys Ballet du Temple de la Paix sowie der versonnenen „Sarabande Dieux des Enfers“ aus seinem Ballet de la Naissance de Vénus. Und Lully ist auch der Schlussakkord der CD vorbehalten: Aus seinem Le Triomphe de l’amour ertönt das „Air pour l’Entrée de Borée et des quatre Vents“ und sorgt für einen lebhaft-stürmischen Ausklang (08. 10. 21). Bernd Hoppe

Albern

 

Was erwartet der bildungswillige Leser von einem Buch mit dem Titel Die Braut des Holländers – Berühmte Frauengestalten in der Oper? Wahrscheinlich eine kurze (!) und korrekte  (!) Inhaltsangabe, die Beschreibung der Art der literarischen und vor allem der musikalischen Charakterisierung durch den Librettisten und Komponisten, das Ziehen von Verbindungslinien zu eventuellen historischen Vorbildern, wohl auch den Hinweis auf berühmte Gestalterinnen der jeweiligen Partie. Als selbstverständlich darf der Leser auch eine einwandfreie sprachliche Gestaltung des Textes erwarten sowie eine Sprachebene, die der Bedeutung des Gegenstandes angemessen ist.

Was aber offeriert Wolfgang Seidel mit seinem Buch? Seine den einzelnen Opernheroinen gewidmeten Kapitel bestehen zum allergrößten Teil aus reinen, durchaus nicht immer korrekten Inhaltsangaben, verzichten weitgehend auf eine Darstellung der musikalischen Gestaltung, schwanken sprachlich zwischen Hoch-, Umgangs- und Gossen-oder Jugendsprache, letztere wohl der Versuch, sich bei einem jugendlichen Publikum anzubiedern, als „modern“ zu gelten, und wissen außer der  Callas keine Interpreten zu nennen.

Der sich einem wie auch immer gearteten Publikum anbiedern wollende Stil meint, dass Elektra „ihr Ding schließlich durchzieht“, dass am Schluss der Oper „Friede, Freude, Eierkuchen“ herrschen (was nicht einmal zutrifft), Elektra „verfilzt“  und „von Kopf bis Fuß auf Rache eingestellt“ ist. Immer wieder werden so unpassende Vergleiche mit der Gegenwart konstruiert, so wenn Agrippina mit Aenne Burda, Scarpia mit Harry Weinstein, Orlando mit Harry Potter in eine Reihe gestellt werden.  Gern widerspricht sich der Autor auch selbst, so wenn er einmal meint „und so geht es (mit Morden) bei den Atriden weiter“, dann aber der bereits erwähnte Eierkuchen.

Nicht glücklicher gelingen andere, oft in neckischem Tonfall gezogene Vergleiche , so der von Angela Merkel mit Dido, die auch freundlich Flüchtlinge aufnahm, und weder Senta, noch Isolde noch Brünnhilde können als Muster der Gattinnentreue angeführt werden, da Senta noch nicht verheiratet war, Isolde ihren Gatten betrog und Brünnhilde den ihren ( Gunther) nicht liebte. Nicht einmal die zeitlichen Zuordnungen stimmen, wenn das 19.mt dem 20.Jahrhundert verwechselt , Klassizismus mit Sturm und Drang gleichgesetzt wird. Auch in Kleinigkeiten sollte jemand, der sich als Opernkenner ausgibt, korrekt sein und nicht  Desdemonas Mutter mit deren Dienerin verwechseln.

Rigoletto bzw. seine Tochter Gilda ist ein typisches Beispiel dafür, was der Autor alles falsch machen konnte: So verlangte der Duca von seinen Höflingen nicht, dass sie Gilda entführen, landete er nicht in ihrem Schlafzimmer, sondern sie in seinem, ist es albern, vom harten lockdown, der Kirche als Dating-Hotspot zu schreiben, Quatsch zu behaupten, im 19.Jahrhundert dürften höhere Töchter nur in die Kirche und sonst nirgends hingehen. Und sogar „vom Federbett zum Leichensack“  als Untertitel stimmt nicht, denn in Mantua begnügte man sich auch im Winter mit einer leichteren Zudecke.  Etwas besser und interessanter wird es mit dem Bezug zu Hugos L’Roi s’amuse“, ehe man sich über die Behauptung  ärgern muss, dass Verdi die „Schauerromantik“ suchte, und Putin wie Erdogan bemüht werden.

Es wimmelt einfach von Falschem, Ungenauem, Peinlichem, so  der Behauptung, zur Zeit von Così fan tutte seine 99% aller Ärzte Scharlatane gewesen,  Alfonso kündige an „eines Tages“ würden Fiordiligi und Dorabella ihre Liebhaber betrügen ( es heißt innerhalb eines Tages), Monostatos Pamina und Tamino gefangen nimmt. Brünnhilde, „die ja auch in keinster Weise von dieser Welt ist“, aber sich dann doch zur „Vollfrau“ mausert, wird sich in dieser Charakterisierung wiedererkennen. Und Athene ist nicht die Kriegsgöttin, sondern die Göttin der Weisheit.

Man könnte noch seitenlang Stilblüten und einfach falsche Aussagen aufführen, sich darüber auslassen, dass höchstens mal vom „donnernden Klang des Orchesters“ in Lucia di Lammermoor“ die Rede ist oder es heißt, das „Riesenorchester schwingt nur noch sehr verhalten vor sich hin“ (Rosenkavalier)  , sonst aber kaum über die Musik referiert wird, ein wüster sprachlicher Mischmasch das gesamte Buch durchzieht, und auch das Fazit, dass der Autor aus dem freizügigen Verhalten Carmens zieht, nicht erfreuen kann: „Sie erleidet deswegen aber auch noch ein Schicksal“. Selbst einem Gebäude ergeht es übel, denn Octavian  „fährt…vor dem vor Aufregung zitternden Haus der Faninals vor.“ Auch in dieser Oper muss noch einmal die baldige Ex-Kanzlerin ran: Merkel. Aber: „Poppt nicht auf.“ Übrigens ist der Ochs nicht eine Bariton-, sondern Basspartie.

Norma lässt den Autor noch einmal zu Höchstleistungen auflaufen, wenn in sechs Zeilen alle Weltreligionen abgehandelt werden und es auch historischen Epochen nicht anders ergeht. Schließlich bekommt auch noch Senta, die Titelhedin, als „ichschwach“ ihr Fett ab, was der Rezensentin die Lust nahm, sich auch noch mit Violetta oder Tosca zu befassen oder dem, was der Autor aus ihnen gemacht haben mag.

Biographien der Komponisten bilden das letzte Drittel des Buches, das leider ganz ohne Bebilderung auskommt (290 Seiten; 2021 Faber & Faber; ISBN 978 3 86730 217 3). Ingrid Wanja

Letzte Werke in frischer Interpretation

 

Es war die Idee des cleveren Wiener Verlegers Tobias Haslinger, einige Lieder, die Franz Schubert kurz vor seinem Tod (1828) komponiert hat, posthum als Zyklus unter dem Titel Schwanengesang (D. 957) zu veröffentlichen. Ob das im Sinne seines Schöpfers war und ob sich dieser beim Niederschreiben seines nahen Todes bewusst war, darüber streiten sich die Gelehrten. Einige wenige Stücke der Sammlung strahlen ja durchaus eine gewisse Lebensfreude aus. Was einen Schwanengesang ausmacht, hatte Schubert schon Jahre vorher (D. 744, 1822) in einem so betitelten Lied auf einen Text von Johann Senn zum Ausdruck gebracht: „Vernichtungsbang, verklärungsfroh – das bedeutet des Schwanen Gesang!“

Der Tenor Julian Prégardien und der Pianist Martin Helmchen scheinen diese Dialektik zum Ausgangspunkt ihrer Interpretation genommen zu haben.

Zunächst ändern sie die Abfolge der ohnehin willkürlich angeordneten 14 Lieder, streichen die abschließende Taubenpost und fügen dagegen den genannten Schwanengesang D. 744 ein, setzen des weiteren Felix Mendelssohn-Bartholdys Lied ohne Worte op. 30/1 als Intermezzo der beiden Rellstab- und Heine-Blöcke ein und das Schwanenlied op. 1/1 seiner Schwester Fanny (gleichfalls auf einen Text von Heine) als Epilog.

Frisch und unvorbelastet gehen sie dann die Lieder an, die ja in einer schier unendlichen Zahl von hochkarätigen Einspielungen der Vergangenheit vorliegen. Und sie wecken vom Start weg Interesse. Der Abschied beginnt sinnigerweise den Reigen, und wir erleben den auf seinem Rösslein munter Abreisenden in raschem Trab (und nicht „mäßig geschwind“, wie es in den Noten heißt). Den Kontrast zu diesem fröhlichen Entree bietet dann das unmittelbar nachfolgende trübsinnige In der Ferne, wo die vage Tempo-Angabe „ziemlich langsam“ als Adagio aufgefaßt wird.

Spätestens mit der dritten Nummer, dem oft so schmählich verkitschten Ständchen haben die beiden Künstler den an großen Vorbildern geschulten Hörer gewonnen. So völlig unsentimental und doch gefühlsinnig und intim hört man dieses Lied selten, und auch hier hat der Pianist, der sich auch sonst durchweg als ein ebenbürtiger Partner des Sängers erweist, mit seiner filigranen Begleitung wieder entscheidenden Anteil am Erfolg. Wechselbäder der Gefühle, dramaturgisch geschickt gesetzt, prägen ihre Deutung auch im weiteren Verlauf. Dabei strahlt die helle und klare lyrische Tenorstimme Prégardiens, die in der Höhe beträchtlichen Glanz entwickelt, eine Diesseitsfreude aus, die dem depressiven Charakter einiger Gesänge erst einmal entgegensteht. Umso erstaunlicher, wie viele unterschiedliche Farben er diesem Instrument abgewinnen kann. Das zeigt sich vor allem bei den letzten Titeln (Die Stadt, Der Doppelgänger, Ihr Bild, Der Atlas), wo er den Verlustschmerz mit existentieller Dringlichkeit vermittelt, kulminierend im kontrollierten Aufschrei „und jetzo bist du elend“.

Als ein instrumentalerSchwanengesang“ ist dem Zyklus auf der 2. CD das Streichquintett D. 956 angefügt. Eine durchaus interessante Kombination. Und obwohl es von diesem Gipfelwerk der Gattung auch zahlreiche erstklassige Aufnahmen gibt, wird man die hier vorliegende nicht als „eine mehr“ empfinden, denn die fünf Musiker finden einen eigenen und persönlichen Ton in ihrem Zusammenspiel. Es handelt sich auch fast um ein Familienunternehmen. Zum Primarius Christian Tetzlaff gesellen sich sein Schwager Florian Donderer (Violine), seine Schwester Tanja (Cello) sowie Martin Helmchens Frau Marie-Elisabeth Hecker (Cello) und Rachel Roberts (Viola). Im gemeinsamen Musizieren verbinden sie Sachlichkeit und Dringlichkeit. Das heißt, sie bleiben bei penibler Beachtung aller Vortragsbezeichnungen ganz eng am Notentext, stellen ihn also ohne emotionale Drücker gleichsam objektiv aus. Durch volle Konzentration erreichen sie zugleich eine ungeheure Innenspannung im langen Kopfsatz wie im sehr breiten Adagio, erzielen mitreißende Wirkungen im hyperpräzisen Presto-Scherzo und im rhythmisch scharf pointierten letzten Satz (Allegretto-Più Allegro). Bei einem gut eingespielten Kammermusik-Team ist das sensible Aufeinanderhören fast eine Selbstverständlichkeit. Es fällt dabei auf, dass sich Christian Tetzlaff immer wieder sehr zurücknimmt, um die Partner zur Geltung zu bringen, und insgesamt seinen Part mehr kontemplativ als brillant ausdeutet.

Auch Musikfreunden, die schon mehrere Aufnahmen der beiden Schubertschen Spätwerke besitzen, ist diese Publikation vorbehaltlos zu empfehlen. (Alpha Classics 748/ 4. 10. 21). Ekkehard Pluta

 

Mozart aus Covent Garden

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Eigentlich mag ich es nicht, wenn die Ouvertüre „bespielt“ wird; beim ersten Blick auf die Bühne des Royal Opera House war ich jedoch positiv überrascht. Zur vom fabelhaften Orchester unter Antonio Pappano passend flott servierten Nozze-Ouvertüre sieht man in einen großen Saal eines offensichtlich hochherrschaftlichen Schlosses, in dem zunächst eine ältere Frau vom Bedienungspersonal einsam den Boden feudelt. Sodann laufen jede Menge Bediensteter beiderlei Geschlechts geschäftig durch den Saal, albern herum und  ziehen sich zurück, wenn die reichlich murkelige Kammer für Figaro und Susanna auf die Bühne geschoben wird. Per Blu-ray Disc kann man die inzwischen bewährte und beliebte, schon 2006 erstmals gespielte Inszenierung von David McVicar in einem Mitschnitt vom Januar 2022 erleben, die erfreulicherweise auf jede zwanghafte Modernisierung verzichtet. Da kann man verschmerzen, dass sich alles, auch das sonst im Schlosspark verortete Versteck- und Verwechslungsspiel des letzten Aktes im großen Saal abspielt, in den dann herbstliche Blätter vom Bühnenhimmel segeln. Im Übrigen trägt zur durchgehend quirligen Inszenierung bei, dass auch die Rezitative ausgesprochen lebendig gestaltet werden und immer wieder Bedienstete auftauchen, die neugierige Blicke auf das Treiben der Hauptfiguren werfen. Die ansehnlichen, geschmackvollen Kostüme aus dem Anfang des 19. Jahrhundert passen zum Ambiente (Ausstattung: Tanya McCallin).

Musikalisch ist alles wie aus einem Guss, wofür der auch am Hammerklavier souveräne Antonio Pappano sorgt. Das überwiegend junge Ensemble singt und spielt in Hochform: Über einen typischen Basso cantabile mit markigem Timbre verfügt Riccardo Fassi, den er als munterer Figaro flexibel durch alle Lagen führt. Ebenso sehr beweglich in Gesang und Spiel ist als seine Susanna Giulia Semenzato, die mit blitzsauberem Sopran die Ensembles überstrahlt und die anrührend gestaltete  „Rosen-Arie“ in all ihrer Lyrik auskostet. Eine Contessa der Extraklasse ist Federica Lombardi, die wunderbar feines piano präsentiert und durch ruhige Stimmführung der Melodiebögen in allen Lagen, auch mit den überraschenden Echowirkungen in der großen Arie des 3. Aktes begeistert. Mit hellem Bariton tritt der Argentinier Germán E. Alcántara als leidenschaftlicher, aufbrausender Conte auf, der die Verzeihungsbitte am Schluss traumhaft schön aussingt. Die Polin Hanna Hipp ist mit hellem, geschmeidigem Mezzo ein gelenkiger Cherubino; mit gut durchgebildetem, kräftigem Bass gefällt Gianluca Buratto als Bartolo. In den kleineren Partien gefallen Monica Bacelli mit charaktervollem Mezzo als Marcellina, Alexandra Lowe als temperamentvolle Barbarina und Gregory Bonfatti klarstimmig als eitler Don Basilio. Bewährt ergänzen Jeremy White (Antonio) und Alasdair Elliott (Don Curzio); gut ausgewogen klingt der Chor in seinen wenigen Aufgaben (William Spaulding). Insgesamt macht die Aufnahme aus London einfach Spaß und ist musikalisch ein Genuss (OABD7304D). Gerhard Eckels

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Viele wechselnde Besetzungen haben die drei Da-Ponte-Mozart- Opern bereits seit ihrer jeweiligen Premiere in Londons Opernhaus Covent Garden erlebt, bei Opus-Arte sind sie in ihren Premierenbesetzungen miteinander vereint und liefern den Beweis dafür, dass man sich als Regisseur durchaus Gedanken über eine wie auch immer geartete „Modernisierung“ machen und diese auch umsetzen kann, ohne das Publikum zu vergrämen. Die Produktionen von Don Giovanni aus dem Jahr 2014 und von Così fan tutte aus dem Jahr 2016 sind Beispiele dafür, Le Nozze di Figaro von 2006 bringt zwar nicht Kostüme aus der vorrevolutionären Zeit auf die Bühne, aber immerhin doch solche, die niemanden im Publikum auf die Idee bringen würden, das ius primae noctis würde auch noch in unseren Zeiten praktiziert.

Kopfschütteln löst in David McVicars Inszenierung höchstens das trübe Kellerloch aus, das dem Brautpaar durch den Grafen zugewiesen und von diesem als der schönste Raum des Schlosses anerkannt, wenn auch aus anderen als ästhetischen Grünen zurückgewiesen wird. Ansonsten amüsieren bereits zur Sinfonia das putzige Treiben der Dienstboten samt Haushofmeister, viele einfallsreiche Details wie zum „Se vuol ballare“ das Stiefelballett, viel Poetisches trotz eines letzten Akts im Saal statt im Park, und am Schluss strahlen alle und das Publikum tobt vor Begeisterung.

Vielleicht ein bisschen zu wohl fühlt sich in der Produktion der Figaro von Erich Schrott, der seinem Affen reichlich Zucker gibt, was sich auch im freien Umgang mit den Rezitativen und nicht nachvollziehbarer Agogik ausdrückt, die letzte Arie allerdings wird sehr kultiviert gesungen, und das Material ist durchweg als ein besonders reiches zu erkennen. Ein blondes Püppchen und allzu brav wirkend ist die Susanna von Miah Persson, erst im Duett mit dem Conte kehrt sie die Kapriziöse heraus, die Rosenarie gelingt sehr empfindsam bei von der Decke herab fallenden Blumenblättern. Ein irrwitziges Tempo muss Rinat Shaham als Cherubino mit seiner ersten Arie bewältigen, mit „Voi che sapete“ wird der hübschen Mezzostimme mehr Raum eingeräumt und entsprechend schöne Farben kann sie ausstellen. Im letzten Akt bleibt ihr ein uncharmanter Auftritt als betrunkener Tölpel nicht erspart. Dorothea Röschmann ist natürlich die Contessa mit cremigem Sopran, die für wunderschöne Ruhepunkte im allgemeinen Trubel sorgt. Ein erfahrener Conte ist Gerald Finley, dessen „Già vinta la causa“ ein Lehrstück an generöser Phrasierung ist, dem maskulinen Figaro auch szenisch ebenbürtig und hörbar Publikumsliebling. In seiner Arie an Würde gewinnt der Basilio von Philip Langridge, dessen durchdringender Charaktertenor für eine tolle Studie eingesetzt wird. An vokaler Präsenz der Susanna im Duett der beiden überlegen ist die Marcellina von Graciela Araya, übercholerisch gibt sich der Bartolo von Jonathan Veira und vernuschelt dabei die Prestissimoteile seiner Rache-Arie. Ana James gibt eine niedliche Barberina. Antonio Pappano sorgt für einen zügigen Ablauf des musikalischen Geschehens, straff und schwungvoll, wie es sich gehört.

Zu viel Mut gehört offensichtlich heutzutage dazu, Donna Anna in Mozarts Don Giovanni Glauben zu schenken, wenn sie von einer versuchten Vergewaltigung durch den Titelhelden spricht. Dabei hat sie in Leporello, der seinen Herrn besser als jeder Regisseur und damit auch als Kasper Holten kennt, einen glaubwürdigen Zeugen, der eindeutig von „sforzare la figlia ed ammazzare il padre“ spricht.   Dem heutigen Klischee entspricht in der Produktion von 2014 auch der trübtassige Don Ottavio, und selbst der Titelheld macht nicht den Eindruck, an weiteren Eroberungen interessiert zu sein, obgleich er immerhin mit Donna Anna noch zu einem weiteren Quickie in einem der vielen Zimmer verschwindet in dem ruinenhaft wirkenden drehbaren Haus, das Es Devlin auf die Bühne gestellt hat und das in wechselnden Farben angestrahlt oder auch beschriftet wird. Angesiedelt ist das Drama in einer Zeit, in der die Herren Zylinder trugen, was für die Damen kostbare Roben ermöglicht (Anja Vang Kragh). Insgesamt herrscht eine düstere Atmosphäre, woran auch eine schöne Nackte, die umhergeistert, nichts ändern kann.

Der polnische Bariton Mariusz Kwiecien singt mit verführerischem Timbre die Titelpartie und lässt sie eher als einen Getriebenen als Selbstbestimmten wirken, was wohl die Absicht der Regie war, die ihm auch eine lange währende Agonie auferlegt. Ein windiger und wendiger Leporello ist Alex Esposito, in dieser Partie auf vielen Bühnen zu Hause und ein Meister des Rezitativsingens. Markant singt Alexander Tsymbalyuk den Commendatore, während Antonio Poli nicht nur darstellerisch zur Blässlichkeit verdammt ist, sondern auch stimmlich außer einem schönen Pianissimo nicht durch besondere vokale Meriten auf sich aufmerksam machen kann. Optisch wie akustisch steif ist der Masetto von David Kimberg, was wohl zumindest, was die Optik angeht, auch so gewollt ist. Rätsel gibt eines der Kostüme von Donna Anna auf: ein rosafarbenes Prachtgewand, über das Schokoladensoße gegossen wurde. Der Sopran von Malin Byström scheint zunächst wenig Durchschlagskraft zu haben, ehe sie mit zwei tadellosgesungenen Arien, in denen sie auch bei den dramatischen Ausbrüchen stets die vokale Facon wahrt, überzeugen kann. Auch eine Contessa zutrauen würde man der Zerlina von Elizabeth Watts, die größte Freude aber bereitet dem Hörer die Donna Elvira von Véronique Gens mit einem Sopran reich an Farben, schön gerundet und zu Ausbrüchen von tragischer Größe fähig. Nicola Luisotti führt sicher durch die durch einige Seltsamkeiten irritierende, insgesamt jedoch interessante und nachdenkenswerte Aufführung.

Wohl nicht ganz verzichten auf die attraktiven Kostüme, die Damen wie Herren zur Mozart-Zeit schmückten, wollte Regisseur Jan Philipp Gloger, und so ließ er seine Kostümbildnerin Karin Jud für ein Verbeugungsdefilee zur Ouvertüre von Così fan tutte im Jahr 2016 kostbare Gewandungen entwerfen und die Zuschauer im Glauben, so könne es dann auch bei geöffnetem Vorhang weitergehen. Dem ist aber nicht so, denn wenn das Spiel beginnen soll, stürmen die wahren Protagonisten aus dem Zuschauerraum auf die Bühne, in moderner Kleidung, und anstelle von Frühstücksschokolade wird es Whisky, anstelle eines Schiffs eine Eisenbahn und anstelle von Briefen Smartphones geben. Aus Da Pontes Così fan tutte wird irgendwann ein Così fan tutti, und damit hat einmal mehr Gendergerechtigkeit Einzug auf die Opernbühne gehalten. Dabei verfällt jedoch Bühnenbildner Ben Baur nicht in die Sünden eines German Trash, sondern schafft viel den Augen Gefälliges wie eine Paradiesinsel mit schillernder Schlange. Auch die Personenregie erweist sich als intelligent und ausgewogen, weil weder das Werk noch den (guten) Publikumsgeschmack verletzend.

Wenn einem das Werk als mit Wagnerlänge geschlagen erscheint, dann liegt das am Dirigat von Semyon Bychkov, der sich allzu behäbig durch die kostbare Partitur bewegt. Die Sänger machen durch die Bank viel Freude, allen voran der deutsche Tenor Daniel Behle mit einer hochpoetischen Aura amorosa und einem bewegenden Tradito. Vor fünf Jahren war er, inzwischen bereits ein Lohengrin, ein idealer Mozarttenor mit atemberaubenden Pianissimi und einer berückenden Stilsicherheit. Farbig und geschmeidig ist der recht dunkler Bariton von Alessio Arduini, der den Guglielmo singt, auch mal ein Tänzchen wagt der agile Don Alfonso von Johannes Martin Kränzle. Einen warmen, runden Sopran kann Corinne Winters für die Fiordiligi einsetzen, die des Griffes zum Schnapsglas für die Bewältigung von Come scoglio eigentlich nicht bedarf. Recht hell und deshalb in den Duetten kein echter Kontrast zu ihr ist die Stimme der Dorabella von Angela Brower, beide spielen einfach hinreißend.  Sabina Puértolas ist als Despina eine Stütze eher an der Bar als im Haushalt, allerdings mit hohem Eigenbedarf und –verbrauch, vokal durchaus zufriedenstellend.

Alle drei Produktionen setzen neue Akzente, ohne die Werke zu entstellen oder den Zuschauer zu verstören, und bieten gute Unterhaltung auf hohem musikalischem Niveau (Opus arte 1275/ Foto https://www.da-ponte-stiftung.de/). Ingrid Wanja

Anna Tomowa-Sintow zum 80.

Kaum eine andere Stimme hat mich – um Sonnleithners Satz abzuwandeln – so in „die Tiefe des  Herzens“ getroffen wie die von Anna Tomowa-Sintow (* 22. September 1941 in Stara Zagora). Ich werde nie ihre Arabella in Hamburg vergessen, wo ihre frauliche Erscheinung und die Innigkeit der Stimme mich verzauberten, die Bühne vergessen machten, die wunderbaren ätherischen Piano-Noten wie selbstverständlich hinnehmend. Diesen Zauber besaß sie auch privat: Ihr Charme, ihr Lächeln, ihre Augen besaßen etwas Strahlendes, Einmaliges, ebenso Liebevolles wie klug Erfassendes. Ich lernte sie bei Freunden nach einem ihrer ersten Konzerte in West-Berlin kennen und war sofort eingefangen von eben diesem Charme, hatte sie zuvor an der Lindenoper gehört, erlebte sie dann in London (Andrea Chénier und Fürst Igor), Salzburg (in dem denkwürdigen, eleganten Capriccio und im Don Giovanni post-Karajan) und anderen Orten. Für mich verbinden sich ihre besten Dokumente (die Bernd Hoppe nachstehend würdigt, auch wenn viele nun aus den Katalogen verschwunden sind) mit der Erinnerung an eben diese strahlende, charmante und bezaubernd aussehende Frau und Sängerin, der wir zu ihrem 80. gratulieren. G. H.

 

1972 bekam das Ensemble der Berliner Staatsoper bemerkenswerten Zuwachs durch das Engagement der jungen bulgarischen Sopranistin Anna Tomowa-Sintow. 1965 war sie aus ihrer Heimat in die damalige DDR gekommen und hatte am Opernhaus von Leipzig ihre Laufbahn begonnen. Nach kleineren Aufgaben, daneben aber schon der Abigaille in Verdis Nabucco, war die Titelrolle in Puccinis Madama Butterfly 1967 der Durchbruch. Damit gastierte sie im Januar 1971 auch an der Oper Unter den Linden, was zu ihrer Verpflichtung nach Berlin führte. War sie schon in Leipzig Mittelpunkt vieler Aufführungen gewesen, so entwickelte sie sich an der Staatsoper schnell zur führenden Sopranistin des Ensembles. Die Stützpfeiler ihres Repertoires waren Mozart, Verdi, Puccini und Strauss. In der Historie der Sängernation Bulgarien ist Anna Tomowa-Sintow ein einmaliges Phänomen. Keine andere Sopranistin hat es vermocht, ein derart vielseitiges und divergierendes Repertoire gleichermaßen kompetent zu interpretieren. Die Stimme wies von Beginn an ein einzigartiges, unverwechselbares Timbre auf, verfügte über eine glanzvolle, leuchtende Höhe, substanzreiche Mittellage und üppige Tiefe. Der Klang war leidenschaftlich, glutvoll und sinnlich, daneben waren ihm – dank mirakulös schwebender piani – aber auch innigste und zarteste Töne eigen.

Mit der Gräfin im Figaro war der Einstieg in Berlin 1972 mit hohen Erwartungen verbunden. Immerhin gab Theo Adam mit dieser Inszenierung sein Debüt als Regisseur und die Partie war in der deutschen Tradition mit einer Interpretation von instrumental geführten Stimmen besetzt. Wie würde eine Bulgarin diesem Anspruch gerecht werden? Ihr blutvoller, emotionsstarker Gesang mit sinnlichem Vibrato stieß dann auch auf kontroverse Urteile. Dennoch wurde die Partie zu einer ihrer international erfolgreichsten Rollen. Sie sang sie am Royal Opera House London, am Grand Théâtre de Genève, bei den Salzburger Festspielen und an der Wiener Staatsoper. Die beiden letzten Stationen markierten wichtige Etappen ihrer mehr als fünfzehnjährigen Zusammenarbeit mit Herbert von Karajan. Der Dirigent hatte sie 1973 für die Uraufführung von Orffs De temporum fine comoedia in Salzburg verpflichtet, danach auch für ein Konzert mit Bachs Magnificat in der Berliner Philharmonie. Fortan gehörte sie zu seinem festen künstlerischen Stamm. Nach wiederholten Auftritten als Contessa im Figaro in der legendären Ponnelle-Produktion bei den Salzburger Festspielen zählte der Figaro auch zu jener Trias, mit der Karajan 1977 seine Rückkehr an die Wiener Staatsoper und das Pult der Wiener Philharmoniker feierte. Tomowa gab damit ihr Debüt im renommierten Haus am Ring, das von nun an zu einer ihrer regelmäßigen Wirkungsstätte werden sollte. ORFEO veröffentlichte den Premierenmitschnitt vom 10. Mai 1977 und in der Wiener Besetzung nahm DECCA das Werk 1978 auch im Studio auf.

Neben der Contessa war die Donna Anna im Don Giovanni die international erfolgreichste Mozart-Partie der Tomowa. Sie hatte sie schon an der Oper Leipzig interpretiert und danach auch an der Berliner Staatsoper, bevor sie damit ihre Debüts an den drei wichtigsten Opernhäusern der USA gab: 1974 in San Francisco, 1978 an der New Yorker Met, 1979 an der Lyric Opera of Chicago. Bei den Salzburger Festspielen war sie – im Abstand von fast zehn Jahren –  zweimal in dieser exponierten Rolle zu erleben: 1977 in der Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle unter Karl Böhm und 1986 in der von Michael Hampe unter von Karajan. Beide Produktionen liegen als CD-Ausgaben vor – erstere bei DG mit Sherill Milnes in der Titelpartie, letztere gleichfalls bei DG mit Samuel Ramey als Titelheld (auch als DVD).

Im Vergleich dazu hatte sie bei der Fiordiligi in Così fan tutte weniger Gelegenheit, sie auf internationalen Bühnen vorzustellen, doch sang sie die Partie immerhin 1975 bei ihrem Londoner Debüt an der Covent Garden Opera. Und in Berlin war die entzückende Inszenierung im Apollo-Saal der Staatsoper jahrelang ein Juwel im Repertoire, überaus beliebt bei den stetig wachsenden Verehrern der Sängerin, die ihr nicht selten ein Da capo der „Felsen“-Arie abverlangten.

Tomowas erste Begegnung mit dem Werk von Richard Strauss fand schon in ihrer Leipziger Zeit statt, wo mit Paul Schmitz ein Dirigent wirkte, der mit dem Komponisten freundschaftlich verbunden war und noch mit ihm gearbeitet hatte. Es war ein Glück für die junge Sängerin, mit ihm die Arabella einstudieren zu können. Die Partie wurde dann auch an der Staatsoper einer ihrer größten Erfolge – mit strömender Fülle und blühendem Melos hinreißend gesungen, mit wienerischer Aura und slawischer Melancholie unvergleichlich verkörpert.  Sie gab die Rolle auch an der Oper Köln, am Opernhaus Zürich und an der Bayerischen Staatsoper München sowie bei deren Gastspiel in Japan. Die Titelrolle in Ariadne auf Naxos ist offiziell von der DG eingespielt worden, nachdem sie damit an der Berliner Staatsoper debütiert und sie auch in Zürich, Buenos Aires, London und Wien gesungen hatte. Der Auftritt bei den Salzburger Festspielen 1982 unter Wolfgang Sawallisch wurde von ORFEO auf CD festgehalten. Unvergessen ist ein Gastspiel der Wiener Staatsoper 1979 in Prag, noch unter Karl Böhm und mit Edita Gruberova als Zerbinetta, die nach ihrem Weggang aus der Tschechoslowakei erstmals wieder in Prag auftrat und von ihren Landsleuten triumphal als Heimkehrerin gefeiert wurde. Dass sich Tomowa daneben mit ihrer erhabenen Interpretation der Titelpartie behaupten konnte, war sicher auch ein Grund für die Schallplattenverpflichtung mit dem Wiener Ensemble 1986 unter James Levine.

Alle diese Erfolge überragt jener mit der Marschallin im Rosenkavalier. Nach dem Debüt an der Berliner Staatsoper und einem Auftritt in Wien erkor sie Karajan 1983 zur Heldin in seiner Inszenierung bei den Salzburger Festspielen. Tomowa war in diesem Sommer die Königin an der Salzach, euphorisch gefeiert und von den Medien umworben. Die Einspielung auf CD bei der DG und ein Aufführungsmitschnitt auf DVD dokumentieren dieses Ereignis. Die Sängerin stellte ihr berührendes Porträt einer erfahrenen und um die Dinge des Lebens wissenden Frau auch an der New Yorker Met und in London vor. Die Aufführung in Covent Garden wurde auf dem Eigenlabel des Opernhauses veröffentlicht. Mit dem Rollendebüt als Gräfin im Capriccio konnte sie 1985 in Salzburg an ihren Erfolg mit der Marschallin anknüpfen. In der Neuinszenierung von Johannes Schaaf bezauberte sie mit mondäner Erscheinung und unwiderstehlichem Charme, glamourös gewandet mit weißer Robe und Kappe von Andreas Reinhardt. ORFEO hat den Mitschnitt der Premiere auf CD veröffentlicht.

In der Spätphase ihrer Karriere gab es noch Ausflüge in das betont dramatische Fach mit der Salome in Barcelona und der Ägyptischen Helena in Paris und Athen 1993, doch fanden diese Auftritte keine Wiederholung. Mit der Kaiserin in Die Frau ohne Schatten gelang der Sängerin noch ein bedeutendes Porträt, bedingt durch die menschliche, berührende Dimension, welche sie der Figur gab, und die stimmliche Intensität in den Monologen. Vor allem in London 1992 wurde sie dafür in der spektakulären, von David Hockney ausgestatteten Inszenierung gefeiert.

Nicht vergessen werden darf Tomowas sehr persönliche Interpretation der Vier letzten Lieder. Nach Auftritten an der Mailänder Scala (unter Wolfgang Sawallisch). bei den Salzburger Festspielen (unter Karl Böhm) und in der Berliner Philharmonie (unter Herbert von Karajan) wurde diese gekrönt von der Einspielung unter von Karajan bei der DG, gekoppelt mit dem Schlussmonolog der Gräfin aus Capriccio und dem Strauss-Lied „Die heiligen drei Könige“. Lieder dieses Komponisten fanden sich auch in den Programmen der Liederabende (neben solchen von Brahms und Tschaikowsky), die Tomowa vielerorts gegeben hat. Noch vielfältiger war ihr Konzertrepertoire, das sich von Bach (Magnificat, Matthäus-Passion) über Haydn (Schöpfung) und Mozart (Requiem, Krönungsmesse) bis zu Beethoven (9. Sinfonie, Missa solemnis) und Bruckner (Te Deum) spannte. All diese Werke hat sie unter von Karajan gesungen und zumeist auch aufgenommen.

Neben Strauss gab es in der Karriere auch Begegnungen mit dem Werk Richard Wagners. Vor allem als Elsa im Lohengrin wurde sie immer wieder verpflichtet – in Berlin, Brüssel, London, Mailand und New York. Karajan besetzte sie in seiner Neuproduktion bei den Salzburger Osterfestspielen 1975 und nahm diese 1981 für EMI auf. Als Elisabeth im Tannhäuser debütierte sie an der Berliner Staatsoper und wirkte danach 1982 in der Neuinszenierung des Werkes an der Wiener Staatsoper mit. Mit der Interpretation der Titelrolle in Korngolds Das Wunder der Heliane bei DECCAs Einspielung im Rahmen der Reihe „Entartete Musik“ 1993 erweiterte sie ihr deutsches Repertoire noch um eine veritable Rarität.

Einen mindestens ebenso breiten Raum wie das deutsche nahm das italienische Repertoire in der Arbeit der Sängerin ein. Den Beginn markierte, wie bereits erwähnt, die Butterfly in Leipzig. 1985 hatte sie Gelegenheit, die Partie an der Lyric Opera of Chicago zu wiederholen, was von Lyric Distribution auf CD festgehalten wurde. 1987 produzierte die bulgarische Firma BALKANTON in Sofia eine Gesamtaufnahme der Oper mit Giacomo Aragall als Pinkerton, die CAPRICCIO 1990 für eine CD-Ausgabe übernahm. Aber Tomowa sang in Leipzig auch schon die Violetta in La traviata, die sie später an der New Yorker Met (1987) und an der Lyric Opera of Chicago (1988) vorstellte. 1987 nahm BALKANTON das Werk für die Platte auf, wiederum prominent besetzt mit Aragall als Alfredo, die leider nicht den Weg auf die CD fand, als LP aber ein begehrtes Sammlerstück darstellt. Sogar die Leonora im Trovatore findet sich schon in Tomowas Leipziger Chronik, 1987 sollte die Partie zu einem ihrer größten Triumphe in Chicago werden – überwältigend in der Italianità, im stimmlichen Farbspektrum und dem mitreißenden dramatischen Aplomb. Bedauerlich, dass es von dieser Sternstunde der italienischen Oper kein offizielles Dokument gibt, doch existiert immerhin ein Privatmitschnitt unter Sammlern.

Zu den größten und erfolgreichsten italienischen Rollen der Sängerin zählt die Aida. Nach dem Debüt 1974 in Berlin war ihre Mitwirkung in der Neuproduktion der Bayerischen Staatsoper München 1979 unter Riccardo Muti mit Plácido Domingo und Brigitte Fassbaender ein Gipfelpunkt ihrer Karriere. Nach der Veröffentlichung auf privaten Labels (Legendary Recordings) hatte sich ORFEO dankenswerterweise 2002 zu einer offiziellen Herausgabe entschlossen, um dieses singuläre Verdi-Dokument zu bewahren.

Bei Freunden in West-Berlin: Anna Tomowa-Sintow und Gatte Avram Sintow mit Tochter Silvana und Geerd Heinsen/ Foto Steinhäusser

Bedeutende Interpretationen gelangen der Sängerin bei den Sopranpartien des mittleren Verdi. Das Leonora-Debüt in der Forza del destino fand bereits 1976 in San Francisco statt, 1980 sang sie die Partie an der Wiener Staatsoper neben José Carreras, was durch einen Mitschnitt auf Legendary Recordings belegt ist, 1981 an der Pariser Oper mit einer TV-Übertragung. Mit der Elisabetta in Don Carlo debütierte sie gleichfalls in San Francisco (1979), sie sang sie 1990 auch an der Hamburger Staatsoper. Die erste Amelia im Ballo in maschera fand 1980 an der Oper Köln statt, 1984 folgte eine Produktion am Grand Théâtre de Genève an der Seite von Luciano Pavarotti, wovon eine Fernsehübertragung erhalten blieb. Ein offizielles Bilddokument auf DVD existiert von ihrer Amelia im Simon Boccanegra 1984 aus der New Yorker Met neben Sherrill Milnes unter James Levine.

Die Desdemona in Verdis Otello begleitete die Sängerin seit Beginn ihrer Karriere in Leipzig. An der Berliner Staatsoper war sie nach der Figaro-Gräfin ihre zweite Premierenpartie in der umstrittenen Inszenierung von Harry Kupfer. In der Folge war Tomowa mehrfach die Partnerin von Plácido Domingo – an der Wiener Staatsoper 1987 (von ORFEO auf CD herausgegeben), bei den Bregenzer Festspielen und beim Gastspiel der Mailänder Scala in Tokyo 1981 unter Carlos Kleiber, wovon ein CD-Mitschnitt bei ARTISTS erschien.

Die Fans der Sängerin bedauern noch heute, dass es nicht zu einer Ernani-Produktion mit Anna Tomowa-Sintow gekommen ist. Die Arie der Elvira „Ernani involami“ gehörte jahrelang zu ihren cavalli di battaglia. Zweimal findet sich die Nummer auf ihren Recitals – bei dem akklamierten Verdi-LP-Album auf BALKANTON 1976 (später von FORLANE auf CD veröffentlicht)  und bei den Berühmten Opernarien von ORFEO 1983. Im selben Jahr machte sie damit bei der Gala zur Hundertjahrfeier der New Yorker Met Furore. Karajan sah diesen umjubelten Auftritt im Fernsehen und verpflichtete sie daraufhin für die DG-Plattenaufnahme des Verdi-Requiem mit Agnes Baltsa, José Carreras und José van Dam. Ein weiteres Glanzstück ist die „Pace“-Arie der Leonora aus der Forza, die sich schon auf Tomowas Debütalbum von 1974 bei ETERNA findet und dann auch im bulgarischen Verdi-Recital enthalten ist. Die ORFEO-Platte präsentiert zudem einige Titel, welche in Tomowas Karriere am Rande blieben – Agathes „Und ob die Wolke“ aus dem Freischütz, Daphnes Verwandlung aus der Strauss-Oper oder die Romanze der Adriana Lecouvreur „Io son l’umile ancella“. Eine andere Verismo-Partie – die Maddalena in Giordanos Andrea Chénier – ist dagegen in zwei exzeptionellen Produktionen vertreten: 1982 an der Mailänder Scala mit José Carreras unter Riccardo Chailly und drei Jahre später an der Royal Opera London mit Plácido Domingo, letztere auf DVD verfügbar und Dokument einer ihrer reifsten und aufregendsten Darstellungen im italienischen Repertoire.

Davor gab es mehrere Puccini-Interpretationen, beginnend in Leipzig, wo sie in einer Rundfunkaufnahme als Lauretta in Gianni Schicchi mitgewirkt hatte, die 1971 von ETERNA auf Platte herausgebracht wurde und die Stimme in jugendlicher Blüte und Süße festgehalten hat. Ihre letzte Premiere in Leipzig vor dem Wechsel nach Berlin war die Titelrolle in der Joachim-Herz-Inszenierung von Manon Lescaut 1971, welche sie dann auch in einer Neuproduktion der Bayerischen Staatsoper München 1984 mit Plácido Domingo verkörperte. Gipfel ihrer Puccini-Interpretationen war aber zweifellos die Tosca. Nach dem Rollendebüt an der Berliner Staatsoper 1976 stellte sie ihr leidenschaftliches Porträt auch in Wien, München, London, New York und Salzburg vor. BALKANTON produzierte eine LP-Gesamtaufnahme mit Nicolai Gedda als Cavaradossi und Ingvar Wixell als Scarpia, die immer noch auf ihre auf ihre Veröffentlichung auf CD wartet. 1999 kam es zum Rollendebüt als Turandot am Gran Teatre del Liceu anlässlich der Wiedereröffnung des Opernhauses – ein einmaliger Ausflug in ungewohntes Terrain.

Zu ergänzen sind zwei russische Partien. Als Tatjana in Tschaikowskys Eugen Onegin absolvierte sie nach dem Studium in Sofia ihr Examen und sang sie dann an der Berliner Staatsoper (erneut in einer Inszenierung von Theo Adam) und in Wien. Wieder ist BALKANTON eine Schallplattenaufnahme zu danken (1988 mit Yuri Mazurok in der Titelpartie und Nicolai Gedda als Lenski), die SONY 1990 als CD-Ausgabe veröffentlichte. Die zweite Partie des russischen Repertoires ist die Jaroslawna in Borodins Fürst Igor, welche sie schon in ihrer Leipziger Zeit für den Rundfunk aufnahm (in deutscher Sprache) und dann 1990 an Londons Royal Opera szenisch vorstellte. Die Aufführung wurde im TV übertragen und liegt als DVD-Bilddokument vor. Leider kam es nie zur Lisa in Pique Dame, doch hat Tomowa deren große Arie „Bald ist es Mitternacht“ im Konzert gesungen. Bei Dmitri Tscherniakovs Neuinszenierung von Rimsky-Korsakows Zarenbraut im Schiller Theater 2013 unter Daniel Barenboim gab es mit der Domna Saburowa doch noch eine russische Partie, welche das unvermindert singuläre Timbre und die starke Präsenz der Sängerin bestätigte. Diese Koproduktion der Berliner Staatsoper mit der Mailänder Scala wurde von BelAir auf DVD dokumentiert.

Freunde der Sängerin und Liebhaber dieser Stimme bedauern jede Partie, die in der Karriere ausgeblieben ist. Doch es ist müßig, über die Gründe zu spekulieren, die manche Projekte verhindert haben. Anna Tomowa-Sintow lag auch viel daran, in Meisterklassen und Workshops ihre reichen Erfahrungen an die jüngere Generation weiterzugeben. Und es bleibt eine Fülle von Figuren, denen sie mit ihrer Stimme und Persönlichkeit ein unverwechselbares Profil verliehen hat und die man als Opernfreund nicht vergessen wird. Eine große Gemeinde von Verehrern und Liebhabern ihrer Stimme vereint sich zum Geburtstagsjubiläum der Künstlerin in Bewunderung und Dankbarkeit (Foto oben Anna Tomowa-Sintow als Arabella an der Berliner Staatsoper/Foto Sintow). Bernd Hoppe

Karan Armstrong

 

Es geschieht zuweilen, dass die Lebensbahn eines Menschen schon früh durch Einflüsse vorgeprägt wird, deren Bedeutung erst im Nachhinein wirklich deutlich wird. Für die junge Sopranistin Karan Armstrong (* 14. Dezember 1941 in Havre, Montana; † 28. September 2021 in Marbella, Spanien) sollten die deutschen Emigranten, die sie während ihrer Ausbildungsjahre in den USA kennenlernte, ein solcher wegbestimmender Einfluss sein: Ihre Lehrerin, die berühmte Lotte Lehmann, der Dirigent Fritz Zweig, der Regisseur und ehemalige Intendant der Deutschen Oper Berlin Carl Ebert, sie alle prägten für die junge Sängerin aus Montana das Bild der Opernstadt Berlin – lange bevor Karan Armstrong selbst zu einem Teil des Berliner Opernlebens werden sollte.
Wie nur wenige Sängerinnen hat Karan Armstrong über fast vier Jahrzehnte die Deutsche Oper Berlin mitbestimmt, war hier von ihrem Hausdebüt 1977 als Salome bis zu ihrem letzten Auftritt als Gutsherrin Larina in Tschaikowskijs EUGEN ONEGIN 2016 in über 400 Abenden und 24 verschiedenen Partien präsent. Dass es dazu kam, lag freilich nicht nur an dem Einfluss ihrer Mentoren, sondern an einer entscheidenden Begegnung: 1978, drei Jahre nach ihrem Europa-Debüt, lernte Karan Armstrong bei einer Inszenierung der SALOME in Stuttgart den Regisseur Götz Friedrich kennen, wurde drei Jahre später seine Ehefrau und folgte ihm nach Berlin und an die Deutsche Oper, an der Friedrich ab 1981 als Intendant amtierte. Fast zwei Jahrzehnte lang, bis zu Friedrichs Tod im Jahr 2000, konnte das Berliner Publikum so die Ergebnisse einer einzigartigen künstlerischen Symbiose erleben, denn mit ihrer Ausstrahlung und ihrer Fähigkeit, den großen Opernpartien ihres Fachs besondere psychologische Glaubwürdigkeit zu geben, war Armstrong die ideale Künstlerin für das Regietheater ihres Mannes. Qualitäten, die umso stärker hervortraten, weil sich das Repertoire Karan Armstrongs nicht nur auf Strauss und Wagner beschränkte, sondern auch Opern von Komponisten wie Berg, Korngold, Poulenc, Schostakowitsch und Kurt Weill umfasste. Ein Einsatz, der ihr in der Presse den Ehrentitel einer „Diva der Moderne“ einbrachte.

Der Tod ihres Mannes bedeutete für Karan Armstrong zwar eine schmerzliche Zäsur, markierte jedoch glücklicherweise nicht das Ende ihres Bühnenwirkens, das sie immer stärker auch um Lehrtätigkeiten und Initiativen zur Förderung junger Sänger und Sängerinnen erweiterte. Auch an die Deutsche Oper Berlin kehrte Karan Armstrong zurück und hat an der Entwicklung des Hauses immer wieder unterstützend teilgenommen.

Die Deutsche Oper Berlin trauert um eine große Sängerdarstellerin und wird Karan Armstrong ein bleibendes Angedenken bewahren (Kranichfoto). Quelle: Pressestelle Deutsche Oper Berlin

Geburtstagsgeschenke

 

Was schenkt man einem 80-jährigen Jubilar zum runden Geburtstag? Ein Requiem dürfte das unpassendste Geschenk sein, ist das Memento Mori dem Gefeierten doch bereits auf den Fersen und lässt das Geschenk wie einen Wink mit dem Zaunpfahl wirken. So sind die beiden Aufnahmen von Verdis Messa da Requiem, die zum 80.Geburtstag von Julia Varady und Riccardo Muti erschienen sind, eher als Geschenke an ihr jeweiliges Publikum als an die Künstler selbst zu werten und als solche willkommen.

Beide Aufnahmen entstanden kurz nacheinander, die mit der Varady im Jahr 1980 durch den Österreichischen Rundfunk in der Stiftskirche Herzogenburg, die des italienischen Dirigenten ein Jahr später im Herkulessaal der Münchner Residenz, was einen nicht unbedeutenden Vorteil in Bezug auf die Akustik bedeutete. Für Julia Varady war die von 1980 ihre erste Teilnahme an einem Verdi-Requiem, für Riccardo Muti eine inmitten vieler mit wechselnden Orchestern und Solisten, wobei bemerkenswert ist, dass er die Blechbläsergruppe des Orchesters des Bayerischen Rundfunks und den Chor zu späteren Aufführungen in Italien einlud, wo er offensichtlich Gleichwertiges nicht vorgefunden hatte. Leistung von Chor und Orchester sind denn auch auf der Aufnahme so makellos, alle Facetten des Werks zum Klingen bringend, dass man sie für eine durchaus allein seligmachende halten kann. Crescendi und Decrescendi werden vollkommen bruchlos bewältigt, Kontraste scharf herausgearbeitet, allein das Amen eine Glanzleistung. Die Aufnahme ist luxuriös, ohne dass akustisches Schwelgen zum Selbstzweck wird.

Das Solistenquartett aus München ist pure (damalige) Starbesetzung. Wer könnte ein reicheres Timbre mitbringen als Jessye Norman,strahlend in den großen, weit ausschwingenden Bögen, auch im Piano farbenreich und von betörender Klarheit im Libera me, in den Ensembleszenen siegreich über allem schwebend. Wer hatte damals eine schönere Tenorstimme als Jose Carreras, dunkel glühend, geschmeidig im Ingemisco, siegreich im „statuens in parte destra“ und ganz fein im Hostias? Auch am zart schwebenden Agnus Dei hat der Tenor seinen rühmlichen Anteil. Dass das Muti-Requiem sich auch zu den opernhaften Zügen des Stücks bekennt, hat er wie der Dirigent zu verantworten. Einen recht hellen Mezzo brachte Agnes Baltsa nicht recht kontrastierend zur Sopranstimme in die Aufnahme mit, so zum Beispiel im Recordare, und auch das Lacrymosa beginnt ungewöhnlich licht, anders als im leuchtenden Lux aeterna. Die schöne Beschwörung des „dona eis requiem“ lässt tolerieren, dass der Bass von Jewgenij Nesterenko auch dröge und dumpf klingen kann.

Leif Segerstam, damals Generalmusikdirektor des ORF Vienna Radio Symphony Orchestra nimmt die Tempi stellenweise recht behäbig, Der ORF Chor wirkt relativ unausgeglichen, was die einzelnen Stimmgruppen betrifft. Ein großes Plus der Aufnahme ist die bulgarische Mezzosopranistin Alexandrina Milchewa mit leuchtender  Stimme in allen Lagen und auch in mezza voce und Piano, so dass das Recordare zu einem wundervollen Wechselspiel der beiden Frauenstimmen wird. Das Material von Nicola Ghiuselev besticht durch nachtdunkle Schwärze, leider nimmt sich der Bassist nicht zurück, wenn es angebracht wäre wie im Lacrymosa, anders im feinen „salva me“. Krähend hell wirft sich Alberto Cupido in seine Aufgabe, ein guter, sehr anständiger, aber kein Ausnahmesänger mit junger, angenehmer Stimme, die sich im Hostias erst allmählich befreien kann. Mit unglaublicher Intensität, die immer ihr Markenzeichen war, wirft sich Julia Varady in ihre Aufgabe, mit leuchtender Höhe, perfektem Legato, makellos schön über allem schwebend, so im Domine Jesu Christe. Ihr Libera me führt den Hörer über den reinen Kunstgenuss hinaus in überirdische Gefilde (Muti: RMM/ BR 900199; Varady: Orfeo 210232). Ingrid Wanja

Riccardo Muti zum 80.

 

Nun ist es endlich geschafft, der Geburtstag, am 28.7. 2021 gefeiert, ist vorbei, nachdem wochenlang zuvor vom letzten Regenbogenblättchen bis zum seriösen Corriere della Sera die italienische Presse und wohl nicht nur diese Riccardo Muti, der auf die 80 wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren schien, immer wieder die magische Zahl und die mit ihr verbundenen, nicht immer positiven Gedanken hatte wiederholen lassen. Geblieben ist, ebenfalls vom Corriere zu verantworten, die Autobiographie des Dirigenten mit dem Titel Prima la musica, poi le parole poi le parole, die man zusammen mit der Zeitung kaufen konnte und, wenn man Glück hat, sogar noch jetzt versteckt unter Krimis und Liebesromanen, erwerben kann.  Wer wegen des bekannten Zitats eine kämpferische Auseinandersetzung mit moderner Regie erwartet, wird enttäuscht, es geht darum, dass der Maestro, nachdem er Jahrzehnte lang Musik zu Gehör brachte, nun das Wort ergreift, um seine Erinnerungen mitzuteilen, seine Ziele, die er sich durchaus noch gesteckt hat, und optimistisch stimmt auch, dass die Rückseite des Buches ein Foto ziert, auf dem der Maestro nicht das Dirigentenpult verlässt und seinem camerino und dem Rentnerdasein zustrebt, sondern den umgekehrten Weg und damit zu weiterem musikalischem Schaffen geht.

Das Buch wurde mit Hilfe von Marco Grondona geschrieben, die Einführung stammt von Luciano Fontana. Dieser schaut auf die jüngste Vergangenheit, die der dank Corona verpassten Gelegenheiten besonders in den USA, speziell Chicago, aber auch auf den Neubeginn, der für Riccardo Muti  in Wien mit dem Neujahrskonzert, im heimischen Ravenna mit seinem Orchestra Luigi Cherubini, dem Bellini-Festival auf Sizilien und, seit 1970 in Vorbereitung, mit der Missa solemnis in Salzburg besteht.

Wer den Maestro nur als strengen bis abweisenden Künstler kennt, als den er sich auch selbstkritisch und es mit Zurückhaltung erklärend sieht, der wird sich wundern, wie viel Humor in dem Buch verborgen ist, daneben aber auch die bewusste Zurschaustellung einer weitumfassenden humanistischen Bildung, die den deutschen Leser auf Nietzsche, Goethe, aber auch die Letzten Briefe aus Stalingrad stoßen lässt. Und nicht zuletzt die Verehrung für Friedrich II. von Hohenstaufen ließ ihn  ein Grundstück zu Füßen von Castel del Monte in Puglia, wo er aufwuchs, erwerben. Geboren allerdings wurde Muti in Neapel, wo seine Mutter jeweils zur Entbindung auch mitten im Krieg reiste, damit die Kinder einen prominenten Geburtsort vorweisen konnten.

Der Leser wird nicht nur durch die Bildungsstätten geführt, die der junge Muti durchlief, erfährt etwas über den Violinisten, Pianisten und schließlich natürlich Dirigenten, auch die Schlachtfelder des Dirigenten, auf denen er meistens als Sieger zurücklieb, werden besucht: der Kampf um die Entvulgarisierung der Veristen, die eitlen Wünsche von Tenören wie Tucker, der unbedingt La commedia è finita singen musste, die nicht komponierten, aber so gern zur Schau gestellten hohen Cs oder Do di petto. Aber auch mancher Bariton ist nicht frei von Eitelkeiten, ein Sopran wie Leila Gencer sehr kämpferisch, und den Bruch mit der Scala, wohl nie ganz verwunden, sieht Muti bereits mit der Traviata ohne Orchester, aber ihm am Klavier sich abzeichnen. Ansonsten bleibt das Buch bei diesem Thema recht wortkarg.

Wichtige Persönlichkeiten für das künstlerische Reifen des jungen Dirigenten werden portraitiert, so Nino Rota, Antonino Votto, Swjatoslav Richter, Vittorio Gui und viele andere, die in einem der letzten Kapitel noch außerhalb der Chronologie gewürdigt werden. Ab 1968 ist Muti direttore stabile in Florenz, setzt sich für Spontini ein, dessen Agnese di Hohenstaufen er gern einmal in deutscher Sprache aufführen würde!  Viele unvergessliche Produktionen entstehen mit ihm und Ronconi als Regisseur, Pizzi als Ausstatter. Ab 1971 (Don Paquale auf Vorschlag von Karajan) dirigiert er in Salzburg, seit 1972 in London, die ersten rapporti delicati mit der Regie gibt es in Paris mit einem französisch-italienischen Misch-Trovatore und in Salzburg mit einem Tito.

Das Buch beschränkt sich nicht auf eine Lebens- und Karrierebeschreibung, sondern schneidet viele wichtige Themen an wie den Vergleich des Orchesterklangs zwischen italienischen und deutschen Gruppen, die besonderen Klangvorstellungen, Rossini oder Verdi betreffend, in Philadelphia das ausschließlich weiße Publikum, die Absenkung des Diaposon für Otello, die Vorzüge des in der Scala ausgebuhten Don Carlo von Pavarotti mit der berüchtigten stecca, eine von Humor geprägte Begegnung mit Königin Elizabeth. Man kann einfach nicht aufhören zu lesen, weil immer wieder neue, interessante Fragen angeschnitten werden wie die Überführung von Richard Strauss durch einen neapolitanischen Musiker, der meinte, es gebe überhaupt keine spiaggia a Sorrento und damit sei dessen so genanntes Stück aus den italienischen Bildern einfach Quatsch.

Das neunte Kapitel schließlich widmet sich den Persönlichkeiten, die auf den jungen oder auch reifen Maestro besonderen Eindruck gemacht haben: Papst Benedikt, für dessen Laudate Dio con Arte er  das Vorwort schrieb, Callas, der er die Lady Macbeth anbot und die meinte È tardi, Cesare Siepi, Christa Ludwig, Di Stefano, der wenigstens La cena è pronta für ihn sang. Im umfangreichen Bildteil am Schluss ist auch eine Danksagung von Carl Orff für die Aufführung der Carmina in Berlin, die er eine zweite Uraufführung nennt, zu sehen.

Wichtig für Muti ist offensichtlich nicht  nur, was er aufführt, sondern wo er es  zu Gehör bringt. So sind die nach dem jedes Jahr nach dem Festival in Ravenna stattfindenden Viaggi dell’Amiciza, immer in eine città martiri führend, ein besonderes Anliegen so wie auch Aufführungen an besonderen Orten wie dem Mailänder Gefängnis. Nie die Kammermusik aus den Augen und Ohren verlieren und eine ethische Haltung zum Beruf des Musikers einnehmen, das soll die Botschaft neben vielen Konzerten und Aufführungen sein, die Riccardo Muti in den nächsten Jahren, und das Vorwort kokettierte mit 120 erreichbaren, verbreiten will (2020 Seiten plus umfangreicher Fototeil; Corriere della Sera Storie 2021; ISSN 2038 0844). Ingrid Wanja   

Und noch ein Lorbeerbusch

 

Von den Fux-Fespielen im Rahmen der styriarte 2019 stammt der Mitschnitt von Johann Joseph Fux’ Dafne in lauro, den ARCANA auf zwei CDs veröffentlicht (A 488). Das Componimento per camera wurde 1714 anlässlich der Geburtstagsfeier von Kaiser Karl VI. in Wien uraufgeführt Es handelt von der Göttin der Jagd Diana und ihrer keuschen Nymphe Dafne, die vom Liebesgott Apoll bedrängt wird und ihre Unschuld rettet, indem sie sich in einen Lorbeerbaum verwandelt.

Im Werk spielen Tänze und galante Tanzrhythmen eine zentrale Rolle – das von Kaiser Karl VI. neu installierte Wiener Hofballett hatte entsprechend lukrative Aufgaben. Auch für die Solisten hat Fux tanzartige Soli geschrieben – Giguen, Menuette, Bourréen, Sarabanden…

Das Ensemble Zefiro, das unter Leitung von Alfredo Bernardini musiziert, bringt den Schwung und die Lebendigkeit der Musik zu starker Wirkung. In der Uraufführung wirkten zwei Kastraten mit – der Altus Gaetano Orsini, bereits 47 Jahre alt, sang den Apollo, der Sopranist Giovannino Vincenzi, erst 16jährig, den Amore. In der Aufnahme aus Graz ist der renommierte Countertenor Raffaele Pe als Apollo zu hören und setzt sich mit seinem ausgewogenen Gesang souverän an die Spitze der Besetzung. Gleich in seinem Auftritt, der Gleichnis-Arie „Lusingato dai fiori del prato“, lässt er betörende Koloraturen und souverän bewältigte Spitzennoten hören. Bei „Ferma, o cara“ überzeugt er mit reichem Gefühlsspektrum. Ihm gehört auch das letzte Solo des Werkes mit „Questa fronda“, das nach Dafnes bewegendem Abschied vom Leben wieder eine heitere Stimmung einbringt. Der Amore ist mit der Sopranistin Sonia Tedla besetzt, die in der ersten Arie, „Non v’è cor“, mit lebhafter Stimmführung gefällt. Später kann sie in „Io so con cento frodi“ gleichfalls mit agilem Vortrag aufwarten.

Auch die beiden Protagonistinnen sind Soprane. Monica Piccinini singt die Diana. In ihrer Auftrittsarie „Perde il tempo“ lässt sie einen larmoyanten Klang hören, in der nachfolgenden, „Sappia il monte“, kann sie zwar energisch auftrumpfen, verliert aber nicht den weinerlichen Duktus.

Die Titelrolle ist mit Arianna Vendittelli besetzt. Ihr erstes Solo, „Io so che tanto piace“, ist von munterem Charakter, was die Interpretin mit koketter Tongebung umsetzt. In „Serba il tuo cor“ kann sie ihr stimmliches Potential noch nachdrücklicher beweisen. Mit Diana beendet sie die 1. CD mit dem Duett „Non v’è pace“, in welchem sich beider Stimmen harmonisch verblenden. Bemerkenswert ist ihre schmerzliche Arie „Lascio d’esser Ninfa“ vor der Verwandlung in den Lorbeer – ein ausgedehntes, getragenes Lamento, das die Sängerin mit tiefer Empfindung ausbreitet.

Die tiefste Stimme ist der Tenor Valerio Contaldo als Mercurio, der nach den vielen Sopranstimmen für eine angenehme Abwechslung  sorgt, auch wenn sein Gesang etwas grob klingt. In seiner Gleichnis-Arie vom Schiff im Sturm („A l’or ch’è più agitato“) trumpft er mit resoluter Energie auf – die Musik dieser Nummer entspricht seiner Stimme besonders. Am Ende preist der Chor „Bei Lauri“die Schönheit des Lorbeers und Kaiser Karl, den er schmücken soll. Bernd Hoppe

Michel Corboz

 
Meine ersten Gehversuche im Barocken fanden aufgrund der wunderbaren LPs bei Erato statt, darunter war der Monteverdische Orfeo unter Michel Corboz einer der prägendsten Eindrücke, wegen Corboz, aber auch wegen Eric Tappy, dem ich hier erstmals und später in persona oft begegnete. Diese elegant gestalteten, luxuriös ausgestatteten LPs von Erato waren ein Schatz, den ich mir als Student eigentlich nicht leisten konnte, derentwegen ich aber auf Kino und Kneipe verzichtete. Michel Corboz, den ich dann auch live einige Male erlebte, gehört zu den Pionieren auf dem Gebiet der französischen Barockmusik, für Monteverdi setzte er deutliche Marksteine (die Sammlung Selva morale,. Marienvesper und Madrigale), und sein Wirken hat mich und viele andere bereichert. Sein Tod hinterlässt eine weitere Lücke, nicht nur eine in meinem Musikleben. r.i.p. G. H.
Im Folgenden eine kurze Würdigung aus dem unverzichtbaren Wikipedia: Michel Corboz (* 14. Februar 1934 in Marsens, Kanton Freiburg; † 2. September 2021[1] in Glion sur Montreux) war ein berühmter Schweizer Dirigent und Komponist.´ Er besuchte zuerst in Freiburg (Schweiz) das Lehrerseminar bei Pierre Kaelin und studierte dann am dortigen Konservatorium KF Gesang bei Juliette Bise und Musiktheorie bei Aloÿs Fornerod sowie am Institut Ribaupierre in Lausanne Komposition bei Pierre Chatton. 1961 gründete er das Ensemble vocal et instrumental de Lausanne, dessen Leiter er auch war und mit welchem er zahlreiche Konzerte im In- und Ausland gegeben sowie Plattenaufnahmen gemacht hat. Als Dirigent dieser Formation gelang ihm mit Einspielungen der Marienvesper und des Orfeo von Claudio Monteverdi 1965 und 1966 der internationale Durchbruch. Ab 1969 leitete er zusätzlich als Chefdirigent den Chor des Gulbenkian-Orchesters in Lissabon. Von 1976 bis 2004 lehrte er Chorleitung am Genfer Konservatorium.

Sein Repertoire reichte von Bach, Mozart, Schubert, Mendelssohn, Brahms über Verdi, Puccini, Fauré, Duruflé bis zu Frank Martin und Arthur Honegger. Mit seinen Ensembles in Lausanne und Lissabon, die er bis 2019 leitete, hinterließ Corboz über 100 Einspielungen, vor allem auf dem Label Erato. Im Juni 2021 gab er ein Abschiedskonzert in Genf. Er starb am 2. September 2021. (Quelle Wikipedia/ Foto Magical Journey)

Zingarellis „Giulietta e Romeo“

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Die Liebesgeschichte von Romeo und Julia gehört zu den berühmtesten Dramen der Welt – sie hat auch reichlich ihre Spuren in der Musik hinterlassen. Ob Tschaikowsky, Prokowjev oder Gounod, ob Bellini, Vaccaj oder Berlioz – es gibt jede Menge berühmter Vertonungen. Nun kommt eine vergessene auf den Markt, eine Oper von Niccolò Zingarelli, ein Querschnitt seiner Oper Giulietta e Roméo beim Label Chateau de Versailles.

Zingarelli ist wohl der von allen nicht gespielten Opernkomponisten am häufigsten in der Literatur erwähnte. Immer wieder stolpert man über seinen Namen. Er war nicht nur ein Lieblingskomponist der Generation zwischen Mozart und Rossini, er war auch ein hocheinflussreicher Lehrer und  unterrichtete eine ganze Belcanto-Komponisten-Generation, auch Donizetti und Bellini sind dabei. Er hat 37 Opern geschrieben, die in Europa rauf und runter gespielt wurden, vor allem seine Romeo-und Julia-Oper vom 1796.

Wolfgang Leonhardts These, dass die Revolution ihre Kinder frisst, gilt auch hier. Zingarelli hat als „Erfinder“ im Keim schon alles Folgende entwickelt. Er „erfand“ eine moderne, sehr sinnliche Sängeroper mit großen emotionalen Szenen und weit ausgreifenden Gesangslinien. Seine Schüler und Nachahmer haben diese Errungenschaften aufgegriffen und dann noch frappierender umgesetzt. Erst Vaccaj mit einer Neuvertonung des Stoffes und dann Zingarellis Lieblingsschüler Bellini mit einer noch erfolgreicheren Version (I Capuleti e i Montecchi). Zingarellis eher zurückhaltenderer  Stil war dann in dem blendenden Licht seiner auftrumpfenden Schüler nicht mehr zu erkennen.

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Nach ersten Neu-Begnungen mit der Oper in Salzburg, Schwetzingen und Venedig zeigt gerade diese Erst-Einspielung auf historischen Instrumenten unter Stefan Plewiak, warum sich die Ausgrabung lohnt. Eine Würdigung Zingarellis war und ist heute eher möglich, das Werk wäre noch in den 90ern abgelehnt worden, weil man versucht hätte, es als eine Art Prequel zu Bellini zu servieren – also als Musik, die man schlicht als Vorläufermusik eingestuft hätte. Hier nun, in dieser sehr behutsamen, durchsichtigen instrumentalen Interpretation wird eher klar, was für ein großartiger Visionär Zingarelli war, wie er die Traditionen des 18. Jahrhunderts auf einen Höhepunkt zuführt und damit gleichzeitig etwas Neues schafft. Für 1796 ist das wirklich grandiose Musik.

Jedoch: Die Oper war für zwei damalige absolute Weltstars geschrieben, und die traten darin nicht nur bei der Uraufführung auf. Auch später waren sie ein gefeiertes Team: Giuseppina Grassini , eine der legendären Opernsängerinnen der Epoche, und der hochdekorierte Kastrat Girolamo Crescentini. Die Zeitzeugen beschreiben immer wieder das orgiastische Enzücken, das die Menge überkam, wenn sich diese Stimmen zum Duett in Zingarellis Oper vereinten. Das bekommt man im Mitschnitt aus Versailles wahrhaftig nicht geboten; weder Adele Chavret noch Franco Fagioli können da mithalten. Dafür hätte es schon ein Paar wie Sutherland-Horne gebraucht.

Nun wird sich der Hörerkreis dieser Aufnahme dessen sicher nicht so bewusst sein, eher sich fragen, warum keine Gesamtaufnahme, sondern nur ein großer Querschnitt aufgezeichnet wurde. Warum also? Mal wieder Corona? Egal: Wenn man seine Erwartung dämpft, wird man mit diesem Querschnitt sicher gut bedient. Vor allem überraschte mich Franco Fagioli. Ich bin nun wirklich der größte Countertenor-Muffel auf Erden, aber er hat mich hier überzeugt, denn er lässt sich auf die Sinnlichkeit und Opulenz der Komposition ein, spart nicht mit Kadenzen, und die enge Kehle mit den „katzenhaften“ Verzierungen, mit denen sonst so viele Countertenöre teure und hoffnungsvolle Barockproduktionen zerschreddern, fehlt hier Gottseidank. (Wobei man einräumen muss, dass ihm die Partie bis zum ersten Finale runder gelingt als danach). In weiteren Rollen hört und sieht man (auf der beiliegenden Konzert-CD) mit Gewinn den Tenor Philippe Talbot als Nebenbuhler Evardo und als Teobaldo

Der Komponist Niccolò Ziungarelli/ BiblioLMC

Erschienen ist das Ganze bei dem französischen Label Château de Versailles. Das Werk von 1796 war eine von Napoleons Lieblingsopern, vielleicht sogar die entscheidende Oper, die seine Liebe zu dem Genre für den Rest seines Lebens prägten. Als er 1796 als General siegreich in Mailand einzog lief an der Scala Zingarellis Roméo. Und der Rest ist eigentlich Stoff für eine 24teilige Netflix-Serie: Napoleon war so hingerissen von der Grassini, dass sich erst ein Flirt entspann und dann bald auch eine heftige Liebes-Affaire entwickelte. Die Sängerin folgte ihm später auch nach Paris und dürfte nicht nur seinen Musikgeschmack stark geprägt haben.

Ich hoffe, es kommen noch weitere Lieblingsopern von Napoleon auf die CD. Projekte sind jedenfalls angekündigt. (Wir haben 2021 immerhin Napoleons 200. Todestag, Zeit sich wieder auf ihn als wichtigen Opernmäzen zu besinnen!) Ich drücke sehr die Daumen, dass es weitere Einspielungen aus dieser Zeit auf CD geben wird!  Diese Epoche ist immer noch erstaunlich unterrepräsentiert. Dabei war sie für die Oper eine der spannendsten überhaupt! Diese Zingarelli-Aufnahme ist ein Appetit-anregender Start. Schade, dass man das Werk nicht komplett aufgenommen hat. Dem Kenner bleibt da der radioübertragene Salzburger Mitschnitt mit Fagioli und der Hallenberg, complettamente. Das beiliegende dreisprachige Booklet ist reich an Informationen, vor allem zu den beiden Gesangsstars Grassini und Crescentini. Den auf CD vorliegenden Querschnitt kann man auch auf der beiliegenden DVD nacherleben, konzertant im schönen Theater von Versailles. Matthias Käther

 

PS.: Wie bereits erwähnt ist diese Zingarelli-Oper mit dieser Neuaufnahme nicht erstmals zu hören.. Bereits in Salzburg wurde sie, ebenfalls mit Franco Fagioli und dann mit Ann Hallenberg, 2016 (radioübertragen) gegeben, Schwetzingen/Heidelberg folgte 2016 (dto) mit dem Counter Kangmin Justin Kim und Venedigs Fenice zog 2017 (inhouse dokumentiert) ebenfalls nach, dort sang den Roméo-Part die Mezzosopranistin Violeta Grecu, sehr viel überzeugender finde ich als hier ein Falsettist, aber das ist Geschmackssache – zumal sich natürlich wieder die Frage stellt, ob ein Falsettist überhaupt eine Wahl ist für eine so hochvirtuose Kastratenpartie, niemand hätte damals Falsettisten für diese anspruchsvollen Partien ausgesucht. Im Film Farinelli hatte man die Stimmen von Derek Lee Ragin und Eva Godlewska digital kombiniert, ein überzeugendes Experiment. Als Bonus singt auf der beiliegenden DVD Counter Fagioli eine weitere Arie des Roméo aus Akt 3 der Oper. Allerdings schmunzelt man doch über den Satz „Franco Fagioli est Crescentini:, das ist schon recht verwegen und tres francais … Leider verstopft diese Aufnahme aus Versailles möglicherweise den Markt für eine vollstände Wiedergabe der tollen Oper auf CD; hoffen wir, dass vielleicht der Palazzetto oder andere sich besinnen (ohne Counter vielleicht) … G. H.

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Zuvor gab es die Oper erstmals in moderner Zeit 2016 in Schwetzingen vom Theater Heidelberg – dazu der Bericht von Marcus Budwitzius: Mut gehöhrt belohnt. Mutig ist der von Operndirektor Heribert Germeshausen auf sieben Spielzeiten angelegte Zyklus der Heidelberger Oper im Rahmen des „Winter in Schwetzingen“ mit Werken der neapolitanischen Schule, die im schönen, kleinen Rokokotheater des Schwetzinger Schlosses als deutsche Erstaufführung oder erste Inszenierung der Neuzeit präsentiert werden, was auch von Publikum und Presse honoriert wird. In den vergangenen Jahren spielte man Alessandro Scarlattis „Marco Attilio Regolo“, Antonio Porporas „Polifemo“, Tommaso Traettas „Ifigenia in Tauride“, Niccolá Jommellis „Fetonte“ und Leonardo Vincis „Didone Abbandonata“. Zum Abschluss folgt in der kommenden Spielzeit eine weitere Oper von Porpora. In dieser Saison präsentierte in dieser Saison ein weiteres, aber spätes Werk der von Alessandro Scarlatti begründeten neapolitanischen Opernschule: Niccolà Antonio Zingarelli (1752-1837) komponierte Giulietta e Romeo in angeblich nur acht Tagen, am 30. Januar 1796 war die Premiere an der Mailänder Scala. Die Oper zwischen Rokoko und Belcanto erfuhr nach konzertanten Vorstellungen bei den Salzburger Pfingstfestspielen 2016 im Schwetzinger Rokokotheater die erste szenische Neuproduktion seit 187 Jahren und erwies sich dabei vor allem sängerisch und musikalisch als schöne Entdeckung.

1829 soll Zingarellis Oper zuletzt szenisch aufgeführt worden sein, bis dahin stand sie in der Gunst von Publikum und Sängern – Romeo war eine Lieblingsrolle der berühmten Mezzosopranistin Maria Malibran (1808-1836) bevor sie zur ersten Diva für die Werke Rossinis, Donizettis und Bellinis wurde; Bellini war Zingarellis Schüler. Wie auch bei Bellinis I Capuleti e i Montecchi ist Shakespeares Romeo and Juliet nicht die direkte Vorlage, Librettist Giuseppe Maria Foppa konzentriert sich auf wenige Personen. Wegen Romeo weigert sich Giulietta kurz vor der geplanten Hochzeit, Teobaldo zu heiraten, der sich daraufhin mit Romeo duelliert und stirbt. Romeo flieht, Gilberto (erinnert an Shakespeares Lorenzo, ist hier aber weder Mönch noch Arzt, sondern ein ungeschickt agierender Vermittler) gibt Julia den Trank für den Scheintod, Romeo vergiftet sich, Giulietta erwacht und zusammen besingen sie ihre unglückliche Liebe. Giulietta begeht nach Romeos Tod vor den Augen ihres Vaters Everardo, dem sie noch schwere Vorwürfe macht, Selbstmord.

Zingarellis „Giulietta e Romeo“ in Schwetzingen/ Foto Annemone Taake

Musikalisch sind für heutige Ohren Handlung und Musik nur durch lockere Bande verknüpft, mit eleganter Melodik umschifft man die Klippen der Verzweiflung, eine traurige Oper ist hier überwiegend noch nicht traurig, niemand wird eine Träne vergießen, die Dramaturgie will nicht wirken, sondern in Affekten und Melodien schwelgen. Die Partitur hat viele schöne Momente, in der abschließenden Gruftszene erreicht Zingarelli dann auch teilweise dramatisch starke Phasen. Die Konzentration gehört den Sängern und die sind in Schwetzingen sehr gut besetzt, vor allem drei Namen sollte man sich merken, und empfehlen sich nachdrücklich für höhere Aufgaben. Da ist als erstes der starke Hauptdarsteller. Der Romeo ist mit einem Countertenor besetzt: Kangmin Justin Kim begeistert durch ein sehr schönes Timbre, klare und unangestrengte Höhe und vor allem gelingt es ihm herausragend gut, seinem Gesang Emotionalität zu verleihen – Kim klingt nie pauschal oder blass, sondern stets farbig, abwechslungsreich und spannend. Mit dieser Rolleninterpretation empfiehlt sich Kim für Größeres. Als Giulietta hat man die britische Mezzosopranistin Emilie Renard verpflichtet und auch sie dürfte Karriere machen: sie ist bühnenpräsent und gestaltet mit souveräner und sicherer Stimme. Ihr Engagement wurde finanziell ermöglicht durch Produktionspaten – und das hat sich gelohnt. Renards und Kims Duette vermitteln ein wenig ein Aha-Erelebnis – von Zingarelli hat Bellini hörbar etwas gelernt.  Und dann ist da noch Zachary Wilder als Everardo, dessen ausdrucksstarker Tenor für Barockrollen prädestiniert scheint und nur durch leichte Einengungen in der Höhe beeinträchtigt klang, aber das kann bei einem kalten Winter auch naheliegende Ursachen haben. Drei sehr gute Routiniers ergänzen in den kleineren Rollen: den Gilberto singt als Gast Terry Wey, Teobaldo ist Namwon Huh, Julias Amme Matilda ist bei Rinnat Moriah bestens aufgehoben und die knapp 20 Sänger des Heidelberger Chors singen ohne Fehl und Tadel. Dirigent Felice Venanzoni und Philharmonischen Orchester Heidelberg spielen historisch informiert auf sehr gutem Niveau, ein routiniertes Originalklang-Ensemble werden nur sehr wenige vermissen. Die Fassung wurde aus verschiedenen Aufführungsjahren zusammengestellt (auch in Salzburg war nicht die Urfassung zu hören).

Die zurückhaltende Inszenierung der Regisseure Nadja Loschky und Thomas Wilhelm konzentriert sich auf das überraschungsfreie Geschehen und schafft es, überzeugende Figuren auf die Bühne zu stellen. Dabei erlaubt sich die Regie nur eine Freiheit: ein Mädchen spielt eine zweite Giulietta als Kind, die von der gewalttätigen, bedrohlichen Männerwelt verängstigt ist und sich emanzipieren will – ein Konzept, das aber nur im Hintergrund erfolgt, im Vordergrund steht eine gelungene Personenregie. Romeo ist anfänglich ein pubertierender Jugendlicher mit kurzen Hosen, der zum Mann mit langen Hosen und weißem Hemd reift, Giulietta trägt einen kniefreien Rock oder ein nicht sittenstrenges kurzes Nachthemd, die anderen Kostüme kombinieren alt und neu und vermischen Zeiten und Stile, Wams und Halskrause des elisabethanischen Zeitalters, Springerstiefel oder Glitzerhosen – eine Mischung, die funktioniert. Die einfach gehaltene Bühne trägt ihren Anteil zum flüssigen Handlungsverlauf bei, neue Szenen werden durch Vorhänge räumlich ohne Zeitverlust getrennt. Eine sehr schwungvolle Fechtszene ergänzt den guten Eindruck. In der Summe eine gelungene und schöne Produktion der Heidelberger Oper, bei der Einsatz und Aufwand sängerisch, musikalisch und szenisch überzeugen (Dezember 2016/ Foto oben: Zingarelli/ Schwetzingen/ Foto Annemone Taake 3). Marcus Budwitius

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Élisabeth Vigée-Lebrun: Giuseppina Grassini in ihrer Rolle als Bellinis Zaïra (1805)/ Wikipedia

Und nun ein längeres Wort zu Giuseppina Grassini, Weltstar und Mätresse der Mächtigen: Laurent Brunner über die Diva, die Napoleon, den Duke of Sussex und Wellington, neben manchen anderen, verführte. 1773 in Varese geboren, fiel die junge Giuseppina Grassini schnell durch ihre musikalische Begabung auf. Ihre Eltern ließen sich dazu überreden, sie nach Mailand zu schicken, um dort ihr Glück zu versuchen. Dort lernte sie den Fürsten Belgiojoso kennen, der sie unter seine Fittiche (und in sein Bett) nahm und sie durch Antonio Secchi unterrichten ließ, sodass sie 1789 ihr Debüt als Seconda Donna am Teatro Ducale von Parma geben konnte. 1791 debütierte sie an der Scala in Nebenrollen in Werken von Guglielmi, Paisiello und Salieri, setzte ihre Karriere in Vicenza und Venedig fort und kehrte schließlich 1793 mit einer vollendeten Altstimme nach Mailand zurück: Erst zwanzig Jahre alt, feierte sie bereits ihren ersten Erfolg in Zingarellis Artaserse, neben dem Kastraten Marchesi und dem Tenor Lazzarini. Mit Demofoonte von Portogallo konnte sie 1794 ihren Aufstieg in Mailand fortsetzen, aber der durchschlagende Triumph kam im Januar 1796 mit Giulietta e Romeo, einer Oper, die Zingarelli in acht Tagen für sie und den hervorragenden Crescentini komponiert hatte. Umwerfend frisch und schön, eroberte der 23-jährige Star die Herzen der Mailänder, die in ihr eine grandiose Tragödin entdeckten. Die Künstler wurden am Ende der Oper mit Beifallsstürmen gefeiert.

Es war das Jahr 1796, in dem die glorreiche „Armee Italiens“ mit dem jungen Bonaparte an der Spitze am 15. Mai in Mailand einmarschierte, umjubelt von der Menge und von der Oberschicht willkommen geheißen. Von Gala-Abenden bis hin zu Opern-Aufführungen genoss der 27-jährige General Mailand und zweifellos auch das Talent von Grassini, die regelmäßig vor ihm sang und sich sicher dem Helden gegenüber sehr freundlich zeigte. Er aber war in Josephine verliebt… Sie sollten später zueinanderfinden.

Sexy war er ja: Napoleon Buonaparte zur Zeit des Einmarsches in Mailand 1796/ Gemälde/Ausschnitt von David/ Wikipedia

Im Fenice von Venedig fand im Dezember 1796 die Premiere des zweiten Triumphes von Grassini und Crescentini statt: Cimarosas Gli Orazi e Ii Curiazi. Im Mai 1797 kehrte Bonaparte nach Mailand zurück, und die Grassini sang regelmäßig für ihn privat in seiner Villa in Mombello. Aber danach wurde sie in Neapel für die Uraufführung von Cimarosas Artemisia engagiert, die wieder ein durchschlagender Erfolg war und ihr die Bewunderung des englischen Prinzen Augustus Frederick von Sussex, die Verehrung durch die neapolitanische High Society und die Zuneigung des musikbegeisterten Volkes einbrachte. Als sie von einem dreißigjährigen Franzosen umworben wurde, rächte sich der Prinz, lud sie auf sein Schiff ein und warf sie im Golf von Neapel über Bord! Doch da Grassini schwimmen konnte, gelang es ihr, das Ufer zu erreichen.

Noch ein Mann im Liebesleben von Giuseppina Grassini: der Geiger und Komponist Pierre Rode /Gemälde von Antoine Vallin 1808/ Wikipedia

Zurück in Mailand, galt sie als die „attraktivste und berühmteste Schauspielerin der Zeit“ (Stendhal), und die siegreiche Rückkehr des Ersten Konsuls nach Italien im Juni 1800 war für ihr weiteres Leben entscheidend. Sobald er in Mailand eintraf, improvisierte sie zu seinen Ehren an der Scala einen Galaabend, mit dem sie die Begeisterung der befreiten Italiener zum Ausdruck brachte, und wie ein Zeuge berichtete, rief sie ihm am 4. Juni „wie eine berauschte Bacchantin“ die Verse der Marseillaise zu. Am Ende der Aufführung gratulierte er ihr und… verbrachte die Nacht mit ihr. Er setzte die Kämpfe fort, war bei Marengo siegreich und schloss Frieden. Erschöpft fand er sie in Mailand wieder, wo sie ihn im Triumph empfing: „Er legte seinen Kopf an meiner Brust wie ein kleines Kind zur Ruhe“, erzählte sie über diese „historische Nacht“. Wieder wurde eine Gala an der Mailänder Oper veranstaltet, die das Glück von Liebe und Ruhm vollendete. Von da an wich er nicht mehr von ihrer Seite. „Signora Grassinis Stimme entzückte ihn. Hätte er sich nicht unbedingt um die Geschäfte kümmern müssen, hätte er ihrem Gesang stundenlang mit Genuss zugehört.“ (Bourrtenne). Er beschloss, sie nach Paris mitzunehmen, damit sie bei den Feierlichkeiten des 14. Juli anlässlich des Sieges in Italien auftrete. Von einer begeisterten Menge umgeben, hörte der Sieger von Marengo seiner Muse zu: „Glorie delle armi, la Cisalpina liberata…“

Die Stimme der so jungen, so schönen Grassini repräsentierte das glückliche, in seinen Befreier verliebte Italien. Daraufhin begann ein halb geheimes, halb mondänes Verhältnis, denn Bonaparte wollte nicht, dass diese Beziehung publik  werde. Und trotz seiner vielfältigen Beschäftigungen hatte er genug Zeit, um Giuseppina zu verwöhnen. Sie kam regelmäßig, um vor Bonaparte und Josephine zu singen. Vor allem flanierte sie aber durch Paris, das sie sehr liebte! Doch sie vermisste die Bühne und unterbreitete Bonaparte vergeblich das Projekt zur Gründung eines italienischen Opernhauses. Dessen ungeachtet gelang es ihr, in Salons zu singen und sogar ein Konzert an der Oper zu geben, wo sie triumphierte. Aber ihre Freundschaft mit dem Geiger Pierre Rode, der mit ihr auftrat, entwickelte sich zu einer Liaison. Bonaparte befragte seinen Minister Fouche zu den Gerüchten, die ihn diesbezüglich erreichten, und erhielt folgende Antwort: „Meine Überwachung war zunächst in Verzug. Aber ich weiß jetzt, dass ein kleiner Mann, der in einen blauen Gehrock gekleidet ist und einen kleinen Dreispitz trägt, jeden Abend zwischen 8 und 9 Uhr das Schloss verlässt, in eine Kutsche steigt und in die Rue Chantereine Nr. 28 zu Grassini fährt. Dieser kleine Mann sind Sie. Und die Schöne ist ihnen mit dem Geiger Rode untreu.“ Bonaparte war ab 1801 seiner Mätresse bereits überdrüssig und ließ es geschehen: Sie war gleichsam in eine zärtliche Ungnade gefallen.

Tüchtig war sie ja, die Grassini: Augustus Frederick, Duke of Sussex, gehörte ebenfalls zu ihrer Sammlung/ Gemälde von Guy Head/ Wikipedia

Das Liebespaar Napoleon und die Diva verließ Paris im November, um Grassinis Opernkarriere in Italien wieder aufzunehmen, wo man sie herzlich empfing. Sie wurde in Genua und Triest gefeiert und reiste 1803 nach London, um sich mit ihrer Rivalin, der Sopranistin Billington, zu messen. Sie trafen in Peter von Winters Ii Ratto di Proserpina aufeinander, dann bei zahlreichen Gesellschaftsabenden, bei denen Grassini ihre Rivalin übertrumpfte. Als Londons Liebling verließ sie die Stadt 1805, um schnell nach Paris zurückzukehren, wo Napoleon sie mit Vergnügen wiedertraf – trotz ihrer Ehe mit Cesar Ragani, der an ihrer Seite bald zu einem verständnisvollen Schatten wurde. Um sich Grassinis Dienste zu sichern, ernannte Napoleon sie 1807 zur „ersten Sängerin Seiner Majestät des Kaisers und Königs“. Mit einer außergewöhnlich hohen Gage trat sie am Hof in der Musique Particuliere de l’Empereur unter der Leitung von Paer auf, wo sie Crescentini wieder traf. Gemeinsam gaben sie mit beachtlichem Erfolg mehrere Aufführungen von Giulietta e Romeo am Theâtre des Tuileries. Nach einem dieser Abende verlieh der Kaiser Crescentini den Orden der Eisernen Krone. „Durch welch rühmliche Tat könnte sich ein Crescini wohl eine solche Ehre verdient haben?, fragte ein Offizier. Da erhob sich das schöne Fräulein Grassini majestätisch von ihrem Sitz und erwiderte mit höchst theatralischer Geste und dramatischem Tonfall: „Und seine Verwundung, mein Herr, welchen Wert messen sie ihr zu?“ Darauf brach Jubel und großer Beifall aus“, heißt es in Napoleons  Tagebuch von St. Helena.

Die Grassini sang außerdem für den Kaiser La vergine del sole von Gaetano Andreozzi, La morte di Cleopatra von Sebastiano Nasolini und gemeinsam mit Crescentini die Uraufführung von Luigi Cherubinis Pimmalione. Ihre letzte Uraufführung in Paris war Paers Didone abandonnata im Jahr 1811. 1813 konnte sie schließlich auf der Opernbühne in Cimarosas Gli Orazi e i Curiaci und in mehreren hervorragenden Konzerten brillieren. Doch auch wenn sie in diesen turbulenten Jahren oft für den Kaiser sang, riss sie der Zusammenbruch des Regimes mit sich. Napoleon verließ Paris am 25. Januar 1814: Er sollte seine Lieblingssängerin nicht mehr wiedersehen. Als die Alliierten in Paris eintrafen, buhlte sie natürlich um deren Gunst und ging nach London, um dort mit ihrer Didone an ihre Erfolge anzuknüpfen: ein Triumph, der umso vollkommener war, als sie den Oberbefehlshaber der britischen Armeen, Herzog von Wellington, verführte. Die Grassini liebte die Sieger!

Und schließlich war da Arthur Duke of Wellington/ Wikipedia, der Napoleon in den Armen der Grassini ablöste

Als Wellington zum Botschafter in Paris ernannt wurde, kehrten sie gemeinsam dorthin zurück, wobei die stolze Sängerin zu seiner offiziellen Mätresse wurde. Doch er verließ Paris 1815, und die schöne Giuseppina wurde von der Rückkehr des „Helden der Hundert Tage“ überrascht: Sie wagte aber nicht, mit ihm in Kontakt zu treten. Ihre beiden Liebhaber bekämpften sich bis zur Schlacht von Waterloo: ein unglaubliches Schicksal! Der besiegte Napoleon kehrte ins Palais de Elysee zurück, dann nach Malmaison, aber sie suchte ihn nicht auf.

Als Wellington am 7. Juli in Paris einzog, begrüßte sie ihn als Sieger. Sie brachen gemeinsam auf, um in London Triumphe zu feiern, wo sie in Covent Garden vor dem ganzen Hof sang. Dann ließen sie sich in Paris nieder. Er hatte dort nur Augen für ihre Reize und ihre musikalischen Talente, die sie nur in den Salons ausübte, da ihr der Weg zur italienischen Oper durch die Sopranistin Angelica Catalani am Hof der Bourbonen versperrt war. Schließlich gingen die Liebenden aber getrennte Wege.

1817 kehrte die Grassini nach Italien zurück, wo sie an der Scala, in Venedig, Triest und Florenz triumphierte. Überall kamen ihre Abschiedsauftritte beim Publikum außerordentlich gut an. Schließlich kehrte sie aber nach Paris zurück, um ihren Ruhestand – sehr mondän – mit berühmten Freunden zu verbringen: von Rossini über Mme Vigée Lebrun bis Stendhal. Sie nutzte ihren Ruhm, um ihren Schützlingen den Zugang zur Oper zu erleichtern, vor allem ihren Nichten Giuditta Grisi und Giulia Grisi. Letztere hatte 1840 die Ehre, im Invalidendom bei der Rückkehr von Napoleons Asche zu singen: am selben Ort, an dem Giuseppina den Sieger von Marengo gefeiert hatte! Im Alter von 77 Jahren entschlief Giuseppina Grassini sanft, aber fast vergessen, in Mailand. (…) Laurent Brunner/Übersetzung Silvia Beruti-Ronelt

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Giuseppina Grassini als Orazia in Cimarosas Oper „Gli_Orazi ed i Orazi“/ Wikipedia

Dazu noch ein Beitrag aus dem unerlässlichen Wikipedia. (…) Giuseppina Grassini (* 8. April 1773 in Varese; † 3. Januar 1850 in Mailand) gehörte zu den bedeutendsten Opernsängerinnen des endenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts (der Epoche unmittelbar vor Rossini) und wurde als „prima donna seria Europas“, also als Primadonna des ernsten Faches auf den europäischen Bühnen, beschrieben. Kaum 20 Jahre alt, wurde sie schon großen Sängerinnen wie Brigida Banti an die Seite gestellt. Sie galt Kritikern bereits zu dieser Zeit als „zehnte Muse“.

Die Stimme: Gewöhnlich als Altistin kategorisiert, lag ihre Tessitur eher im tieferen Mezzosopran-Bereich und verfügte über ein starkes Timbre, eine große Klangfülle und Flexibilität. So bezeichnete die Komponistin Sophie de Bawr Grassinis Stimme als einen „prächtigen Alt, dem ein unermüdlicher Fleiß einige sehr schöne hohe Töne hinzugefügt hatte“. Ähnlich schrieb auch François-Joseph Fétis: „Ihrer Stimme, einem kräftigen Alt von großer Ausdruckskraft, mangelte es nicht an Ausdehnung in die höheren Tonsphären, und ihre Vokalisation hatte eine Leichtigkeit, eine sehr seltene Qualität bei stark timbrierten Stimmen.“ Dagegen behauptete der Musikkenner Richard Edgcumbe – ein vielleicht nicht ganz unvoreingenommener Parteigänger der Sopranistin Elizabeth Billington – Grassinis Stimmumfang hätte sich in ihrer Londoner Zeit auf nicht viel mehr als eine Oktave reduziert.

Die Stimme Grassinis wurde immer wieder als im Sinne des Belcanto hervorragend ausgebildet beschrieben, laut Fétis war sie „über den ganzen Umfang ebenmäßig und rein“, und er lobte „ihre schöne und freie Tonemission“ und „ihren großen Stil der Phrasierung“. Sophie de Bawr hob die Breite ihrer Tonqualität, die Reinheit ihrer Aussprache und ihre ausdrucksvolle Deklamation in den Rezitativen hervor, wie sie den Stilidealen einer von Bawr als „école grandiose“ (großartige Schule) bezeichneten Tradition entsprachen,[61] welche Grassini insbesondere durch ihren Lehrer und Bühnenpartner Crescentini vermittelt bekam und die (laut Bawr) schon einige Jahrzehnte später „perdue“ (verloren) war. Der erfahrene Crescentini soll seine Schülerin dabei vor übermäßigen Verzierungen im Vokalvortrag gewarnt haben, wie sie italienische Sänger zu dieser Zeit gerne einsetzten.

Giuseppina Grassini als Didon in Paers Oper/ Elfenbeinminiatur von Fredinando Quaraglia/ Wikipedia

Ihre Gesangstechnik verband sie mit einer großen Bühnenpräsenz und Ausdruckskraft, wobei die an ihr immer wieder bewunderte physische Schönheit und die natürliche Grazie ihrer Bewegungen ihr sehr entgegenkamen. An fast jedem Ort ihrer Karriere wurde hervorgehoben, wie sich Stimme, Körperlichkeit und theatraler Vortrag bei ihr gegenseitig bereicherten und ein Spiel von großer Glaubwürdigkeit entfalteten. Der französische Dramatiker Antoine-Vincent Arnault bemerkte in seinen Memoiren über ihre Auftritte in Neapel: „Diese Sängerin, die noch keine zwanzig Jahre alt war, vereinigte mit einem herrlichen Alt die geschmeidigste Figur, die edelste und eleganteste Statur. […] Was sie repräsentierte, war sie. Für sie schienen die romantischsten Leidenschaften natürlich, und Fiktionen wurden zu Realitäten.“ Edgcumbe, ein Zeuge des Londoner Wettkampfes zwischen Elizabeth Billington und Giuseppina Grassini, schrieb, dass Billington ihr stimmlich überlegen gewesen sei, das Publikum jedoch Grassini aufgrund ihrer schauspielerischen Leistung bevorzugt habe. Auch andere Zeitzeugen wie Charles Bell urteilten, dass Giuseppina Grassini aus der Vereinigung von Musik und dramatischem Spiel ihre einzigartige Kraft bezogen habe: „Sie starb auf der Bühne, ohne jemals lächerlich zu sein.“

Nach Einschätzung der Comtesse de Boigne, die Grassini auf den Festen der Londoner Gesellschaft kennengelernt hatte, verursachten die Auftritte der italienischen Sängerin am King’s Theatre einen Stimmungsumschwung im Publikum. Alt-Stimmen seien so sehr in Mode gekommen, dass Sopranistinnen vorübergehend fast von der Bühne verschwanden.(…)

Der Autor Laurent Brunner/ Twitter
(Laurent Brunner (@LaurentBrunner) 

Den letzten Abschnitt ihres Lebens verbrachte sie überwiegend in Mailand, wo sie in der Casa Arese am Largo San Babila eine Mietwohnung bezog. Hier empfing sie zu fachlichen Gesprächen unter anderem die Komponisten Gioachino Rossini und Vincenzo Bellini. Die Straßenkämpfe im Revolutionsjahr 1848 beobachtete sie von ihren Fenstern aus; dabei wurde eine in ihrem Besitz befindliche Kutsche, mit der sie zwischen Mailand und Paris verkehrte, zur Verstärkung der Barrikaden verwendet und schließlich zerstört. Am 3. Januar 1850 starb sie in ihrer Wohnung.

Giuseppina Grassini hinterließ ein bedeutendes Vermögen, das sie größtenteils an ihre Nichten, weitere Familienmitglieder und an Bedienstete vererbte. Ihren Mann Cesare Ragani bedachte sie mit einer Summe, die jährlich 4000 Francs Rendite abwarf (was nur knapp unterhalb der von einer Spitzensängerin wie Wilhelmine Schröder-Devrient ausgehandelten Pension lag). Ein Miniaturbild auf Elfenbeinplatte des Malers Ferdinando Quaglia (. o.), das ursprünglich von Napoléon persönlich in Auftrag gegeben worden war und 1911 vom Museum der Scala für den beachtlichen Preis von 50.000 Francs erworben wurde, vermachte sie guten Freunden. 2000 Lire erübrigte sie für Bedürftige in Varese. Beigesetzt ist Giuseppina Grassini auf dem Cimitero di San Gregorio in Mailand. (Quelle Wikipedia)

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Den Artikel von Laurent Brunner entnahmen wir mit Dank dem luxuriösen, dreisprachigen Beiheft zur neuen Aufnahme von Zingarellis Oper Giulietta e Roméo bei Chateau de Versailles (1 CD/DVD CVS044). Abbildung oben: Giuseppina Grassini par Marie-Guilhelmine Benoist, Musée des Beaux-Arts de Beaune/ Ausschnitt/ Wikipedia; Redaktion G. H.

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