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..Auch in diesem Jahr sind wir bei der Auswahl der besuchten Live-Aufführungen wählerisch und konzentrieren uns auf wenige und eben für uns interessante Operntitel. Eine Auflistung alle Festival-Beiträge finden sie hier
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Straßburg, Opéra National du Rhin: Laurent Pellys Lakmé: Noch einmal schwirrt Koloraturgezwitscher durch den Blumenhain, klingeln Glöckchen dazu, entsagt eine Priesterin ihrer Liebe. Léo Delibes Lakmé läutet so etwas wie eine Endphase der exotischen Oper, die sich in Frankreich seit Rameau in ferne orientalische Regionen vorwagte und mit einigen Opern Massenets, die sich vom indischen Lahore bis in altägyptische und römische Gegenden träumten, nochmals einen Höhepunkt erlebte. Auch die Musik klingt bei der Wiederbegegnung auf liebeswerte Weise ein wenig angestaubt und gestrig und hat sich nicht so gut gehalten wie andere Werke, die damals an der Opéra-Comique uraufgeführt wurden, etwa Carmen oder Les contes d’Hoffmann.
In Straßburg war Lakmé beispielsweise ein Menschenalter nicht zu sehen, was wundert, da bestimmte, aus der Mode gekommene Werke, die Paris hochnäsig übersah, umso intensiver in der französischen und belgischen Provinz gepflegt wurden. Nach annähernd 70 Jahren kehrte Léo Delibes Oper nun auf die Bühne der Opera National du Rhin in einer Produktion zurück, die bereits in Nizza und an der Opéra-Comique zu sehen war, also dort, wo das Stück nach seiner Uraufführung im April 1883 mehr als unglaubliche 1600 Aufführungen erlebte. Laurent Pelly adaptierte sogar einige wenige der ursprünglichen Sprechexte, die Delibes später für die heute gebräuchliche „internationale“ Fassung durch Rezitative ersetzte.
Delibes´“Lakmé“ an der Strasburger Oper/Szene/Foto Klara Beck
Bemerkenswerter als durch den Rückgriff auf die Originalfassung ist Pellys Inszenierung jedoch durch den kompletten Verzicht auf den indischen Zierrat, die bemalten Veduten, Soffitten und Seitenschals, die Farbenpracht und den Ausstattungsluxus, die bislang als unverzichtbar galten und wie ich sie erstmals in den 1980er Jahren in Bologna erlebte in einer Inszenierung von Alberto Fassini und in der Ausstattung von Pasquale Grossi, die inklusive Luciana Serras Lakmé sogar bis nach Chicago exportiert wurden, von wo aus Grossis Kulissen weiterreisten. Erstaunlicherweise erzielt Pelly aber mit seinen reduzierten Mitteln eine zauberisch verspielte und suggestive Wirkung.
Auch Pelly und seine Ausstatterin Camille Dugas arbeiten mit Soffitten und seitlichen Kulissen, doch alles ist in zarten Elfenbeinfarben gehalten, luftig und leicht. Durch den rückwärtigen hellen Horizont geht ein Riss, Symbol für die verletzte Unschuld der Lakmé, durch den die Europäer, in diesem Fall eine Gruppe von Engländern, in den verbotenen Tempelbereich blicken, wo sich der Engländer Gérald in Lakmé, die Tochter des Brahmanen Nilakantha, verliebt.
Ein bisschen Kolonialismus und indischen Unabhängigkeitskampf haben die Autoren Gondinet und Gille der rührenden Liebesgeschichte untergemischt. Die Liebe ist unmöglich. Ein „rêve“, ein Traum, wie es immer wieder im Text heißt. Wie ein Traum wirkt auch diese federleichte wie aus Papierbahnen gemachte Szenerie, die mit Schattentheater und Gesten und Ritualen fernöstlicher Theaterkunst, etwa des No-Theates, angefüllt ist und in den letzten Momenten der Lakmé nach dem Genuss einer tödlichen Blüte auch den japanischen Butoh-Tanz aufgreift, der als Widerstand gegen westliche Einflüsse entstand. Lakmé wird wie eine Preziose in einem kostbaren Käfig gehalten und in viele Schichten durchscheinender Gazebahnen gekleidet, die Mallika während des Duetts abwickelt. Die sanfte Magie dieser einfachen Theatermittel, die selbst eine Stadtlandschaft hurtig auf die Bühne zaubern, entspricht der welken Exotik von Delibes‘ Musik, die auf gekonnte Weise Sehnsucht und Theaterhandwerk verbindet und durch die Verwendung wiederkehrender Motive ebenso banal wie verführerisch ist.
Delibes´“Lakmé“ an der Strasburger Oper/Szene/Foto Klara Beck
Man merkt, wie aufmerksam Delibes auf die Werke seiner Kollegen, etwa auf Offenbach und dessen Contes d’ Hoffmann, reagiert. Guillaume Tourniaire kostet die nostalgischen Momente dieser exotischen Spätblüte aus, stellt mit dem Orchestre symphonique de Mulhouse dieses besondere französisch elegische Flair zwischen Kaffeehaus und Großer Oper her; selbst der nicht ganz schlackenfreie Klang passt. Sabine Devieilhe, eine fragile Koloratursängerin in der Nachfolge ihrer Landsmänninnen Natalie Dessay und Patricia Petibon ist vermutlich die Lakmé unserer Tage. In der berühmten Air des clochettes „Où va la jeune Hindoue“ lässt sie nicht nur feinste Koloraturakrobatik aufleuchten, sondern wartet mit kunstvoller messa di voce und fast zerbrechlichen Nuancen auf. Ihr Sopran wirkt selbst im intimen Straßburger Haus nicht besonders groß, doch er schimmert in elegischen Farben und zielt mit zärtlichen Silben während des Liebestods mitten ins Herz der Zuhörer. Mit harscher Emission und hartem Ton gibt Julien Behr den Kolonialoffizier Gérald, der sich in „Fantaisie au devin mesonge“ mit heldisch draufgängerischem Klang freisingt. Behr ist eine sichere Wahl für diese Partie. Mit kraftvollem und prägnantem Bassbariton sang und gestalte Nicolas Courjal den wütenden Nilakantha, auffallend keck gab Guillaume Andrieux Gérards Freund Frédéric, der das reizende comiquehafte Quintett des ersten Aktes anführt, während Ambroisine Bré als Lakmés Begleiterin Mallika im Blumenduett unauffällig blieb. Ingrid Perruche war die naseweise Mistress Bentson. Nachdrücklicher Applaus (2. November) für eine verblasste Ikone der französischen Oper. Rolf Fath
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Die Fondazione Arena und das Teatro Filarmonico zeigten Amleto des Veroneser Komponisten Franco Faccio nach einem Libretto von Arrigo Boito. Die Oper wurde 1865 in Genua am Teatro Carlo Felice mit großem Erfolg uraufgeführt. Einige Jahre später wurde sie an der Mailänder Scala wiederaufgenommen, wo sie vom Publikum so schlecht aufgenommen wurde, dass Franco Faccio beschloss, die Partitur zurückzuziehen und sie in Vergessenheit geraten zu lassen.
Die Inszenierung des Filarmonico ist somit die erste italienische Aufführung in der Gegenwart. Eine innovative und mutige Entscheidung des Veroneser Opernhauses. Die Oper ist in der Tat aus mehreren Gründen interessant, angefangen bei dem kuriosen Libretto von Arrigo Boito, das der „scapigliatura“ gewidmet ist, einer für die damalige Zeit neuen und provokanten literarischen Strömung. Eine gute Übung also für Boitos spätere große Shakespeare-Reduktionen, die von Verdi vertont wurden.
Gewiss, Boito scheint es manchmal zu übertreiben mit Zitaten, mit Begriffen aus der Zeit Dantes, mit gewagten metrischen Mischungen. Das war damals im Mailand der Mitte des 19. Jahrhunderts in Mode: neue Kunst, prätentiös, mutig. Die Musik von Franco Faccio hat manchmal Mühe sich anzupassen, aber sie überzeugt an mehreren Stellen, vor allem in der großen Begräbnisszene des dritten Aktes. Natürlich bleiben die ‚geschlossenen Stücke‘ erhalten, aber sie werden immer mit Originalität und Experimentierfreude behandelt. Man hört die Offenheit für die europäische Sinfonik. Man spürt, dass Wagner jenseits der Alpen angekommen ist.
Faccios „Amleto“ am Teatro Filarmonico Mailand/Szene/Foto EnneviFoto
Die dramaturgische Umsetzung war prägnant, theatralisch, voller Mischungen aus Tragik und Komik: Das an Ophelia gerichtete „fatti monachella…“ (etwa: „Mach dich zum Nönnchen“) ist in diesem Sinne erhellend. Boito und Faccio sind kompromisslos und wählen keine einfachen Wege: Besonders im ersten Akt haben wir eine straffe Handlung, in der der Chor fast immer präsent ist und die Figuren zwischen den Chorpassagen theatralisch agieren müssen. Auch das abschließende Duell ist nicht ohne Action und verlangt vom Protagonisten, der sich in der Szene mit den Totengräbern mit Laerte prügeln muss, eine gewisse Körperlichkeit.
Die Inszenierung von Paolo Valerio war im Wesentlichen klassisch, effektiv vor allem in den düsteren Szenen wie die der Totengräber und der Beerdigung Ophelias, in denen es ihm gelingt, den Chor wirkungsvoll zu bewegen. In den theatralischeren Szenen hingegen fehlt es an Erfindungsgeist und man verlässt sich auf banale Tableaux vivants und theatralische Posen.
In der Scheinkomödie werden die wandernden Schauspieler, die an den Hof von Elsinore gekommen sind, durch den derv Puppenspieler Hamlet in Marionetten verwandelt, die an roten Fäden hängen. Die Idee ist interessant, die szenische Umsetzung leider weniger. Seltsamerweise übersetzt Boito sie im Libretto sehr frei als ‚Sänger‘ (Cantori) und nicht als Schauspieler, denn auch sie müssen im Stück ein Drama mit Musik spielen. Alles dreht sich also um die Oper: Boito will die Welt der Oper erneuern, und sein Hamlet soll ein Beispiel dafür sein.
Zu zahlreich und nicht immer aussagekräftig sind die Projektionen, die ständig auf mehreren Tripolinvorhängen gezeigt werden. In der emblematischen Szene von Hamlets Selbstgespräch kommt ein Spiegel zum Einsatz, der etwas zu sehr an die identische Lösung von Kenneth Branagh in der Hamlet-Verfilmung von 1996 erinnert. Die Kostüme von Silvia Bonetti sind auf der einen Seite sehr geradlinig, aber auf der anderen Seite nicht besonders originell, dafür aber sehr gut geeignet, einen illustrativen Effekt zu erzielen.
Das Fehlen einer gründlichen Theaterarbeit ist spürbar, so dass es allzu oft an Realismus mangelt. Die Inszenierung ist jedoch fair, ebenso das ehrliche Bemühen, die Komplexität der Oper theatralisch darzustellen.
Insgesamt war das Sängerensemble gut, wobei Angelo Villari die Schwierigkeiten der Hauptrolle mit einer festen, klangvollen und wohlklingenden Stimme souverän meisterte. Ihm zur Seite stand der Claudio von Damiano Salerno: eine klare Stimme, hervorragend intoniert und präzise in der Phrasierung. Marta Torbidoni überzeugte als Gertrud mit Stimme und Volumen und gab eine entschlossene und willensstarke Königin. Gilda Fiume übertreibt, indem sie die schwierige Partie der Ophelia zu zart gestaltet.
Vorsichtig, aber immer professionell der Rest der großen Besetzung: Francesco Leone, Alessandro Abis, Davide Procaccini, Saverio Fiore, Abramo Rosalen, Enrico Zara, Francesco Pittari, Marianna Mappa, Nicolò Rigano, Maurizio Pantò, Valentino Perera. Giuseppe Grazioli dirigierte mit Aufmerksamkeit und brachte besonders die pompöse Seite der Partitur zur Geltung. Raffaello Malesci (22. Oktober 2023)
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Scheidungskinder im Theater Bielefeld: Leoncavallos Zazà: Zazà ist Künstlerin. In Leoncavallos Oper, deren Text er unter Mitarbeit von Carlo Zangarini verfasste, tritt sie im Alcazar in Saint-Étienne als Varieté-Künstlerin auf. Im gleichnamigen, 1898 in Paris uraufgeführten Schauspiel von Pierre Berton und Charles Simon ist sie ei-ne Prostituierte, die sich ihren Platz im Unterhaltungsbusiness erkämpfen muss.
Bei dem Leiter des Musiktheaters des Theaters Bielefeld Michael Mund ist Zazà eine Zirkuskünstlerin (Nadja Loschky leitet seit Beginn dieser Spielzeit nicht mehr die Musiktheater-Sparte und ist – wie das Theater Bielefeld schreibt – gegenwärtig Mitintendantin und künftig Alleinintendantin.). Manuel La Casta hat anstelle des Backstage-Milieus einen schäbigen Artistenbereich hinter einem kleinen Zirkuszelt auf die Bühne gestellt. Unter den Leuchtketten und zwischen den phantasievollen Tänzer- und Akrobatenkostümen (Irina Spreckelmeyer) ist die Trostlosigkeit des Artistenalltags mit aufgetürmten Koffern, ram-schigen Utensilien und Requisiten erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Über dieser Installation zum Thema Trostlosigkeit des Artistendaseins, wozu eine Bärtige im 1900-Unterkleid und Brustkorsett noch vor Leoncavallos kurzer Introduzione über Reinheit und Nichts, Freiheit, Wahnsinn und Tod räsoniert, knallt die Musik Leoncavallos, die Bielefelds Kapellmeisterin Anne Hinrichsen gewaltig aufbäumend und exzessiv in den Artistenalltag fahren lässt und mit den Bielefelder Philharmonikern eine Intensität erzeugt, die sich über die vier Akte wölbt und Zazà zur großen Schicksalstragödie stilisiert Das Publikum ist gebannt (15. Oktober 2023). Die Tingeltangel-Diseuse Zazà benimmt sich kapriziös wie der Star eines erstklassigen Etablissements, rümpft ob des besseren Engagements, das ihr der Ex-Geliebte und Partner Cascart in Aussicht stellt, die Nase. Alles nur, weil sie sich aufgrund einer Wette mit Bussy in den Kopf gesetzt hat, den Geschäftsmann Milio Dufresne zu ver-führen. Milio lässt sich verführen, liebt Zazà irgendwie wohl auch, die sich ihrerseits heftig verliebt hat und sich an ihn krallt. Milio steht vor einer Reise nach Amerika. Zazà wird misstrauisch, reist nach Paris, erkennt, dass er verheiratet ist und eine Tochter hat und beichtet ihm das bei seinem Abschiedsbesuch in Saint-Étienne, worauf er sie als Hure beschimpft. Da ist es, das böse Wort. Zazà stellt alles richtig: Nichts hat sie erzählt. Trotzdem ist die Affäre zu Ende, „tutto è finito“. Wie sich die Kurtisane aus der „Kameliendame“ in Verdis Traviata zur selbstlos Verzichtenden adelt, wirft die Oper auch über die Künstler-Prostituierten Zazà den Mantel selbstlo-ser Hingabe.
Leoncavallos „Zaza“ in Bielefeld/Szene/ Foto Sarah Jonek
Zazà bewahrt Milios Tochter Totò vor dem Schicksal, ohne Vater aufzuwachsen. So wie sie, nachdem dieser ihre Mutter Anaide verlassen hatte, ohne Vater aufwuchs. Sie weiß, was Anaide als Alleinerziehende durchzustehen hatte und versorgt sie jetzt mit Geld, wohl wissend, dass es für Anaides Alkoholkonsum draufgeht. Mit erdig-markantem Dunkelmezzo macht Alexandra Ionis viel aus der markanten Episo-denrolle. Manuel La Casta zeichnet die Stationen der Tragödie eindrucksvoll nach. Von Zazàs sauber einfacher Unterkunft bis zum bürgerlichen Wohlstand in Milios Pariser Heim, wie ihn sich Zazá auch vorstellen könnte. Immer sind die Zimmer nur hinter Türen zu erahnen. Hier die Künstler-Absteige mit einfachen Stühlen auf dem Flur, dort das Klavier hinter der Tür, eine kunstvolle halbrunde Kommode und Sitzmöbel im Milios Entrée mit Hausdiener. Das hat viel Atmosphäre, die Loschky mit berührenden Porträts auffüllt. Anfangs natürlich die Kollegen und Freunde Zazàs, die bis auf den Liedchen-Textdichter Bussy (Todd Boyce mit leichtem, aber prägnantem Bariton) in den hurtigen Skizzen kaum greifbar werden: Andrei Skliarenko als Courtois, Yoshiaki Kimura als Duclou, Cornelie Isenbürger in der Doppelrolle als Zazà Konkurrentin Floriana und Milios Gattin, Dumitru Sandu als Augusto (Choreographie: Sarah Delterne).
Die 1900 in Mailand unter Toscanini uraufgeführte vieraktige commedia lirica behandelt einen Paris-Stoff, wie in Leoncavallos La Bohème von 1897, die bald von der bereits ein Jahr zuvor uraufgeführten Boheme des Kollegen Puccini überstrahlt wurde. Das Künstlerleben von Paris hatte Leoncavallo ab 1882 als Komponist von Chansons und Begleiter von Café-Sängern, dann als Gesangslehrer, Korrepetitor und Begleiter von Stars wie Emma Calvé und der Massenet-Muse Sybil Sanderson verinnerlicht. Das ist in den Außenakten seiner Zazà zu spüren, deren Hinterbüh-nen- und Tingeltangel Situation ein Vergnügungsetablissement in der französischen Provinz nachzeichnet. Genauer das Alcazar in Saint-Étienne, ein Café-chantant, wie es Leoncavallo genau kannte, und die Wohnung von deren Star Zazà. Wenig glanzvoll, herabgesunken. Genauso ist das Drama der Zazà ein schludriger Kameliendame-Abklatsch. Zazà beschließt ihren geliebten Milio für sei-ne Familie freizugeben. Den Ausschlag gibt beim Überraschungsbesuch in Milios Pariser Heim die Begegnung mit seiner niedlichen Tochter Totò. Und als Totò, eine Sprechrolle, am Klavier auch noch das Ave Maria von Cherubini spielt, ist Zaza endgültig von ihrer gutne Mission überzeugt. Interessant ist das Ave Maria bzw. der Klaviervortrag, weil das Mädchen durchgehend über der Musik spricht. Ähnlich wir-kungsvoll hatte bislang nur Giordano das Klavier solistisch im zweiten Akt seiner Fedora eingesetzt. Wirkungsvoll ist vieles in Zazà, auch das in der Musik immer wieder durchschimmernde Pagliacci-Idiom aus Wollust und „La commedia è finita“-Schicksalsergebenheit, Wirkungsvoll ist aber vor allem die Titelrolle, welche die aus Bosnien und Herzegowina stammende Dušica Bijelić mit müdem Funkeln in den Augen spielte, das zum Leuchtfeuer wird, und mit einem jener flirrenden, nervös vibrierenden Sopranstimmen sang, die erst in emotionalen Aufschwüngen und Ausnahmesituationen ihre wahren Dimensionen erweisen. Brav und artig daneben der kroatische Kollege Nenad Čiča, der mit schmal hellem und gut fokussiertem Tenor den Milio gibt, der in dem hübsch geträllerten Liedchen „È un riso gentile quall’alba d’aprile“ hinter der Fassade des leichtfertigen jungen Herren den skrupellosen Verführer verbirgt. Die kleine Arie ist einer der wenigen Solonummern der Oper. Bekannter freilich ist der Bariton-Schlager im vierten Akt, mit dem Cascart Zazà nach der Enttäuschung zu trösten versucht; aus „Zazà, piccola zingara“ hätte der sich ins outriert Sprechstöhnen verflüchtigende angenehme Leichtbariton Evgueniy Alexiev mehr machen müssen. Nicht vergessen werden soll Giulia Rabec als Totò. Rolf Fath
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.Annaberg-Buchholz: Späte Uraufführung von Alberto Franchettis Komödie Don Buonaparte. Der Dorfpfarrer in Nöten: Aus Siena sind ein Advokat, ein Ritter und ein Klosterbruder bei der Nachricht, Don Geronimo werde bald als Kardinal nach Paris ziehen, herbeigeeilt, damit er sie rette. Alle drei haben sich in dubiose Machenschaften verwickelt und erwarten von dem künftigen Kirchenfürsten, dass er das Gesetz breche und ihnen helfe. Findig weisen sie ihn in die italienische Bestechungspraxis ein. Don Geronimo ist entsetzt und jagt sie aus dem Haus, „Schurken, Halunken“ und was er ihnen noch alles hinterher ruft. Hätte uns nicht bereits zuvor Don Geronimos leidenschaftliches Liebesbekenntnis zu der „von Gott geküssten“ Toskana an den bauernschlauen Gianni Schicchi erinnert, der sein Florenz in den höchsten Tönen besingt, würde uns spätestens bei den Schmeicheleien der drei Betrüger die florentinische
Bagage in Puccinis Erbschleicher-Komödie Gianni Schicchi einfallen. Beim Gedanken an Paris, wohin ihm seine Schäfchen folgen wollen, kann Don Geronimo nicht verstehen, dass jemand, der hier geboren ist und die Felder bestellt hat, bereit wäre, diesen gepriesenen Flecken Erde zu verlassen. Don Geronimo Buonaparte, Pfarrer eines kleinen Dorfes in den toskanischen Bergen, erfährt eines Tages im Jahr 1804,
dass sein Neffe Napoleon Kaiser geworden ist, ihn der Papst in Rom zum Kardinal ernennen will und er sodann mit großem Gepränge zur Krönung nach Paris reisen soll. Die Nachricht versetzt das Dorf in Aufruhr. Mit dem beschaulichen Leben ist es vorbei, da viele ihren Nutzen aus dem Aufstieg ihres Pfarrers ziehen wollen. Don Geronimo wägt die angebotene Ehre gegen sein ruhiges Leben ab und entscheidet sich für seine Dorfgemeinde.
Beide Toskana-Komödien stammen aus der Feder Giovacchino Forzanos. Die erste schrieb er – zusammen mit Suor Angelica – für Puccinis 1918 uraufgeführtes Trittico, die zweite gut zehn Jahre später als Vehikel für einen populären Schauspieler. . Während das Bühnenstück und der daraus entstandene Film Erfolge wurden, blieb die auf Forzanos Komödie basierende Oper von Alberto Franchetti unaufgeführt.
Das holte nun Annaberg-Buchholz nach, wo am 14. Oktober 2013 das Eduard-von-Winterstein- Theater in den italienischen Farben illuminiert war und sowieso alle und alles auf die musikalische Komödie „mit Ergänzungen von Helmut Krausser“ von einem „der Großen der Giovane Scuola, der jungen Schule Italiens, zu der auch solche legendäre Komponisten wie Giacomo Puccini, Pietro Mascagni und Ruggero Leoncavallo gehören“ eingestimmt waren. Der Abend endete mit donnerndem Applaus.
Nach Asrael an der Oper Bonn scheint Franchetti einen guten Lauf zu haben. Alberto Franchettis Glanzzeit war lange vorbei, als er sich Ende der 1930er Jahre mit der komischen Oper Don Buonaparte beschäftigte. Für die erste Oper seines 1860 in Turin geborenen Sohnes hatte Albertos Vater Baron Franchetti, schwerreicher Großgrundbesitzer und Unternehmer, 1888 noch das Theater in Reggio Emilia gemietet. Dann kam Albertos Karriere von selbst ins Rollen. Verdi empfahl Franchetti für eine Cristofero Colombo-Oper, die 1892 zum 400. Jahrestag der Entdeckung Amerikas in Genua herauskam. Und schließlich dirigierte Toscanini 1902 die Uraufführung von Germania mit Caruso an der Mailänder Scala. Die überall aufgeführte Studentenoper aus dem alten Nürnberg bildet den Höhepunkt von Franchettis Karriere, die nicht nur aufgrund der Rassengesetze in Italien 1938 zum Erliegen kam: Franchetti entstammte einer jüdischen Familie. 1942 starb er in Viareggio.
Zandonais Don „Buonaparte“ in Annaberg/Szene/Foto Ronny Kuettner
Ganz am Ende seines Schaffens wollte es der 80jährige nochmals wissen. 1939 bis Januar 1941 befasste er sich mit der Opera comica Don Buonaparte. Der Text stammte von Giovacchino Forzano (1884-1970), der einige Male für ihn tätig war, sich vom Theater abgekehrt und sich im Freundeskreis um Mussolini mit Propagandafilmen für die Sache des Faschismus stark gemacht hatte. Das gleichnamige Theaterstück hatte er bereits 1931 für den populären Schauspieler Ermete Zacconi, der um die Jahrhundertwende auch Wien in Raserei versetzt hatte, maßgeschneidert, der damit große Erfolge gefeiert hatte. Man weiß nicht, wer den ersten Schritt unternahm, doch wird vermutet, dass sich Franchetti bezüglich des Librettos an den alten Weggefährten wandte, in dessen alter- tümlichen Toskana-Idylle und den prall gezeichneten Figuren er einen Gegenentwurf zu den Brüchen und Wirren der Zeit fand. Die Oper wurde nie aufgeführt. In den von Forzano als norditalienisches Gegenstück zu Cinecittà gegründeten Studios in Tirrenia, denen er 1934 als Abkürzung aus Pisa und Livorno den Namen Pisorno gab, wurde allerdings 1942 das überaus harmlose nostalgische Lustspiel Don Buonaparte als „von Anfang bis Ende“ abgefilmtes Theater produziert (leicht auf youtube zu finden). Der 84jährige Ermete Zacconi, Urvater einer Schauspieler-Dynastie, erhielt für seine Darstellung, die veristische, naturalistische und karikierende Momente verband, bei der Biennale in Venedig den Preis als bester Schauspieler.
Die Musik stammt allerdings von dem Film- und später auch Opernkomponisten Renzo Rossellini. Ausschnitte der Oper gelangten im Dezember 2022 in Reggio Emilia im Rahmen eines Projekts zum 80. Todestag von Franchetti zur Aufführung, wobei auch der alte Film gezeigt wurde.
Es liegt auf der Hand, in Don Buonaparte des 80jährigen Franchetti einen altersweisen Abschied vom Leben und von der Oper zu sehen und ihn mit dem Falstaff des fast 80jährigen Verdi zu vergleichen. Dazwischen liegt ein halbes Jahrhundert, in der die italienische Buffooper durch Puccini und Wolf-Ferrari einen letzten Abgesang erlebt hatte. Ein halbes Jahrhundert liegt auch zwischen Franchettis erstem Erfolg und Don Buonaparte. Franchetti will das vergessen lassen.
Wäre Don Buonaparte vom Gackern der Hühner bis zum Ticken der Kuckucksuhr vielfach nicht so kleinteilig glänzend und sprechend instrumentiert und in der solistischen Bravour der Instrumente nicht jede Note so bedächtig gesetzt und abgestimmt, würde man diese artige Idylle, in die nur selten das Brodeln des 20. Jahrhunderts dringt, tief im 19 Jahrhundert verorten. Das Terzett der Halunken (Richard Glöckner, Jakob Hoffmann, Volker Tancke), das Terzett der Mattea mit ihren beiden Tenor-Verehrern, dem tölpelhaften Kirchendiener Maso und dem runden Korporal, das Quintett im dritten Akt sowie die Ensembles im zweiten und dritten Akt sind in bester italienischer Buffomanier entworfen und patent durchgeformt. Für die toskanische Idylle sorgen Vor- und Nachspiele, Bläserakzente für die Aufmärsche der Franzosen.
GMD Jens Georg Bachmann und die Erzgebirgische Philharmonie Aue nehmen die Herausforderungen mit höchstem Geschick an. Das Glanzstück ist Don Geronimos Monolog im zweiten Akt, das Lászlo
Varga mit schön geführtem Bass und viel Empfindung, baritonal expansiver Höhe und sauberer Kantilene mitreißend gestaltete und die menschlich anrührende Seelengröße des Pfarrers sanft streifte. Zu den guten Momenten zählen auch die schönen Verflechtungen in den Ensembles, dazu ein paar ariose Versatzstücke des mit prachtvollem Bariton auftrumpfenden Jinsei Park als General, der wie eine Schwester von Puccinis Lauretta mit blitzsauberer Höhe silbern zirpenden Sophia Keiler als
Mattea und des mit adrettem Nemorino-Charme etwas tenoral engen Corentin Backès als Maso sowie die routinierte Tenorgrandezza von Kerem Kurk als Korporal. Doch selbst den amorosen Verstrickungen fehlt es an echter Leidenschaft. Dramatische Entwicklungen darf man in dieser pastoralen Landschaft nicht erwarten; Don Geronimo ist eben kein Don Camillo. Er freut sich über volle Weinfässer und sein wiedergefundenes Huhn Bianca. Das führt im knapp 60minütig endlosen ersten Akt zu ellenlangen rezitativischen Wortwechseln zwischen der Haushälterin Agnese und Matteas Mutter Maria und arg betulichen Parlando-Erzählungen der anderen.
Zandonais Don „Buonaparte“ in Annaberg/Szene/Foto Ronny Kuettner
Und immer wieder wirkt der Dreiakter, der das 19. Jahrhundert nicht ironisch aufgreift, seltsam eckig und steif, handwerklich unausgeglichen und, wie auch Asrael, wenig kohärent, und trotz aller serenen Abgeklärtheit auch ziemlich langweilig. Lev Pugliese, Ausstatter und Regisseur aus Italien, ahnt, dass dem Stück nur mit einer unretuschierten Inszenierung beizukommen ist. In diesem Sinn vergegenwärtigt er die sen timentalen Toskana-Bilder mit alten Veduten und Gemälden wie von einem italienischen Ludwig Richter gemalt, die bereits während der Einleitung lebendig werden, mit Federvieh und Pferden und Landvolk, mit einer Pfarrhausküche mit offenem Feuer, Kupfergeschirr, Knoblauchsträngen und einem Huhn am Fenster, einem Campo im zweiten Akt, wie für Elisir d’amore, alles wunderhübsch und aus der Zeit gefallen.
Einen kleinen Annaberg-Tupfer bringt er in der Szene an, in der sich Don Geronimo am Ende des ersten Akts eine Zukunft im Kardinalspurpur erträumt und sich in die St. Annenkirche, Annabergs Wahreichen, versetzt sieht. Pugliese hat zweifellos ein Händchen für possierlich animierte Genrebilder aus dem Opern-Museum, über die man die Nase rümpfen kann. An diesem Abend passen sie. Rolf Fath
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Adams Oper Wenn ich König wär´ in Hildesheim: Das Theater für Niedersachsen (TfN) in Hildesheim macht mit einer Neuinszenierung der heute nur noch selten auf Spielplänen auftauchenden Märchenoper von Adolphe Adam erneut auf sich aufmerksam. Außer dem Postillon von Lonjumeau oder den Balletten Giselle und Le Corsaire sieht man heutzutage kaum etwas von den übrigen an die vierzig komischen Opern und Balletten von ihm. Regie und Bühnenbild lagen in der Hand von Christian von Götz, der das Ganze unter das Motto „Enrichisséz-vous!“ (Bereichert euch!) stellte, das sich vielseitig auslegen lässt. Man hatte sich für die deutsche Übersetzung mit Übertiteln von Karlheinz Gutheim und Wilhelm Reinking in vereinfachter Sprache entschieden, was moderne Anfeuerung wie Lassen Sie die K… qualmen hervorbrachte. Ein Soziologe wurde in die Geschichte eingeführt, der das Ganze als Experiment zu „Macht macht schlecht“ gestaltete und ständig begleitete; er sprach darüber hinaus in differenzierten Mundarten die Dialogtexte aller Beteiligten, die selbst nur mimisch verdoppelnd agierten. Das hatte den Vorteil, dass ausländische Sänger nicht mit so viel Sprechtext belastet wurden, aber den großen Nachteil, dass das ständige Herumwuseln des Soziologen von einer Figur zur Anderen die Sache verzögerte und schnell langweilig wurde. Zur Vereinfachung der Bühne hatte man gestaffelt mehrere leicht mit großen Ringen verschiebbare Zwischenvorhänge angebracht, die den jeweiligen Handlungsort treffend kennzeichneten. Knallbunte phantasievolle Kostüme für den König und sein Gefolge sowie schlicht weiße Kleidung für die Fischer passten gut dazu (Amelie Müller).
Adams Comique „Wenn ich König wäre“ in Hildesheim/Szene/Foto Jochen Quast
Die musikalische Leitung hatte Hildesheims GMD Florian Ziemen, der mit klarer Zeichengebung sein frisch aufspielendes Orchester wieder zu besten Leistungen zu animieren wusste. Von den Solisten ist zunächst Yohan Kim zu nennen, der den braven Fischer Zephoris lebendig und für einen Tag als König mit solider Bodenhaftung darstellte; mit seinem strahlend auftrumpfenden Tenor fand er aber auch zu gutem lyrischen Legato . Die von ihm angebetete Prinzessin Nemea wurde von Sonja Isabel Reuter als emanzipierte Frau gespielt, die sich schließlich auch gegen die sprachliche Hilfe des Soziologen auflehnt; mit sicherer Höhe und freien Koloraturen ihres schlanken Soprans überzeugte sie rundum. Felix Mischitz bot den biegsamen, eitlen König mit kleinem, feinem Bariton, der sich auch in den Ensembles durchaus behauptete. Den um die Liebe Nemeas mit Intrigen gegen seinen Konkurrenten kämpfenden Prinz Kadoor gab Maciej Gorczyczynski passend mit finsterem Gebaren und markigem Bass. Als zweites Paar bildeten Martha Matcheko als Zelide mit lyrischem Sopran und Julian Rohde mit hellem Tenor als Pifear fast einen Ruhepol in dem ganzen Trubel. Als Kanzler war Eddie Mofokeng mit seinem wunderbar weichen Bariton diesmal schlicht unter Wert eingesetzt. Nicht zuletzt ist natürlich Uwe Tobias Hieronimi als Soziologe und Strandvogt Zizell zu nennen, der zum Amüsement des Publikums schon allein textlich eine ungeheure Gedächtnisleistung bei den zahlreichen Dialogen vollbrachte und dazu noch einen reichen Bewegungskanon zu absolvieren hatte. Daniel Chopov (Alter Fischer), Chun Ding (Höfling) und Jesper Mikkelsen (Sekretär des Königs) rundeten das Ensemble sicher ab. Warum Natascha Flindt als Ballerina die Giselle zwischendurch über die Bühne tanzen musste, hat sich mir nicht erschlossen; offenbar sollte kein Moment der Ruhe einkehren. Es wurde pausenlos mit Armen, Beinen oder Gegenständen in der Gegend herum gezappelt. Nicht unerwähnt bleiben soll der klanglich ausgeglichene, sichere Chor, der auch im Spiel munter agierte (Einstudierung: Achim Falkenhausen).
Das Publikum bedankte sich mit begeistertem Applaus für einen musikalisch äußerst gelungenen, aber szenisch überbordenden Abend. Marion Eckels (4.10.2023)
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Donizettis Oper Les Martyrs vom Theater an der Wien: Eine sehr seltene Gelegenheit, die Neufassung des unglücklichen Poliuto (1838) zu erleben, den Donizetti nie auf der Bühne erleben konnte und der sich als tödlichen Schicksalsschlag für den armen Tenor Nourrit erwies, bot das Theater an der Wien, das wegen Restaurierung geschlossen ist und derzeit im nahe gelegenen Museums Quartier untergebracht ist: Ein kulturelles Ereignis von höchstem Interesse und auch ein solcher Teil-Erfolg, der leider durch eine absurde Inszenierung beschädigt wurde, die teils jubelnd und großen Teils mit orkanartigen Buhs aufgenommen wurde, um sodann, wie es immer öfter in modernen Aufführungen geschieht, vom genervten Publikum mit christlicher Resignation hingenommen wurde (aber der Märtyrer war der arme Donizetti, der dies nicht verdient hatte).
Donizettis Oper „Les Martyrs“ in Wien/Szene/ Foto Werner Kmetitsch
Natürlich ist jede Neuinszenierung ein Risiko und kann gefallen oder nicht, aber sie sollte zumindest Sinn machen und den Inhalt, den die Übertitel des Gesungen wiedergeben, zumindest annähernd vermitteln. Man ist ja inzwischen daran gewöhnt, in den meisten Neuaufführungen eine virtuelle Augenbinde zu tragen, um sich vor den schlimmsten Perversionen der Optik und Verfremdungen des Plots zu schützen. Hier nun lernten wir während der Ouvertüre, dass sich die Römertochter Paulina in Aurora Mardiganian, der Überlebenden des armenischen Völkermords von 1915 und in all die „Anderen“ aller Zeiten verwandelt hatte, und dass es sich um eine Opern-Anklage gegen die Türkei und deren Genozid an den Armenien handelte. Zur Musik von Donizetti. Zum Schluss sieht man Menschen in T-Shirts mit jeweils dem Namen eines Märtyrers darauf! Povero Gaetano.
Regisseur Cezary Tomaszewski, der in den absolut grässlichen Bühnenbildern und den hässlichen Kostümen von Aleksandra Wasilkowska diese in Blut schwimmende Polit-Doku inszeniert hatte, stolperte von einer unfreiwilligen Komik zur nächsten Peinlichkeit, man konnte ihn nicht ernst nehmen. Völkermord zu Belcanto-Musik. Dazu das Ballett von Barbara OIech in mehr als riskanten Posen und Kostümen (Tänzer sind nie sexy!). Perverser ist nicht möglich. Und langweiliger auch nicht. Alles schon gesehen.
Und das ist ebenso leichtfertig und gemein wie den Holocaust mit Walzerklängen auf die Bühne zu bringen und denunziert die fraglosen Opfer einmal mehr, nur weil ein Regisseur sich profilieren will. Niemandem ist damit gedient, Donizetti und den Armeniern am wenigsten. Aber leider wird´s wohl ein Video geben. Am Radio später hörten man sehr dünnen Beifall. Auf Wien ist doch Verlass.
Das Ganze konzertant wäre im Ergebnis respektabel gewesen. Jérémie Rohrer ist in im Heimatland, namentlich Paris, ein hoch angesehener Maestro. Er ist zwar kein Belcanto-Experte, aber in Anbetracht der schrecklichen Akustik im Museums-Saal riss er mit seinen mehr flotten Tempi das Publikum mit und machte vieles wett. Im Gegensatz zur Opera-Rara-Aufnahme war dies eine außerordentlich flotte Angelegenheit, wurden die Tempi am Pult des ORF (Radio-Symphonieorchester Wien) zum Teil abenteuerlich schnell genommen, was aber das Ganze vorantrieb und nicht einen Moment Langeweile aufkommen ließ. War schon die Ouvertüre ein Ereignis so gerieten das Ballett und die Aufmärsche zu fast bedrückenden Machtdemonstrationen der Römer, Ben-Hur-Akklamationen nahe. Da war wenig nur gefällig, vieles rabiat, werkdienlich, kontrastierend. Der wunderbare Bolero Paulines im zweiten Akt gemahnte an Verdis Vêpres und Ebolis Schleierlied und hatte durchaus etwas Politisches an sich. Im Ganzen war dies eine sehr unsentimentale, stringente Sicht auf ein Geschehen, das im kollektiven Märtyrer-Tod endet. Kein Hollywood-Tod a la Jean Simmons und Robert Taylor. Und darin denn doch wieder den Intentionen der Inszenierung dienend. Der versierte und opernerfahrene Arnold Schoenberg Chor (Erwin Ortner), glänzte zudem mit exzellentem Französisch und nachdrücklichem Einsatz.
Callisthène macht in der Oper nur in einer Nebenrolle den fiesen Oberpriester, was schade war, denn Nicolò Donini (auf high heels mit einem wüsten weißen Las-Vegas-Federfächer – dies in 1915 Armenien?) sang seinen Part mit Elan. Patrick Kabongos Néarque blieb mir zu gaumig aber rollendienlich; David Steffens‚ Félix ließ bei beachtenswerter Stimme stimmlichen Nachdruck und vielleicht eine gewisse Sonorität im tieferen Bereich vermissen. Dazu kamen Katrin Cunningham und Carl Kachouh mehr als erfreulich in den kleinen Partien.
Donizettis Oper „Les Martyrs“ in Wien/Szene/ Foto Werner Kmetitsch
Nun ruht ja diese Oper, für Nourrit gedacht und von Duprez gesungen, auf den drei Protagonisten – trois étoiles der Pariser Oper waren gefordert (immerhin waren es 1840 Julie Dorus-Gras, Jean-Etienne-Auguste Massol, zudem auch Prosper Dérivis) – ohne die diese Opern nicht aufzuführen waren. Dass es sie nicht mehr gibt ist klar. Einen Heutigen zumindest hörte man, John Osborn. Mir ist sein Timbre generell zu weiß und die gewisse Tendenz zum Ausfransen der hervorragend geführten Tenorstimme unter Druck hörte ich bereits auf der neuen Aufnahme des Robert le Diable. Aber der Polyeucte liegt im mehr, zumal er – bis auf ein zwei Momente der obersten und etwas grellen Höhe (keine so eindrucksvolle voix mixte, wie ich finde, und eine besser platzierte Kopfnote hier und da hätte nichts geschadet) – auch viele Momente von anrührender Zärtlichkeit zeigte, sanft und liebevoll klingen konnte. Im Vergleich zum Kollegen Spyres bei Opera Rara ist er der weichere, eben lyrischere Held, und das ist ja auch eine Seite dieses Charakters. Nein, er machte einen hervorragenden Job und zeigte bestes Französisch. Dennoch ist mir Michael Spyres lieber in der Rolle (OR-CD).
Roberta Mantegna hat in Italien vor allem als Imogene in Bellinis Pirata eine gewisse Karriere gemacht, wenngleich ihr sehr heller Ton mich da schon gestört hatte, auch – wie beim Kollegen – diese gewisse Schwammigkeit am Rand der Stimme unter Druck. Die Pauline hingegen liegt ihr mehr, ließ sie jung und zerbrechlich erscheinen, profitierte von ihrer besten, beeindruckenden Koloratur und näherte sich im Timbre durchaus dem französischen Idiom an. Wenn man nur etwas hätte verstehen können. Sie sang – so schien es – das Telefonbuch von Neuilly. Mit Anhang. Aber sie ist eine attraktive Person, und das reißt ja auch vieles heraus.
Mattia Olivieri ist sicher kein Bastianini (der hatt´s ja auch nicht in Französisch gesungen), und er machte seine Sache gut, war ebenfalls sehr präsentabel optisch (soweit es die Szene zuließ) und sang den Sévère trotz einer gewissen italienischen Verdunklung der Vokale bei gutem Französisch mit großem Erfolg, bravo.
Das Fazit (1) des turbulenten Abends (am 23. 09. 23) war für mich ein schmissiges Musikerlebnis mit einer gemischt erfolgreichen Vokalbesetzung, einem rasanten Orchester und Chor und einer zum Abwinken langweiligen, opportunistischen, eitlen Inszenierung. Und auf der Opera-Rara-Aufnahme wird zwar besser im ganzen gesungen, aber Jeremny Rhorer ist eine entschiedene Wucht in Wien.
Fazit 2: Die Martyrs sind eben kein Poliuto, den man von Zeit zu Zeit in Italien (Cedolins und Kunde namentlich) und in Wien zuletzt mit Carréras gesehen hatte. Die französische (Quasi-)Erstfassung ist für mich die überzeugendere, Grand-Opéra-nahe, weniger belcantohafte denn in Richtung Meyerbeer und Verdi weisend, zukünftiger wie sein Dom Sébastien. William Ashbrook schreibt: „Les Martyrs sind grandioser als Poliuto (…). Les Martyrs hat zweifellos mehr Substanz, aber gleichzeitig auch weniger menschliches Interesse als der impulsivere Poliuto. Abgesehen von dem kostbaren Trio, das in der französischen Partitur den ersten Akt beschließt, ist die einprägsamere Musik beiden Versionen gemeinsam. Ein Anhänger der Werte des romantischen Melodrams wird Poliuto bevorzugen; ein Mystiker wird Les Martyrs mehr zu schätzen wissen.“ Herbert Schneider
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Die Berliner Komische Oper unterwegs: Mindestens sechs Jahre soll der Umbau der Komischen Oper in der Behrenstraße dauern. Das Ensemble tritt in dieser Zeit an mehreren Spielorten auf – neben dem Schillertheater, das schon der Staatsoper als Ausweichquartier diente, in einem Zelt vor dem Roten Rathaus, im Kindl-Areal Neukölln und im Hangar auf dem Flughafen Tempelhof. Dort begann die Spielzeit mit einer spektakulären Aufführung von Hans Werner Henzes politischem Oratorium Das Floß der Medusa. Die Uraufführung dieses Oratorio volgare e militare 1968 in Hamburg fiel politischen Demonstrationen und Studentenunruhen zum Opfer. Erst 1972 konnte es szenisch (in Nürnberg) gezeigt werden. Noch heute ist das Werk angesichts der gegenwärtigen politischen Situation hochaktuell. Den Untergang der französischen Militärfregatte Méduse auf der Fahrt in den Senegal 1816 hatte Théodore Géricault in einem Monumentalgemälde dargestellt, welches heute im Pariser Louvre zu besichtigen ist. Während den Offizieren und reichen Passagieren Rettungsbote zur Verfügung gestellt wurden, mussten 154 auf ein selbstgebautes Floß ausweichen – nur 15 überlebten… Zwei davon berichteten über die Katastrophe, was die Vorlage für das Oratorium mit dem Libretto von Ernst Schnabel bildete.
In der Inszenierung von Tobias Kratzer sitzen die 1400 Zuschauer auf zwei gegenüber positionierten Tribünen, dazwischen befindet sich unter einem Glühlampenhimmel ein Wasserbecken, in welchem drei Solisten, Chorsänger und Statisten auf einem schwimmenden Brett agieren. Ausstatter Rainer Sellmaier hat Géricaults Bild als tableau vivant nachgestellt – von starker Wirkung, während schrillbunte Bademoden, Gummitiere und Luftmatratzen eher für Spaß im Pool stehen und entbehrlich scheinen. Denn sonst mied der Regisseur in seiner zwischen abstraktem und surrealem Stil stehenden Inszenierung glücklicherweise die profane Aktualisierung. Kannibalistische Ausschreitungen, wie sie auf dem Floß tatsächlich passiert sind, und Blutorgien werden nur angedeutet. Packende Momente gelingen in der Führung der Massen, so wenn die Menschen in Panik und Überlebensangst auf das kleine Floß zustürzen. Berührend ist eine Szene mit zwei kleinen Schiffsjungen, die in einem ergreifenden, sich harmonisch verblendenden Gesang als erste aus der Welt scheiden. Das Floß wird mehrfach auch in Planken zerlegt, die als Stege einer Jesus-Gestalt ermöglichen, über das Wasser zu schreiten – eine starke Vision der auf Hilfe Hoffenden.
Das Werk verlangt einen riesigen Chor, der in die Lebenden und die Toten aufgeteilt ist. Erstere singen in deutscher Sprache, die anderen in Italienisch Passagen aus Dantes Divina commedia. Die Chorsolisten und der Bewegungschor der Komischen Oper Berlin (Einstudierung: David Cavelius) sowie der Staats- und Domchor Berlin (Kai-Uwe Jirka) singen mit phänomenaler Präzision und enormer Klangfülle. Darüber hinaus imponieren sie mit ihrem überwältigenden körperlichen Einsatz auf dem Floß und im Wasserbecken.
Im Gegensatz zum großen Choraufwand sind nur drei Solisten vorgeschrieben. Angeführt werden sie von Günter Papendell als Matrose Jean-Charles, der auf dem Floß die Rationierung von Wasser und Lebensmitteln übernimmt und mit einem roten Fahnenfetzen Rettung herbeizuwinken versucht. Unter den 15 vom Segelschiff Argus Geborgenen ist er nicht, muss wie viele andere La Mort ins Reich der Toten folgen. Der Bariton, eben erst von einer Erkrankung genesen, begann etwas verhalten, steigerte sich aber deutlich und meisterte die anspruchsvolle Partie mit ihrem weiten stimmlichen Radius bewundernswert.
Henzes „Floss der Medusa“ von der Komischen Oper Berlin/Szene/Foto Jaro Sufner
Am Beckenrand schreitet Gloria Rehm wie eine Diseuse im schwarzen Glitzerkleid als La Mort, watet auch durch das Wasser und hat darin mit Jean-Charles sogar einen verführerischen Tanz zu absolvieren. Bravourös bewältigt sie die Kantilenen in stratosphärischen Regionen. Die Erzählerfigur Charon pendelt zwischen Schauspiel und Gesang. In den gesprochenen Passagen scheint die Interpretation von Idunnu Münch recht laienhaft, erst wenn der Vortrag in den Sprechgesang mit Zwölftontechnik übergeht, gewinnt die Sängerin an Wirkung.
Das Orchester der Komischen Oper Berlin musiziert an einer Schmalseite des Beckens. Dirigent Titus Engel ist bedacht auf Präzision, Spannung und rhythmischen Drive. Aber er arbeitet auch die melodischen Inseln und sphärischen Effekte der Komposition einfühlsam heraus. Ergreifend ist der Schluss mit einer Musik von Requiem-nahen Klängen. Am Ende öffnet sich das Tor des Hangars zum Flugfeld und die Überlebenden gehen hinaus in eine ungewisse Welt.
Die Aufführung in Tempelhof macht betroffen, aber auch respektvoll staunen wegen des enormen Aufwandes, mit welchem sie realisiert wurde (30. 9. 2023). Bernd Hoppe
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Tout Paris wollte das sehen, was im Februar 1835 über die Bühne der Pariser Opéra ging: Eine von Trompetern angeführte Prozession mit schreitenden Kirchenfürsten, dem Kardinal unter seinem Baldachin, dem Kaiser und seinen Beamten zu Pferde, wozu die Glocken des Doms und der anderen Kirchen läuten und Kanonenschüsse erklingen. Und das war nur eine von mehreren Szenen, die Jacques Fromental Halévys fünfaktige Grand opéra La juive bereithielt, die das Konstanz des Jahres 1414 derart verblüffend vergegenwärtigte, dass die Besucher des Opernhauses glauben mussten, sie seien durch einen Trick um vierhundert Jahre zurückversetzt worden und wohnen augenblicklich einem historischen Moment bei, zu dessen Illusion auch der Chorgesang der Gemeinde auf der Bühne „Te Deum laudamus“ zu Beginn und Ende des ersten Aktes beitrug, eine Klangsituation, die Wagner in seinen Meistersingern wiederholte. Alles war bis in die kleinesten Details täuschend echt nachgebildet, bei den Kostümen und Rüstungen wurde an nichts gespart und im dritten Akt feierte sich angesichts des Naturschauspiels mit Bodensee und Berglandschaft die mittelalterliche Ständegesellschaft von den Bauern bis zu den feudalen Herrschern. Bis sich das Jahrhundert seinem Ende zu neigte, wiederholte sich dieses Spektakel und die von Eugene Scribe erdachten Geschehen um das Konstanzer Konzil an der Pariser Opera rund 550-mal.
Als es viele Jahrzehnte später, ausgehend von John Dews Bielefelder Inszenierung 1988 zu der nicht mehr für möglich gehaltenen Wiederentdeckung der Grand opéra und ihres zentralen La juive war ein solcher Ausstattungsballast längst passe. Mit den kostbaren Applikationen und mit bunten Steinen besetzten Mitren, Helmen und Gewändern verschwanden auch die musikalischen Ausmaße. Am Teatro Regio in Turin, das vor 50 Jahren mit den von Maria Callas inszenierten Les vepres siciliennes wiedereröffnet wurde, nahm man sich zur Eröffnung der Jubiläumsspielzeit zumindest Zeit, um mit etwas mehr als dreieinhalb Stunden reiner Musik so viel Halévy als nur möglich zu bieten.
Halévys Oper „La Juive“ in Turin/Szene/Foto © Andrea Macchia / Teatro Regio Torino
Daniel Oren, der 2007 bereits die Rückkehr der Jüdin an der Pariser Opéra dirigiert hatte, zelebrierte die Musik, der anfangs noch etwas Opéra comique-Hurtigkeit eigen ist, denn breit und genüsslich, aber auch mit vielen feinen Zwischentönen, dass man bei so viel sublimer Finesse fast in Trance verfiel, was nicht verhindert, dass der Abend lang und länglich wird. Doch man ist dankbar, das Werk in dieser Fülle zu hören. Vor allem, da sich das Orchester, der sehr große Chor des Teatro Regio und die vielen Bewegungsstatisten auf der riesigen Bühne in diesem großen, üppigen und reichen und über die Jahrzehnte gegenüber anderen Bühnen auch so perfekt funktionierenden Haus so vehement für das Werk einsetzen. Alles ist groß. Auch die Inszenierung von Stefano Poda, der kürzlich das 100jährige Aida-Jubiläum in der Arena von Verona inszenierte und als Ausstatter und Regisseur mit seinen architektonisch streng empfundenen und suggestiven Bildern international Akzente setzt. Poda nutzt die Versenkungen und die Hebebühnen des Teatro Regio für ein abstraktes Welttheater mit einem strahlenden Kreuz im Hintergrund vor einer mittelalterlichen Darstellung der Höllenqualen, einer riesigen Metallkonstruktion mit ineinander sich drehenden Kreisen und der Warnung des Lukrez vor religiösem Wahn in einer Leuchtschrift über der gesamten Breite des Hintergrunds „Tantum religio potuit suadere malorum“, mit denen er von der Unterdrückung von Minderheiten erzählt. Der immer wieder angerufene Seigneur und Dieu ist als hilfloser Leidensmann bis zur Kreuzigung gegenwärtig, die gequälten Menschen, die Sünder und die Verfluchten winden sich wie in mittelalterlichen Höllenszenarien, die Toten hängen im vierten Akt von der Decke herab – alles dargestellt in klar choreographierten Aktionen der fast nackten Akteure und Begegnungen der Christen und Juden in schwarzen und weißen Wogegewändern.
Die Geschichte der Tochter des jüdischen Goldschmieds Eléazar, die gar keine Jüdin ist, sondern die von Eléazar aus den Flammen gerettete und an Kindestatt angenommene Tochter seines zum Kardinal aufgestiegenen Rivalen Brogni, erzählt Proda in klaren und übersichtlichen Aktionen. Auch Rachels heimlicher Geliebter Samuel ist nicht der, für den er sich ausgibt. Er ist kein Jude, sondern Reichsfürst Léopold, der zu allem Überfluss bereits verheiratet ist, und zwar mit Eudoxie, der Nichte des Kaisers. Eudoxie sucht sogar die mit vielen Vitrinen wie eine frisch designte Location in den Arkadenboutiquen Turins ausgestatte Werkstatt Eléazars auf, um ein Geschenk für Léopold zu wählen. Sparsam werden die Geheimnisse enthüllt, doch es gibt genügend Überraschungen, um jeden Szenenkomplex und jeden Akt mit einem Cliffhanger zu beenden. Am Ende wählt Rachel, deren Liebe zu einem Christen bestraft werden muss, statt der Rettung durch den Übertritt zum Christentum den Tod.
Halévys Oper „La Juive“ in Turin/Szene/Foto © Andrea Macchia / Teatro Regio Torino
Bevor ihr Eléazar folgt, schleudert er fies und heimtückisch Brogni entgegen, dass Rachel dessen Tochter ist. Mariangela Sicilia singt die Titelfigur mit ausgeglichenem soprano lirico und guter Höhe, sicher nicht rund und voluminös genug, um der Romanze „Il va venir“ Gewicht zu geben und sich gut gegenüber der Koloraturrolle der Eudoxie zu behaupten. Daniela Cappiello nutzte als Eudoxie die Gunst der Stunde als zweite Besetzung und bot exquisite Zierkunst, die bei Mozart und Puccini vielleicht besser aufgehoben ist, aber in der Arie zu Beginn des dritten Aktes “Tandis qu’il sommeille” und im folgenden Bolero ein wenig zu spitz blieb. Mit sehr schlankem, feinem Tenor ist Ioan Hotea der musikalisch passende Spielball der beiden Damen. Der rumänische Tenor, der den Léopold bereits im Vorjahr in Genf gegeben hatte, singt mit leichter guter und beweglicher Stimme, die man sich gut bei Rossini und Mozart vorstellen könnte. Die Hauptfigur ist aber zweifellos der in seiner Zerrissenheit tragische Eléazar, der bei seiner zentralen Arie am Ende des vierten Aktes „Rachel, quand du Seigneuer la grace tutélaire“, in der er damit ringt, ob er die Identität Rachels preisgeben soll, bereits einen sehr langen Abend hinter sich hat. Gregory Kunde bewahrt bei seinem Rollendebüt – 30 Jahre nachdem er erstmals in Turin aufgetreten war – aber auch dann noch die noble, sanfte Linie seines Gesangs, erlaubt sich keine irgendwie äußerlichen Gefühlsergüsse, sondern singt ruhig, expressiv, jede Phrase ausziseliert, jeder Ton in sich gerundet, auch im emotional gesteigerten Schlussteil ohne Schluchzer und Verfärbung. Direkt davor hatte er im Duett mit Brogni dem rauen und grobschlächtigen Riccardo Zanellato, dem es für „Si la rigueur“ an gravitätischer Bassfülle fehlt, eine Lektion in guter Prosodie erteilt. Wie kostbare Preziosen breitet Kunde seine Töne beim Passahfest zu Beginn des zweiten Aktes aus „O Dieu, Dieu de nos pères“ mit kostbarem, schier endlosem mezza voce-Gesang, sanft anhebenden und abschwellenden Tönen voll bedeutungsvoller Intensität. Durchaus auch dramatisch, wenn er die Tochter mit dem Verführer überrascht, so in dem Terzett „Je vois son front coupable“. Manche Details haben in den Momenten beschwörerischer Piano-Schwelgereien und elegischer Färbungen zweifellos etwas von der reifen Kunst erfahrener Diven im Spätherbst der Karriere. Das stört nicht. Dazu der ausgezeichnete, aus Frankfurt bekannte Bassbariton Gordon Bintner als Ruggiero sowie Daniele Terenzi (Albert) und Rocco Lia (Herold). Rolf Fath
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Französisches als Sternstunde: Hérodiade an der Deutschen Oper Berlin. Konzertante Opernaufführungen gehören zum Standardprogramm im Haus an der Bismarckstraße und zumeist zählen sie zu den Höhepunkten einer Saison. So auch am 15. 6. 2023, als das Publikum Jules Massenets Hérodiade in einer Maßstab setzenden Wiedergabe unter Enrique Mazzola erleben konnte und frenetisch feierte. Der italienische Dirigent ist Spezialist für das ausgefallene Repertoire und damit regelmäßig zu Gast an der Deutschen Oper. Gespielt wurde die vieraktige Fassung des Werkes, das 1881 in Brüssel seine Uraufführung erlebte. Mazzola breitete die vielfältige Musik in aller Pracht und mit der gebotenen schwülen Sinnlichkeit aus, scheute weder den großen schwelgerischen Rausch noch die exzessiven Klangblöcke. Das reiche Spektrum an Farben und Stimmungen kam unter seiner Leitung zu faszinierender Wirkung – von den Préludes und Ballets bis zu den dramatischen Tableaus und packenden Finali. Der Chor und Extra-Chor der Deutschen Oper (Einstudierung: Jeremy Bines) hatten mit differenziertem Gesang großen Anteil am fulminanten Gesamteindruck.
Clémentine Margaine/ Foto Paula Winkler/ Deutsche Oper Berlin
Plattenreif war die Besetzung der fordernden Solopartien, angeführt von Clémentine Margaine in der Titelrolle mit einem Mezzo von dunkler Glut, satter Tiefe und umwerfendem Aplomb in den Spitzentönen. Furios in ihrem rasenden Zorn auf den Propheten Jean, von dem sie sich beleidigt glaubt, war sie in der Szene „C’est sa tête que je réclame!“ im existentiellen Ausnahmezustand. Zudem wird sie gequält von der Eifersucht auf ihre Tochter Salomé, die sich in Jean verliebt hat, aber selbst von Hérode umschwärmt und begehrt wird. Die australische Nicole Car gab der zweiten weiblichen Hauptrolle starke Kontur mit einer ausgeglichenen, perfekt geführten Stimme ohne Brüche und mit reichen Valeurs. Gleich in ihrem Auftritt kann sie bei „Il est doux, il est bon“ mit flirrenden Tönen ihre Zuneigung zu dem Propheten bekunden und am Ende des 1. Aktes im Duett mit ihm die gesteigerte Leidenschaft ausdrücken. Mit Matthew Polenzani stand eine idiomatische Besetzung für die Tenorpartie zur Verfügung. Nach Mozart-Rollen und dem Belcanto-Repertoire hat sich der Amerikaner nun die Zwischenfach-Partien zu eigen gemacht. In den französischen ist er besonders erfolgreich, was auch diese Interpretation bewies, welche die derzeit auf Dokumenten erhältlichen stilistisch weit überragt. Mit exquisit geführter Stimme, dem Einsatz der kultivierten voix mixte und glanzvollen Spitzentönen erfüllte er alle Ansprüche der Partie in blendender Manier. Auch Etienne Dupuis ist ein renommierter Vertreter für das französische Fach. Sein Hérode war prägnant differenziert zwischen dem schwärmerischen Verlangen nach Salomé („Reviens, je te veux“), der verzehrenden Leidenschaft für diese Frau („Oui, je n’aime que toi!“) und schließlich dem Hass auf sie, weil sie sich verweigert und ihre Liebe zu Jean offenbart („Je châtierai tes funestes amours!“). Glanzstück der Partie ist seine fiebrige Vision („Vision fugitive“), nachdem er den von einer jungen Babylonierin (Sua Jo mit apartem Sopran) gereichten Liebestrank eingenommen hat. Der Kanadier konnte sich hier von einer träumerischen Stimmung bis zur Ekstase steigern und bewältigte diese Herausforderung mit Glanz. Auch die anderen Partien waren – kompetent besetzt. Der Bassbariton Marko Mimica gab den Astrologen Phanuel mit Autorität und profunder Tiefe, Dean Murphy den römischen Prokonsul Vitellius mit resonanten Tönen und Kyle Miller den Grand prêtre mit jugendlicher, auffallend schöner Stimme.
Nach dem dramatisch aufgepeitschten Finale mit Jeans Hinrichtung und Salomés Selbstmord entluden sich die angestaute Spannung und überbordende Begeisterung der Zuhörer in Beifallsorkanen. Bernd Hoppe
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PS. Leider singt Clémentine Margaine nicht die Titelpartie in der neuen Aufnahme der Oper beim Palazzetto Bru Zane, wo sich im Mitschnitt von 2022 aus Lyon zumindest Nicole Car und Etienne Dupuis wiederfinden. Dort ist Ekatarina Semenchuk die Mutter, Jean-Francois Borras der Jean sowie Nicolas Courjal Phanuel, unter der Leitung von Daniele Rustioni am Pult der Lyoner Opern-Kräfte. Was wieder ein Kopfschütteln ob der Titelplanung des Palazzetto nach sich zieht angesichts der Verfügbarkeit anderer seriöser Aufnahmen der Oper. Ein Gespräch mit Clémentine Margaine findet sich auf der website der Deutschen Oper Berlin. G. H.
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.Francesca da Rimini an der Deutschen Oper Berlin: Faszination der Gewalt. Die Neuinszenierung von Zandonais Tragedia Francesca da Rimini an der Deutschen Oper hatte während der Pandemie im März 2021 ihre Premiere im Stream – nun konnte sie in einer Aufführungsserie auch dem Publikum im Opernhaus gezeigt werden. Sie zählt ohne Zweifel zu den Sternstunden des Hauses. Christof Loy, der auf Frauen mit dem Ruf einer femme fatale spezialisierte Regisseur, hat die auf Gabriele d’Annunzios Versen basierende Handlung mit psychologischem Einfühlungsvermögen, berstender Spannung und in einem Ambiente von bestechender Ästhetik inszeniert. Er verlegte das 1914 in Turin uraufgeführte Stück um Betrug, Ehebruch und Doppelmord aus der Epoche Renaissance in die Entstehungszeit, wofür Johannes Leiacker ein ungemein raffiniertes Bühnenbild in Jugendstil-Nähe erdachte. Eine hohe Wand mit Blumendekor lässt in der Mitte einen portalartigen Ausschnitt frei, hinter dem sich ein Wintergarten mit Palmen und Korbmöbeln befindet. Dessen hintere Fenster gewähren den Ausblick auf eine Landschaft in der Manier von Claude Lorrain – eine bezaubernde arkadische Idylle, welche zum brutalen Bürgerkrieg zwischen Guelfen und Ghibellinen einen krassen Kontrast bildet. Loy hat die Kämpfe und den permanenten Aufruhr in der Stadt in schonungsloser realistischer Härte dargestellt. Schauspieler jagen über die Bühne, stürzen zu Boden, überschlagen sich oder geben in korrekten schwarzen Anzügen Sicherheitsbeamte, die an Mafia-Vertreter erinnern. Meisterhaft ist die Personenführung mit Francesca im Zentrum, in die sich drei Brüder der Familie Malatesta verliebt haben. Mit dem älteren und lahmen Gianciotto soll sie verheiratet werden, der jüngere und schöne Paolo soll als Brautwerber fungieren. Francescas erste Begegnung mit ihm entscheidet über beider Schicksal.
Zandonais „Francesca da Rimini“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene/ Foto Monika Rittershaus
Es war eine Glücksfall der Produktion, für diese beiden Rollen ideale Vertreter gefunden zu haben. Sara Jakubiak wurde am Haus schon als Korngolds Heliane gefeiert. Nun glänzte sie auch in dieser Titelrolle mit durchschlagendem, flutendem Sopran von sinnlichem Reiz, aber auch bedrohlicher Power. Klaus Bruns hat ihr mehrere Kostüme entworfen – vom kleinen Schwarzen über einen Hosenanzug bis zum eleganten Abendkleid und seidener Unterwäsche in Abricot. Jonathan Tetelman war als Paolo der attraktive Latino-Beau, wie es die Rolle verlangt, begnadet mit einem baritonal getönten, heroischen Tenor von schier unerschöpflichen Kraftreserven und phänomenaler Wucht. Beider schwelgerisches Duett im 2. Akt voller bitterer Süße und melancholischer Wehmut steigerte sich zum Rausch und auch die letzte Szene war in ihrer Ekstase von unerhörter Spannung und mitreißender Wirkung.
Die Ausnahmeleistung der beiden Sänger in ihren gesanglich extrem fordernden Partien war umso höher einzustufen, da Ivan Repusic am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin Zandonais Komposition in ihrer Mischung aus italienischem Verismo, französischem Impressionismus und Wagner-Einflüssen nicht eben Sänger-freundlich ausbreitete. Auf den Hörer ergoss sich ein Schwall von Musik, ein Klangrausch der unerhörten Art, welcher zum Psycho-Thriller der Handlung perfekt korrespondierte. Aber man vernahm auch das nervöse Geflecht des Werkes und dessen zarte Gespinste wie die Cello-Kantilene beim ersten Auftritt von Paolo.
Zandonais „Francesca da Rimini“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene/ Foto Monika Rittershaus
Neben den beiden herausragenden Protagonisten gab es in der weiteren Besetzung keinen einzigen Schwachpunkt. Ivan Inverardi war in Stimme und Erscheinung ein gebührend robuster, brutaler Gianciotto, Charles Workman mit gereiftem Tenor der einäugige Malatestino dall’Occhio, der aus Eifersucht Francescas Ehebruch an ihren Gatten verrät, was einen Doppelmord zur Folge hat. Anrührend zeichnete Lexi Hutton Francescas kränkelnde Schwester Samaritana, resolut Irene Roberts ihre Vertraute Smaragdi. Volltönend und resonant sang Dean Murphy Il Giuiare, den Spielmann – in Jeans und Lederjacke eine ganz heutige Figur. Lebhaft und aufgeregt agierten Francescas Gesellschafterinnen (Meechot Marrero, Elisa Verzier, Arianna Manganello, Karis Tucker), die in ihrer Tracht wie Internatsinsassen wirkten und mit ihren Stimmen zu homogenem Gesang fanden. Die 5. Vorstellung am 29. 5. 2023 fand das enthusiastische Publikumsecho, wie es der Abend verdient hatte. Bernd Hoppe
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Grosstat der Wiederbelebung in Erfurt: 112 Jahre, 11 Monate und 26 Tage sind seit der mutmasslich letzten Aufführung von Felix Weingartners Orestes im Neuen Deutschen Theater Prag (heute Staatsoper Prag) am 24. Mai 1910 vergangen. Vom Vergessen befreit hat das Stück nun das Theater Erfurt. am 27.05.2023.
Felix Weingartner, ein Jahr älter als Richard Strauss, ist hauptsächlich als Konzertdirigent bekannt. Weingartner studierte Klavier und Komposition in Graz und kam dann durch eine Empfehlung von Johannes Brahms an die Universität Leipzig und zu Franz Liszt in Weimar. Nach Engagements in Königsberg, Danzig, Hamburg, Frankfurt und Mannheim war Weingartner von 1891 bis 1898 Hofkapellmeister der königlichen Oper in Berlin und Leiter der Sinfoniekonzerte der königlichen Kapelle. Nach der Leitung des Kaim-Orchesters in München (heute Münchner Philharmoniker) übernahm Weingartner 1908 als Nachfolger Gustav Mahlers die Direktion der Wiener Hofoper (bis 1911) und die Leitung der Konzerte der Wiener Philharmoniker (1908-1927). Zum Ende seiner Wiener Zeit war er auch noch Direktor der Wiener Volksoper. Von 1927 bis 1934 war Weingartner Chefdirigent des damaligen Basler Orchesters und Direktor des Konservatoriums, bevor er 1937 endgültig in die Schweiz emigrierte. Am 7. Mai 1942 starb Weingartner in Winterthur.
Weingartners Oper „Orestes“ in Erfurt/ Szene/ Foto © Lutz Edelhoff
Den Grund für Weingartners relativ häufigen Wechsel der Positionen sieht die Überlieferung vor allem darin begründet, dass er ein «Querkopf» war, dem man es nur sehr schlecht recht machen konnte. So verschärften sich Ende 1897 die Spannungen mit der Direktion der Hofoper Berlin: Die Uraufführung seine Oper «Genesius» hatte nicht den erhofften Erfolg gehabt und in Besetzungs- und Dispositionsfragen fühlte er sich übergangen. Der Arzt, den Weingartner wegen «heftiger Nervenanfälle» aufsuchte, empfahl ihm eine Reise in den Süden. Weingartner wählte Taormina auf Sizilien: «Im griechischen Theater Taorminas, von sonniger, regenloser Zeit begünstigt, schrieb ich an den Vormittagen die Neudichtung, vom Original dort abweichend, wo der von mir bereits klar erkannte metaphysische Charakter der Musik dies nicht nur erlaubte, sondern gebot». Das Original ist die Orestie des Aischylos und Weingartners «Orestes» die Mutter aller Antikenopern. Als Vorbild des Projekts könnte die Tetralogie «Homerische Welt» (auch: «Die Odyssee», 1896-1903, op. 30) von August Bungert (1845-1915) gedient haben. Richard Strauss hatte zur Zeit der Uraufführung des «Orestes» erst einen Mittelalterstoff vertont («Guntram», 1894) und einen altdeutschen Märchenstoff in Arbeit («Die Feuersnot»). «Salome» (1905) und «Elektra» (1909), die «Orestes» zum Verhängnis werden sollten, sollten erst noch kommen.
Der I. Teil von Weingartners Trilogie (Agamemnon) beginnt mit dem Fall Trojas. Der Wächter auf der Königsburg (Máté Sólyom-Nagy mit kräftigem Bariton) verkündet das Ende des trojanischen Kriegs und die Heimkehr von König Agamemnon (Kakhaber Shavidze mit königlich imposantem Bass und grandioser Textverständlichkeit). Agamemnons Gattin Klytaimnestra (mit voluminösem, dramatischem SopranIlia Papandreou) ist davon wenig begeistert: um ihre Tochter Iphigenie, die Agamemnon geopfert hatte, um am trojanischen Krieg teilnehmen zu können, zu rächen und ihren Geliebten Aigisthos (Siyabulela Ntlale mit hellem, ausgesprochen agilem Bariton mit fast tenoraler Attitüde) heiraten zu können, hatte Klytaimnestra Agamemnons Tod beschlossen. Ein Bote (Tristan Blanchet mit kräftigem, bestens geführtem Tenor) kündet den Einzug Agamemnons an. Kassandra (Laura Nielsen mit superben Piani, inniger Leidenschaft, intensiver Spannung und alles überragender Bühnenpräsenz), Tochter des Priamos und Seherin, die Agamemnon als Siegpreis von seine Heer geschenkt wurde, begleitet ihn. Kassandras Prophezeiung vom nahen Tod Agamemnons und ihrer selbst wird erst geglaubt, als die beiden von Klytaimnestra umgebracht wurden. Klytaimnestra erklärt ihre Morde öffentlich mit der Rache Iphigenies: Aigisthos und dessen Söldner unterbinden einen aufkeimenden Aufstand.
Mit Beginn des II. Teils (Das Totenopfer) sind einige Jahre vergangen. Noch als Kind schickte Klytaimnestra ihren Sohn Orestes (Brett Sprague mit kraftvollem Heldentenor und einem überschaubaren Repertoire an Farben) zur Erziehung (und zu seinem Schutz) ins Königreich Phokis. Nun ist er erwachsen geworden und kehrt mit seinem Freund Pylades (Cristiano Fioravanti, stumm) in die Heimat Argos zurück, um den Mord am Vater zu rächen. Am Grab des Vaters erneuert Orestes seinen Racheschwur. An der Spitze eines Trauerzuges erkennt er seine Schwester Elektra (Daniela Gerstenmeyer mit hellem, agilem Sopran) und beobachtet sie. Die von schweren Albträumen gezeichnete Klytaimnestra hat sie und die Mägde geschickt, um die Schatten der Gemordeten zu versöhnen. Elektra erfleht aber am Grab des Vaters die Heimkehr ihres Bruders, woraufhin Orestes hervortritt und sich zu erkennen gibt. Elektra enthüllt er seinen Plan, gebietet ihr Verschwiegenheit und schickt sie mit Pylades zurück nach Phokis. Klytaimnestra schildert ihren Albtraum, einen Drachen, den sie mit ihrem eigenen Blut nährte, geboren zu haben, Kilissa, der Amme des Orest (Elsa Roux Chamoux mit verführerischem Mezzo). Orestes, immer noch als Wanderer verkleidet, kann ihr Vertrauen gewinnen, so dass sie Aigisthos herbeilockt, dem er dann mitteilt, Orestes sei in Phokis gestorben. Als Aigisthos Klytaimnestra davon unterrichten will, tötet ihn Orest. Klytaimnestra und ihren Knechten gibt er sich zu erkennen. Es gelingt seiner Mutter nicht, ihren Sohn umzustimmen: sie muss ihren Frevel mit ihrem Tod büssen, kann vorher aber noch die Rachegeister auf ihn hetzen. Als Orestes dann von den Furien bedroht wird, erfasst ihn das Entsetzen über seine Tat und er macht sich auf den Weg nach Delphi, um sich dort im Tempel des Apoll zu entsühnen.
Weingartners Oper „Orestes“ in Erfurt/ Szene/ Foto © Lutz Edelhoff
Der III. Teil (Die Erinyen) beginnt mit der Ankunft des Orestes im Tempel des Apollon zu Delphi. Die Seherin des Tempels (Katja Bildt mit gepflegtem Mezzo) weist ihn an, in den Hades hinabzusteigen. Klytaimnestras Geist fordert die Erinyen auf, ihm zu folgen. Auf der Asphodeloswiese angekommen, ruft Orestes Agamemnons Schatten an, der erscheint und gleich wieder verschwindet. Als Orest zur Sühne sich selbst das Leben nehmen will, gebietet ihm der Geist Kassandras Einhalt. Sie hat im Elysium einen Olivenzweig gebrochen, der ihn vor den Erinyen schützt, und will ihn nun nach Athen führen, wo Pallas Athene den Fall beurteilen soll. Athene (Candela Gotelli mit aufgedrehtem Spiel) will aber den Fall nicht selbst beurteilen und beruft einen Rat der zwölf würdigsten Bürger ein. Das Resultat ist ein Patt, Athene spricht Orestes dann mit ihrer Stimme frei. Erzürnt verfluchen die Erinyen Stadt und Land. Orest versöhnt die Erinyen mit dem Vorschlag eines Bündnisses zwischen ihm als neuem König von Argos und Athene, dessen Einhaltung sie überwachen sollen. Der Olivenzweig wird eingepflanzt und wird als Zeichen des neuen Bundes zu einem mächtigen Ölbaum. Die Erinyen wandeln ihren Fluch in einen Segen. Athene verkündet die Heirat von Pylades und Elektra und schickt Orestes zum Strand der Skythen, wo er seine von Artemis befreite Schwester Iphigeneia finden werde.
Weingartners Partitur ist gross besetzt und so spielen unter der musikalischen Leitung von Chefdirigent Alexander Prior das Philharmonische Orchester Erfurt und die Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach. Mit grosser Leidenschaft und Präzision bringen die Musiker die ungemein farbenreichen, vielschichtigen Klänge zu Gehör. Und Prior setzt Spannungsbögen, die die drei Stunden wie im Fluge vergehen lassen. Der von Markus Baisch vorbereitete Opernchor des Theater Erfurt trägt mit mustergültiger Textverständlichkeit seinen Teil zum Gelingen des phänomenalen Abends bei.
Weingartner hat sein Libretto zu einer Zeit (1898), als Aufführungen antiker Tragödien noch keineswegs üblich waren, selbst in freier Anlehnung an die Orestie des Aischylos gedichtet. Als Vorbild des Projekts könnte die Tetralogie Homerische Welt (auch: Die Odyssee, 1896-1903, op. 30) von August Bungert (1845-1915) gedient haben.
Von besonderem Interesse ist hier, wie der bekennende Pazifist Weingartner den III. Teil, Die Erinyen, gestaltet hat. Pallas Athene, zu der die Seherin des Tempels zu Delphi Orestes geschickt hat, entscheidet nicht allein über Schuld oder Unschuld Orestes, sondern delegiert diese Entscheidung an einen Rat der zwölf der würdigsten Bürger Athens, die das Urteil «sine ira et studio» («ohne Zorn und Eifer») fällen sollen. Der Entscheid führt zu einem Patt, das Pallas Athene mit ihrer Stimme zugunsten Orestes Unschuld entscheidet. Orestes rettet nun die Situation, in dem er den vor Enttäuschung rasenden Erinyen die Aufgabe gibt, das Bündnis zwischen den Königreichen von Argos und Athen zu schützen.
Hier setzt auch die Inszenierung von Intendant Guy Montavon an. Montavon lässt die Geschichte in der Zeit zwischen dem Ende des ersten Weltkriegs und dem Ende des Zweiten Weltkriegs spielen. Der I. Teil «Agamemnon» spielt in einer Art Bunker, wo die Kriegsheimkehrer erwartet werden und der Mord Klytaimnestras an Agamemnon geschieht. Der II. Teil «Das Todtenopfer» spielt an dem an Lenins Mausoleum gemahnenden Sarkophag Agamemnons. Der III. Teil «Die Erinyen» spielt zuerst in dem an eine Müllhalde erinnernden Hades und dann, die Szenen, die in Athen spielen, in einem Sitzungsaal mit UNO-Emblem. So, wie Orestes versuchte die Spirale der Gewalt, symbolisiert durch den Atridenfluch, zu durchbrechen, versuchte man nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Gründung der UNO zukünftige Gewalt zu verhindern. Was daraus geworden ist, ist ja bekannt. Ausgestattet wird die tief beeindruckende Inszenierung von Hank Irwin Kittel. Mit dieser genialen Inszenierung haben das Theater Erfurt und Guy Montavon der Opernwelt ein Werk zurückgegeben, das alle Kraft hat, zu bestehen. Jan Krobot/Zürich 22.05.2023 (mit großem Dank an den Autor und an das Wiener Opern-online-Magazine Online-Merker, uns mit dieser Rezension zu einer der wichtigen Produktionen der letzten Jahre ausgeholfen zu haben!)
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Polnisches Indiendrama in der Berliner Philharmonie: Sie sollte der entscheidende große Wurf sein die letzte und damit sechste Oper Paria von Stanislaw Moniuszko, die den polnischen Komponisten mit Unterbrechungen sein ganzes Leben lang beschäftigt hatte, denn bereits der Achtzehnjährige soll das Trauerspiel von Casimir Delavigen übersetzt haben , der Text ging aber wohl verloren, ehe er sich ans Komponieren machen konnte. Da hatte die gleichnamige Oper von Gaetano Donizetti Il Paria bereits das Alter von vierzig erreicht, nachdem sie mit Rubini, dem Schöpfer des Do di Petto uraufgeführt und die Musik danach bald in Anna Bolena, Torquato Tasso und Il Duca d’Alba wieder verwendet worden war.
Zwar erfüllte der Stoff das Bedürfnis des u.a. durch Weltausstellungen nach dem Orient, nach Exotischem süchtig gewordenen Publikums mit der Geschichte vom unterschiedlichen Kasten zugehörigen Liebespaar, aber außer der Handlung war ganz und gar nichts orientalisch an Paria, weit weniger noch als an auf der gleichen Orient-Schiene sich bewegenden Opern wie Lakmè, Thais oder Die Afrikanerin und Die Perlenfischer. Es kam zwar im Jahre 1868 zur Uraufführung in Warschau, wo man das Werk auch 1917 wieder erleben konnte, dann aber klafft eine große Lücke in der Aufführungstradition, ehe man Paria 1951 in Breslau, 1958 in Posen aufführte, 1991 in Havanna und 2008 entstand eine CD bei Dux Records mit den Kräften aus Stettin. Hin und wieder nahmen sich auch auf westlichen Bühnen erfolgreiche Künstler des Werks oder vielmehr von Teilen desselben an, so findet man bei You Tube eine Aufnahme der Arie der Neala mit Teresa Zylis-Gara unter Kazimir Kord.
2020 inszenierte Graham Vick die Oper „Paria“ in Posen/ Szene/ Opera Vision
2020 inszenierte kein Geringerer als Graham Vick Paria an der Moniuszko Oper in Posen , die Inszenierung erhielt den International Opera Award für ein wiederentdecktes Werk , und nun ist das Spätwerk im Rahmen eine Moniuszko-Dreierpacks (Halka 2019 und Das Gespensterschloss im September 2024 ebenfalls in Berlin) konzertant mit dem Ensemble aus Posen am 23. Mai 2023 in der Berliner Philharmonie zu hören gewesen. Dafür ist man erst einmal dankbar, denn eine Presse-DVD mit Ausschnitten aus der Inszenierung beweist, dass diese einmal mehr die übliche Abrechnung mit dem Klerus, aber da mit Heiligenschein versehen, dem christlichen, und mit dem Militär zeigt, denn auch Idamor, der Tenor, ist recht unsympathisch, mit Maschinengewehr und ordenbehängt zur Hochzeit erscheinend.
Ein ganz anderes Schicksal als Paria hatte übrigens Moniuszkos Oper Halka, in Polen als Nationaloper geliebt und nach 1945 zumindest in den „sozialistischen Bruderländern“ häufig aufgeführt. Während in diesem Werk Handlung und Musik zueinander passen und es sich so den Ehrentitel polnische Nationaloper redlich verdient, ist Paria ein seltsames, wenn auch sehr reizvolles Gemisch aus französischer Opera Comique, deutscher Spätromantik und polnischer Folklore mit umfangreichen, gewaltigen Chorszenen, einem Ballett und teilweise ausgesprochen apart-interessanten instrumentiert. Wenn Moniuszko bekannte: “Ich bin Paria“, dann lässt das Raum für vielerlei Spekulationen.
Viele polnische Familien hatten sich neben dem üblichen Konzertpublikum in der Philharmonie eingefunden, und es musste auch mal ein schreiendes Kleinkind, das dem Ereignis wenig abgewinnen konnte, aus dem Saal getragen werden, ansonsten herrschte eine feierliche Stimmung, wenn der polnische Botschafter viele Ehrengäste (darunter der polnische Botschafter und Honoratioren aus Politik und Kunst) feierlich begrüßte, anschließend Kulturjournalist Frederik Hanssen das Publikum in das Operngeschehen einführte, nicht ohne zu erwähnen, dass Moniuszko immer auf der Seite der Armen und Entrechteten gestanden habe.
Moniuzskos Oper „Paria“ in der Berliner Philharmonie/ Iwona Sobotka sang die Neala und erinnerte im Timbre an andere berühmte polnische Sopranistinnen wie Teresa Kubiak oder Teresa Zylis-Gara/ Foto: K. Bieliński / Polish National Opera
Die Posener stellten sich mit einem der anspruchsvolle Partitur gleichermaßen mit Hingabe wie technischem Können gerecht werdendem Einsatz dem Berliner Publikum vor, das enorme Pathos, das über weite Strecken in der Musik Moniuszkos herrscht, stilvoll bändigend. Dirigent Jacek Kaspszyk wusste immer wieder Inseln der Ruhe und der akustischen Beschaulichkeit zu schaffen, wenn die Musik sich in unermüdlicher Daueraufgeregtheit zu verausgaben drohte (Wagneranklänge!). Vorzüglich war der Chor der Posener Oper, seien es Damen und Herren getrennt voneinander, so ein wunderschöner Mädchenchor im ersten Akt, oder sei es als teilnehmendes Volk.
Iwona Sobotka im rot-schillernden Glitzerfummel war eine auch akustisch attraktive Neala mit weichem, geschmeidigem, in der Höhe schön aufblühendem Sopran ohne jede Schärfe. Besonders gut gelang ihr das Wechselspiel mit dem Chor im ersten Akt. Mit dunkel getöntem, heldisch auftrumpfendem Tenor vieler Schattierungen sang Dominik Sutowicz ihren Geliebten Idamor, den Paria, der auch mit Schwelltönen prunken konnte. Einen Bass wie aus einem Guss und von schöner Farbe hatte Volodymyr Tyshkov für den Brahmanen Akebar. So beredt wie sonor versuchte Stanislav Kuflyuk mit hochpräsentem Bariton als Djares seinem Anliegen Gehör zu verschaffen. In kleineren Partien schlugen sich Piotr Friebe als Ratef und Lucyna Bialas als Priesterin wacker.
Der Abend war eine interessante Erfahrung, konnte jedoch nicht davon überzeugen, dass dem Paria auf Dauer ein Platz im Repertoire gebührt. Exotische Themen wie dieses haben es sowieso schon schwer in unserer Zeit, umso mehr, wenn die Musik dazu absolut nicht passen will und eher epigonalen Charakters ist. Ingrid Wanja
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PS.: Wenngleich es die Oper schon vor der Produktion in Posen reichlich zu hören gab: So bereits im polnischen und dann DDR-Rundfunk in den achtziger Jahren aus Krakau (wie ich im Archiv des DDR-Rundfunks in Potsdam entdeckte und mir besorgte), eine polnische TV-Produktion von 1993 unter Antonin Wicherek mit der wunderbaren Hanna Lisowska (davon existiert eine Kopie noch auf VHS), eine weitere TV-Produktion des Wielki Warschau 1989 erneut unter Wicherek und natürlich die schmissige und maßstäbliche Aufnahme aus Breslau bei DUX unter dem jungen Lukasz Borowicz 2019 – ein langer Artikel bei operalounge.de beschäftigt sich zudem mit dem Werk und der zuletzt genannten Aufnahme. Dem Vernehmen nach will Naxos die obige Aufführung herausbringen. G. H.
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Hamlet an der Komischen Oper Berlin – ein Schloss wird zum Friedhof. Nicht gering war die Skepsis nach Bekanntgabe des Spielplanes der Komischen Oper Berlin für die Saison 2022/23, der eine Neuproduktion von Ambroise Thomas’ Hamlet vorsah. Eines der anspruchsvollsten französischen Werke zwischen Grand opéra und Drame lyrique in der Behrenstraße? Die konzertante Aufführung an der Deutschen Oper im Juni 2019 mit Florian Sempey und der rasanten Ève-Maud Hubeaux unter Yves Abels dto. begeisternder Leitung war noch in bester Erinnerung. Man war gespannt.
Die Inszenierung und musikalische Interpretation straften alle Zweifel Lügen und dürften sogar als Berliner Opernaufführung des Jahres gewertet werden. Nadja Loschky hat das Stück spannungsreich und mit stimmiger Personenführung inszeniert, den Narren Yorick, der bei Shakespeare, aber nicht im Opernlibretto Erwähnung findet, als Figur eingeführt und damit die komisch-groteske Ebene bedient. Kjell Brutscheidt gibt ihn stark effeminiert und mit tänzerisch-exaltierter Allüre, darf zu Beginn sogar das Lied des Narren aus Shakespeares Was ihr wollt singen. Irina Spreckelmeyer hat ihn als einzige Figur der Inszenierung in einem glitzernden schwarz/silbernen Renaissance-Kostüm historisch gewandet. Für alle anderen – bis auf den Titelhelden, der einen schmucklosen, legeren grauen Anzug trägt – ist warmes Burgunderrot vorgesehen, ob in langen Schleppen für das Königspaar oder den Hotelpagenkostümen für einzelne Chorsolisten. Etienne Pluss entwarf eine atmosphärische Bühne – das Treppenhaus eines alten Schlosses mit gemusterter Tapete, das an einen britischen oder amerikanischen Film à la Hitchcock erinnert. Wenn die Lampen flackern, fühlt man sich gar in den Psychothriller Das Haus der Lady Alquist versetzt. Mit seltsamen Gestalten, die anfangs aus einer Bodenvertiefung steigen und sich im Laufe der Aufführung vermehren, führt die Regisseurin gar ein surreales Element ein. Mit Stockschirm, Aktenkoffer und Melone lassen sie an die Bildwelt von René Magritte denken. Ihre Anführer stellen sich schließlich als die beiden Totengräber heraus. Auch mehrere Doubles – für Hamlet, Ophélie, Claudius, Gertrude und den Geist des ermordeten Königs – bringen eine unwirkliche Atmosphäre ein.
Das Geschehen eskaliert am Ende des 2. Aktes, nachdem Hamlet den Tod seines Vaters als Pantomime vorführen ließ und Claudius, der Mörder und neue König, in Panik den Hof verlässt. In rasender Wut zertrümmert Hamlet mit der Spitzhacke die hintere Wand, aus der schwarze Erde herausquillt. Die Chorsolisten der Komischen Oper Berlin (Einstudierung: Jean-Christophe Charron) erweisen sich in diesem dramatischen Finale mit klanggewaltigem Gesang als grandiose Architekten bei der Errichtung einer Kathedrale in Musik. Nach der Pause zeigt sich der Raum in dichten Nebelschwaden und wüster Zerstörung. Die Natur hat als hügeliges Erdreich von ihm Besitz ergriffen, der Schauplatz hat sich zu einem Friedhof gewandelt. Hier singt Hamlet mit einem Totenschädel in den Händen seinen berühmten Monolog. Der britische Bariton Huw Montague Rendall ist ein Ereignis der Aufführung. Mit seiner weichen, sensiblen Stimme, die vom gehauchten pianissimo bis zum ausladenden forte über schier unbegrenzte vokale Möglichkeiten verfügt, und einem reichen Ausdrucksspektrum der grüblerischen, jähzornigen, halluzinativen, hintergründigen, aufbrausenden Töne darf er als Idealbesetzung der Rolle gelten, zumal er als blonder, träumerischer Jüngling auch optisch die Figur perfekt zu verkörpern vermag. Die Spanne seines gesanglichen Könnens zeigt sich eindrücklich in der Verve des Trinkliedes „Ô vin, dissipe la tristesse“ und dem introvertierten Selbstgespräch „Etre ou ne pas être“. Sein Duett mit Ophélie, in welchem beide von ihrer Liebe singen, steigert sich von schwärmerischem Ausdruck zu ekstatischem Taumel. Mit äußerster Spannung vollzieht sich die erregte Auseinandersetzung mit seiner Mutter Gertrude, die Karolina Gumos mit herbem, dramatisch betontem Mezzo singt. Das Verhältnis zu ihrem Sohn pendelt zwischen inzestuöser Zuneigung und abgründigem Hass. Hamlets Beziehung zu Claudius, den Tijl Faveyts mit körnigem, reifem Bass gibt, wird bestimmt vom Geist seines getöteten Vaters (Jens Larsen mit gespenstisch-fahl tönender Stimme), der aus dem Grab steigt und ihm den Auftrag erteilt, den Mord zu rächen. Am Ende reichte er Hamlet ein Messer, mit dem dieser die Tat vollführt. Eine Glocke senkt sich herab, die Hamlet als neuer König besteigt, freilich eher eine gekreuzigte Leidensfigur abgibt denn einen triumphierenden Regenten. Das Regie-Team bedient damit das Finale der Urfassung von 1868, in welcher der dänische Prinz überlebt.
„Hamlet“ von Ambroise Tomas an der Komischen Oper Berlin/ Szene/ Foto Rittershaus
Das zweite Ereignis der Aufführung am 28. 4. 2023 war die blond gelockte Ophélie der Amerikanerin Liv Redpath, deren Sopran die horrend schwierige Partie mit geradezu mirakulöser Mühelosigkeit bewältigt. Die reiche Farbpalette mit melancholischen, verschatteten, wehmütigen, flirrenden Nuancen bot im Verein mit sensationeller technischer Bravour für die Wahnsinnsszene das perfekte Fundament. Glitzernde Koloraturen, funkelnde Spitzentöne, blitzende staccati, delikate Triller und trancehafte Vokalisen bescheren eine vokale Sternstunde. Himmlisch verklärt dann ihre letzte Szene, in der sie Hamlet erinnert, nicht an ihrer Liebe zu zweifeln.
Es ist ein Verdienst der Inszenierung, dass sie auch das Ballett – neben den großen Chortableaus unverzichtbarer Bestandteil der Grand opéra – in den Handlungsablauf integriert hat. Hier wird es in der Choreografie von Thomas Wilhelm als Ophélies Traum von der Hochzeit mit Hamlet gezeigt. Es ist ein Pas de deux, in welchem der Tänzer im Überschwang des Gefühls seine Partnerin dreht, hebt und durch die Luft wirbelt. Kompetent besetzt sind die Nebenrollen: José Simerilla Romero als Laërte mit tenoralem Strahlen und vehementer Allüre sowie Stephen Bronk als Polonius, Frederic Jost als Horatio und Johannes Dunz als Marcellus mit soliden Auftritten. Zum Abend in seiner Vollendung führt schließlich die musikalische Leitung der Dirigentin Marie Jacquot am Pult des Orchesters der Komischen Oper Berlin. Sie vereint in ihrer Interpretation pathetische grandeur, romantisches Melos, pompöse Festlichkeit, französischen Esprit und sublime Delikatesse. Zu Recht bejubelt das Publikum am Ende eine Aufführung von Ausnahmerang. Bernd Hoppe
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.Szenische Erstaufführung in Braunschweig: Gäbe es nicht eine recht neue Aufnahme der Oper Dante (2017; ein Mitschnit des Münchner Konzertes beim Palazzetto Bru Zane) wäre der der Komponist Benjamin Godard (1849-1895) fast vergessen, der früh das Violinspiel erlernte und bereits seit seinem 10. Lebensjahr am Pariser Konservatorium Komposition und bei Henri Vieuxtemps Violine studierte. Schließlich war er dort ab 1887 Lehrer einer Kammermusikklasse. Als Verfasser von Salonmusik und mehr als einhundert Liedern war er seinerzeit durchaus populär; außerdem komponierte er fünf Sinfonien, je zwei Klavier- und zwei Violinkonzerte, Streichquartette sowie Sonaten und Etüden für Violine und Klavier. In seinen Kompositionen orientierte er sich durchgehend an der Klangsprache Gounods oder Massenets, so auch in seinen sechs Opern, denen er sich erst in den 1880er-Jahren zuwendete.
Godards „Dante“ in Braunschweig/ Szene/ Foto © Björn Hickmann
So komponierte er nach dem Libretto von Édouard Blau die ernste Oper Dante, die 1890 in der Pariser Opéra Comique uraufgeführt wurde. Sie enthält ziemlich zusammenhanglos einzelne Szenen aus der Biographie des mittelalterlichen Dichters und Philosophen sowie als Dantes Traum Szenen aus der berühmten „Göttlichen Komödie“. In der Oper gibt es mächtige Chor-Tableaus, aber auch ausdrucksstarke Arien und Ensembles, wobei die Musik fast durchgehend schwelgt oder sich dramatischen Ausbrüchen hingibt, was auf Dauer in gewisser Eintönigkeit reichlich anstrengend wirkt. Das liegt auch daran, dass es zu wenige Piano-Passagen zur Besinnung oder Kontemplation gibt.
Zuerst sieht man in der Braunschweiger Inszenierung von Philipp Himmelmann das Sterbebett der von Dante geliebten Béatrice. Von hieraus blickt der Dichter in einer Art träumerischer Rückblende in ungemein wirkungsvollen Bühnenbildern ( Paul Zoller, Mitarbeit: Loriana Casagrande) auf einzelne Szenen seines Lebens: So geht es in einen imposanten Versammlungsraum, in dem verbitterte politische Fehden zwischen kaisertreuen Ghibellinen und den Anhängern des Papstes, den Guelfen, stattfinden und Dantes Heimatstadt Florenz zu zerreißen drohen. Diese Streitenden tragen einheitliche, maskuline Kleidung des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts, der Entstehungszeit der Oper (Meentje Nielsen), während die Protagonisten der Sterbeszene am Ende der Oper mit Schlafanzug, Jeans und Polohemd moderne Kleidung tragen (Der Tod ist zeitlos!).
Godards „Dante“ in Braunschweig/ Szene/ Foto © Björn Hickmann
Dante blickt anschließend zurück auf die heftig ausgetragenen Auseinandersetzungen mit seinem Freund Simeone Bardi um die von beiden geliebte Béatrice, die sich zeitweise in einer großen, düsteren Bibliothek mit bis zur Decke reichenden Bücherregalen zuträgt. Bevor es zu den traurigen Schlussszenen kommt, erlebt man nach der Preisung des antiken Dichters Vergil durch eine Gruppe junger Menschen in Matrosenkleidung einen Traum Dantes, in dem – eine sehr eindrucksvolle Szene – Vergil in der Bibliothek aus dem Bilderrahmen tritt. Er führt Dante in die Hölle mit allerlei grässlichen Visionen – jetzt ist der gesamte Chor mit femininer Unterwäsche bekleidet – und anschließend in himmlische Gefilde, wo ihm die geliebte Béatrice erscheint. Vor dem absehbaren Ende im mit blutverschmiertem Kopfkissen und anderen Utensilien reichlich realistischen Krankenzimmer versöhnen sich die Freunde Dante und Bardi; wie von Anfang an wird Béatrice von ihrer treuen Freundin Gemma umsorgt, die deren Ende nicht verhindern kann. Ganz am Schluss nach Béatrices Tod verspricht Dante, sie in seinen Werken unsterblich zu machen, wobei offen bleibt, ob es diese Geliebte tatsächlich gegeben hat oder ob sie nicht von vornherein dichterische Fiktion war.
Trotz der konzertanten Aufführung in München 2016 darf bezweifelt werden, ob diese Oper mit ihrem doch reichlich wirren Plot und der wenig differenzierenden Musik den Weg ins Repertoire schafft. Und auch die genannte Ersteinspielung aus München hilft da trotz illustrer Besetzung sicher
Godards Oper „Dante“ bei den Ediciones Singulares/ ISBN: 978-84-697-4879-4
nicht.
Die musikalischen Leistungen waren in der Premiere herausragend, was auch an der wie immer präzisen und inspirierenden Leitung von Braunschweigs 1. Kapellmeister Mino Marani lag, der trotz aller Lautstärke und bedrängender Dramatik durchgehend sängerfreundlich dirigierte; dabei überzeugte erneut das ausgezeichnete Staatsorchester mit hohem Niveau in allen Gruppen. Ebenso imponierte das dank kluger Personenregie an diesem Abend engagiert und glaubwürdig agierende Opernensemble, das auch stimmlich durchgängig positiven Eindruck machte. Hier ist zunächst Kwonsoo Jeon in der kräfteraubenden Titelpartie zu nennen: Er führte seinen strahlkräftigen Tenor differenzierend durch alle Lagen und sang auch die wenigen Lyrismen in seiner ersten Arie wunderbar aus. Béatrice war Béatrice Kudryavtseva, die mit abgerundeten Melodiebögen und sauberen Piano-Passagen gefiel, sich aber auch in den hochdramatischen Phasen als höhensicher erwies.
Zachariah N. Kariithi als Simeone Bardi setzte seinen charaktervollen, sicher geführten Bariton dramatisch auftrumpfend ein. Nach wie vor höchst kultivierte Stimmführung zeichnet Milda Tubelythè aus, die als Gemma zeigte, dass sie mit ihrem deutlich voller gewordenen Mezzosopran nun auch dramatischeren Anforderungen mehr als nur genügt.
Die kleinere Partie des Schattens Vergils füllte Jisang Ryu mit sonorem Bass aus, während die junge Schottin Rowan Hellier – neu im Ensemble – die Huldigung an Vergil mit in der Höhe leicht flackerndem Mezzo sang; Rainer Mesecke (ein Alter) und Matthew Pena (Herold aus dem Off) ergänzten. Chor und Extrachor, einstudiert von Georg Menskes und Johanna Motter, glänzten durch Klangfülle und stimmliche Ausgewogenheit.
Das Premierenpublikum war von den tollen Leistungen begeistert und bedankte sich bei allen Mitwirkenden und dem Regieteam mit starkem, lang anhaltendem Applaus. Gerhard Eckels
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Dmitri Tcherniakov inszeniert Krieg und Frieden von Sergej Prokofjew komplex und monumental an der Bayerischen Staatsoper München: Eine monumentale Inszenierung für die Bayerische Staatsoper, die Sergej Prokofjews ‚Krieg und Frieden‘ dem erfahrenen Dirigenten Vladimir Jurowski anvertraut. Regie und Bühnenbild stammen von Dmitri Tcherniakov, die Kostüme von Elena Zaytseva.
Tcherniakov wählt einen Blickwinkel, der irgendwo zwischen dem Zeitgenössischen und dem Historisierenden liegt. Er vermischt geschickt das aktuelle Geschehen mit der nahen und fernen Vergangenheit einer Nation, Russland, die heute mehr denn je im Zentrum der sozialen, politischen und kulturellen Debatte in Europa steht. Die Fragen sind zahlreich und offen, die Themen so einfach einerseits wie komplex und vielschichtig andererseits.
Der Regisseur entscheidet sich konsequent dafür, die gesamte komplexe Geschichte, die sich mit vielen Zeit- und Ortssprüngen entfaltet, an einem einzigen ikonischen Ort in Moskau anzusiedeln: dem Gewerkschaftshaus.
Ein historisches Gebäude, das das politische Leben der russischen Hauptstadt in den letzten zweihundert Jahren geprägt hat und in seiner großen Halle mit den neoklassizistischen Säulen verschiedene Momente der Geschichte beherbergt hat: von den Festlichkeiten zur Zeit der Zaren über die sowjetischen Aufmärsche bis hin zu wichtigen Ereignissen der jüngeren Zeit. In diesem Palast wurde zum Beispiel 2022 der Leichnam von Michail Gorbatschow beigesetzt.
Das Bühnenbild stellt mit einer statischen Szene diesen großen neoklassizistischen Saal dar, in dem der Regisseur sich eine flüchtende Menschheit vorstellt, die vor einem nicht näher bezeichneten Krieg oder einer Tragödie geflohen ist und sich in einem ständigen Zustand der Unsicherheit und Bedrängnis befindet.
Prokoffieffs „Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper München/ Foto Hösl
Die Kostüme sind zeit-genössisch und erinnern an die Bilder, die wir oft in den Massen-Medien sehen, die Ausstattung ist realistisch, manchmal brutal. Es mangelt nicht an Hinweisen auf das Theater und die Kunst der Aufführung, mit Reihen von Theatersitzen, die hier und da verstreut sind.
Die Bühne leert sich nie, alles spielt sich in schneller Folge inmitten von Menschenmassen ab, es mangelt nie an Menschen, die auf dem Boden oder auf improvisierten Feldbetten schlafen, es ist immer eine gewisse Bewegung vorhanden, das Gedränge ist spürbar. Im ersten Akt, dem intimsten und der Friedenszeit gewidmeten Teil, wechseln sich die Szenen im Proszenium in einer im Wesentlichen traditionellen Weise ab. Im zweiten Akt, der vom Krieg beherrscht wird, nimmt der Chor die Bühne verstärkt in Anspruch und die Wirkung, sowohl stimmlich als auch szenisch, einer wütenden und müden Masse ist beeindruckend.
Es mangelt auch nicht an Andeutungen auf das Theater im Theater, fast so, als ob die ganze Geschichte von den Lagerflüchtlingen als Zeitvertreib inszeniert würde. So wirkt die Tanzparty im ersten Akt wie ein improvisiertes Theaterstück dieser vertriebenen Menschheit, die sich die Zeit vertreiben muss, während die Napoleon-Szene im zweiten Akt wie eine Farce zur Belustigung von Kindern wirkt, bei der der französische Kaiser nichts weiter als eine Karikatur der Macht ist.
Das Gleiche gilt für General Kutusow, der resigniert in einem Unterhemd erscheint und apathisch am Tee nippt. Fast das Bild einer Macht, der die leidende Menschheit gleichgültig ist.
Wenn im ersten Akt der Schwerpunkt im Wesentlichen auf der persönlichen Geschichte der Figuren liegt, gibt es im zweiten Akt eine Fülle von politischen Verweisen aus verschiedenen Epochen. Im Finale erscheint auch eine Lenin-Büste im Hintergrund und General Kutusow wird verherrlicht, indem er auf einem Katafalk voller roter Fahnen liegt, ganz im Stil des sowjetischen Zeremoniells.
Die Hinweise sind also zahlreich und komplex, oft eher politisch und symbolisch als auf die Geschichte der Charaktere bezogen. Die sorgfältig orchestrierte und präzise Regie sorgt für eine gute Organisation der Massen, während die Solopartien etwas generisch bleiben. Im Großen und Ganzen gibt es einige sehr gute Momente, aber auf Dauer ist die Menschenmasse vielleicht zu viel, was zu einem ‚Zeffirelli‘-ähnlichen Effekt führt, bei dem man Mühe hat, den Sängern zu folgen, die sich in einer übermäßigen Masse von Menschen verlieren. Auch wenn die Chöre sehr wirkungsvoll sind, die Kulisse, eine einzige für fast vier Stunden Aufführung, zeigt trotz ihrer Beeindruckung einige Grenzen auf.
Ohne Zweifel jedoch sind nur wenige andere Theater in Europa in der Lage, eine Produktion von solcher Komplexität mit vierzig Solisten auf der Bühne anzubieten, zusätzlich zu den Statisten und dem Chor.
Vladimir Jurowski dirigiert die exzellenten bayerischen Ensembles und gibt uns eine moderne und einnehmende Interpretation der Partitur, ohne jemals die Kontrolle über das Ensemble zwischen Orchestergraben und Bühne zu verlieren.
Andrei Zhilikhovskys Bolkonski sticht aus der grenzenlosen Schar von Sängern hervor, seine Stimme ist warm und weich, fähig zu überzeugenden Akzenten und schönen Nuancen. Ihm zur Seite steht die Natascha Rostowa von Olga Kulchynska, die eine selbstbewusste, aufsteigende Stimme hat und uns einen trockenen, überzeugenden Charakter präsentiert. Violeta Urmana in der kleinen, aber intensiven Rolle der Achrossimowa ist großartig, ebenso wie Sergei Leiferkus in der Rolle des Vaters Bolkonski, immer passend und stilistisch einwandfrei. Der unübertroffene Arsen Soghomonyan als Pierre Besuchow, ein sorgfältiger und engagierter Phrasierer in allen Szenen, meistert die Rolle dank einer Stimme mit einem funkelnden Tenortimbre. Erwähnenswert ist auch Tómas Tómasson, der überzeugend einen zur Karikatur gewordenen Napoleon spielte.
Alle anderen Stimmen waren hervorragend, kompakt und professionell in einer meisterhaften Ensemblearbeit, in der alle zu Protagonisten und Schöpfern des Erfolgs der Aufführung wurden: Alexandra Yangel, Kevin Conners, Alexander Fedin, Olga Guryakova, Mischa Schelomianski, Victoria Karkacheva, Bekhzod Davronov, Alexei Botnarciuc, Christian Rieger, Emily Sierra, Martin Snell, Christina Bock, Alexander Roslavets, Oksana Volkova, Elmira Karakhanova, Roman Chabaranok, Stanislav Kuflyuk, Maxim Paster, Dmitry Cheblykov, Nikita Volkov, Alexander Fedorov, Xenia Vyaznikova, Dmitry Ulyanov, Alexander Fedin, Liam Bonthrone, Csaba Sándor, Alexander Fedorov, Stanislav Kuflyuk, Bálint Szabó, Granit Musliu, Aleksey Kursanov, Thomas Mole, Alexander Vassiliev, Mawra Kusminitschina, Xenia Vyaznikova, Andrew Hamilton, Platon Karatajew, Mikhail Gubsky, Christian Rieger, Jasmin Delfs, Jessica Niles.Viel Beifall für alle im Finale. Raffaello Malesci (18 März 2023)
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Oper Frankfurt: Deutsche Erstaufführung. Fast alles ist vor Beginn der Oper schon geschehen. Francesca, die Tochter des Herrn von Ravenna, wurde aus politischen Gründen mit Lanciotto, dem Sohn des Herrschers von Rimini, verheiratet. Da Lanciotto missgebildet ist, gibt man dessen Bruder Paolo als Bräutigam aus. Francesca verliebt sich auf den ersten Blick in den schönen Paolo. In der Hochzeitsnacht muss sie feststellen, dass man sie getäuscht hat. Bei der Rückkehr aus einer Schlacht, und da setzt Saverio Saverio Mercadantes Oper Francesca da Rimini ein, spürt Lanciotto Francesca Abweisung und wird misstrauisch. Bis zum Tod der beiden Liebenden benötigt Mercadante gut drei Stunden Musik. Es braucht geduldige und ausdauernde Hörer, doch die bestrickt Mercadante mit allen Finessen eines italienischen Melodramma romantico. Vor allem den ersten, fast eindreiviertel Stunden langen Akt überzieht er mit einer rossinischen Ornamentik, die die Seelenlage der drei Protagonisten auf subtile Weise auszisiliert und in der Schwebe lässt, bevor er im zweiten Akt zupackt.
Ein beliebter Topos, nicht nur für die Oper: „Paolo und Francesca“, hier nun von Anselm Feuerbach 1865/ Wikipedia
Doch Francesca entstand vor der Reformoper Il Giuramento. Nicht nur die Hosenrolle des Paolo rückt Francesca in die Nähe von Bellinis I Capuleti e i Montecchi über das andere berühmte Liebespaar Italiens. Die Oper Frankfurt brachte Mercadantes Francesca und deren hochromantischen an Rossini und Bellini geschulten Sinnestaumel jetzt in einer im Vorjahr bei den Tiroler Festspielen Erl gezeigten Produktion zur Deutschen Erstaufführung. Hans Walter Richters Inszenierung macht auf fast unmerkliche Weise alles richtig. In dem angeschnittenen Bühnenraum von Johannes Leiacker verweisen die ausgesprochenen geschmackvollen Kostüme der Raphaela Rose und die wenigen Möbelstücke auf die Entstehungszeit. Gelegentlich öffnet sich, wenn Francesca und Paolo sich wegträumen, die Rückwand und zeigt Caspar David Friedrichs Ruine einer gotischen Kirche, deren filigranes Maßwerk wie Stein gewordene Musik wirkt. Die gar nicht kunstgewerblich hingetupften Tanzdoubles von Francesca, Paolo und Lanciotto greifen das Doppelgängermotiv der Romantik geschickt auf. Auch wenn Lanciotto mal wütend Stühle schmeißt, sein Vertrauter Guelfo das böse Buch anzündet, durch dessen Lektüre der Geschichte vom ehebrecherischen Verhältnis des Lancelot und der Guinevere sich Francesca und Paolo näherkommen, und überhaupt im zweiten Teil die Landschaft wie verkohlt wirkt, dominieren die Bilder keinesfalls die von Ramón Tebar mit Geschmack ausgefalteten Formen und Formeln der italienischen Oper der 1830er Jahre und deren virtuose Ausbreitung in den nahtlos ineinanderfließenden vokalen Linien. Von diesem Sog lässt sich auch Frankfurter Opern- und Museumsorchester zunächst sperrig, doch dann durchwegs inspiriert mitreißen.
Saverio Mercandate / Wikipedia/ Gemälde von Cefaly/ Wiki
Er scheint einer anderen Epoche anzugehören, obgleich Saverio Mercadantes Lebensdaten (1795-1870) nahezu identisch mit jenen Rossinis (1792-1867) sind. Wie der fast gleichaltrige Giovanni Pacini (1796-1867) profitierte er von Rossinis Rückzug von der Bühne. In den Schatten gedrängt wurde beider Schaffen zeitweise durch die Werke von Donizetti (1797-1848) und Bellini (1801-35). Doch über seine lange Schaffenszeit gelang es Mercadante eine bedeutende Schanierfunktion zwischen Rossini und Verdi einzunehmen. Mercadantes erste Oper kam 1819 in Neapel heraus, wo er mehr als 45 Jahre und rund 60 Opern später sein Schaffen 1866 mit der letzten vollendeten Oper Virginia beendete. Der ebenso fleißige Pacini brachte es zwischen 1813 und 1858 auf 70 bis 80 Opern. Geboren wurde Mercadante im schönen auf einer Anhöhe etwa 45 südwestlich von Bari und nicht weit vom Weltkulturerbe Matera liegenden Städtchen Altamura. Weniger als 100 Kilometer sind es bis Martina Franca, wo das Festival della Valle d’Itria viel für die Wiederentdeckung von Mercadantes Werken tat. Dazu gehörte 2016 auch die späte Uraufführung der Francesca da Rimini.
Nachdem er in Neapel als Hauskomponist am San Carlo Rossini nachgefolgt war, hielt sich Mercadante 1827-30 in Spanien auf, wo bei seinem zweiten Besuch in Madrid 1831 die geplante Uraufführung der Francesca da Rimini, ebenso wie später in Mailand, nicht zustande kam. Francesca wirkt wie aus einer anderen Zeit. Das liegt auch an einer gewissen metastasianischen Steifheit, mit der Felice Romani die Geschichte erzählt. Mercadantes große Werke der Reifezeit folgten erst wenige Jahre später mit I Briganti für Paris, Il Giuramento und Il Bravo für die Mailänder Scala; später konzentrierten sich die Uraufführungen auf das San Carlo. Mit seinem ursprünglich 1823 für Giuseppina Strepponis Vater Feliciano entstandenen Libretto folgte Felice Romani der von Mazzini ausgerufenen Rückbesinnung auf Dante, in dessen Werk sich „passione, amor patrio, orgoglio e forza nazionale“ vereinen und der in seiner Göttlichen Komödie im 5. Gesang des Inferno die Geschichte Francescas erzählt. Insgesamt schrieb Romani elf Libretti für Mercadante, der darüber hinaus weitere sechs Textbücher verwendete, die Romani bereits für andere Komponisten verfasst hatte.
Mercadantes „Francesca da Rimini“ an der Oper Frankfurt/ Szene/ © Barbara Aumüller
Getreu alter Muster hat Mercadante den drei Protagonisten jeweils ihre Arie im ersten Akt und ihre Szene im zweiten Akt zugeteilt. Er weitet die Seelenräume durch wenige Terzette und Quartette, wo Francescas Vater Guido hinzutritt, und umklammert und durchgliedert sie mit Chören, die mehr als nur Kommentar bieten. Die schicksalhaft von der Liebe zu Lanciottos jüngerem Bruder Paolo erfasste Francesca ist bei Jessica Pratt gut aufgehoben, die lange kristalline Kantilenen über die Ensembles spannt und deren etwas weißer Sopran vor allem in der Höhe Zauber und Reiz besitzt. In ihrer von der Harfe begleiteten Cavatina singt Pratt noch etwas schwerfällig lasch und mit körperloser Tiefe, doch ihre Gefängnisszene mit Englischhorn steigert sie mit stupendem Ziergesang zu einer bravourösen Primadonnennummer. Als Lanciotto besticht Theo Lebow nicht durch das verführerischste Timbre, aber sein charaktertenoral weinerlicher Ton greift das „Herzklopfen“ des betrogenen Ehemanns passgenau auf. Trotz der gekrähten Höhe realisiert Lebow die schwere Partie mit seinen Möglichkeiten sehr gut, da er ist ein sensibler Deuter ist, der in seiner großartigen mit süßen Zwischentönen ausgeleuchteten Szene zu Beginn des zweiten Akts zeigt, welche Wucht in Mercadantes Musik liegt. Mit ihrem hellen, technisch fundierten, nicht allzu großen, aber vielfarbigen Mezzosopran zeigt Kelsey Lauritano nicht nur in ihrer Rossini-Nummer im ersten Akt lieblich unaufdringliche Koloraturkunst und in ihrer Szene im zweiten Akt gestalterische Intensität, sondern ist Francesca und Lanciotto eine stilsichere Duett-Partnerin. Ausgezeichnet der farbenreich frische Bariton von Erik van Heyningen als Francescas liebevoller Vater Guido (26.2.23). Rolf Fath
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Les Russes: Staatstheater Meiningen: Deutsche szenische Erstaufführung von Georges Bizets fünfaktiger Grand opéra Ivan IV. Eine Blume spielt auch hier schon eine Rolle. Sie wird nicht dem arglosen Sergeanten Don José von der Fabrikarbeiterin Carmen zugeworfen, sondern Marie von einem Fremden überreicht, der sich mit einem Begleiter in den Bergen des Kaukasus verirrt hat. Sorgfältig schält er „la fleur“ aus dem Schnee und überreicht sie dem Mädchen, das sich auf Anhieb in ihn verliebt. Bald darauf sind die von Maries Vater Temrouk angeführten Tscherkessen in heller Aufruhr: „Les Russes“. Zar Ivan IV. lässt nämlich seine Soldaten aufmarschieren und Marie entführen. Dass es im Kaukasus und im Kreml, wo Marie schließlich im Zaren ihren geheimnisvollen Fremden erkennt, sich von ihm umwerben lässt und ihn heiratet, manchmal ein bisschen wie bei den Schmugglern in der wilden spanischen Bergen klingt, Rhythmik und Modulationen mehr von Spanien als dem Kaukasus künden und die Serenade von Iwans Begleiter, dem jungen Bulgaren, einen ebenfalls spanischen Tonfall hat, kommt nicht von ungefähr. 1863, fast zehn Jahre bevor er von der Opéra Comique den Auftrag zur Carmen bekam, hatte Georges Bizet das Libretto zu Ivan IV erhalten. Charles Gounod, der den Text von François-Hippolyte Leroy und Henry Trianon bereits vertont hatte, gab seine Rechte zurück, nachdem sich die Aussicht auf eine Aufführung an der Opéra zerschlagen hatte und rettete einige Passagen; der Soldatenchor in Faust stammt aus dem Ivan IV.-Projekt. Das gleiche widerfuhr Bizet, der auf eine Aufführung seines Ivan le Terrible am Théâtre Lyrique gehofft und anschließend mit der Grand Opéra verhandelt hatte. Die Grand opéra über Iwan IV., besser bekannt unter seinem Beinamen „der Schreckliche“, dem er durch ausgesucht sadistische Folterungen und Hinrichtungen seiner Widersacher gerecht wurde, blieb unaufgeführt. Spuren der Musik finden sich in anderen Werken Bizets. Erst Ende der 1920er Jahre tauchte das Autograph wieder auf. Und gar erst 1951 erfolgte in Bordeaux die Uraufführung, allerdings in einer Bearbeitung durch Paul Henri Büsser, der sich Aufführungen in Köln, Linz und Basel anschlossen. Die konzertante Aufführung der BBC in Manchester unter Brydon Thomas mit John Noble und Jeannette Scovotti ging anlässlich Bizets 100. Todestag 1975 unter Benutzung der von Howard Williams erstellten fünfaktigen Neufassung der Oper erstmals auf das Manuskript zurück. Williams hatte zu diesem Zweck den von Bizet nicht fertig orchestrierten letzten Akt ergänzt und orchestriert. Williams stellte diese Fassung 1987 in London und 1991 in Montpellier vor, Michael Schønwandt benutzte sie 2002 für seine Pariser Konzertaufführung mit Ludovic Tézier und Inva Mula. Nachdem ihm die Kammeroper St. Petersburg im Dezember 2022 mit der szenischen Uraufführung der fünfaktigen Fassung zuvorgekommen war, präsentierte das Staatstheater Meiningen (2023) jetzt die deutsche szenische Erstaufführung der fünfaktigen Fassung von Bizets Grand opéra mit dem Zusatz „5. Akt ergänzt und orchestriert von Howard Williams“.
Bizets „Ivan IV“ in Meiningen/ Szene/Foto Iberl
Den historischen Hintergrund zu Bizets Ivan IV., der auch in Tschaikowskys Opritschnik sowie in Rimsky-Korsakows Das Mädchen von Pskow und (indirekt) in Die Zarenbraut auftaucht, bildet Ivans Ehe mit Marija Temrjukowna (1511-69), der Tochter des tscherkessischen Fürsten Temrouk, welche Ivan nach dem Tod seiner ersten Gattin 1561 heiratete. Intrigen von Marias Vater Temrouk und ihrem Bruder Igor, die gemeinsame Sache mit Ivans falschem Vertrauten Yorloff machen, Attentate und Verschwörungen sowie Konflikte der Russen mit den muslimischen Bergvölkern bilden den zusammenfabulierten Hintergrund zu einer veritablen Grand operá. Das Problem bestand darin, dass die Gattung zur Zeit der Entstehung eigentlich bereits aus der Mode war, wenngleich in jenen Jahren (1865) noch Meyerbeers Africaine posthum aufgeführt wurde. Natürlich gibt es in Ivan IV. viele Schönheiten, geschmeidige Arien, wie Maries “Il me semble” oder die erwähnte Serenade des jungen Bulgaren „Ouvre ton coeur a l’amour“ – eine Hosenrolle, die in frühen Aufnahmen jedoch einem Tenor übertragen wurde – und Duette, darunter gleich anfangs das hübsch verspielte Duett der Marie mit dem jungen Bulgaren sowie das in ein Terzett der Verschwörer Yorloff/ Temrouk/ Igor mündende Duett von Vater Temrouk und Sohn Igor zu Beginn des dritten Akts und elegante Ensembles. Insgesamt bleibt der Fünfakter doch recht steif und bemüht. Die ersten beiden Finali sind große Würfe, vor allem das Ende des zweiten Aktes steigert sich zu einem dramatischen Szenenkomplex, wie er jeder italienischen Oper der Epoche gut angestanden hätte. Doch die musikalischen Entwicklungen sind vorhersehbar und in der zweiten Hälfte scheint Bizet irgendwie die Lust verloren zu haben. Aber das kann man dem Mittzwanziger Bizet, der keinen rechten Zugang zum Meyerbeer-Genre fand, kaum vorwerfen. Auch mit Les pêcheurs de perles, La jolie fille de Perth und Djamileh begab er sich nach Ivan IV. in exotische Regionen, bevor er mit dem ihm genauso fremden Spanien der Carmen bleibenden Erfolg hatte. Alle eventuellen Vorbehalte gegenüber dem Werk fegen Philippe Bach und die Meininger Hofkapelle am Premierenabend hinweg. Zusammen mit den nicht nur bei den Hochzeitsgesängen zu Beginn des dritten Aktes exzellenten Chören des Staatstheaters Meiningen kosten sie sowohl die feinen instrumentalen Delikatessen wie die pauschale Wucht dieser Grand opéra aus.
Bizets „Ivan IV“ in Meiningen/ Szene/Foto Iberl
Die Aufführung scheint mir besser gelungen als Bizets Kokettieren mit der Grand opéra. Intensive Episodenrollen liefern dazu Tamta Tarielashvili als aus dem Nonnenkloster erdig raunende Zarenschwester Olga, Andreas Kalmbach als russischer Offizier sowie Sara-Maria Saalmann als soubrettenmunterer Bulgare. Packend entworfen ist die Figur des Temrouk, dessen Hilferuf „Laissze-moi ma fille“ sich als eindringliche Melodie über dem ersten großen Ensemble wölbt. Paul Gay, der die Partie bereits 2002 in Paris unter Schønwandt gesungen hatte, bringt die Wucht seines erzenen Bassbaritons auch in Meinigen großartig zur Geltung, überragt im wahrsten Sinn des Wortes die Ensembles, singt mit eindringlicher Prägnanz und macht den mit alttestamentarischer Würde ausgestatteten Temrouk fast zur Hauptfigur; auf jeden Fall ist er der gewaltige Gegenspieler des Zaren. Vom jungen Liebhaber bis zum resignierenden, langsam im Wahn endenden Herrscher kann Tomasz Wija über die fünf Akte ein darstellerisch packendes Porträt vom körperlichen und psychischen Verfall des Zaren entwerfen und die erlittenen Blessuren mit seinem kantigen Bass nachzeichnen. Mercedes Arcuri sang die Marie mit zartem Vibrato, nicht unangenehm süß-säuerlichem Timbre und schöner Virtuosität in ihrer großen Arie im vierten Akt. Die darauf folgende Arie ihres als Selbstmordattentäter in den Palast eindringenden Bruders Igor, der von den heimatlichen Bergen, von Mutter und Schwester schwärmt, klingt wie Micaelas Gruß von der Mutter. Alex Kim singt das mit jungheldischem Willen, zu viel Überdruck und unebener Linie. Im anschließenden, zwar subtilen, aber auch länglichen Duett sind beider Stimmen nur noch erschöpft. Doch dann geht es gegen Ende des 4. Aktes auch Schlag auf Schlag. Der Kreml brennt, Ivan verfällt dem Wahnsinn, der von Shin Tamiguchi mit vornehmer Durchtriebenheit gesungene Bojar Yorloff verkündet den angeblichen Tod des Zaren. Doch Ivan kann sich aus dem Kerker befreien, schwingt sich zu alter Kraft auf, bestraft den Verräter und rettet Marie und ihren Bruder vor der drohenden Hinrichtung. Fortsetzung folgt in Boris Godunow. In schlicht einprägsamen Bildern, die manchmal suggestive Kraft entwickeln, hatte Hinrich Horstkotte diesen Ivan IV. wie als Vorgriff auf Mussorgskys Drama in einer Mischung aus Kultur- und Religionskrieg und persönlichen Schicksalen entworfen, von der Schüssel, in der Ivan seine Blut getränkten Hände reinigt, der langen Tafel, auf der der junge Bulgare den Übergriffen der Soldaten ausgesetzt ist, der Krönung, bei der der Zar mit Gold überschüttet wird, bis zu den stillen Bildern in der Kammer der Marie mit dem Baldachin-Bett und den Schlussbildern mit der Niederschlagung der Palastrevolution und dem riesigen weißen Tuch, das sich, gelb und blau angestrahlt, über die Massen senkt. Großer Jubel deshalb für den Regisseur, der selbst die Ausstattung besorgt hatte, noch größerer Jubel für alle Mitwirkenden (.24.2.23) Rolf Fath
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Vaincre mourir: Theater Erfurt: Rossinis französische Tragédie lyrique Le Siège de Corinth – Mehr als ein One-Night-Stand. Pamyra hat sich in den Mann, der sich Almanzor nennt, verliebt. Leidenschaftlich vergnügt sie sich mit ihm im Bett. Lustvoll und elegant tastet die Kamera die Dessous und Körper ab. Es bleibt während der Ouverture noch genügend Zeit, um vom Videodesign von Mayke Hegger und Lukas Eicher zu den Schrecken einer kriegerischen Belagerung zu schwenken. Ein Mann wiegt den blutenden Körper eines Kindes auf seinen Knien, Menschen, teilweise mit Gasmasken, irren verwirrt durch die bedrohte Stadt und die Scharen der Flüchtenden – die in großer Zahl herbeigeströmte Bürgerstatisterie – kauern sich verängstigt um ihren Anführer Cléomène. Korinth wird vom türkischen Sultan Mahomet II. und seinen Truppen belagert. „Vaincre ou mourir“, „Siegen oder sterben“. Die Devise wird auf der Rückwand ausgegeben und in den Momenten der Erhebung gegen die Feinde neu entrollt, bevor sie von den Belagerern durchbrochen und ein Schmerzensmann aufgehängt wird. Mohamet selbst erscheint. Ein Schock. Pamyra, die sich in Erinnerung an die Liebesnacht gerade noch weigerte, den jungen griechischen Krieger Néoclès zu heiraten und auf Wunsch ihres Vaters Cléomène sich lieber das Leben nehmen soll als zur Sklavin zu werden, erkennt im feindlichen Anführer ihren Geliebten Almanzor.
Rossinis „Siège de Corinth“ in Erfurt/ Foto Edelhoff
In Paris, wo Gioachino Rossinis Oper über die Belagerung von Korinth im Oktober 1826 uraufgeführt wurde, war klar, für wen die Herzen der Bevölkerung schlugen. Pamyra entscheidet sich für ihr Volk, entsagt ihrer Liebe zu Mahomet und lässt sich vom Vater mit Néoclès verheiraten. Ein letztes Gebet, „Juste ciel“, dann ersticht sie sich vor den Augen Mahomets, dessen Hand sie immer noch zärtlich umfasst. Das große patriotische Gemälde, mit dem Rossini und seine Autoren quasi Tagespolitik kommentierten und Partei für die Griechen ergriffen, entfaltet auch bei seiner Aufführung am Theater Erfurt seine Wirkung. Mit Pathos und flammender Inbrunst beschwört der Priester Hiéros die Vision eines freien Griechenlands. Die Chöre strömen in den Zuschauerraum und rücken den Besuchern mit ihren patriotischen Kriegsparolen „Nous verrons dans les champs de la gloire“ dicht auf die Pelle. Dem Eindruck kann man sich nicht entziehen. Der Inszenierung von Markus Dietz fehlt es nicht an beklemmenden Kriegsszenarien, aber sie lässt im dezent und elegant ausgeleuchteten zweiten Akt während den Vorbereitungen zu Hochzeit Pamyras mit Mahomet mit den ebenso dezent und eleganten schwarz-goldenen Kostümen Raum für Sinnlichkeit und die immer noch knisternde erotische Anziehung zwischen Mahomet und Pamyra. Sachter Goldregen. Dann wieder Krieg. Mahomets Auto ist ausgebrannt, Feuer überall, auf der Drehbühne (Ines Nadler) dreht sich Pamyra bei ihrem Gebet wie im Taumel.
Mit dem Siège de Corinth hatte Rossini geschickt die Gefühle seines Publikums erkannt. „Paris“, so die Dramaturgie, „war ein aktives Zentrum der Unterstützung des griechischen Aufstands und die politische Bedeutung des Werkes war offensichtlich. Es handelte sich wahrscheinlich um eine der ersten Opern, die sich direkt mit der aktuellen Geschichte auseinandersetzte“. Zunächst ging es wahrscheinlich darum, die Tore der Académie Royal zu stürmen, wo er eine seiner bereits in Italien aufgeführten Opern zu einer französischen Tragédie-lyrique um- und neuschrieb. Als sich Rossini 1824 in Paris niederließ, um mit Ferdinando Paër das Théatre Italien zu leiten, an dem er im folgenden Jahr Charles X. und zu dessen Krönung in Reims mit Il viaggio a Reims seine Referenz erwies, streckte er rasch seine Fühler nach der Académie Royal de Musique aus. Nicht ungeschickt folgte er dem Beispiel Sacchinis, der für seinen Einstand in Paris einst zwei seiner italienischen Opern umgearbeitet hatte. Rossini wählte Maometto II. und Mosè in Egitto aus. Auf diese Weise wurde aus dem in Neapel wenig erfolgreich uraufgeführten Dramma per musica in zwei Akten Maometto II. die dreiaktige Tragédie lyrique Le siege de Corinthe. Die Handlung wurde von der unter venezianischer Herrschaft stehenden Insel Negroponte des Jahres 1470 in das Korinth des Jahres 1458 verlegt. Der Eroberer ist der gleiche: Sultan Mehmed II. bzw. Maometto II. oder Mahomet II., der nach dem Fall von Konstantinopel und dem Ende des Byzantinischen Reiches seinen Machtbereich sukzessive erweiterte. Luigi Balocchi und Alexandre Soumet übersetzten und passten das ursprüngliche Maometto-Libretto an und schufen neue Teile. Die Verlegung nach Korinth sicherte der 1826 uraufgeführten Oper zudem plötzlich politische Relevanz, war doch Lord Byron zwei Jahre zuvor im Freiheitskampf für die Griechen in der Stadt Messolongi gefallen, die sich heftig dem Osmanischen Reich entgegenstemmte. Begeisterung für das Griechentum, doch vor allem Rossinis Einbettung des Belcantos in die rezitativisch durchgliederten Großformen der Tragédie lyrique garantierten der ersten französischen Oper Rossinis, die sich nach der glänzenden Uraufführung rund zwanzig Jahre auf dem Spielplan des Hauses hielt, ihren Erfolg. Die unmittelbar anschließend auch in Deutschland aufgeführte Oper scheint jedoch hierzulande in den letzten Jahrzehnten nicht gespielt worden zu sein.
Am Theater Erfurt kam jetzt die neue wissenschaftlich-kritische Neuausgabe von Damien Colas zur Aufführung (Besuchte Aufführung am 25.2.23), deren Entstehung durch die schlechte Quellenlage erschwert wurde, da kein Autograph existiert und ab der ersten Aufführung Striche, Veränderungen und Ergänzungen vorgenommen wurden. Philip Gosset nannte Siege denn auch „the impossible opera“.
Rossinis „Siège de Corinth“ in Erfurt/ Foto Edelhoff
Erstmals erklungen war Colas‘ Edition 2017 beim Rossini-Festival in Pesaro unter Roberto Abbado (mit Luca Pisaroni als Mahomet II. und Nino Machaidze als Pamyra). Der Eindruck war in Erfurt am Ende ein starker, was sich zu Beginn der Aufführung so nicht abzeichnete. Der Klang der weit um den Orchestergraben formierten Chöre wirkte doch etwas getrübt und gestreut, bevor sich der Chor des Theaters Erfurt zu einer mächtigen Leistung sammelte. Stärker als in anderen Aufführungen merkte man dann, dass die Belagerung vor allem eine Choroper ist. Anfangs ließ Yannis Pouspourikas den Puls der Musik zu sachte schlagen, das Philharmonischen Orchesters Erfurt spielte eckig, eher aggressiv und hart als leidenschaftlich, bevor sich spätestens im dritten Akt nach der Pause ein gerundeter, feierlich breiter Klang einstellte und die zunächst anämische Aufführung an Feuer gewann, was nicht an den Flammen in den Metallkesseln lag. Wohl eher an Rossinis Schreibweise und seiner Kunst, Szenenblöcke zu hinreißender Wirkung zu bringen und in der Szene des Priesters noch eine Melodie von ausgesuchter Schönheit zu erfinden. Mit seinem wohlig runden Bassbariton war Arturo Espinosa als Mahomet ein softer Macho, mehr Liebhaber als Kriegs-Manager, mit schöner Beweglichkeit, reicher Farbgebung und eindringlicher Phrasierung. Keine typischen Rossini-Tenöre sind Luc Robert und Brett Sprague. Der Kanadier Luc Robert sang den Cléomène mit einem Spintotenor von erstaunlicher Wandlungsfähigkeit, nicht ganz ungefährdet, aber markant. Als Feinripp-Krieger Néoclès gefiel der Amerikaner Brett Sprague mit einem schön durchgebildeten lyrischen Tenor und fein angebundenen Höhen. Beide steigerten das große Terzett mit Pamyra im 3. Akt, die Hochzeitszene, zu einem musikalischen Höhepunkt der Aufführung. Der leichte lyrische Sopran von Candela Gotelli, etwas farblos und flach, kann die Partie der Pamyra noch nicht ausschöpfen, aber die Argentinierin agierte mit Feuer und Leidenschaft. Edel und elegant der helle Bass von Emanuel Jessel als Hiéros. Die Vertrauten der Pamyra, des Cléomène und Mahomet gaben Valeria Mudra, Jörg Rathmann und Tobias Schäfer (25.2.23). Rolf Fath
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.Uraufführung in Ulm: „Iseut“. Dreimal flüstert Tristan den Namen der Geliebten „mit den letzten Atemzügen“. Dann stirbt er und „die in der Ferne läutenden Glocken mischen sich unter die Stimmen“, die vom Ort ewiger Liebe künden, „wo alle Schönheit aufblüht“, während sich Iseut stumm zu Tristan legt und stirbt. Kein Liebestod. Natürlich nicht. „Nach den drei ›Iseut!‹ löst sich die Seele von der Hülle und befindet sich sofort inmitten der heiteren Regionen, und dann beginnt das Konzert der Oboen…. Es ist alles in allem ein herrliches, endloses, spirituelles Fest, das ich dem Orchester mit einer Glocken-Sinfonie überantworten möchte,“ beschreibt Charles Tournemire das Ende seiner Légende de Tristan. Charles Tournemires 1925/26 komponierte und ursprünglich zur Aufführung an der Pariser Opéra bestimmte La Légende de Tristan ist ein Gegenentwurf zu Wagners Tristan und Isolde. Sublim in Ausdruck, Musik und Gestik. Keine überbordende Liebesnacht-Leidenschaft, sondern als Eingeständnis, dass die Trennung die letzte Prüfung ihrer Liebe sei, Iseuts Rückzug in die Ehe und Tristans Flucht in Einsamkeit und schließlich sein Tod. Das Theater Ulm holte mit der Uraufführung von Tournemires La Légende de Tristan jetzt ein Versäumnis nach, das auch eine französische Bühne inspirieren sollte. Der 1870 in Bordeaux geborene und im Alter von 69 Jahren in Arcachon gestorbene Charles Tournemire griff dazu auf den im Jahr 1900 erschienen Roman de Tristan et Iseut zurück, in dem der Romanist und Mittelalter-Spezialist Joseph Bédier die alten französischen und englischen Quellen neu ordnete: Irland wird von einem Drachen beherrscht. Ein Fremder taucht auf, bezwingt den Drachen und darf als Belohnung Iseut, die zu spät in ihm den Mörder ihres Onkels Morholt erkennt, zur Braut nehmen. Tristan tut das nicht für sich selbst, sondern will Iseut seinem König Marc von Cornwall als Braut zuführen. Um für eine glückliche Ehe zu sorgen, hat die Gesellschafterin Brangien einen Liebestrank vorbereitet, den Iseut und Tristan ahnungslos trinken und in Leidenschaft zu einander entbrennen. Der König bemerkt die Vertrautheit der beiden und wird durch den Zwerg Frocin in seinem Misstrauen bestärkt. Bei ihrem Stelldichein merken Iseut und Tristan, dass sie vom König und dem Zwerg belauscht werden und verhalten sich zurückhaltend, worauf Marc von der Treue Tristans überzeugt ist. Die Liebenden entfliehen. Schlafend werden sie von dem König entdeckt, der weiterhin von Tristans Treue überzeugt ist, als er Tristans trennendes Schwert zwischen den beiden erblickt. Heimlich vertauscht er Tristans Schwert mit seinem eigenen. Tristan erkennt die Botschaft und drängt Iseut, zu ihrem Gemahl zurückzukehren. Tristan zieht in die Welt, wird aber von Sehnsucht nach Iseut verzehrt und kehrt in der Verkleidung eines Narren an den Hofs Marcs zurück, wo die Liebenden endgültig Abschied von einander nehmen. Im achten und letzten Bild findet Tristans Seele, wie es in der Inhaltsangabe heißt, im Jenseits ihren Frieden.
Charles Tournemires „Légende de Tristan“ in Ulm/ Szene/ Foto Jochen Klenk
Basierend auf Tournemires Szenarium verfasste ein anderer Mediävist, der Sorbonne-Professor Albert Pauphilet, Anfang der 1920er Jahre das Libretto, das in acht Bildern Tristans Leidensweg entwirft. An dieser Zeitenwende nach dem Ersten Weltkrieg setzt auch die handfeste, manchmal überdeutliche Inszenierung des Ulmer Intendanten Kay Metzger an, der die Wiederentdeckung nachdrücklich und verdienstvollerweise betrieben hatte. In einem Salon mit üppig bestückten Bücherregalen kümmern sich Krankenschwestern um die Kriegsverletzten, schart sich die adelige Familie um einen der ihren, den toten Onkel Morholt, und versucht die Dienerschar das kriegerische Geschehen auszublenden. Ein gegnerischer Offizier stürmt herein, gewinnt sich Ansehen durch seinen tapferen Kriegseinsatz, was durch Videoeinblendungen dramatischer Kriegsbilder unterfüttert wird, und erhält die Tochter des Hauses (Ausstattung: Michael Heinrich). Im unveränderten Ambiente trifft Iseut ihre Hochzeitsvorbereitungen, während Tristan sich mit Rasiermesser und -Schaum Kriegserlebnisse aus dem Gesicht schabt. Bald ist sie eine anständige Hausfrau mit züchtiger Hochsteckfrisur, die sich im vorgeblichen Stelldichein, das von dem hinter dem Weihnachtsbaum versteckten Marc beäugt wird, zurückhaltend gibt. Erst, als Iseut und Tristan in den Wald fliehen, geben sie den Salon für ein enges „Bohème“-Dachzimmerchen auf, in dem sie an der Nähmaschine werkelt und ihm nichts anderes übrigbleibt, als auf dem Bett zu lagern. Nach ihrer Trennung kehrt Tristan als Narr verkleidet während eines Maskenfestes nochmals in den Salon zurück, um für immer Abschied von Iseut zu nehmen. Als er zuletzt sterbend auf einer Bahre hereingetragen wird, ist er für Krankenschwester Iseut nur noch eine Schimäre ihrer einstigen Liebe. Das vollzieht sich musikalisch und szenisch sehr flüssig, ruhig und in einer nachtwandlerischen Folgerichtigkeit, als seien Iseut und Tristan Kinder von Pelléas et Melisande, die Pauphilets altertümlich steifen Text Silbe für Silbe singdeklamieren, ohne Verzierung und Ausschmückung, ohne Wiederholung, fast spröde und skelettiert, wodurch der viele Text in weniger als 2 ½ Stunden untergebracht werden kann.
Die spätimpressionistischen Tonvaleurs erhitzen sich nur ganz kurz im „Liebesduett“ am Ende des zweiten Aktes, wo sich Iseut zum vollen Bekenntnis „Je t’aime“ aufschwingt und An de Ridders schöner Sopran seine üppige Mittellage entfalten kann, während Markus Franckes charaktervoll schlanker Spezialtenor vor allem den entrückten Tristan des dritten Akts, der auf dem „Schmerzenfelsen“ von den „Tränen der Wellen und des Nebels“ phantasiert oder im „Der wahnsinnige Tristan“ überschriebenen vorletzten Bild mit sarkastischen Untertönen die Geschichte rekapituliert, an starkem Ausdruck gewinnt. Noble Haltung in den langen Gesangsphrasen und der klaren Textbehandlung zeichnen Dae-Hee Shins Roi Marc aus, während der Spieltenor Joshua Spink als Zwerg Frocin zu ätzendem Sprechen und grellen Sprechgesang angehalten ist, I Chiao Shin als Brangien erdig verglühende Mezzotöne beisteuert und Chor und Extrachor eine mythisch, neoklassizistisch eindringlichen Haltung einnehmen. Für Tournemires Musik finden sich schwer Vergleiche. Oder ganz viele, nicht nur von Debussy bis Strawinsky, von Gregorianik bis Impressionismus. Das Philharmonische Orchester der Stadt Ulm und GMD Felix Bender reizen sowohl die kammermusikalische Intimität der Partitur aus wie die atmosphärisch bezwingende, gegen Ende rauschhaft steigernde Intensität der Zwischenspiele, das Spiel mit altertümlichen Formen und neuer Anverwandlung, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg „Les Six“ proklamierten, und den Wechsel aus herben Signalen und spielerischer Jagd-Szenerie, entrückter Klangmalerei und spröder Wort-Ton-Behandlung. Warum die Oper nicht aufgeführt wurde, ist nicht bekannt. Klingen in ihr doch nochmals der Französische Wagnérisme und die Beschäftigung mit mittelalterlichen Stoffen und Legenden nach, wie man sie in Reyers Sigurd von 1884, Lalos Roi d’Ys von 1888, Magnards Guercoeur von 1901 (erst 1931 uraufgeführt), Chaussons Roi Arthus von 1903 und auch in Hulda und Fervaal von Tournemires Lehrern César Franck und Vincent d’Indy sowie in den symbolistischen Maeterlinck-Märchen von Debussy (Pelléas et Mélisande) und Dukas (Ariane et Barbe-bleue) findet. Tournemire soll kein liebeswürdiger Zeitgenosse gewesen sein. Das allein kann kein Grund gewesen sein.
Charles Tournemires „Légende de Tristan“ in Ulm/ Szene/ Foto Jochen Klenk
Tournemire hatte bei Franck und D’Indy sowie Charles Widor studiert, wirkte ab 1898 bis zu seinem Tod als direkter Nachfolger von Gabriel Pierné als Organist an der Pariser Kirche Sainte Clotilde Kirche, deren Organistin auch Franck gewesen war, und lehrte ab 1919 als Professor am Conservatoire. Als Organist und Orgelimprovisator wurde er bewundert: Eingeweihten ist er heute als Komponist gewaltiger Orgelwerke, darunter sein Hauptwerk L’Orgue Mystique, zu denen er sich in der Abgeschiedenheit auf der Insel Ouessant vor der bretonischen Küste inspirieren ließ, und acht Orchestersinfonien bekannt – zur Vorbereitung auf die bereits für Mai 2020 zum 150. Geburtstag des Komponisten geplante Uraufführung hatte des Ulmer Philharmonische Orchester 2019 seine dritte Sinfonie „Moscou 1913“ gespielt. Für die posthume Uraufführung ließ das Theater eigens von Michael Weiger eine Edition erstellen, der die Musik so zu beschreiben versucht, „Vielleicht könnte man seine Musik als frühen ›französischen Expressionismus‹ bezeichnen. Ähnlich wie z.B. Max Reger und Richard Strauss in Deutschland bildet Tournemire farbige Akkorde, die sich nicht mehr unbedingt auflösen, er verwendet mutig Dissonanzen, die uns einmal dramatisch schroff und ein andermal ›modern‹ erscheinen. Ähnlich wie diese geht er harmonische ›Wagnisse‹ ein, er experimentiert in seiner Klangsprache, ohne wirklich atonal zu komponieren. Im Gegensatz zu den weicheren idyllischen Akkordfärbungen des Impressionismus erscheinen seine Klänge eher nüchterner und trockener, er sucht nach Mitteln, um noch zu übertreffen, was romantische ›Ideale‹ erlauben, und wählt dem Zeitgeist entsprechend als sein Instrument ein hochdimensioniertes expressives Sinfonieorchester. Im Graben der Weltpremiere in Ulm findet sich ein umfangreiches Instrumentarium wie z.B. 3 Fagotte, Sarrusophon, 4 Posaunen, Tuba, 2 Harfen, Celesta, Baritonoboe, Basstrompete, Tamtam und Glocken, um nur einige hervorzuheben.“ Rolf Fath
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Massenet in Lyon: Eigentlich müsste die Oper natürlich Salomé nach ihrer Hauptrolle heißen, denn Mutter Herodiade hat nicht viel Solistisches zu tun und wirkt eher in den Ensembles und Duetten. So erscheint es merkwürdig und nur aus der Genesis des Werkes erklärbar, dass Massenet sein Jerusalem-Drama nach der Mutter und nicht nach der Tochter benannte.
Die konzertante Aufführung dieser Hérodiade nun an der Opéra National de Lyon im November 2022 genussvoll erleben zu können, ohne die Augen schließen zu müssen und Angst vor den Grauenhaftigkeiten der Regie haben zu müssen, wie es kürzlich in der Bastille der Fall war, ließ den Fan nach Lyon reisen Es überrascht und Heutige einmal mehr, dass das Libretto von Paul Milliet und Henri Grémont nach der Novelle Hérodias (1877) von Gustave Flaubert genug von dem Riskanten aufweist, was bei den Aufführungen in Lyon 1885-1886 einen Skandal auslöste und dass die Oper bis 1926 von den katholischen Behörden Frankreichs auf den Index gesetzt wurde. Naja, was könnte schließlich für damalige Zuschauer unanständiger sein, als sich einen Wüstenrufer Johannes vorzustellen, der kurz vor seinem Märtyrer-Tod plötzlich von der Flamme des sinnlichen Verlangens durchdrungen wird („wet dreams“ nannten das meine amerikanischen Kollegen respektlos), wenn er sich an seine junge, exaltierte Verehrerin erinnert. Und wie ist es mit den erotischen Träumereien des Herodes, die mit einem üppig satinierten Saxophon verziert sind, und dessen „Vision fugitive“ ein einsames Solo auf der Couch suggeriert? Im römisch besetzten Jerusalem sucht Rabenmutter Herodias Rache an ihrer Rivalin Salome, die niemand anderes ist als die Tochter, die sie nach ihrer Geburt weggegeben hat und die Herodes mit seiner Leidenschaft verfolgt. Während Salome, unter dem Zauber der Stimme des Propheten Johannes, diesem ihre reine und aufrichtige Liebe anbietet. Die er angesichts seiner göttlichen Mission ablehnen muss (und die ihm dennoch, wie Herodes, heiße Visionen bereiten). Dies ist die klassische Dynamik von Racines Andromaque, gewürzt mit einem Quentchen Inzests und mit einer verwirrten Salome, die sich selbst opfert, um Johannes in die Unsterblichkeit zu folgen.
Zurück zum Konzert: Die Diktion der Solisten in Lyon war durch die weitgehend franco-kanadische Allianz der Mitwirkenden gesichert, denn Nicole Car als Salomé (Vehikel solcher Primadonnen wie Sanderson und Sutherland) – unbestritten als Star der Aufführung – ist Kanadierin und trug den Abend mit ihrer kompetenten, höhensicheren Deutung der Partie. Die Stimme ist merkwürdig kehlig im mittleren und tiefen Bereich bei einer stupenden Höhe, die jedoch eine ganz andere Farbe zeigt als der Rest der Stimme. Sie scheute sich nicht vor ein paar überraschenden Brusttönen und blieb für mich merkwürdig distanziert, kühl in ihrer Verehrung des Propheten. Dieser war bei Jean-François Borras in unruhiger Kehle, jung, zerquält, gut angelegt und erfreulich, mir zu wenig viril und heroisch, kein Rufer in der Wüste, sondern ein eleganter White-Colar-Vertreter seiner Kirche im schwarzen Sekten-Anzug. Als Hérode enttäuschte mich Etienne Dupuy mit recht locker werdendem und recht hellem Bariton eher nur mittlerer Größe, der Vorgänger wie Robert Massard nicht vergessen machte. Wie sein Tenorkollege war er mir zu glatt in der Aussage, zu „normal“ und zu wenig royal, wenngleich natürlich sein „Vision fugitive“ als Showpiece berechtigten und langanhaltenden Beifall nach sich zog. Als Phanuel zeigte sich der in operalounge.de kürzlich wegen seines herausragenden Robert le Diable so gelobte Nicholas Courjol bei schütterem Bass-Stimme-Zustand, namentlich in der Höhe – war´s eine Abendverfassung? Die beim Palazzetto geplante Aufnahme eben diesen events wird´s zeigen. Aber durchgehend stellte ich beim Hören im Saal eine doch störende, unangenehme Unruhe in den Stimmen fest, ein über ein gesundes Vibrato hinausgehendes, zu weites vokales Schwingen, sowohl bei der Sopranistin unter Druck wie vor allem beim Bariton und dem wirklich nicht sehr prophetisch klingen Tenor.
Die kleineren Rollen wurden von Mitgliedern des Lyoner Opernstudios gegeben (Pawel Trojak, Pete Thanapat, Robert Lewis, Giulia Scopelliti) und hinterließen beste Eindrücke.
Der dicke Schmutzfleck auf dem im ganzen ordentlichen Gemälde war die Leistung bzw. Wirkung der Titelvertreterin, Yekaterina Semyonchuk, die ihre Hérodiade mit der Schankwirtin im Boris Godunow verwechselte. Bereits als Didon in der Troyens an der Bastille fiel sie durch ihren qualligen, amorphen, brustigen und zutiefst unfranzösischen Ton auf, und ihre Aussprache kann nicht einmal beim Goetheinstitut in Perm gelernt worden sein. Ein Totalausfall, der an Vorgängerinnen wie Elena Obraztsova (als Massenets Charlotte zum Beisipiel) erinnert, brrrrr. Was für eine Wahl für dieses Konzert und die nachfolgende Aufnahme.
Dirigent und Chef des fabelhaften Klangkörper der Opéra National de Lyon ist Daniele Rustioni, ein junger Mann aus Italien. Mir war er zu flott, zu unsinnlich, zu fetzig, vielleicht zu „modern“ – und ein Vergleich mit seinem älteren Kollegen Michel Plasson (EMI) ließ dessen Klangbehandlung, dessen Üppigkeit der Streicher und der Holzbläser überzeugender scheinen (und wo Denyce Graces als Hérodiade ihre russische Kollegin mit Verachtung hätte strafen können, auch sprachlich). Auch die ältere Aufnahme des Pariser Radios von 1974 unter David Lloyd-Jones mit der wunderbaren Nadine Denize in der Titelpartie zeigt größeren Raum für bauchtanzschwingende Sinnlichkeit. Die neue Aufnahme beim Palazzetto wird es da schwerer haben, zumal als Triblette des Bekannten. Man fragt sich eh, warum nun eine neue, wenn die EMI-Einspielung unter Michel Plasson doch eine so solide ist. Die Götter in Venedig werden´s wissen. Herbert Schneider
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In Gießen: Asolo, unweit des Grappa-Zentrums Bassano nel Grappa mit seiner eindrucksvollen Holzbrücke nach einem Entwurf Palladios, gehört zweifellos zu den schönsten Orten Italiens. Hier residierte die ehemalige Königin von Zypern zwanzig Jahre bis zu ihrem Tod 1510 mit ihrem Hofstaat. Rang und Tittel einer Königin durfte Caterina Cornaro behalten, umgeben von Dichtern, Gelehrten und Künstlern, wurde sie damit für den Verlust ihrer Macht entschädigt: ein kostbares Exil und Leben in goldenen Käfig unter Aufsicht der Republik Venedig, die sie als Spielball in ihrem Machtspiel um Zypern eingesetzt hatte.
Wer war diese aus dem alten venezianischen Patriziat der Corner, die sich mit Palästen am Canal Grande verewigten und als Dogen in die Geschichte Venedigs einschrieben, stammende Caterina, die Gentile Bellini und Tizian malten und die zum Gegenstand von fünf Opern wurde? Am Stadttheater Gießen, das Gaetano Donizettis letzte zu seinen Lebzeiten uraufgeführte Oper Caterina Cornaro erstmals auf eine deutsche Bühne brachte, betreibt Regisseurin Anna Drescher ein bisschen Volkshochschule und lässt vor der Introduzione eine Stimme aus dem Off locker über Caterina plaudern: Sie war eine gute Partie, da ihre Familie u.a. mit dem Handel von Zucker reich geworden war. Im Alter von 14 Jahren wurde sie in Venedig in dessen Abwesenheit mit Jakob II. von Lusignan, dem König von Zypern, verheiratet. Handelsinteressen und Sicherung des Thronanspruchs gingen eine vorteilhafte Verbindung ein. Erst 1472 segelte Caterina nach Zypern, wo sie abermals mit Jakob II. verheiratet wurde. Bald starb ihr Gatte, ebenso der Thronfolger. Caterina wurde Königin von Zypern, doch bald von der Republik zur Abdankung gezwungen. Das dann eingeblendete Porträt Bellinis zeigt keine schöne Frau.
Und damit springt die Aufführung endlich in die Oper, die dort beginnt, wo andere enden, nämlich mit den Hochzeitsvorbereitungen und Freudenchören. Doch noch bevor Caterina ihre Hand dem jungen Franzosen Gerardo reichen kann, wird Vater Andrea Cornaro vom Vorhaben der Republik unterrichtet: Gerardo werde ermordet, wenn Caterina nicht Lusignano ehelicht. Die bunte Feier mit Luftballons und ausgelassenen Partygästen hatte begonnen, eine junge Frau vollführte auf der Trampolin-Tafel unentwegt Luftsprünge, was ein bisschen vom Caterina-Gerardo-Duett „Tu l’amor mio, tu l’iride“ ablenkt, das überdeutlich an Norinas und Ernestos „Tornami a dir“-Duett angelehnt ist und daran erinnert, dass Donizetti seine im Herbst 1842 begonnene Arbeit an Caterina Cornaro unterbrach, um Don Pasquale zu schreiben; zudem arbeitete er noch für Wien an Maria de Rohan und Paris an Dom Sébastien.
Donizettis „Caterina Cornaro“ in Gießen/ Szene/ © Rolf K. Wegst
Die Stimmung kippt, als der wackere Tomi Wendt, der in der Basspartie des Cornaro nicht gut aufgehoben ist und schütter klingt, die Hochzeit abbläst, worauf eine heftige Tortenschlacht entsteht und er mit Küchenstücken beworfen wird. Als Sprachrohr der Republik, das durchaus eigene Interessen vertritt, ist der als schwarzer Drahtzieher mit Gothic Sidecut mephistophelisch böse durch die Szenen staksende und mit charaktervollem Bass jonglierende Kanadier Clarke Ruth als Mocenigo eine Wucht. Caterina willigt in die Ehe mit Lusignano ein und erklärt Gerardo, ihn nicht mehr zu lieben. Ende des in Venedig spielenden Prologs. Die folgenden beiden Akte spielen auf Zypern.
Nicht mal zwei Stunden braucht Donizetti für die im Januar 1844 in seiner Abwesenheit in Neapel uraufgeführte Oper, wo sie rund 130 Jahre später von Leyla Gencer wieder dem Vergessen entrissen wurde. Den Text schrieb ihm Giacomo Sacchèro, der, wie auch Lachner, Balfe und Pacini, dazu auf das Libretto von Jules-Henri Vernay de Saint-Georges für Halévys La reine de Chypre von 1841 zurückgriff. Alles geschieht bei Donizetti in größter Gedrängtheit, knapp und feurig, ohne größere Verzierungen im Gesang und in der Handlung; im Prolog lässt sich Caterina zwar noch von der Barkarole der Gondoliere verzaubern, aber ansonsten sind die Chöre von martialischer Wucht, sowohl die gedrungenen, blutbeschmierten Mörder der Serenissima („Core, e pugnale!“) wie die erschreckten Frauen im zweiten Akt („Oh ciel! Che tumulto! Che fieri lamenti!“), die damit auf das zur Verteidigung Lusignanos angestimmte und von „Guerra, guerra!“ und „Morte, Morte!“ durchsetzte Kriegsgeheul von Gerardo und seinen Soldaten reagieren. Die Arien sind relativ schmucklos, nicht ganz ohne Reiz – etwa Caterinas Cavatina und ihre Preghiera, Lusignanos Klage über die Kälte seiner Frau, in der Grga Peroš mit körnig ausladendem Edelmaß wie der ebenso frustrierte Luna klingt, oder Gerardos Cabaletta-Ruf zu den Waffen, der den Manrico vorwegzunehmen scheint, aber oft auch etwas blutleer und leidenschaftslos und wie aus der dramatischen Situation entrückt. Lusignano wehrt einen Angriff auf Gerardo ab. Beide erkennen sich als Landsleute und kommen sich, nachdem Gerardo gestanden hat, dass er sich am König für den Verlust Caterinas rächen will und Lusignano sich als ebenjener König zu erkennen gibt und über seine Ehe klagt, derart nahe, dass Drescher die Szene mit innigen Berührungen und einem Kuss enden lässt. Selbstlos und ungeachtet der Etikette lässt der König Gerardo mit Caterina allein. Keine alte Liebe brandet auf, stattdessen Entsagung, wie bei Elisabetta und Carlos.
Donizettis „Caterina Cornaro“ in Gießen/ Szene/ © Rolf K. Wegst
Nach dem Prolog baut Drescher auf starke Bilder (Tatjana Ivschina), die in ihrer Düsterheit durchaus suggestive Kraft besitzen, verbannt Caterina in eine Vitrine, von wo aus sie im historischen Gewand den Ereignissen zuschaut und selten zu Beteiligten wird. Erst am Ende, nachdem Lusignano tödlich getroffen ist und von Gerardo und Caterina Abschied genommen hat, reißt sie in ihrer Schlußcabaletta „Non più affanni“ („Schluss mit den Ängsten“) die Macht an sich. Hier entlockt die uruguayische Sopranistin Julia Araújo ihrem lyrisch verschatteten Sopran Farben und dramatische Akzente, die der von Donizetti nicht überstark gezeichneten Titelgestalt Profil verleihen. Offenbar immer noch von einer Erkältung gezeichnet, die ihn spätestens in der Begegnung mit seiner einstigen Geliebten einholt, zeigte Youngggi Moses Do als Gerardo dennoch mit flüssigem Ton und elegant verblendeter Höhe einen bemerkenswert schön timbrierten Tenor von bester Donizetti-Qualität. Gießens neuer Kapellmeister Vladimir Yaskorski machte die szenische deutsche Erstaufführung der Caterina Cornaro durch seine straffe und befeuernde Leitung der orchestralen Attacken zu einem musikalischen Genuss, mit dem Gießens neue Intendantin Simone Sterr zugleich Hoffnungen auf ähnliche (Belcanto)-Entdeckungen weckt, wie sie ihrer Vorgängerin Cathérine Miville u.a. mit Werken von Pacini, Arrieta, aber auch Gomes, Giordano und anderen so überzeugend gelungen waren. Rolf Fath
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Bergamo: Donizetti Opera Festival 2023. Mehr noch als in den zurückliegenden Jahren darf man beim Donizetti Opera Festival diesmal Besonderes erwarten, das in diesem Jahr als Special Edition for Bergamo Brescia Italien Capital firmiert und jeweils einen Aspekt der Kulturhauptstadt-Bewerbung aufnimmt und sei dieser noch so willkürlich gewählt. Wobei sich der Zugewinn nicht wirklich erschließen will – La citta illuminata heißt beispielsweise das Etikett, welches der Lucie de Lammmermoor aufgedrückt wurde. Das Programm folgt der seit Jahren bewährten Mischung aus Raritäten und Bekannten sowie in der Reihe #donizetti200 der Erinnerung an ein vor 200 Jahren uraufgeführtes Frühwerk Donizettis. In zwei Fällen bieten die Umsetzungen im Bemühen um Aktu-alität trostlos dumpfes Lehrprogramm. Zwei Opern werden im Teatro Donizetti, eine im Teatro Sociale in der Oberstadt aufgeführt; es spielen das Donizetti Orchestra und das dem Originalklang der Donizettizeit nachspürende Orchestra Gli Originali; nur der Donizetti Chor ist diesmal nicht dabei, stattdessen singen der Chor des Ungarischen Rundfunks und der Chor der Accademia Teatro alla Scala.
Alle drei Opern entstanden oder haben im Falle der französischen Adaption ihren Ursprung in Neapel und erlebten ihre Uraufführung am Teatro San Carlo. In chro-nologischer Reihenfolge waren es die Opera seria oder das Dramma per musica Alfredo il Grande mit dem Libretto von Andrea Leone Tottola, die im Juli 1823 heraus-kam; also rund acht Monate nach der letztjährigen #donizetti200-Rarität Chiara e Serafina in Mailand. Im Frühjahr 1830 fand die erste Aufführung der Azione tragico-sacra Il diluvio universale (Die Sintflut) statt, zu der Domenico Gilardoni den Text ge-schrieben hatte, und im September 1835 folgte Lucia di Lammermoor, die sich als eine der wenigen Opern Donizettis durchgehend im Repertoire hielt und für Generationen von Zuschauern und Sängern die Quintessenz von Donizettis Schaffen darstellte. Das Festival zeigt die von Donizetti selbst erstellte französische Fassung, die erstmals 1839 im Pariser Théâtre de la Renaissance gespielt wurde und die in einer Schlüsselszene von Gustave Flauberts Romans später auch Madame Bovary in Rouen erleben wird. Ergänzt wird das Programm durch die Farce Il piccolo compositore di musica von Donizettis Lehrer Mayr.
Bergamo ´23: Donizettis „Diluvio universale“/Szene/Foto Gianfranco Rota
Das Hauptinteresse richtet sich auf Die Sintflut, Il diluvio universale, die trotz eines Rettungsversuchs in den 1980er Jahren offenbar nie wieder auf die Bühnen ge-schwemmt wurde. Ich erinnre mich noch recht gut an die Aufführung im Januar 1985 in Genua unter dem jungen Jan Latham-Koenig und die Besetzung mit dem Noah des wuchtigen und trotz seiner internationalen Karriere auf italienischen Bühnen scheinbar allgegenwärtigen Bonaldo Gaiotti, dem vielseitigen Ottavio Garaventa als Cadmo sowie Martine Dupuy in der nicht unwichtigen Partie der Intrigantin Ada, mit der Donizetti einen frühen Versuch unternahm, der zweiten Frau-enpartie zu mehr Geltung zu verhelfen; vor allem an das merkwürdige Teatro Marg-herita, in dem die Oper von Genua nach der Zerstörung des Teatro Carlo Felice mehrere Jahrzehnte bis zur Eröffnung des Neubaus spielte. Il diluvio universale ist ein Oratorium im Operngewand oder umgekehrt, also wie Rossinis Moses eine der Opern, die man seit Ende des 18. Jahrhunderts an den Teatri Reali in Neapel als Oratorium ausgab. Die biblische Handlung passte perfekt zur Fastenzeit und der für Donizetti vielfach tätige Gilardoni vermischte die Sintflut mit den persönlichen Schicksalen und Liebesränken der Noah-Familie. Donizetti verzichtete auf Kabaletten und versuchte, wie er seinem Vater schrieb, „die Form der weltlichen von der geistlichen Musik zu trennen“. Unvoreingenommene Hörer werden kaum ein Unter-schied zwischen der frommen Oper und anderen Werken Donizettis ausmachen. Allenfalls in den umfangreichen Chorpartien, wobei Noah bzw. Noé und seine drei Söhne samt deren Frauen in der weiträumigen Introduzione bereits einen kleinen Chor bilden, dem erst später der Chor der Satrapen entgegentritt. In diesem drama-tisch gesammelten Ensemblestück voll unterdrückter Leidenschaften wird alles er-zählt. Mit dem Bau der Arche folgt Noè einem göttlichen Auftrag. Zu den Personen, die ihm und seinem Gott folgen, gehört auch Sela, die Gattin von Cadmo, dem An-führer der Satrapen. Cadmo ist über diesen Verrat seiner Frau entsetzt. Umso mehr als Selas falsche Freundin, die in Cadmo verliebte Ada, ihn in seinem Misstrauen bestärkt und behauptet, Sala liebe Noès ältesten Sohn. Cadmo und Sala scheinen sich im zentralen Duett des zweiten Akts zwischenzeitig nochmals anzunähern, doch die über drei Akte verteilten zehn Nummern lassen keinen Raum für psycho-logische und zwischenmenschliche Schachzüge. Am Ende schwemmt die Sintflut alle mit Ausnahme der auf der Arche versammelten Menschen davon. So in etwa hat man sich das Finale der Oper vorzustellen. Hilflos dagegen das Tableau, wel-ches das vielköpfige Team aus Szenikern auf die Bühne des Teatro Donizetti stemmte. Darunter kein ausgewiesener Regisseur.
Der Citta Natura, die Bergamo auch noch sein will, war es ein Anliegen, kein „nach uns die Sintflut“-Gefühl aufkommen zu lassen, sondern anhand der Azione tragico-sacra über die Zukunft des Planeten und die Reduzierung des ökologischen Fuß-abdrucks zu sinnieren. Für die Zukunftsvisionen und den hohen Anspruch sollte der interdisziplinäre Ansatz der Spezialisten von MASBEDO sorgen, die für Regie, Kostüme und regia in presa diretta, also Live-Regie, zeichnen; die MASBEDO-Gründer Nicolò Massazza und Iacopo Bedogni sind durch ihre wirkungsvollen Vi-deoarbeiten und Installationen europaweit bekannt, weniger bzw. gar nicht sind sie durch Arbeiten in traditionellen Theatern hervorgetreten. Das Bühnenbild stammt von ihrem Ableger 2050+. Dazu kamen Leute für die Movimenti scenici (Sabino Civilleri, Manuela Lo Sicco) und die Drammaturgia visiva. Die hohe Zahl an Beteiligen half der von höhnischen Kommentaren, wie sie nur in einem italienischen Rangtheater, wo die Rufe kreuz und quer ins Parkett und auf die Bühne prallen, begleiteten Produktion nicht (25. November). Überschwemmt wurde die Bühne von Bildern und Videos von Umweltkatastrophen, von ölverschmierten Tieren, verendenden Fischen, zusammenstürzenden Häusern und berstenden Dämmen, Feuer- und Flutwellen. Katastrophen im Nachrichten-Dauerfeuer und Sekundentakt. Davor Chor und Solisten hilflos. Die Welt von Cadmo und seinen Leuten ist geprägt von hedonistischer Sinnenlust, wofür die üppigen Stillleben, die Bilder von gerupftem Federvieh, ausgenommenen Fischen und das Wühlen in Geleespeisen und das laszive, lüsterne und sinnliche und in einigen Live-Videoaufnahmen durchaus sinnhaft eingefangene Gebaren stehen. Insgesamt platt, plump und als Theaterar-beit unbefriedigend.
Und irgendwie griff die szenische Trostlosigkeit auch auf die Musik über, der Riccardo Frizza, musikalischer Leiter des Festivals, selten die gewünschte Eindrucks-kraft und Wucht in den durchaus an Rossinis Seria-Opern orientierten Szenenblöcken vermitteln konnte. Gespielt wurde die von Edoardo Cavalli edierte Erstfassung von 1830 (für Genua hatte Donizetti 1834 eine zweite Version erstellt). Für den Noè und dessen feierlich eindringliche Visionen braucht es einen Bass von gewaltigem Ausdruck, die der auch mehrfach bei Rossini in Wildbad gehörte Nahuel Di Pierro nicht hat. Er besitzt zwar einen gefällig schönen und weichen Bass, doch nicht Kraft und plastische Rezitativbreite, um die Autorität der Führerpersönlichkeit zu vermitteln. Mit Ausnahme einiger schöner Pianopassagen blieb die Sela der Giuliana Gianfaldoni ausdrucks- und farblos, die falsche Freundin Ada gab Maria Elena Pepi mit grobem Sprechmezzo. Leichtes Spiel hatte daneben Enea Scala, der den Cadmo mit tenoralem Machismo als eitlen Genussmenschen darstellte und sich mit kraftvoll drängender Singkraft, toller Atemführung und knalliger Höhe zumindest in sängerischer Hinsicht als Sieger des Abends herausstellte.
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Bergamo ´23: Donizettis „Alfredo il Grande“/Szene/Foto Gianfranco Rota
In seiner frühen heroischen Oper Alfredo il grande versucht sich Donizetti, der mit seiner Tudor-Trilogie einen markanten Beitrag zur englischen Geschichte auf der Opernbühne lieferte, aber auch bei Rosmonda d’Inghilterra und Il castello di Kenilworth über den Kanal schielte, erstmals an einem angelsächsischen Thema. Tottola, dessen Text Donizetti zuvor einmal als „lautes Gekläffe“ bezeichnet hatte, verarbei-tete eine Vorlage, die auch Mayr wenige Jahre zuvor für seine gleichnamige Oper verwendet hatte. Donizettis Beschäftigung mit einem angelsächsischen König des 9. Jahrhunderts war ein Misserfolg. Weinstock bringt es in seiner Biografie auf den Punkt, „Vom stilistischen Standpunkt – besonders in der Überganszeit zwischen dem übernommenen Stil des 18. Jahrhunderts eines Rossini und den ersten offenkundigen romantischen italienischen Opern, d.h. denen von Bellini – hatte Donizetti, der kein intellektuell maßgebender Erneuerer und Umformer war, Schwierigkeiten, seine eigene musikalische Persönlichkeit und Methode auf dem Gebiet der Oper zu finden. So blieb er in hohem Maß ein Handwerker,,,,, das führte dazu, daß er nur gelegentlich … eine Oper von Anfang bis Ende mit voller dramatischer Schaffenskraft komponier-te“. Das ist hart. Und stimmt auch bei Alfredo il Grande. Die Uraufführung und somit Donizettis Debüt am San Carlo wurden ungnädig aufgenommen und man weiß gar nicht, ob es überhaut zu Folgeaufführungen kam. Der Misserfolg wurde von der ebenso erfolglosen Pastorale Aristea und der Buffa Il fortunato inganno umrahmt. In Tottolas albernem Libretto gerät der unerkannt durch die Landschaft stampfende englische König während des Kriegs gegen die Dänen in mehrere unangenehme Situationen. Unterschlupf findet er in der Hütte von Guglielmo, wo ihn seine Gattin Amelia und sein Befehlshaber Edoardo überraschen. Als die Hütte von den Dänen und ihrem findigen Anführer Atkins umzingelt wird, entfliehen der König und seine Gattin durch einen Geheimgang. Amelia wird zwar gefangengenommen, aber von dem wackeren Guglielmo befreit. Inhaltlich erinnert das etwas an das kunterbunte Inkognito-Spiel, das Donizetti in der Buffa Pietro il Grande oder der Semiseria Enrico di Borgogna mit den Herrschern anstellte. Alfredo ist aber ein durch und durch erns-tes Werk, mit dem Donizetti vermutlich in die Fußstapfen Rossinis treten wollte, der für San Carlo einige seiner glanzvollsten Seria-Opern geschrieben hatte. Und so führt sich Alfredo wie ein kleiner Rossini-König auf. Tatsächlich klingt dieser König wie aus einer rossinischen Seria, was in Bergamo durch Antonino Siragusa unter-strichen wurde, der die Verzierzungen und Wiederholungen in seinen beiden Arien – die Cavatina „S’inoltra alcun“ im ersten und die ausgedehnte von der Klarinette begleitete Arie „Che più si tarda? All’armi!“ im zweiten Akt – mit dem typisch steifen, trompetenhaft engen Klang eines Rossinis Tenors versah, etwas einfarbig freilich und scharf und grell in der Höhe. Aber das ist Geschmacksache, und Siragusa machte das gut und mit Bravour. Ein individueller Ton stellt sich in dieser Oper nicht ein. Donizetti laboriert merklich. Wirklich packend geraten ihm die strettahaft gestei-gerten dramatischen Passagen im rhythmisch voranstürzenden Terzett Amalia-Alfredo-Enrico des ersten Aktes und das federnde fünfteilige erste Finale, das Quin-tett des zweiten Aktes und das zweite Finale, wo die Lobrufe des prachtvoll und groß besetzten Chors des Radio Ungherese „Viva Alfredo! Il grande! Il Prode“ von ariosen Passagen des Alfredo durchsetzt sind, auf die schließlich mit großer Geste das Rondo finale der Amelia folgt. Das zweite Finale wird zudem von einer riesig besetzten Banda auf der Bühne begleitet, wie denn Donizetti in Alfredo immer wie-der mit den Effekten eines im Graben und auf der Bühne spielenden Klangkörpers arbeitet, als wolle er angesichts der Königlichen Loge seinen Opernmonarchen mit größtmöglichem Prunk in Szene. In den Passagen der Banda kommt auch die kritische Edition von Eduardo Cavalli zu ihrem Recht, die flicken musste, wo das Notenmaterial fehlte. Corrado Rovaris, der aus Bergamo stammende Music Director der Opera Philadelphia, dirigierte Donizettis frühe Huldigungsoper mit Prunk und Pomp, blendete unmerklich von der pastoralen Stimmung des Anfangs in die kämpferischen Szenen und breitete den Sängern mit dem Orchestra Donizetti Opera einen Klangteppich aus. Mit einem in allen Lagen flüssigen und gerundeten Sopran, der in der Höhe einen sicheren Silberstreifen besitzt, war Gilda Fiume eine sehr gute Amalia, der man nur etwas mehr Temperament wünschte. Lodovico Filippo Ravizza zeigte als Eduardo einen Bariton von Format, Adolfo Corrado nutzte mit seinem charaktervollen Bass die Möglichkeiten, die ihm die Bravourarie „La sosirata preda“ mit Chor bot, und Antonio Garés gefiel als Guglielmo mit einem Tenor von natürlicher Anmut (24. November).
Das ernste Stück überfrachtete Stefano Simone Pintor, der den Zuschauern vor dem Opernhaus mit Unterstützung mehrerer Wikinger-Vereine Nachhilfe in angelsächsischer Geschichte und Wikinger-Kämpfen gegeben hatte, mit so vielen Verweisen und Erkenntnissen, dass es unter der szenischen Proseminararbeit kläglich zusammenbrach. Pintor stellt dem roten Georgskreuz der englischen Flagge das weiße Kreuz des dänischen Dannebrog gegenüber und zieht beim Schwenk in die Gegenwart eine Linie von den mittelalterlichen Kreuzrittern zum Roten Kreuz der Internationalen Hilfsorganisationen, springt (auf den Videos von Virginio Levrio) von brennenden Bibliotheken, zerbombten Theatern und Museen zum Sturm auf das Capitol mit dem bekannten Chaoten-Wikinger, streift den Kampf der Kulturen und die Fake News und ergeht sich in mannigfaltigen Assoziationen, die sich zu Alfred the Great als Gesetzgeber, Reformator, Literatur- und Religionsstifter ergeben. Da-bei werfen die Protagonisten gelegentlich den Schafspelz der Hirten über ihren Abendanzug, wechseln vom konzertanten Gesang mit Notenblatt zum stilisierten Agieren, wandeln in ansprechender Schlichtheit durch die Projektionen von Krieg und Feuer, von mittelalterlichen Handschriften und Zeichnungen und historischen Landkarten. Überladen, doch auch wieder angenehm schlicht.
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Bergamo ´23: Donizettis „Lucie de Lammermoor“/Szene/Foto Gianfranco Rota
In einer zentralen Szene des Romans besuchen Charles und Emma Bovary in Rouen eine Aufführung der Lucia di Lammermoor, die Emma besonders aufwühlt, weil sie im Schicksal der Lucia, die gegen ihren Willen mit einem Freund ihres Bruders verheiratet werden soll, ihre eigene unglückliche Ehe gespiegelt sieht. Natürlich erlebte Emma Bovary Lucie, die französische Fassung der Lucia, die während des gesamten 19. Jahrhunderts in Frankreich verbreitet war und durch Flauberts Roman von 1856 zusätzlich im Bildungskanon verankert wurde. Im Roman, der den Beginn des Realismus in der Literatur markiert, stellt die hochromantische Lucie ei-nen nostalgischen Moment dar. Jahrelang hatte Donizetti vergebens Freunde und Künstler bedrängt, dass sie ihm Zugang zum Pariser Opernleben verschaffen. Ende der 1830er Jahre war der Durchbruch gelungen. Im Théâtre de la Renaissance, ei-nem der vier Pariser théâtres secondaires kam die französische Version der Lucie heraus, von deren überrumpelndem Erfolg der Komponist selbst am meisten überrascht war. Dieses Theater verfügte über durchaus schmalere Mittel, weshalb Lucie wie eine etwas kompaktere und kürzere Version der älteren italienischen Schwester anmutet: die Figur der Alisa ist weggefallen, die Partie des Raimondo hier Raimond, der erst zum Sextett auftaucht, ist zusammengestrichen, wodurch seine Arie “Ah! Cedi, cedi, o più sciagure” im zweiten ebenso wie sein Anteil in Enricos Cavatina “Cruda, funesta smania” im ersten Akt entfielen, dagegen erscheint der Intrigant Gil-bert, der Normanno aus der Lucia, aufgewertet. Bedeutender ist der Verzicht auf Lucias Cavatina „Regnava nel silenzio“, die bereits die Ur-Lucia Fanny Tacchinardi-Persiani durch Rosmondas „Perché non ho del vento” aus (der in Bergamo beim Festival zuletzt 2016 gespielten) Rosmonda d’Inghilterra (1834) ersetzt hatte; Lucie singt jetzt “Que n’avons nous des ailes”. Der getreu übertragene Text von Alphonse Royer und Gustave Vaëz wurde der Musik angepasst und wirkt etwas fremder, manche Szenenübergänge sind geschmeidiger, die Rezitative neu gefasst, alles zusammen ist nicht wirklich neu und nicht mit Rossinis französischen Fassungen von Mosé in Egitto oder Maometto oder Donizettis eigenem Poliuto vergleichbar, dennoch wirkt sie etwas fremd. Wichtig: Lucie ist die einzige Frau im Männerensemble. Jacopo Spirei verschärft Lucies Zwangslage noch. Zwar bricht sie nicht zu-sammen wie die jungen Frauen, die von den jungen Männern statt des Wilds gejagt und missbraucht werden, aber ihre Selbstverletzungen zeugen von ihrer psychischen Zwangslage, gegen die sie aufbegehrt. Mauro Tintis herbstlich braun grüner Wald suggeriert eine Idylle, in der sich Lucie und ihr in Jeans, Lederjacke und T-Shirt wie eine James Dean-Imitation erscheinender Edgar ewige Liebe schwören, die durch eine Intrige ihres Bruders und des Gilbert kaputt gemacht wird, worauf Lucie in die Ehe mit dem Zweittenor Sir Arthur einwilligt. Die jungen Herren haben sich schon zu Beginn alles schön getrunken, begrapschen und demütigen die Frauen immer mehr. Die Situation entgleitet. Lucie bringt den frisch Angetrauten um. Die torkelnde Burschenmeute kriegt sich nicht mehr ein und kommt aus dem Herumalbern und Lachen nicht mehr heraus. Auf einem Schuttplatz mit Autowrack und ebenso achtlos abgelegten, von Raimond ohne Empathie registrierten Frauen-körpern ersticht sich Edgard. Einige Burschen schütten Benzin über den Ort des Verbrechens und der Schade, der wohl gleich in Flammen aufgehen wird.
Die heftige Missbrauchsgeschichte geht in Bergamo nicht an die Nieren. Die brave und ordentliche Aufführung lässt eher an eine Aufführung in der französischen Provinz denken. Pierre Dumoussaud ist kein sehr erfahrener Dirigent. Mal dirigiert er betulich, dann wieder zu rasch. Das Schlimmste, das passieren kann: die Aufführung ist langweilig. Die splitternd trockene Akustik im Teatro Sociale und der ebenso klirrend trockene Klang des auf Originalinstrumenten spielenden Orchestra Gli Originali ist ihm keine Hilfe. Unter den akustischen Bedingungen leidet auch die 23jährige Caterina Sala, die in Bergamo vor zwei Jahren als Adina einen sensationellen Erfolg erzielte, doch ihre anfangs dünn und glanzlos wirkende Lucie reift in der Wahnsinnszene zur dramatischen Virtuosin, die ihre Spitzentöne wie Dolchstöße setzt. Edle Klangkultur, feinste Nuancen, kunstvolle Bögen und zart aufsteigende Höhen zeichnen den romantisch-elegischen Edgard des in Bad Wildbad bei Rossini vielfach gehörten Patrick Kabongo aus, der für die Partie einfach nicht das nötige Volumen aufbringt und fehlbesetzt ist. Zusammen mit Julien Henric, der als Kilt-Träger Sir Arthur für das schottische Flair in dem beherzt durch die Jahrzehnte switchenden Kostümen der Agnese Rabatti sorgte, sang er das schönste Französisch, das beispielsweise in den Beiträgen des Coro dell’ Accademia Teatro alla Scala als solches nicht zu erkennen war. Wie ein Bruder von Charlottes bravem Al-bert wirkte Vito Piantes zuverlässiger Ashton. Roberto Lorenzi als Raimond und David Astorga machten das Beste aus ihren kleinen Partien.
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Zum Festival-Auftakt 2024 gibt im Teatro Donizetti Roberto Devereux, dazu darf man sich im Teatro Sociale auf das in diesem Jahr bereits in Wexford gezeigte Melodramma eroico Zoraide di Granata freuen sowie im Teatro Donizetti auf Don Pasquale. Rolf Fath
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Barocktage Unter den Linden: Weltweit dürfte die Berliner Staatsoper das einzige Opernhaus sein, das die mythische Figur der Médée in zwei Vertonungen im Repertoire führt. Nach der Version von Luigi Cherubini stand jene von Marc-Antoine Charpentier im Zentrum der diesjährigen Barocktage. Die Premiere seiner Tragédie mise en musique von 1693 am 19. 12. 2023 gestaltete sich zu einem umstrittenen Ereignis, denn die Produktion von Peter Sellars wurde von großen Teilen des Publikum mit deutlichem Widerspruch aufgenommen. Der Regisseur inszenierte im Bühnenbild des renommierten Architekten Frank Gehry, der eine surreale Szenerie mit Wolken, Felsen und Bäumen aus leichtem Metallgewebe gebaut hatte. James F. Ingalls tauchte die Bühne in wechselnde Lichtstimmungen, welche die unwirkliche Atmosphäre der Szene noch unterstrichen, aber zuweilen immerhin magische Wirkung hatten. Leider sah man auch abgegriffene Versatzstücke des Regietheaters wie zwei Gitterkäfige als Gefängniszelle für Médée, einen monströsen Armee-Kampfwagen oder Soldaten in schwarzen Uniformen mit Helmen und Maschinengewehren. Das Einheitsbühnenbild bot in keinem Moment die opulente Pracht und den spektakulären Theaterzauber der französischen Barockoper. Regisseur und Bühnenbildner nutzten für den Tod der Créuse, die im von Médée vergifteten Kleid verbrennt, lediglich rotes Scheinwerferlicht und kapitulierten auch vor dem effektvollen Finale, wenn Médée auf ihrem Drachenwagen flieht und der Königsplast in Flammen aufgeht. Hier hoben sich die Kulissenteile einen Meter in die Höhe, während Menschen aufgeregt über die Szene eilten.
Charpentiers „Médée“ an der Berliner Staatsoper/Szene/Foto Ruth Walz
Überhaupt fand der Regisseur nur wenige Bilder von eindrücklicher Wirkung, dafür viele von statuarischer Leblosigkeit. Manches geriet gar platt oder an der Grenze zur Lächerlichkeit wie die slow motion-Aktionen der Soldaten, die eurythmischen Bewegungen der Frauen oder die stereotype Führung des Staatsopernchores (Dani Juris).
Sogar Médée sind trancehafte tänzerische Aktionen verordnet, doch machte Magdalena Kozená dabei gute Figur. Ohnehin war ihre szenische Präsenz sehr stark und sie bot auch gesanglich in der Titelrolle ein hohes Niveau. Ihr heller Mezzo war fähig zu expressiven, dabei stets kontrollierten Ausbrüchen wie auch zu lyrischen Momenten von innigem Gefühl. Camille Assaf hatte für sie mehrere Kleider entworfen – in Gold, Orange und Grau mit Blutspuren, aber auch einen hässlichen Overall. Durchweg Uniformen trugen die Herren, aus denen Reinoud Van Mechelen als Jason herausragte. Von attraktiver Erscheinung und viriler Ausstrahlung, kam er gesanglich und stilistisch dem Idiom der Musik am nächsten. Sein klangvoller Tenor bewältigte die französische Partie in der exponierten haute contre-Lage bewundernswert lebendig und souverän. Mit mädchenhaft zartem Sopran war Carolyn Sampson als Créuse ein starker Kontrast zur Titelheldin. Berührend ihre Sterbeszene, bei der sie auf einer Bahre von der Bühne getragen wird, vom Orchester mit sanfter Musik begleitet. Médées Vertraute Nérine gab Markéta Cukrová mit kultiviertem Mezzo, den Amour und Médées Vertraute Cléone Jehanne Amzal mit feinem Sopran. Die tiefen männlichen Töne brachten mit sonoren Stimmen Luca Tittoto als Créon und Gyula Orendt als Oronte ein.
Am Pult des Freiburger Barockorchesters stand Simon Rattle, der einen gedeckten, abgedunkelten und oft geglätteten Klang favorisierte, aber auch mit fahlen ombra-Tönen faszinierte. Man hätte sich dennoch stärkere Affekte à la Minkowski oder Rousset gewünscht – sie waren nur in den wenigen tänzerisch orientierten Passagen zu vernehmen.
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Chérubinis „Médée“/ Szene/ Illustration von der Uraufführung/Wikipedia
Konsequent war die Entscheidung, die Produktion der Cherubini-Oper von Andrea Breth aus dem Jahre 2018 wiederaufzunehmen und mit ihr am 17. 12. 2023 die diesjährigen Barock-Tage zu eröffnen. Obwohl in französischer Sprache mit gesprochenen Dialogen (in einer Neufassung von Breth und Sergio Morabito) aufgeführt, wird sie Medea genannt. Martin Zehetgrubers Bühne von ist von deprimierender Tristesse, wird das Geschehen doch in eine öde Lagerhalle verlegt, wo das Goldene Vlies in Holzkisten angeliefert wird. Auch die Kostüme von Carla Teti orientieren sich vor allem auf graue Mäntel und Anzüge in der Mode der Nachkriegsjahre sowie heutige Business-Kleidung für Jason und Créon. Einzig das prachtvolle Hochzeitskleid aus kostbarem goldenem Gewebe für Dircé ist ein optischer Blickfang.
So galt das Interesse bei dieser Wiederaufnahme in erster Linie der neuen Sängerbesetzung. Nach ihrer Aida bestätigte Marina Rebeka auch mit der Médée ihren Ausnahmerang in der heutigen internationalen Sopranriege. Schon in ihrem ersten Air, „Vous voyez de vos fils“, ließ sie mit innigem, schmerzlichem Ton aufhorchen, der sich am Ende des Solos in flammende Intensität bis an die Grenze zur Grellheit wandelte. Im 2. Akt berührte sie ungemein beim wehmütigen Abschied von ihren Kindern („Chers enfants“), und in der letzten Szene überwältigte sie als rasende Rächerin mit bis zum Schluss unangefochtenen stimmlichen Ressourcen. Stanislas de Barbeyrac als Jason, obwohl mit einer Indisposition angesagt, war Médée in den Duos ein potenter Partner mit baritonal timbriertem Tenor von heldischem Zuschnitt. Dagegen blieb Peter Schöne als Créon mit lyrischem Bariton von schmalem Volumen unterbelichtet in den dramatischen Passagen und blass in der Ausstrahlung. Eine Entdeckung war Alisa Kolosova, die das Air der Néris „Ah! nos peines seront communes“ mit sattem Alt und wunderbar auf Linie sang. Ihre Interpretation hatte die ideale Balance von Kultur und Empathie. Ein Gewinn auch die neu besetzte Dircé, denn Maria Kokareva verfügt nicht nur über einen leuchtenden lyrischen Sopran von schöner Substanz, sondern bewältigte auch souverän die virtuosen Anforderungen in ihrem Air „Hymen! viens dissiper“. Der Staatsopernchor (Einstudierung: Gerhard Polifka) hatte seinen großen Auftritt im Finale des 2. Aktes mit dem Choeur des prêtres et du peuple.
Erstmals an der Berliner Staatsoper war Cherubinis Musik von einem auf historischen Instrumenten musizierenden Ensemble zu hören. Das Spiel der Akademie für Alte Musik unter Christophe Rousset war von überwältigender Wirkung. Der Spezialist für französische Barockmusik begann die Ouverture mit wuchtigen, aggressiven Schlägen. favorisierte auch später ein harsches und pulsierend-fiebriges Klangbild. In der reichen Farbpalette seiner Interpretation gab es düstere, brodelnde, fahle, umflorte Töne – ein faszinierendes Klangspektrum. Wohl noch nie hat man einen derart furiosen Theaterdonner gehört wie in der Introduction zum 3. Akt, wo man bedrohliches Gewittergrollen zu hören und zuckende Blitze zu sehen glaubte – eine Szene von grandiosem akustischem Effekt. Der Eröffnungsabend der Barock-Tage endete im Jubel des Publikums.
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Ein Glücksfall war die Wiederaufnahme von Mozarts frühem Mitridate, Re di Ponto aus dem Vorjahr, denn eine ausgewogene Besetzung auf allerhöchstem Niveau garantierte musikalischen Glanz. Neu in der Titelrolle war Siyabonga Maqungo, Ensemblemitglied des Hauses, der die horrend schwierige Partie mit ihren extremen Registersprüngen Respekt gebietend bewältigte. Vor allem die Spitzentöne imponierten in ihrer metallischen Durchschlagskraft, während die tiefe Lage matt und schmal ausfiel. Auch dem virtuosen Anspruch seiner Musik wurde der Tenor souverän gerecht. Mit stürmischem Furor ging er „Quel ribelle“ an, kantabel auf Linie formte er „Tu, che fedel“. Im 2. Teil musste er sich gegen den martialischen Tumult des Orchesters bei „Vado incontro“ durchsetzen, was ihm mit vehementem stimmlichem Einsatz eindrucksvoll gelang. Mitridates Verlobte Aspasia ist eine Primadonnenpartie par excellence und wie schon in der Premiere 2022 füllte Ana Maria Labin sie bravourös aus. Die Koloraturläufe in „Al destin“ gerieten Atem beraubend und wurden von einer spektakulären Kadenz noch gekrönt. Die lyrische Arie „Nel grave tormento“, welche den Konflikt der Figur zwischen Pflicht und Liebe schildert, war dazu ein schöner Kontrast und wurde von der Sopranistin mit bestechender Kultur dargeboten. Im dramatischen Mittelteil bewunderte man die funkelnden staccato-Skalen, in Aspasias letzter Arie, „Pallid’ombre“, die fahlen, verschatteten Färbungen der Stimme.
Mozarts „Mitridate“ an der Berliner Staatsoper/Szene/ Foto Bernd Uhlig
Mitridates Söhne wetteiferten um die Gunst des Publikums und keinem gebührte die Palme, waren die beiden Interpreten doch in ihrer Kunstfertigkeit absolut gleichwertig. Die Sopranistin Elsa Dreisig sang den Sifare mit jugendlichem Elan und sorgte mit ihrer klangvollen, innigen Arie „Lungi da te“, vom obligaten Horn begleitet, für eine vokale Sternstunde. Neu besetzt war der Farnace mit dem italienischen Countertenor Carlo Vistoli, der mit seinem herrlichen Timbre beglückte, seinen Auftritt „Venga pur“ mit energischem Aplomb bot, dessen Da capo ideenreich variierte und kunstvoll verzierte. In seiner letzten, getragenen Arie, „Già dagli occhi“, konnte man die Schönheit seiner Stimme besonders bewundern. Auch die zweite Sopranpartie des Werkes, Prinzessin Ismene, fand eine ideale Verkörperung, denn Caroline Jestaedt konnte mit obertonreichem, lieblichem Sopran die Jugend der Figur perfekt umsetzen. Mit androgyn klingendem, dunklem Ton verlieh Adriana Bignagni Lesca dem Arbate eine maskuline Aura. In der Nebenrolle des römischen Tribuns Marzio ließ der Tenor Sahy Ratia holpernde Koloraturen hören, bewältigte aber die hohe Tessitura seiner Arie „Se di regnar“ beachtlich.
Es war Marc Minkowski, der am Pult seines Ensembles Les Musiciens du Louvre den Abend in den musikalischen Olymp erhob. Bereits in der pulsierenden Ouverture erzeugte er die Spannung, welche den gesamten Abend nicht nachließ, setzte in den Arien für die Sänger markante Akzente und krönte mit dem finalen Chor „Non si ceda al Campidoglio“ seine Interpretation von Ausnahmerang.
Auch beim wiederholten Sehen kann man sich mit der japanischen Kabuki-Ästhetik der Produktion nur schwer anfreunden. Satoshi Miyagi/Regie, Junpei Kiz/Bühnenbild und Kayo Takahashi Deschene/Kostüme hatten wohl eher Puccinis Turandot im Sinn, aber immerhin konnte man sich an opulenter szenischer Pracht und prunkvollen Kostümen erfreuen. Das Publikum am 22. 11. 2023 feierte die Sänger, den Dirigenten und das Orchester mit stehenden Ovationen. Bernd Hoppe
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Tage Alter Musik in Herne: Der Venezianer Antonio Caldara reiht sich heute in die Riege der Barockkomponisten ein, die größtenteils dem Vergessen anheim gefallen sind. Dabei hat er nach seinen Erfolgen in Italien ab 1716 das Wiener Musikleben gut 20 Jahre lang bestimmt und mit seinen zahlreichen Kompositionen dem Wiener Hof zu einer ungeheuren kulturellen Blüte verholfen, obwohl er in den ersten Jahren lediglich als Vize-Kapellmeister neben Johann Joseph Fux tätig war. Vielleicht lag es allerdings auch an dieser festen Stellung, dass sein Ruhm sich nicht so über Europa verbreitete wie der seiner Zeitgenossen Georg Friedrich Händel und Alessandro Scarlatti. So schlummern seine über 90 Opern und Oratorien zum großen Teil in irgendwelchen Archiven alter Fürstenhäuser. In Kooperation mit dem All’improvviso Festival Gliwice und Les Lumières e. V. gibt es nun zum Abschluss der Tage Alter Musik in Herne ein Dramma per musica von Caldara, das anlässlich des Namenstags von Kaiser Karl VI. im renommierten Leopoldinischen Hoftheater am 4. November 1725 uraufgeführt wurde: Il Venceslao.
Antonio Caldara/Wikipedia
Eigentlich hatten Caldara und der Hofdichter Apostolo Zeno zu diesem Anlass eine Oper über den römischen Feldherrn und Staatsmann Gaius Marius als Identifikationsfigur für den Kaiser geplant, dessen Vorliebe für antik-römische Themen den Stil der Wiener Hofoper in seiner Regierungszeit prägte. Aufgrund einer schweren Erkrankung Zenos konnte das Libretto jedoch nicht rechtzeitig fertiggestellt werden. So griff Caldara auf einen alten Text Zenos zurück, den dieser bereits 1703 für die Karnevalssaison des Teatro San Giovanni in Venedig verfasst hatte. Der titelgebende polnische König Venceslao (Wenzel) hatte zumindest mit dem Kaiser einen von acht Vornamen gemeinsam. Ansonsten ist die Geschichte frei erfunden und reichlich abstrus. Die beiden Söhne des Königs Venceslao, Casimiro und Alessandro lieben beide die Prinzessin Erenice. Dabei hat Casimiro vor einiger Zeit der Königin von Litauen, Lucinda, die Ehe versprochen. Auch der General Ernando ist heimlich in Erenice verliebt, will jedoch zu Gunsten Alessandros auf sie verzichten. Casimiro wittert in Ernando einen Rivalen und will ihn töten, ersticht jedoch im Dunkel der Nacht versehentlich seinen Bruder Alessandro, der gerade den Bund der Ehe mit Erenice schließen will. Venceslao will Casimiro dafür zum Tode verurteilen. Doch Lucinda bittet um Mitleid für den Geliebten. Weil das Volk auf Casimiros Seite steht und Casimiro bereut, begnadigt Venceslao seinen Sohn, dankt als König ab und übergibt ihm die Herrschaft.
Für die Uraufführung in Wien standen neben dem erstklassigen Ensemble aus langjährigen Mitgliedern der Wiener Hofkapelle auch die Starsängerin Faustina Bordoni zur Verfügung, die Georg Friedrich Händel ein Jahr später nach London holte. Auch in Herne haben sich renommierte Stars der Barockszene versammelt, um die musikalischen Qualitäten dieser Oper zu untermauern. Da sind zunächst drei Countertenöre mit sehr unterschiedlichen Stimmfärbungen zu nennen, die den König und seine beiden Söhne verkörpern. Den Anfang macht Dennis Orellana als jüngerer Königssohn Alessandro. Schon beim Auftrittsgesang begeistert der junge Sopranist aus Honduras mit strahlenden Höhen, die den Sieg gegen die rebellischen Kosaken zelebrieren. Laut Textbuch ist diese Eingangsnummer eigentlich für den siegreichen General Ernando gedacht, aber Orellana hat diesen Part übernommen, vielleicht weil er sonst so wenig zu singen gehabt hätte. Immerhin wird er ja schon vor der Pause getötet und taucht als Figur anschließend überhaupt nicht mehr auf, was auch mit Blick auf seine großartigen stimmlichen Qualitäten mehr als bedauerlich ist. Ein Glanzpunkt des Abends ist seine große Arie am Ende des ersten Aktes, wenn er glücklich der heimlichen Eheschließung in der Nacht entgegensieht. Hier ruft Orellana mit exorbitanten Höhen in reinster Form regelrechte Begeisterungsstürme beim Publikum hervor.
Max Emanuel Cencic übernimmt die Titelpartie und gestaltet sie mit recht dunkel gefärbtem Countertenor, der dem König eine gewisse Abgeklärtheit verleiht. Dabei punktet er mit weichen und äußerst flexiblen Bögen in den Läufen. Schon in seiner ersten Arie zeigt er die Selbstzweifel des Königs, wenn er sich selbst ermahnt, als König nicht die Beherrschung zu verlieren. Das gelingt ihm bei Casimiros Verhalten allerdings nicht, und seine Wut entlädt sich im zweiten Akt in halsbrecherischen Koloraturen. Am Ende findet er dann doch seine innere Ruhe, wenn er abdankt und seinem Sohn Casimiro den Thron übergibt. Nicholas Tamagna mimt auch darstellerisch überzeugend den Bösewicht Casimiro, bei dem man eigentlich gar nicht einsehen will, wieso sich am Ende für ihn alles zum Guten wendet und er zum neuen König ernannt wird. Mit großartiger Mimik und relativ schroffen Höhen rät er der verkleideten Lucinda im ersten Akt, wieder abzureisen, und leugnet jedwede Versprechungen, die er ihr einst gemacht hat. Umso schamloser umwirbt er Erenice und ist ohne jeden Skrupel bereit, seinen Rivalen aus dem Weg zu räumen, was er in schonungslosen Koloraturen am Ende des zweiten Aktes zum Ausdruck bringt.
Antonio Caldaras „Venceslao“ bei den Tagen der Alten Musik in Herne 2023/Foto: IR
Als weiterer Star des Abends darf Suzanne Jerosme bezeichnet werden, die der Partie der Lucinda ein umfangreiches Spektrum an Gefühlen verleiht. Bei aller Begeisterung für die drei Männerpartien hat man das Gefühl, dass Caldaras Herz beim Komponieren doch vor allem für diese Figur geschlagen hat. Schon im ersten Akt lässt er sie bewegend mit der Oboe in einen traurigen Dialog treten, der unter die Haut geht. Jerosme wirkt mit ihrem warmen Sopran durch die Zurückweisung Casimiros derart unglücklich, dass man ihr am liebsten Trost spenden möchte. Im zweiten Akt zeigt sie dann eine ganz andere Seite. Hier lässt sie in halsbrecherischen Koloraturen ihrer Wut über die Untreue des Geliebten freien Lauf. Zu Beginn des dritten Aktes zeigt Jerosme die Königin dann wieder von der verzweifelten Seite. Wenn Casimiro dann verurteilt wird, erwacht ihre Liebe erneut und sie bittet inständig für den untreuen Geliebten, der aus welchem Grund auch immer am Ende ihr Werben wieder erhört. Wesentlich dunkler ist die zweiter Frauenpartie Erenice angelegt. Sonja Runje stattet die Prinzessin mit einem satten Mezzosopran aus. Wenn sie im zweiten Akt zu Kastagnetten-Klängen auf die Ankunft ihres Geliebten wartet, fühlt man sich beinahe an Bizets Carmen erinnert. In einem wunderbaren Kontrast präsentieren sich die beiden Frauen in zwei Duetten im vierten Akt, die durch eine gestrichene Szene in Herne quasi direkt aufeinander folgen. Während Jerosme und Tamagna in weichen Tönen und warmer Innigkeit einander ihre Liebe gestehen, fordert Runje gemeinsam mit Stefan Sbonnik als Ernando mit wütenden schnellen Läufen Rache für Alessandros Tod.
Auch den beiden „dunklen“ Männerstimmen sind von Caldara anspruchsvolle Arien zugedacht. Erstaunlich ist, dass diesen beiden kleineren Charakteren häufig der Aktschluss zugeteilt wird. Stefan Sbonnik stattet die Partie des Ernando mit strahlendem Tenor aus, der in den Höhen zu glänzen vermag. Pavel Kudinov punktet als Diener Gismondo mit dunklem und in den Läufen sehr beweglichem Bass. Martyna Pastuszka führt das {OH!} Orkiestra an der Violine mit sicherer Hand durch die farbige Partitur und rundet den Abend großartig ab. Als Zugabe gibt es dann noch einmal den Schlusschor der Oper.
Fazit: Zum Abschluss der Tage Alter Musik in Herne gibt es Barockoper auf höchstem Niveau. Dass die Handlung des Stückes mehr als fragwürdig ist, kann den musikalischen Genuss nicht stören. Thomas Molke/ mmo mit Dank and den Autor
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In Wexford 2023: Zwei Tenöre im Kampf um die Sopranistin. Gaetano Donizetti kann beim Wexford Festival Opera als eine Art Hauskomponist bezeichnet werden. Seit der Gründung des Festivals im Jahr 1951 standen seine Werke nämlich bisher in insgesamt 17 Spielzeiten als Hauptproduktionen auf dem Spielplan, wobei die kleineren Formate dabei noch gar nicht mitgerechnet sind. Begünstigt wird diese Tatsache natürlich dadurch, dass Donizetti mit seinen rund 70 Opern einen breiten Fundus an größtenteils vergessenen Belcanto-Schätzen hinterlassen hat, den es bei einem Festival, das sich auf unbekannte Opern spezialisiert hat, zu entdecken gilt. Wenn man bedenkt, dass selbst die heute aus dem Standardrepertoire nicht mehr wegzudenkenden komischen Opern L’elisir d’amore und Don Pasquale in Wexford bereits 1952 und 1953 präsentiert wurden, als deren Bekanntheitsgrad noch relativ gering war, kann man dem Festival zu Recht bescheinigen, zur Donizetti-Renaissance einen entscheidenden Beitrag geleistet zu haben.
Donizettis „Zorade di Granata „in Wexford 2023/Szene/Foto Barda
In diesem Jahr stellt man im Rahmen des Mottos „Women and War“ ein Frühwerk des Komponisten aus Bergamo vor, das den Startschuss zu seiner folgenden Karriere gab: Zoraida di Granata. Dabei handelt es sich um Donizettis sechste Oper und die erste, die auch bereits drei Jahre nach der Uraufführung 1822 außerhalb Italiens in Lissabon gespielt wurde. Die Uraufführung stand allerdings unter keinem guten Stern. Kurz vor der Premiere verstarb der für die Partie des Abenamet geplante Tenor Americo Sbigoli an einem geplatzten Blutgefäß. Da es keinen adäquaten Ersatz gab, transponierte Donizetti kurzerhand die Partie für einen Mezzosopran und kürzte sie. Für eine Wiederaufnahme 1824 weitete er die Partie für den Mezzosopran aus, da ihm nun eine bessere Interpretin zur Verfügung stand. Nun präsentiert das Wexford Festival Opera als Koproduktion mit dem Festival Donizetti in Bergamo beide Versionen, wobei in Wexford die ursprünglich geplante Fassung von 1822 mit einem Tenor gespielt wird, die schon vor der Uraufführung abgeändert worden war, und in Bergamo die zweite Fassung von 1824 mit der aufgewerteten Mezzo-Partie zu hören und sehen ist. Ein Vergleich der beiden Versionen dürfte sicherlich lohnenswert sein.
Das Libretto basiert unter anderem auf der historischen Novelle Goncalve de Cordove ou Grenade reconquise von Jean-Pierre Claris de Florian aus dem Jahr 1791. Die Geschichte spielt um 1480, als Granada in Andalusien von den Moslems regiert wurde. Almuzir hat den König von Granada, Zoraidas Vater, getötet und selbst die Macht übernommen. Er möchte Zoraida heiraten, hat jedoch in Abenamet, einem getreuen Gefolgsmann des verstorbenen Königs, einen Rivalen um die Gunst der Prinzessin. Nachdem er Abenamet zunächst ins Gefängnis gebracht hat, plant er, ihn mit einer Intrige zu beseitigen. Im Kampf gegen die angreifenden Spanier soll Abenamet die arabischen Truppen anführen und dabei die Fahne führen. Sollte er sie verlieren, werde er mit dem Tode bestraft. Mit Hilfe seines Dieners Ali Zegri sorgt Almuzir jedoch dafür, dass Abenamet trotz siegreicher Rückkehr die Fahne verliert und zum Tode verurteilt wird. Zoraida erklärt sich bereit, Almuzir zu heiraten, wenn er Abenamet freilässt. Dies versteht Abenamet jedoch falsch und hält Zoraida für untreu. Als sie ihm ihre Liebe gesteht und gemeinsam mit ihm fliehen will, werden sie von Ali Zegri überrascht. Abenamet kann fliehen, aber nun soll Zoraida hingerichtet werden. In letzter Sekunde kann Abenamet sie vor dem Tod retten und die Intrige aufklären. Als er sich anschließend schützend vor Almuzir stellt, bereut dieser seine Taten und stimmt der Hochzeit zwischen Zoraida und Abenamet zu.
Donizettis „Zorade di Granata „in Wexford 2023/Szene/Foto Barda
Das Regie-Team um Bruno Ravella verzichtet auf einen religiösen Bezug in der Inszenierung und betrachtet die Geschichte universeller. Im Zentrum steht das Liebesdreieck Abenamet – Zoraida – Almuzir, das unabhängig von der politischen Orientierung oder ethnischen Zugehörigkeit ist. Deswegen wählt Gary McCann für die Figuren auch moderne Kostüme, die bei Zoraida in den Farben eine große Ausdruckskraft besitzen. Zunächst trägt sie ein Kleid in sattem Blau. Wenn sie dem gefangenen Abenamet als Vision in seinen Träumen erscheint, tritt sie barfuß in weißem Kleid auf und erinnert an eine Art Geist. Als sie am Ende verbrannt werden soll, trägt sie ebenfalls ein weißes Kleid, um ihre Unschuld zu unterstreichen. Als Kulisse wählt McCann eine verfallene Burg, die in der Gestaltung durchaus aus der Zeit stammen könnte, in der die Geschichte spielt. Die zahlreichen Steine auf dem Boden deuten an, dass das Gebäude vielleicht Opfer eines Angriffs geworden ist. Von der Decke hängt ein zunächst undefinierbares schwarzes Gerüst herab, das sich in den großen Szenen von Abenamet und Zoraida auf diese herabsenkt und dabei fast wie ein Spinnennetz wirkt. Erst am Ende wird klar, dass es sich hierbei um ein buntes Fenster gehandelt hat, das ebenfalls bei einem Angriff zerstört worden ist. Wenn Zoraida und Abenamet am Ende doch noch zusammenkommen und Almuzir seine Schandtaten bereut, wird dieses Fenster in neuer Form aus dem Schnürboden herabgelassen. Soll das die Hoffnung auf eine bessere Zukunft bedeuten?
Als zusätzliche Figuren fügt Ravella zwei Tänzerinnen ein, deren Sinn sich nicht wirklich erschließt. Sind sie dem Motto des Festivals, „Women and War“, geschuldet, weil Ravella vielleicht der Meinung war, dass die Frauen in diesem Stück mit Zoraida und ihrer Dienerin Ines unterrepräsentiert sind? Sollen es Dopplungen von Zoraida und Ines sein, weil sie zumindest ähnlich gekleidet sind? Dagegen spricht, dass sie beim lieto fine zu zwei Soldaten aus dem Chor gehen und mit ihnen zwei weitere Paare auf der Bühne bilden. Ansonsten erzählt Ravella die Geschichte in einer stringenten Personenregie und verfügt dafür auch über eine großartige Besetzung.
Musikalisch ist die Oper sehr anspruchsvoll. Bei der Partie des Abenamet verwundert es nicht, dass Donizetti bei dem Tod des eingeplanten Tenors nicht sofort einen Ersatz zur Verfügung hatte. Matteo Mezzaro verfügt als Abenamet über einen in der Mittellage sehr kräftigen Tenor, der in den Höhen jedoch stellenweise etwas abflacht. Besonders die Übergänge machen ihm Schwierigkeiten. Wenn er sich nur in der höheren Stimmlage bewegen kann, besitzt sein Tenor eine große Strahlkraft. Vielleicht hätte man hier aber doch lieber einen Mezzosopran als Hosenrolle wie bei der Uraufführung 1822 gehört. Konu Kim glänzt als Bösewicht Almuzir mit stählernem Tenor und atemberaubenden Höhen, die er auch ohne scheinbare Anstrengung trifft, wenn er mitten in einer Arie auf einen Tisch klettert. Wie Almuzirs Charakter ist auch die Gesangslinie sehr hart angesetzt, was Kim absolut glaubhaft umsetzt. Julian Henao Gonzalez lässt als Abenamets Vertrauter Almanzor mit beweglichem, weichem Tenor aufhorchen, und Matteo Guerzè punktet als weiterer Bösewicht Ali Zegri mit schwarzen Tiefen.
Einen weiteren musikalischen Höhepunkt bilden die beiden Frauen. Da ist zunächst Claudia Boyle zu nennen, die in der Titelpartie begeistert. Mit strahlenden Höhen unterstreicht sie Zoraidas treue Liebe zu Abenamet und gestaltet die Partie mit großen dramatischen Bögen. In ihrer Musik sind bereits zahlreiche Donizetti-Heroinen angelegt, die in den weiteren ernsten Werken folgen sollten, nur dass ihr im Gegensatz zu Lucia, Anna Bolena und Lucrezia Borgia ein glückliches Ende bleibt. Auf dieses muss man aber in der Oper recht lange warten. Die Musik ist zwar wunderschön, hat aber bei einer reinen Spielzeit von gut drei Stunden durchaus ihre Längen. Rachel Croash glänzt als Zoraidas Vertraute Ines ebenfalls mit leuchtendem Sopran. Der Herrenchor unter der Leitung von Andrew Synnott rundet die sängerische Leistung des Abends überzeugend ab. Diego Ceretta führt das Orchester der Wexford Festival Opera mit präziser Hand durch die melodienreiche Partitur, so dass es am Ende begeisterten Applaus für alle Beteiligten gibt.
Mit Zoraida di Granata hat das Wexford Festival Opera wieder eine echte Rarität für Belcanto-Fans ausgegraben. Spätestens jetzt ist man neugierig geworden auf Donizettis zweite Fassung des Stückes, die 2024 in der gleichen Inszenierung in Bergamo zu erleben sein wird. Thomas Molke in Online Music Magazin mit Dank!
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Teatro Regio di Parma: Festival Verdi 2023 mit I lombardi alla prima crociata, Falstaff, Il trovatore, Requiem: Zum 23. mal hängen die Verdi-Plakate in allen Salumerien, Pasticcerien und an den Straßenlampen, rüstet sich Parma mit viel Beiprogrammen, Verdi Off-Aktivitäten und zentralen Aufführungen im Teatro Regio, um in der hochattraktiven Touristenzeit von Mitte September bis Mitte Oktober den berühmten Sohn der Stadt zu ehren, dessen Geburtstag auf den 10. Oktober fällt. Der bis 2022 als Direttore generale, aber auch als künstlerische Leiterin des Festival Verdi fungierenden Anna Maria Meo war es zuletzt gelungen, dem Festival, das mehrfach Anläufe genommen und sich neu erfinden wollte, mit einem packenden künstlerischen Profil internationales Ansehen zu verleihen. Ausgebremst wurde sie ein bisschen durch die letzten Corona-Jahre. Der 68jährige Alessio Vlad, der ihr jetzt nachfolgte, trat kein leichtes Erbe an. Mit I lombardi alla prima crociata, vielerorts eine Rarität, in Parma aber zuletzt 2003 und 2009 gegeben, Il trovatore, dazu Falstaff im Teatro Verdi in Busseto sowie konzertanten Aufführungen von Nabucco in Fidenza wirkt das Programm geradezu lieblos. Das Teatro Magnani in Fidenza wurde im letzten Jahr erstmals im Rahmen des Festivals mit einer Produktion des Trovatore bespielt, weshalb ein neuerlicher, zwar neu inszenierter Trovatore in Parma entbehrlich erscheint, wo man sich zudem noch gut an den französischen Trouvère in der Robert Wilson-Inszenierung im gigantischen Teatro Farnese erinnert.
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Verdi Festival Parma 2023:/“I Lombardi“/Szene/Foto Ricci
Die Eröffnung mit den Lombardi war ein Anstandserfolg. Mehr nicht (21. September). Die Verpflichtung von Pier Luigi Pizzi, mit den ihn eine enge künstlerische Zusammenarbeit verband, war möglicherweise eine erste Tat des künstlerischen Leiters. Nachdem im Vorjahr der knapp 80jährige Yannis Kokkos La forza del destino inszeniert hatte, kam mit Pizzi somit ein weiterer Groß- und Altmeister des italienischen Theaters zum Zug, der die Opern- und Schauspielbühnen der Halbinsel seit einem halben Jahrhundert dominiert. Seit den Martyrs 1978 in Venedig kam man an seinen Arbeiten bei keiner wichtigen Produktion in Pesaro, Florenz, Rom und an der Scala vorbei. Sechsmal hat er die Aida gemacht, viermal die Traviata, nun zum ersten Mal I lombardi – alles liege in der Musik, sagt er. Der Dirigent Francesco Lanzilotta pflichtet heftig bei. Also treten zu Beginn einzelne Musiker auf die offene, von einer Kreisscheibe dominierte Bühne, auf der Pizzi seine Schwelgereien in Schwarz und Weiß und in gemischten Grautönen in den Kostümen und zart webenden Videos ausbreitet. (…)
Verdis vierte Oper ist ziemlich verfahren. Bedeutende Musikwissenschaftler haben vernichtende Urteile gefällt. Und tatsächlich lässt es sich kaum nacherzählen, was Temistocle Solera auf der Basis einer gleichnamigen Dichtung von Tommaso Grossi zusammengeschrieben hat. Deutlich ist, dass unbedingt der Erfolg des Nabucco wiederholt werden sollte. Nach dem erfolgreichen Oberto und dem glücklosen Un giorno di regno wollte Verdi bereits aufgeben und seinen nach Oberto über drei weitere Opern abgeschlossenen Vertrag aufkündigen, als sich mit dem Nabucco das Blatt wendete. In I lombardi entwirft er neuerlich ein patriotisches Seelengemälde, dessen zentrales Moment der Chor im vierten Akt „O Signore dal tetto natio“ ist, der mit seiner Sehnsucht nach der Heimat ein direktes Remake des Nabucco-Chores ist. Soleras knallig kurze Verse, seine lodernde Emphase und Leidenschaft geben dem Stück eine Aura, die die krude Geschichte irgendwie zusammenhält. Dem entspricht Verdis Musik. Natürlich ist sie leidenschaftlich wie im Nabucco, aber im zweiten und dritten Akt auch konventionell und langatmig. Spürbar ist der Drang nach großen einheitlichen Musikformen beispielsweise im anfänglichen Quintett à la Rossini, das die Handlung ballt und voranbringt. Auch das zweite Finale ist spannend entworfen. Giselda ist zwar für eine leichtere Stimme konzipiert, die der Erminia Frezzolini, doch so ganz kann Verdi trotz der engelsgleichen Lyrismen seine Abigaille nicht vergessen und so drängt sich die junge Frau mit heftiger Attacke in die Glaubenkriege, beispielsweise mit ihrer Cabaletta im zweiten Finale, wo sie deutlich macht, das Gott dieses Blutvergießen nicht wolle, „Dio nol’ vuole, no, no“.
Die 27jährige Russini Lidia Fridman hatte 2019 ihren Durchbruch mit der von Pizzi inszenierten Ecuba von Manfroce in Martina Franca sowie mit Donizettis L’ange de Nisida in Bergamo. Pizzi setzt sie in geschraubten Bewegungen und erstarrten Posen wie eine mittelalterliche Madonna in Szene, die in kunstvoll versteckten schwarzen Fußgamaschen und dem gut anliegenden weißen Kleid über die Bühne gleitet. Fridmans dunkel opaker Sopran gefällt nicht auf Anhieb. Das Timbre wirkt wenig gefällig und die Delikatesse, die das Gebet im ersten bzw. die Vision im vierten Akt verlangen, sind eher herb als süß, aber Fridman versteht es durch Attacke, gestalterische Klugheit sowie klangüppige Brillanz zu faszinieren, wenngleich die Vollhöhe mitunter ziemlich scharf wird. Das hat aber unbedingt großes Format. Die zweite zentrale Partie ist der Vatermörder und ruchlose Intrigant Pagano, eine Jago-Vorwegnahme, die (wie schon 2003) Michele Pertusi mit seinem festen und hellen Bass sicher sang, ohne dafür das nötige Gewicht und die sängerische Kraft aufzubringen. Die schöne Tenorarie „La mia letizia infondere“ gehört Oronte. Antonio Poli schmetterte sie mit ungefährdeter Emphase und gesundem, lautem Ton, ohne dass sie ihm so raffiniert abschattiert gelingt wie er es wohl gerne hätte. Dass er auch um Feinheiten weiß, zeigte er im abschließenden „Come poteva un angelo“-Teil. Ganz ausgezeichnet war Antonio Corianò, der sich mit trompetenhaft durchdringendem Tenor als heldischer Kreuzfahrer und Vater Arvino vorteilhaft in Szene setzte. Mit profiliertem Bass Luca Dell’Amico als seine Gefolgsmann Pirro. Dass der oben erwähnte Chor-Schlager im vierten Akt trotz des vortrefflichen Chors des Teatro Regio nicht so richtig mitriss, lag an einer gewissen Ermüdung im Auditorium. Gewiss nicht an dem wackeren Francesco Lanzilotta, der sein Festival-Debüt im Rollstuhl absolvierte und den Chor und die Filarmonica Arturo Toscanini heftig befeuerte. Hochästhetisch auch diesmal die geschmäcklerischen Bilder und Szenen von Pizzi, die, vielmal erlebt, doch immer wieder neue Details und technische Tricks offenbaren. Auf diese Weise versetzte er seine Chormassen im Handumdrehen in unterschiedliche Landschaften und Hallen, zoomt Kreuzgänge, Orgelaufbauten, das Laub der Olivenbäume, Höhlen und Stadtansichten heran. Das ist hübsch, aber auch abgegriffenes Kunsthandwerk, so wie die Auftritte der Instrumentalisten auf der Bühne, wozu auch die Geigerin mit ihrem Solo im dritten Akt und die Harfenistin für Giseldas Traumszene im vierten Akt gehörten, sowie schließlich im Finale der Griff in die Zuckertüte des Kitsches mit dem Kinderpaar und den gegenseitigen Umarmungen aller Beteiligten.
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Verdi Festival Parma 2023:/“Falstaff“/Szene/Foto Ricci
Den Gegenentwurf zu Pizzis gefälliger Bühnenkunst stellt die Trovatore-Inszenierung des Davide Livermore dar (24. September), den man als enfant terrible der italienischen Kulturszene beschreiben könnte, wäre er mit seinen 57 Jahren, mehreren Scala-Spielzeiteröffnungen und Theaterleitungen in seiner Geburtsstadt Turin und in Genua nicht längst zu arriviert und selbstzufrieden. Das gilt auch für sein Theater, in dem sich digitale und analoge Spielweisen zu neuen Bühnenwelten vermischen. Ideale Voraussetzungen, um dem notorisch ungelenken Il trovatore auf die Beine zu helfen, dessen Libretto Salvadore Cammarano nach dem Drama El Trovador des Spaniers Antonio Garcia Gutiérrez verfasst hat. Livermore hat dazu neben Bühnenbildner (Giò Forma) und Kostümbildnerin (Anna Verde), einem weiteren Mitarbeiter (Carlo SciaccalugaI und Licht-Techniker (Antonio Castro) auch wieder die Design-Company D-Wok mitgebracht, mit der er vielfach an der Scala gearbeitet und den Trovatore im Vorjahr auch in Sydney herausbrachte hatte. In Parma erwies sich die Produktion von bestürzender Bedeutungslosigkeit. Zwischen Förderturm und modernen Bürokomplexen, maroden Brücken und Fabrikruinen, prasselt ein wütendes Feuer, stieben unentwegt Funken in den Himmel wie Leuchtwürmchen, ballen sich Wolken dräuend zusammen. Es ist offenbar ein gefährlicher Ort, wo Ferrando die Geschichte der beiden getrennten Grafensöhne erzählt: der eine mittlerweile ein mit Handy fuchtelnder Manager, der andere ein großer Hirtenjunge aus dem Märchenbuch. Ein paar Jongleure, Gaukler und Feuerartisten aus dem in weiter Ferne zu erahnenden Rummelplatz mischen sich unter die schwarzen Gesellen. Azucena und ihr munterer Akrobatentrupp hausen tatsächlich in einem Zirkus, dessen schäbige weiß-rote Schönheit aus einem verblichenen Bilderbuch des Wes Anderson stammen könnte. Dass die kaputte Welt des Grafen Luna und das an sich auch nicht sehr lustige Zirkusleben der Azucena und des Manrico nicht zusammenfinden, ist klar. Am Ende sind fast nur Tote auf der Bühne und die sich auf die schwarzen Schergen stürzenden Künstler und Artisten scheinen, so vielleicht die Idee des Davide Livermore, die Herrschaft zu übernehmen. Gespielt wird unverfälschtes Rampentheater, hatten doch die Sydney-Schnipsel gezeigt, wie eine an sich rasante Show an den Gegebenheiten der Oper, sprich deren monströs ungefügen Darsteller abprallt. Teils großartige Video-Realitäten, davor aber steifes Stehtheater, das sich nur bei Leonoras Entführung aus dem von Nonnen betreuten Krankensaal etwas belebter zeigt – großes Buhgeschrei. Leider fehlte in diesem Jahr ein erster Maestro am Pult. Francesco Ivan Ciampa, der Chor und Orchester aus Bologna leitete, konnte den Mangel an gestalterische Autorität nicht ausgleichen, setzte auf rhythmische Attacke, vermied große Bögen und atmete nicht mit den Sängern. Francesca Dotto, als Violetta vor Jahren in Venedig in unguter Erinnerung, hat mit schlechter Höhe, flacher Stimme und netter Erscheinung wenig für die Leonora beizutragen. Eine Fehlbesetzung ist auch Franco Vassallo, der für den Luna nicht mehr genügend Kraft, Farben und Linie aufbringt. Ein sehr prosaischer Interpret ist Riccardo Massi, der den Troubadour sauber und mit angenehmer Weichheit sang, aber kaum auffällt. Markant und auffahrend Roberto Tagliavinis mächtiger Ferrando. Der traurige Abend lohnte wegen der grandiosen Azucena der Clementine Margaine, die ihrer mit Würde und Wärme gezeichneten Zigeunerin neben der stimmlichen Wucht ihres hellen Mezzosoprans und einem sicheren C auch vokale Eleganz und Virtuosität verlieh, aber auch ein trotziges Italienisch sang.
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Verdi Festival Parma 2023:/“Il Trovatore“/Szene/Foto Ricci
Ungetrübtes Vergnügen bereiten die Aufführungen im kleinen Teatro Verdi in Busseto. Der Reiz des Ortes ist bezwingend. Hier ging Zeffirellis Aida über die kleine Bühne – ich frage mich im Nachhinein immer noch, wie der Zauber vonstatten ging – ebenso wie der recht überschaubare Un giorno di regno. Die Oper für Busseto ist aber Falstaff. Toscanini hat ihn hier dirigiert, auch Riccardo Muti anlässlich von Verdis hundertstem Todestag 2001. In diesem Jahr hat ihn Alessandro Palumbo, völlig unnötigerweise eigentlich, für 13 Instrumente eingedampft. Die Kammerfassung für Streicher und Bläser sowie Klavier wurde von den Bläsern von La Toscanini sowie einem Streichquintett der Kiew Virtuosi übernommen, die in dieser Saison eine künstlerische Zusammenarbeit mit dem Parma-Orchester verbindet. Das Arrangement lässt kaum etwas von den funkelnden Farben und der geschliffenen Wort-Ton-Akrobatik vermissen, mit der Verdi Situationen entwarf und durch gestischen Wortwitz festzurrte. Palumbo dirigierte mit großer Vehemenz und Verve, bei der Verdis Altersweisheit und Melancholie ein wenig auf der Strecke bleiben (22. September). Das Ergebnis war dennoch überwältigend. Franco Vassallo spielte in der Titelrolle die Vorzüge einer Bariton-Besetzung aus, d.h. eine tragfähige Höhe, sichere, pointierte kleine Noten und enorme Durchschlagskraft, die allerdings im Lauf des Abends nachließ. Ilaria Alida Quilico, im Vorjahr noch die Troubadour-Ines, sang eine Alice voll silbriger Lebendigkeit und energischem Nachdruck, durch außergewöhnliche Klangschönheit und erlesenen Ziergesang ließ Veronica Marinis Nannetta im Elfengesang sozusagen die Zeit anhalten. Mit einem standfesten Tenor, der zu größeren Aufgaben drängt, machte der ukrainische, in Mainz engagierte Tenor Vasyl Solodkyy als Fenton nachdrücklich auf sich aufmerksam. Mit dem ewigen Cajus des unermüdlichen Gregory Bonfatti, den beiden auftrumpfenden Roberto Covatta und Andrea Pelegrini als Bardolfo und Pistola, der erdig fahlen singsprechenden Adriana Di Paola als Quickly und der vordrängenden Shaked Bar als Meg Page versammelte sich ein vorzügliches Ensemble, dessen dunkler Fleck der knödelig schwache Andrea Borghini als Ford war.
Regisseur Manuel Renga, der im Vorjahr die Donizetti-Rarität Chiara e Serafina in Bergamo als Piratenspielerei aufgedröselt hatte, kreierte ein intelligent austariertes Kammerspiel, in dem er mittels filmischer Blenden immer wieder das Geschehen auf einzelne Figuren zentrierte und einen straffen Wechsel der Schauplätze bewerkstelligte. Er zeigt ein zeitlich nicht genau zu fixierendes England aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das seine Mitstreiter Aurelio Colombo, Giorgio Azzone und Giorgio Morelli (Kostüme, Bühnenbild, Licht) auf die kleine Bühne und Vorderbühne hievten: die Herren tragen ihre Garderobe aus der Vorkriegszeit auf, während die Damen mit den Karomuster der 1950er Jahren der neuen Zeit huldigen. Ein paar Tische und Stühle, ein Paravent, ein Schaukelstuhl und ein Wäschekorb, viel mehr braucht es nicht, um vor den gewöhnungsbedürftigen Nachkriegstapeten die unterschiedlichen Orte anzudeuten. Die Frauen tanzen sozusagen auf den Tischen, an denen sich die Herren zum Essen niederlassen. Ein bisschen Show muss auch sein. Falstaff vervollständigt für sein Stelldichein im Hause Ford sein schütteres Haar nicht nur durch ein auffällig helles Kunstteil, sondern schlüpft in seinen Frack, der ihn zu einem Conferencier macht, der bessere Zeiten erlebt hat. Für Music Hall-Atmosphäre sorgt zudem kurzzeitig die Travestienummer der tanzenden Diener. Im Wald in Windsor geht es schließlich wie auf einer Abendgesellschaft am Eaton Place zu, zumindest die Damen dominieren in langen Glitzerkleidern und Feder im Haar und leuchten mit den zahlreichen auch im Zuschauerraum verteilten Tischlampen Falstaff, ihren Männern, aber auch den Zuschauern heim.
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Verdi Festival Parma 2023:/Messa da Requiem“/Szene/Foto Ricci
Mit Spannung wurde das Debüt der Oksana Lyniv beim Festival erwartet, die mit ihrem Orchestra des Teatro Comunale di Bologna und den vereinten Opernchören von Bologna und Parma die Aufführung der Messa da Requiem dirigierte (23.9.). Lyniv präsentierte, wie zu erwarten war, eine straffe, alerte Aufführung, die neben aller schlagtechnischen Bravour, etwa im Doppelchor des „Sanctus“, auch Momente echter Religiosität oder Spiritualität zeigte. Da kann vieles noch reifen, doch das „Libera Me“ gelang mit starker Überzeugungskraft, was auch an Federica Lombardi lag, die sich einmal mehr als eine der schönsten und packendsten jüngeren Sopranstimmen Italiens erwies. Weniger überzeugend fand ich den auf altmodisch verschwenderische Weise tenoral prunkenden, doch recht phlegmatischen Freddie De Tommaso. Dagegen vermittelten Daniela Barcellona mit nun schon stumpfer Tiefe und der routinierte Michele Pertusi den Ernst des Werkes. Rolf Fath
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Musikfest Berlin: Les Troyens von Hector Berlioz, konzertant: „So hab´ich das noch nie gehört!“ pflegte die Berliner Schauspielerin Elsa Wagner nach einem musikalischen Abend zu sagen – sie meinte es ambivalent, um sich nicht äußern zu müssen. Aber mein Verdikt ist ein absolut Affirmatives nach diesem mich zutiefst erschütternden Abend in der Berliner Philharmonie am 1. September (2023), vor dem mich die laue Frühherbstluft in keiner Weise auf ein solches Erlebnis vorbereitet hatte. Im Gegenteil: Die Aussicht auf 5 Stunden Ausharren auf einem der mäßig bequemen Philharmonie-Sitze ließen mich eher etwas verhalten in den Kunsttempel treten – zu einem Erlebnis, das mich auch am Tage danach verfolgt und durch einander bringt.
In den letzten zwanzig Jahren habe ich nicht einen so unterschiedlich eindrucksvollen, verstörenden Abend erlebt. Die schieren Klang-Massen der ersten beiden Akte, diese bedrohlich-militanten Töne des mit vielen „originalen“ Instrumenten versehenen Orchesters bei der Vernichtung Trojas ließen das Werk für mich überzeugend modern erstehen. Die ganze Furchtbarkeit des Krieges, der Eroberung, des brutalen Massakrierens, auch der falschen Freude einer sich dem Wahn hingebenden Bevölkerung, der grelle vergebliche Ruf der Seherin als warnende Botin, der Massen-Selbstmord der Frauen lassen beängstigende Assoziationen zum Gegenwärtigen aufkommen. Im Kontrast sind die folgenden (3 – 5) eher im scheinbar Idyllischen, Sanften zu Hause, in das die harsche Welt des Krieges immer wieder eindringt. Selbst im himmlisch vorbereiteten Quintett vor der „Nuit d´ivresse“ erinnert die Pauke nicht nur an das – an die Küsten Nordafrikas schlagende – Meer der tropischen Nacht, sondern auch an den nahenden Abschied Aeneas´ (einschließlich kriegerischer Eroberung Italiens) und an den von Didon beschworenen Untergang Karthagos.
„Les Troyens“ von Hector Berlioz beim Musikfest Berlin 2023: der junge Dirigent Dinis Sousa/ Foto c.Fabian Schellhorn/Berliner Musikfest
Was für ist das für eine Komposition, was für eine unendlich facettenreiche Oper – einer wahre Kopf-Oper eines Genies, die eigentlich nicht auf die Bühne zubringen ist und die – wie nun in Berlin (vorher in Côte-Saint-André und Salzburg, dann noch bei dem Londoner Proms) – nur ideal so als semikonzertante Präsentation zu bewältigen ist. Ich hätte auf manches dieser halbszenischen Einlagen verzichten können (was mich gelegentlich lächelnd an meine Studentenbühnen-Aktivitäten erinnerte), aber diese Oper endlich wieder mit einem solchen Superorchester über die Knochen zu hören, die Handlung weitgehend gut kommentiert umgesetzt zu sehen und dies als kaum störend zu empfinden, war doch eine Wohltat angesichts der vielen zuletzt gesehenen szenischen Scheußlichkeiten, die Opern wie diese klein und kleinbürgerlich machen. Denn kleinbürgerlich sind die Troyens nun gewiss nicht. Im Gegenteil: Sie sind ein genialer Geschichts- und Lebens-Entwurf, der seines gleichen sucht.
Und wie vielfältig ist sie, diese Oper. Wird man in den ersten beiden Akten mit der Grauenhaftigkeit des Krieges konfrontiert, so begegnet man in den Mittelakten der todgeweihten Liebe zweier Großer mit vielen, wunderbaren, erotischen ebenso wie agogischen Einlagen, jeder Menge Arien und Duetten/Ensembles, herzzerreißenden Emotionen ebenso wie großen Gesten der Gastfreundschaft und Menschlichkeit. Wären da nicht mal wieder die Götter, die als Vergegenständlichung des Schicksals (oder der Historie) die Liebenden wieder auseinanderreißen, das unerbittliche Leben selbst. Immerhin sind wir denn doch im 19. Jahrhunderts von Berlioz.
„Les Troyens“ von Hector Berlioz/ Paula Murrihy und Michael Spyres in der zuvorigen Aufführung beim Berlioz-Festival von Côte-St-André 2023/ Foto Bruno Moussier
All dies in einem Kaleidoskop an Klang-Massen, an Klang-Rausch ebenso wie verstörenden Klang-Farben und Klang-Dynamiken. Ich habe noch nie die erwähnte Pauke im Quintett des 4. Aktes bewusst gehört, noch nie die grellen Piccoli so im Ballett (dto.), noch nie diese eigenartige, scharfe Akzente setzende Metall-Klapper bemerkt und noch nie so fetzig die abschließende Ballet-Sequenz der „eingeborenen“ Nubier (wo in Côte-Saint-André die Sängerin der Anna bei Ausbleiben der geplanten Tänzer einsprang und eine bejubelte Einlage hinlegte). Mann, hatte das einen Drive!
Der junge Dirigent Dinis Susa holte (nun sans Gardiner) aus dem Orchestre revolutionaire et romantique Farben und Nuancen heraus, die ich vorher noch nie so in diesem Werk wahrgenommen habe (und ich bin in der glücklichen Lage auf wirklich recht viele Live-Trojaner zurückblicken zu können). Seine Holz-und Blechbläser schufen Klang-Gemälde von packender Wirkung, sein Monteverdi Choir ließ namentlich in Akt 1 und 2, aber auch zu Beginn von Akt 3 und am Schluss als Pluto-Chor die Halle so beben, dass man gelegentlich um sein Gehör bangte. Dieser sehr obertonreiche Klang grenzte gelegentlich ans Aggressive, fast Unerträgliche – im gelungenen Wechsel zu fast walzerartigen Tanzeinlagen oder himmlischen, auch erotischen Streicherpassagen. Ein Wechsel-Bad der Eindrücke, die das mit interessanten Originalklang-Instrumenten besetzte Orchester immer wieder vermittelte.
Es wurde natürlich auch gesungen! Und weitgehend überragend an diesem – bis auf eine Ausnahme – anglo-amerikanischen Abend. Die Herren waren allesamt auf absolut höchstem Niveau. Allein einen Tenor wie Michael Spyres zu erleben, war schon den Besuch wert. Er sang (weitgehend) unangefochten, sein Auftritt „Reine, je suis Enée“ setzte Elektroschocks frei. Sein Forte liegt im Heldischen – so in seinen Soloszenen im 1. und 5. Akt – vielleicht eher als im Liebenden des Duettes zuvor (wo die etwas unglückliche Gürtel-Gewandung nicht wirklich den Sohn der Venus und „des schönen Anchises“ der hervorragenden Übertitel suggerierte … und ganz subjektiv finde ich Roberto Alagna in der Partie attraktiver, erotischer, lyrischer, auch mit der – für mich – schöneren Stimme, wie zuletzt in den Troyens an der DOB 2014). Spyres´ Aeneas ist ein Kriegsheld, ein Eroberer, sowohl Didos wie auch Roms. Darin liegt auch die Tragik der Figur.
„Les Troyens“ von Hector Berlioz beim Musikfest Berlin 2023:/ Akt 3/ Foto c._Fabian Schellhorn/Berliner Musikfest
Daneben überraschte Alex Rosen, der für seinen (angeblich) geohrfeigten Kollegen als Narbal und als (hocheindrucksvoller) Pluto eingesprungen und sich nicht zu schade war, in weiteren kleinen Partien seine außerordentlich fulminante Bass-Stimme (scheinbar ohne jegliche Begrenzung in beiden Richtungen) voller sonorer Schönheit und individueller Farbe zu glänzen: Was für eine Stimme! Und gut sieht er auch noch aus.
Die übrigen muss man lobend aufzählen: Lionel Lhote (renommierter Sänger aus Frankreich), Graham Neale, Sam Evans und vor allem auch der junge Laurence Kilsby doublierend als Iopas und Hylas (es war rührend zu erleben, wie der gestandene Spyres seinen Kollegen bei dessen schwierigen hohen Noten als Iopas zulächelte, was für eine nette Geste!).
Bis auf die interessante schottische Mezzosopranistin Beth Taylor, die bereits in Berlin als Rossinis Arsace Furore gemacht hatte und nun als sehr spielfreudig-präsente, dunkel-brustig-stimmige Anna noch einmal die Aufmerksamkeit auf sich zog, und die bezaubernde junge Adèle Charvet als Ascanio mit sehr hübscher Stimme vermittelten die beiden weiblichen Eck-Säulen der Oper gemischtes Glück, wie so oft in den Besetzungen für dieses Werk. Alice Coote zeichnete mit ihrer Elektra-Stimme zwar ein wirklich packendes Porträt der vor Schrecken halb-wahnsinnigen Cassandra. Aber sie war mir wirklich zu grell, zu hässlich in der Stimme, die unter Druck doch die Grenzen des Erträglichen streifte, was sicher nicht die Absicht der Sängerin, sondern den Zustand ihrer Stimme beschrieb. Ich fühlte mit Chorebus und der trojanischen Hof-Gesellschaft …
Alex Rosen sang als Einspringer beim Musikfest Berlin 2023 den beeindruckenden Narbal/Hector/Pluto in den „Troyens“ von Hector Berlioz/ Foto Kristin Hoebermann/Salzburger Festspiele
Didon war Paula Murrihy, mir bis dahin unbekannt. Ich würde sie, bei aller Hochachtung vor ihrer physischen Leistung, eher als Figaro-Contessa einsetzen denn als heroische, mythische Opernfigur. Vieles war ihr einfach zu groß, oder andersherum, für vieles war ihr recht kleiner Sopran (mezzo-ischer Farbe) einfach nicht ausreichend, schon gar nicht für das Finale. Wie bei allen anderen war ihre Diktion beispielhaft, wirklich exemplarisch, aber bei ihr ging zu viel in der Tonproduktion unter, und stellenweise hörte man sie auch nicht. Und auch optisch gab sie als Königin von Karthago nicht viel her (dass ist jetzt ein bisschen gemein, aber es war eine halbszenische Aufführung– ich machte im diskret-unterkühlten Liebesduett lieber die Augen zu und gab mich dem Klang hin, das Leben ist eben nicht Holywood).
Star war aber vor allem der junge, langbeinig-attraktive Dirigent Dinis Sousa am Pult des genannten Klangkörpers, der unglaublich fetzige Tempi vorlegte, wo gefordert, auch mal breit ausmusizierte (wie in den Liebes-Szenen), der wie bereits erwähnt aus der Musik (für mich) absolut Ungehörtes herausholte und sicher nicht nur mir einen nachhaltig-bewegenden Abend bereitete. „So hab´ ich das noch nie gehört!“ In der Tat, hab´ ich wirklich nicht. Geerd Heinsen
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PS.: Für Interessierte werden in Deutschlandfunk Kultur von den BBC Proms die dortigen Aufführungen von A1 – A2 am 22. September und A3 – 5 am 23. September 2023 übertragen; und nochmal ein Kompliment an die gute Pressearbeit des Musikfestes Berlin bereits im Vorfeld.
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Il Bel Canto Ritrovato Festival im Teatro Sperimentale, Pesaro: Luigi Riccis komische Oper Il birraio di Preston (Der Bierbrauer von Preston). 1997 veröffentlichte Andrea Camilleri, der sizilianische Schriftsteller und Autor der äußerst beliebten Krimireihe um Inspektor Montalbano, einen Roman mit dem Titel Il birraio di Preston, in dessen Mittelpunkt ein Ereignis in Camilleris fiktivem Vigàta in den 1870er Jahren nach der Einigung Italiens steht. Die Bevölkerung ist verärgert, weil die neue nationale Regierung einen Präfekten, Eugenio Bortuzzi, einen Florentiner, in die Stadt entsandt hat. Bortuzzi hat ein neues Opernhaus errichten lassen und zur Einweihung eine Oper, Il birraio di Preston von Luigi Ricci, ausgewählt, die 1847 in Florenz uraufgeführt wurde. Die konservative Bevölkerung ist wütend darüber, dass ein „Ausländer“, ein Florentiner, den Sizilianern florentinische Musik aufzwingt, buht die Darsteller aus und brennt das Haus während der Aufführung nieder. Der Vorfall ereignete sich tatsächlich in der sizilianischen Stadt Caltanisetta und bildet den Dreh- und Angelpunkt von Camilleris faszinierendem, komisch-sardonischem Roman.
Dabei erfahren wir viel über die Oper im Italien der 1870er Jahre, einschließlich der Kontroverse zwischen Wagners Musik und der einheimischen italienischen Oper. Luigi Riccis Oper wird zum Symbol für alles, was die Sizilianer an der neuen nationalen Regierung, die sich ihren Traditionen aufzwingt, nicht mochten. Die Tatsache, dass der Roman Riccis Titel aufgreift, scheint Teil der Ironie zu sein, die in Camilleri allgegenwärtig ist, da es in dem Roman nicht wirklich um Il birraio di Preston geht, sondern um die sizilianische Haltung und den Unmut gegenüber einer fernen, zentralisierten Regierung. Es gibt keinen Grund, warum die Sizilianer Riccis Oper verschmähen sollten, auch wenn sie in Florenz uraufgeführt wurde, denn Luigi Ricci war wie sein Bruder Federico ein gebürtiger Neapolitaner, der aus demselben Königreich der beiden Sizilien stammte, das über den größten Teil Süditaliens, einschließlich Siziliens, geherrscht hatte, und Riccis Musik strotzt nur so vor neapolitanischen Melodien.
Luigi Riccis Oper „Il birraio di Preston“ beim Bel Canto Ritrovato Festival 2023/Szene/Foto Angelucci
Bisher schien es, als ob wir Opernliebhaber nie erfahren würden, ob Luigi Riccis Oper so „mittelmäßig“ war, wie die Beschreibung auf dem Romanumschlag behauptet. Obwohl die Brüder Ricci einzeln und zusammen etwa sechzig Opern geschrieben haben und viele von ihnen einst sehr populär waren, ist es heute schwierig, eine Aufführung zu finden. Es war also ein echter Glücksfall, dass das neue nationale Festival Il Bel Canto Ritrovato beschloss, Il birraio di Preston bei seiner zweiten Auflage im August in Pesaro und Umgebung aufzuführen. War es „mittelmäßig“? Nun, die Handlung war ein wenig abgenutzt, aber die Oper strotzte nur so vor wunderbaren Melodien, lebhaften Rhythmen und geschickter Orchestrierung. Es handelt sich nicht um eine komplexe und „ernste“ Komödie wie Verdis Falstaff oder sogar Camilleris Roman, aber es war ein durch und durch vergnüglicher Abend mit viel Spaß und der Entdeckung wertvoller verlorener Werke, die das Festival verspricht.
Die Handlung von Il birraio di Preston (die Oper) dreht sich um eineiige Zwillinge und die Verwirrung, die entsteht, als sie miteinander verwechselt werden. Das Libretto von Francesco Guidi, das auf der Oper Le brasseur de Preston von Adolphe Adam aus dem Jahr 1838 basiert, ist ziemlich vorhersehbar, aber unterhaltsam, mit cleveren Situationen für komische Duette, Trios und Ensembles – und sogar einigen Arien.
Eine Verwechslungskomödie mit eineiigen Zwillingen muss für Luigi Ricci, der den größten Teil seiner zwanzig Jahre mit Zwillingsschwestern zusammenlebte, besonders bedeutsam gewesen sein. Ricci lernte die siebzehnjährigen Stolz-Schwestern Franziska und Ludmilla kennen, als sie seine Gesangsschülerinnen waren. Sie lebten offen in Triest zusammen, bis ein Skandal Ricci dazu zwang, eine Stelle in Odessa anzunehmen, um dort die italienische Oper zu verwalten. Die Schwestern kamen mit, und Ricci schrieb eine Oper (La solitaria delle Asturie) für sie. Zurück in Triest heiratete Luigi Ludmila, trennte sich aber nicht von Franziska, die er Fanny nannte. Um einen Skandal zu vermeiden, zogen sie in ein Haus, das jede Schwester zur Hälfte bewohnte. Aber laut dem scharfsinnigen Chronisten der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts, Bellinis Freund Francisco Florimo, ließ Luigi hinter einem Schrank eine Geheimtür einbauen, die es ihnen – und ihm – ermöglichte, sich problemlos hin und her zu bewegen. Es funktionierte, bis eines Tages eine Primadonna mit ihrem Mann Luigi besuchte. Fanny, die eine unbekannte Frauenstimme hörte, brach in einem Anfall von Eifersucht durch den Schrank und schockierte damit alle. Ludmilla schenkte Luigi bald eine Tochter namens Adelaide, die Sängerin wurde, und ein Jahr später schenkte Fanny ihm einen Sohn, Luigino, der wie sein Vater Komponist wurde.
Opernliebhaber wissen heute vielleicht nicht viel über die Brüder Ricci, aber sie kennen wahrscheinlich die berühmte Tarantella aus Luigis La festa di Piedigrotta, auch wenn sie nicht wissen, dass sie aus einer Ricci-Oper stammt. Diese allgegenwärtige Melodie, die so sehr ein Synonym für italienische (und insbesondere neapolitanische) Musik ist, ist typisch für Luigis Fähigkeit, Musik mit Ohrwurmcharakter zu kreieren. Die Musik von Il birraio ist in diesem Sinne – unermüdlich melodisch, eine Kaskade italienischer Melodien. Im 1. Akt sticht Effys Eingangsarie „La vecchia Magge“ hervor. Die alte Maggie hat der hübschen jungen Effy beigebracht, wie man sich Männern nähert und einen Ehemann findet. Letzteres ist ihr nicht besonders gut gelungen, bis Daniele auftauchte, aber er ist reich, hat einen guten Job und ein gutes Herz, auch wenn er ein bisschen langweilig ist. Die beste Musik gibt es im 2. Akt, mit einer eingängigen Cavatina für Oliviero, einen Tenor, komplett mit ausgelassener Cabaletta („Al furor d’un cor ardente“); Tobias ungewöhnliche Brindisi, „Era Tom un dragone valente“, über einen Soldaten, der „wisky“ für Bier aufgibt; das wunderbare Trio („Or conviene d’un soldato“) zwischen Daniele, Tobia und Effy, als sie beide Daniele „lehren“, wie man ein richtiger Soldat ist; und ein grandioses Finale mit einem wunderbaren, langen pezzo concertato, „Per secondar l’intrepido“, das zahlreiche melodische Themen durchläuft, eines besser als das andere. Ich für meinen Teil wollte nicht, dass es aufhört. Im 3. Akt gibt es auch einen „pezzo concertato“ und ein komisches Duett („La vederemo…la vedremo“), in dem Effy und Anna sich gegenseitig als potenzielle Bräute von Daniele/Giorgio einschätzen, die sie für ein und dieselbe Person halten. Effy hat am Ende eine große Arie in halb-ernster Manier („Deh! ch’ei non sia la vittima“), gefolgt von ihrer köstlichen Walzer-Final-Cabaletta. Mit anderen Worten: Jede Nummer ist ein Genuss.
Donizettis wohlwollender Geist schwebt über der Partitur von Ricci, insbesondere über dem Donizetti von La fille du règiment (1840) und vielleicht Betly (1836). La fille du règiment ist das Paradebeispiel für die in den Opern dieser Zeit vorherrschende Mode, dass eine Frau in einem Soldatenkostüm zu martialischer Musik herummarschiert. Effy, die mutiger ist als der schüchterne Daniele, zieht sich einen Soldatenmantel über ihr Kleid, und im zweiten Akt bringt Tobia ihr bei, wie man marschiert, ein Schwert hält und auch sonst „soldatisch“ auftritt – und sie bringt es Daniele bei, und das alles im köstlichen Trio „In un momento“, das mit „Rataplans“ gespickt ist, wie sie Marie in La fille du règiment singt. Verdi benutzte die Trope noch 1862 in La forza del destino, als Preziosilla zwei martialische Stücke mit ihren eigenen „rataplans“ hat.
Luigi Riccis Oper „Il birraio di Preston“ beim Bel Canto Ritrovato Festival 2023/Szene/Foto Angelucci
Die komisch-martialische Atmosphäre der Geschichte verleiht der Trompete neben dem Schlagzeug eine herausragende Rolle in der Orchestrierung. Es gibt zwei Trompetenstimmen, und die Trompeter sind fast immer im Einsatz, um Melodien zu unterstreichen, einen kleinen Kontrapunkt zu setzen oder Trompetenrufe auszuführen. Im Gegensatz zu früheren Opern von Rossini und Donizetti gibt es keine klangvollen obligaten Stimmen für Flöte, Klarinette oder Oboe, die dem Sänger Gegenmelodien bieten. Nicht einmal ein Waldhorn. All dies verleiht der Orchestrierung eine bandartige Qualität und macht die Partitur zu einer Art Brücke zwischen komischer Oper und Operette. Der Sprung von Ricci zu von Suppé oder gar Johann Strauss ist nicht groß.
Luigi und Federico Ricci setzten den von Donizetti begonnenen Trend fort, der Opera buffa wie Nemorinos „Una furtiva lagrima“ ein sentimentales Element zu verleihen. Wie Will Crutchfield feststellte, hielt der Walzer nach etwa 1845 als wichtiges Element Einzug in die italienische Oper, und die Brüder Ricci nutzten diesen neuen Tanz mit Sicherheit aus. Il birraio di Preston (1847) enthält mehrere Walzer, darunter die Schlussarie. Obwohl er in Wien als Tanz erfunden wurde, hielt der Walzer laut Crutchfield erstmals in italienischen Werken der Jahrhundertmitte Einzug in die Oper, bevor er die Alpen wieder überquerte und zum dominierenden Element der Wiener Operette wurde.
Il Bel Canto Ritrovato fand unter den Sängern der mit dem ROF verbundenen Rossini-Akademie eine hervorragende junge Besetzung. Inés Lorans als Effy zeigte leichte Koloraturen, ein angenehmes Sopran-Timbre, und sie war sehr lebhaft auf der Bühne und agierte mit perfektem komischen Timing. Gianni Giuga als Daniele war angemessen schüchtern und ein wenig dümmlich, aber seine Bassstimme war groß und ansprechend. Der Bariton Francesco Samuel Venturi sang den Tobia, und er stach in verschiedenen Ensemblenummern hervor. Der Tenor Antonio Garés war der empörte Sir Oliviero Jenkins. Er bekommt eine formale Arie mit Cabaletta zu Beginn des 2. Aktes („Anna si stempra in lacrime“), wo er etwas gestresst wirkte und Probleme mit den hohen Tönen hatte, aber für den Rest der Oper beruhigte er sich und sang gut in einem Duett mit Daniele und in Ensembles. Aloisa Aisemberg war ein keckes Fräulein Anna – eine gute Komödiantin mit einer schönen Stimme. Alessandro Abis, Nicola Di Filippo und Simone Nicoletto rundeten die Besetzung ab. Daniele Agiman dirigierte das Orchestra Sinfonica G. Rossini und den Chor des Teatro della Fortuna mit Schwung und Verve und scheinbarer Liebe zur Musik.
Die Inszenierung von Daniele Piscopo (noch ein Daniele!) war einfach, geradlinig und folgte der Geschichte: kein „Konzept“, keine Geringschätzung des Realismus, kein Eurotrash. Bravo! Er setzte mehrere Projektionen ein, von denen viele cartoonhaft komisch waren, um die Geschichte zu untermalen und ironisch zu kommentieren. Das alles funktionierte perfekt. Es war kein ernster Abend im Teatro Sperimentale in Pesaro, aber das Publikum amüsierte sich prächtig und belohnte die jungen Sängerinnen und Sänger mit langem Applaus. Zum Schluss gab es noch einen besonderen Leckerbissen: Das Festival hatte mit einer Brauerei in Pesaro vereinbart, dass jeder, der eine Eintrittskarte für die Oper hatte, nach der Aufführung ein Freibier bekam. Wie Tobia in seinem ungewöhnlichen bierigen Brindisi singt. Charles Jernigan/ Übersetzt mit www.DeepL.com
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Festival Belcanto ritrovato in Fano Corte Malatestiana / Foto Angelucci
Fano/ Pesaro /Corte Malatestiana : I NOSTRI PER ROSSINI am 24.8.2023 (im Rahmen des neuen Festivals Il Belcanto ritrovato). Die Idee ist so watscheneinfach, dass man sich wundert, dass noch niemand vorher drauf gekommen ist. Es ist ja allgemein bekannt, dass Gioacchino Rossini, wenn er einen Abgabetermin einzuhalten hatte und ihn „die zehnte Muse“ (= die Eile) auch noch nicht ausgiebig genug geküsst hatte, die Komposition einiger fehlender Neben-Arien delegierte, „outsourcete“, an ihm nahestehende Mitarbeiter und Kollegen (die alle hochstehende Musiker waren !) als Sub-Unternehmer in Auftrag gab. Was läge also näher, als alle diese zwar eindeutig nicht vom Meister selbst stammenden, teilweise aber noch immer nicht einem Komponisten zuordenbaren Arien einmal an einem Abend aufzuführen? Das dachte sich auch das Leading Team des noch jungen Festivals Il Belcanto Ritrovato und startete seine zweite Saison im wunderschönen und wunderschön renovierten „Corte Malatestiana“ in Pesaros Nachbarstadt Fano. Dargeboten wurden: Einlagearien von Domenico Mombelli („Demetrio e Polibio“), Pietro Romani (il Barbiere di Siviglia“), Luca Agolini („ La Cenerentola“), Michele Carafa („Mosè in Egitto“) und Giovanni Tadolini („Stabat Mater“) aber auch von bis heute unbekannten Mit-Komponisten (für „Adina“, „Tancredi“ und „L‘Italiana in Algeri“ etc.) Die Initiative ist äusserst lobenswert und äußerst spannend. Nicht sehr überraschenderweise war der Erkenntnisgewinn dieses Abends aber ein ähnlicher wie bei der Birraio-Oper am Tag darauf: nämlich der, uns den Qualitätsunterschied zwischen dem Meister aller Meister und seinen unmittelbaren Zeitgenossen (die ja mit seinem Werk engstens vertraut waren) vor Ohren zu führen. Es gibt ihn halt, den Götterfunken, es gibt sie halt, die Inspiration, es gibt es halt, das Genie… Außerdem müssten die Festivalmacher bei der Auswahl der Sänger eine größere Sorgfalt an den Tag legen. Wenn da nicht absolute Qualität vorherrscht (was bei diesem Konzert leider nicht der Fall war) wird man selbst die geneigtesten Musikfreunde nicht von auch noch so interessanten Wieder-Entdeckungen überzeugen können… Aber die Nacht war lau, der Mond nahm zu, und der Corte Malatestiana bezauberte uns alle… Robert Quitta, Fano (mit Dank an den Autor und das Internetmagazin online merker, bei dem dieser Artikel erstmals erschien)
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Salzburger Festspiele 2023: Szenische und konzertante Ereignisse: Es ist eine schöne Tradition in Salzburg, dass eine Produktion der Pfingstfestspiele in das Sommerprogramm übernommen wird, was Cecilia Bartoli Gelegenheit gibt, zweimal im Jahr an der Salzach aufzutreten. In diesem Jahr war sie als männlicher Titelheld in Glucks Orfeo ed Euridice zu erleben. Christof Loy, mit dem die Sängerin schon mehrfach zusammengearbeitet hat, inszenierte und choreografierte die Azione teatrale per musica in der Fassung für Parma 1769 (mit Anleihen aus denen von Paris und Wien) und verweigerte deren lieto fine. Wie zu Beginn trauert Orfeo auch am Schluss um Euridice – sein schmerzvolles Leiden wiederholt sich, ist endlos. Johannes Leiackers schmuckloser hoher Einheitsraum ist halbhoch mit dunklem Holz getäfelt und erinnert in seinem Treppenaufbau an die im Programmheft abgebildeten Bühnenbildentwürfe von Adolphe Appia zu Glucks Oper 1926. Der Regisseur hat einem Ensemble aus 14 Tänzerinnen und Tänzern eine vitale Choreografie mit hektischen Bewegungen und panischen Zuckungen verordnet, welche die Dramatik des Geschehens unterstreichen. Auch der von Jacopo Facchini einstudierte Chor, Il Canto di Orfeo, ist in die szenischen Aktionen einbezogen und singt darüber hinaus mit bestechender Klangkultur und dramatischem Impetus. Schneidend schleudern die Furien Orfeo ihr „No“ entgegen, sanftmütig erklingen die seligen Geister.
Ceciilia Bartoli/Foto Decca
Musikalisch besitzt die Aufführung ohnehin ein Ausnahme-Niveau, denn Gianluca Capuana feuert Les Musiciens du Prince – Monaco zu einem Spiel von Atem beraubender Dynamik an. Schier unerschöpflich ist die Farbpalette – von harschen Akkorden in der Ouvertüre über furios donnernde Gewalten in der Unterwelt bis zu kantabler Lyrik und der würdevollen Stille, mit der das Werk schließt.
Die Bartoli im schwarzen Hosenanzug (Kostüme: Ursula Renzenbrink) bringt sich mit engagierter Darstellung vehement in das Geschehen ein, singt mit Hochdruck und äußerster Erregung, was ihrem Gesang, vor allem in dramatischen Momenten, gelegentlich auch einen schimpfenden Beiklang verleiht. Überraschend beginnt die berühmte Nummer „Che farò“ in hektischer Atemlosigkeit und bietet erst im Da capo das bekannte Zeitmaß. Das Programmheft verweist auf Quellen, welche mehrere Interpretationshinweise zum Tempo beinhalten – von larghetto bis vivace con disperazione – und zweifellos hat sich die Salzburger Produktion für die letztere Variante entschieden. Trotz dieser überraschenden Wahl markiert die Sängerin hier den vokalen Höhepunkt der Aufführung. Ergreifend schreitet sie am Ende die oberste Treppe hinauf und verschwindet in einer schwarzen Toröffnung. Neben ihr ist Mélissa Petit im weißen Gewand eine Euridice mit schönem lyrischem Fundament, Madison Nonoa im schwarzen Kleid stattet den Amore mit lieblichen Soprantönen aus (7. 8. 2023).
Bohuslav Martinu/ Wikipedia
Unter den szenischen Neuproduktionen des Sommers nahm die von Bohuslav Martinus Oper The Greek Passion einen gewichtigen Platz ein, wurde das Stück doch noch nie in Salzburg gezeigt. Der Komponist entwirft in seinem letzten Werk, für das der Roman Christus wird wiedergekreuzigt von Nikos Kazantzakis als Vorlage diente, ein beklemmendes Flüchtlingsdrama. Die Bewohner des griechischen Dorfes Lycovrissi, die alle sieben Jahre zu Ostern ein Passionsspiel aufführen, werden von Flüchtenden aus dem Nachbarort um Nahrung und Land gebeten, was sie ihnen verweigern. Für die Produktion in der Felsenreitschule wurde die 1961 in Zürich uraufgeführte Zweitfassung gewählt, welche Regisseur Simon Stone für kompakter und im Aufbau raffinierter hält. Seine Inszenierung auf der hellen leeren Bühne von Lizzie Clachan, die lediglich einige quadratische Öffnungen in der hinteren Wand und Vertiefungen im Boden aufweist, nutzt aktuelle Bilder unserer Zeit, wenn die Flüchtlinge in bunter Kleidung (Mel Page) mit Schwimmwesten, Fluchtgepäck und Zelten auftreten und damit einen starken farblichen Kontrast zur uniform hellgrau gekleideten Masse der Dorfbevölkerung abgeben. Deren Oberhaupt ist Priester Grigoris – ein Fanatiker mit starrer Haltung bis zur Unmenschlichkeit, den Gábor Bretz mit potentem Bassbariton singt. Sein Gegenpol ist Priester Fotis, Anführer der Flüchtenden, dem Lukasz Golinski mit machtvollem Bassbariton markantes Profil verleiht. Eine zentrale und die menschlichste Figur des Stückes ist der Hirte Manolios, der im Passionsspiel die Rolle des Christus übernehmen soll. Der Tenor Sebastian Kohlhepp singt mit lyrischem Nachdruck und zeichnet eindrücklich die Wandlung dieses Mannes nach, der sich in der Flüchtlingsfrage gegen die Mächtigen des Dorfes stellt. Damit erregt er den Hass von Grigoris, der ihn aus der Gemeinschaft ausschließt und exkommunizieren lässt. Zwei Frauen gelten seine Gefühle – seiner Verlobten Lenio, die Christina Gansch mit leuchtendem jugendlichem Sopran als sympathischem Charakter zeichnet, und der Witwe Katerina, der im Spiel die Rolle der Maria Magdalena anvertraut wurde und die sich gleichfalls als hilfsbereit gegenüber den Flüchtlingen erweist. Sara Jakubiak, an der Deutschen Oper Berlin als Heliane und Francesca da Rimini erfolgreich, sorgte auch bei ihrem Salzburger Debüt für Aufsehen mit intensiver Darstellung und expressivem Gesang. Neben flammenden Ausbrüchen (so im Duett mit Manolios) bietet sie in ihrer Erzählung über Maria Magdalena auch lyrische Innigkeit. Zu sängerdarstellerischer Intensität findet der Tenor Charles Workman als Händler Yannakos, der sich zunächst zu unlauteren Tauschgeschäften mit den Flüchtlingen überreden lässt, dann aber moralische Integrität zeigt. 13 Solopartien schreibt Martinu vor und alle bis auf die kleinste sind in dieser Aufführung kompetent besetzt. Zu nennen wären noch die Tenöre Aljoscha Lennert als Nikolio, der Lenio heiratet, Julian Hubbard als Panais, Matteo Ivan Rasic als Andonis und Matthäus Schmidlechner als Michelis.
Eine enorme Herausforderung für jede Produktion sind die beiden groß besetzten Chöre für die Dorfbewohner und die Flüchtlinge. Ersterer tritt zu Beginn mit einem byzantinischen Hymnus auf, während der zweite sich aus dem Off mit einem Psalm ankündigt. Erstmals vereint sind beide Formationen im erschütternden Trauergesang über den Tod von Manolios, der von Panais ermordet wurde. Die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Huw Rhys James) und der Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor (Wolfgang Götz) sorgen für einen gewaltigen, dabei stets differenzierten Chorklang. Nachdem ihr Zeltcamp vom Mob verwüstet und in großen Lettern „Refugees out“ an die Wand geschrieben wurde, verlassen die Flüchtlinge am Ende den Ort als ein ergreifendes Bild der Hoffnungslosigkeit.
Martinus vielschichtige Komposition mit ihren byzantinischen Hymnen, aufgetürmten Klangblöcken, aggressiven Dissonanzen, impressionistischen Valeurs, anatolischen Tanzrhythmen und dem schwelgerischen Melos wurde von den Wiener Philharmonikern und deren Angelika Prokopp Sommerakademie unter Leitung von Maxime Pascal exemplarisch interpretiert. Publikum und Medien feierten diese Produktion als den Höhepunkt des diesjährigen Festspielprogramms (18. 8. 2023).
Omaggio a Bellini/ OBA
Stets bieten die konzertanten Opernaufführungen bei den Festspielen willkommene Begegnungen mit selten aufgeführten Werken oder begabten jungen Sängern. So am 21. 8. 2023 bei Vincenzo Bellinis Tragedia lirica I Capuleti e i Montecchi. Wie der Titel aussagt, fokussierte der Komponist das Geschehen auf die beiden verfeindeten Adelsfamilien in Verona, welche vom Philharmonia Chor. Wien (Walter Zeh) wahrgenommen wurden. Dessen Stärke ist nicht unbedingt die Italianità, aber der muntere Gesang bei „Lieta notte“ im 1. Akt und die elegische Klage „Siam giunti“ bei Giuliettas vermeintlichem Tod waren überzeugende Momente. Mit Marco Armiliato stand ein im italienischen Repertoire versierter Dirigent am Pult des Mozarteum Orchesters Salzburg, der die einleitende Sinfonia mit pulsierendem rossinischem Esprit bot, subtile Passagen bei Giuliettas Auftrittskavatine und bei der Introduzione zum 2. Akt hören ließ und die beiden Finali souverän zusammen hielt. Vor allem in dem zum 1. Akt verblendeten sich die Stimmen der Solisten und des Chores sowie die Musiker des Orchesters zu einem so harmonischen wie packenden Zusammenklang.
Die Besetzung wurde dominiert von der jungen Russin Aigul Akhmetshina als Romeo, deren Auftritt einer veritablen Sensation gleich kam. Wie elektrisiert war man schon bei ihrem ersten Auftritt mit der schwelgerischen Kavatine „Lieto del dolce incarco“, bei der sie mit ihrem voluminösen, generös strömenden Mezzo den Riesenraum der Felsenreitschule mühelos füllte. Die satte Tiefe, die strahlende Höhe in der Sopranregion, das sinnliche Vibrato und der energische Aplomb waren auch für die Cabaletta „Se Romeo t’uccise un figlio“ ideale stimmliche Voraussetzungen. Berührend ihre letzte Szene an Giuliettas Grab „Ecco la tomba“ mit der nachfolgenden wehmütigen Kavatine „Deh! tu, bell’anima“ mit berückend schönen Tönen. Gern hätte man von ihr noch die alternative Finalversion von Nicola Vaccai gehört, welche viele berühmte Sängerinnen der Partie in ihre Interpretation interpoliert haben. Nach ihrer Ausnahmeleistung sah sich die Sängerin vom Publikum enthusiastisch gefeiert.
An ihrer Seite war Elsa Dreisig eine solide Giulietta mit recht anonymem lyrischem Sopran und greller exponierter Höhe. In ihrer Auftrittskavatine „Oh! quante volte“ gefielen die Leuchtkraft und der melancholisch umflorte Klang. Im Duett mit Romeo, das Akhmetshina mit Verve anstimmte, verblendete sich ihre Stimme perfekt mit der ihrer Partnerin. Die nicht sehr umfangreiche Partie des Tebaldo wird zumeist mit einem Startenor besetzt, ist doch im 1. Akt eine bravouröse Kavatine mit virtuosem Schlussteil („L’amo tanto“) zu absolvieren. Der Italiener Giovanni Sala ließ eine kraftvolle, voluminöse Stimme hören, wirkte aber in seinem Vortrag etwas phlegmatisch und bei den Spitzentönen gefährdet. Darunter litt vor allem das letzte Duett mit Romeo an Giuliettas Grab („Deserto è il luogo“). Ansprechend besetzt waren die beiden Basspartien der Oper mit Michele Pertusi (autoritär als Capellio) und Roberto Tagliavini (stimmgewaltig als Lorenzo).
Mit Hector Berlioz’ opus magnum Les Troyens gab es am 26. 8. 2023 im Großen Festspielhaus ein würdiges Finale der Festspiele. Mit dem Monteverdi Choir und dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique waren Spitzenkräfte aufgeboten, welche die Grand Opéra nach intensiven Proben im Rahmen einer Tournee (Versailles, Salzburg, Berlin, London) aufführen. Nach der Absage von John Eliot Gardiner übernahm dessen Assistent Dinis Sousa die Leitung. Der junge portugiesische Dirigent hielt den riesigen Apparat mit Besonnenheit und Präzision zusammen, wahrte die Klangbalance mit der Bühnenmusik hinter der Szene und entwickelte imponierende Tableaus (so bei der Marche troyenne im Finale des 1. oder der Chasse royale et orage zu Beginn des 4. Aktes). Das auf historischen Klang spezialisierte Orchester sorgte für ein an Farben und Schattierungen reiches Spiel, in welchem die Saxhörner (erfunden von Adolphe Sax) besondere Aufmerksamkeit erregten. Die ungekürzte Aufführung verzichtete auch nicht auf die Ballettmusiken, wie sie in einer Grand Opéra obligatorisch sind. Besonders reizvoll waren die orientalisch anmutenden Ballets im 4. Akt mit Pas des Almées, Danse des Esclaves und Pas d’Esclaves nubiennes.
„Les Troyens“ von Hector Berlioz beim Musikfest Berlin 2023: der junge Dirigent Dinis Sousa/ Foto c. Fabian Schellhorn/Berliner Musikfest
Phänomenal der Monteverdi Choir in seiner Homogenität und Präzision. Die als Konzertante Aufführung ausgewiesene Interpretation erwies sich als Halbszenische, denn sowohl der Chor als auch die Solisten warteten mit szenischen Aktionen auf. Gewaltig der Auftritt, wenn die Mitglieder zum Choeur de la populace troyenne hereinstürzen, dramatisch packend Cassandres Abschied vom Leben und die kollektive Selbsttötung der Trojanerinnen an der Rampe am Ende des 2. Aktes. Hymnisch preist der Chor als Volk von Karthago seine junge Königin Didon für ihre Schönheit und Anmut zu Beginn des 3. Aktes. Mit einem Trauergesang bei der Cérémonie funèbre im 5. Akt („Dieux de l’oubli“) und einem aggressiven Hassgesang auf Énée, der Didon verlassen hat, um auf Geheiß von Hectors Geist (Alex Rosen mit schwarzem Bass) in Italien ein neues Reich zu gründen, hat der Chor bis zum Ende vielfältige Auftritte, die er in bewunderungswürdiger Perfektion und phantastischer Klangkultur absolviert.
Zwei starke Frauen dominieren die beiden großen Teile des Werkes. In La Prise de Troie kämpft die Seherin Cassandre gegen die Blindheit ihres Volkes, hat sie doch die List der abziehenden Griechen mit dem zurückgelassenen hölzernen Pferd durchschaut. Die britische Mezzosopranistin Alice Coote in kupfern glänzender Paillettenrobe hatte keine Mühe, die Szene zu dominieren, weil ihre in der oberen Lage metallisch grelle Stimme von müheloser Durchschlagskraft war und ihr Vortrag von flammender Intensität. Das schwungvolle Duett mit Chorèbe (Lionel Lhote mit warmem, weichem Bariton) markierte das erste vokale Glanzlicht der Aufführung. Im zweiten Hauptteil, Les Troyens à Carthage, ist es Königin Didon, die aus enttäuschter Liebe und verletztem Stolz aus dem Leben scheidet. Die irische Mezzosopranistin Paula Murrihy in leuchtend rotem Gewand sang die Partie zwar mit höchster Intensität und reicher Farbpalette bis hin zu Vokalverfärbungen, aber der Stimme fehlte grandeur, nicht selten klang sie larmoyant und am Ende in ihrem Zorn keifend. Expressiv gestaltet sie die Todesszene („Ah! Je vais mourir…“) mit fahlem Lallen und tonlosem Stammeln. Starken Eindruck hinterließ Beth Taylor als ihre Schwester Anna mit individuellem, gutturalem Timbre, üppiger Stimmfülle und resolutem Vortrag. Eine Entdeckung auch der junge britische Tenor Laurence Kilsby, der das Lied des Iopas „O blonde Cérès“ mit schwebenden Tönen bis in die exponierte Höhe bezaubernd vortrug und beim wehmütigen, sehnsuchtsvollen Lied des Matrosen Hylas zu Beginn des letzten Aktes („Vallon sonore“) mit feinen Valeurs betörte.
„Les Troyens“ von Hector Berlioz beim Musikfest Berlin 2023: Alice Coote als Cassandra neben Michael Spyres/ Foto c._Fabian Schellhorn/Berliner Musikfest
In beiden Teilen präsent ist Énée und hat damit eine der anspruchsvollsten Rollen des Tenor-Repertoires zu bewältigen. Der Amerikaner Michael Spyres bot mit „Du peuple et des soldats“ einen fulminanten ersten Auftritt und imponiert auch bei „O lumière de Troie!“ im 2. Akt mit seiner heroischen Verve und Stimmkraft. Im berühmten Duett mit Didon „Nuit d’ivresse“ findet sein Tenor zu trunkener Sinnlichkeit und harmoniert ideal mit Murrihys Mezzo. Spyres ist ein Ausnahme-Tenor, dessen Gesang oft eine majestätische Dimension erreicht, doch in seiner großen Szene des 5. Aktes kam er am Ende hörbar in Bedrängnis und konnte die heiklen Spitzennoten nur mit forciertem Einsatz erreichen. Nach der Aufführung von mehr als fünf Stunden Dauer feierte das Publikum alle Interpreten mit gebührend enthusiastischem Beifall. Bernd Hoppe
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Rossini Opera Festival Pesaro 2023: 3 Ziegen und nackte Zombies. In diesem Jahr hat das ROF die letzte seiner 39 Opern auf den Spielplan gesetzt, wenn auch die 28. in der Reihenfolge ihrer Komposition, nämlich Eduardo e Cristina. (…) Die ROF-Inszenierung von Stefano Poda ignoriert die Geschichte so vollständig, dass man nicht sagen kann, dass das Rossini Festival diese besondere Oper aufgeführt hat. Die Musik war da, manchmal gekonnt, manchmal nicht so sehr, aber was immer wir auf der Bühne sahen, es war nicht Eduardo e Cristina. Stattdessen sahen wir Podas Narzissmus und Ängste, dargestellt durch Mimen, Tänzer und Akrobaten, die die meiste Zeit über fast völlig nackt und mit weißer Körperbemalung auftraten. Sie bildeten und formten verschiedene Posen um die Sängerinnen und Sänger, die – zum Glück – ihre Kleidung anbehielten. Große Metallboxen wurden von den Männern in Suspensorien und den Frauen in String-Bikinis auf der Bühne herumgeschoben. Ein riesiger weißer Hintergrund zeigte zerbrochene Stücke klassischer Skulpturen, und große verglaste Kästen mit scheinbar zusammenliegenden Skulpturen von Männern und Frauen bildeten die Seiten der Bühne. Poda entwarf die Kostüme, die Beleuchtung und das Bühnenbild, führte Regie und choreografierte das Ganze. „The night oft he living dead!“ (…)
Pesaro Rossini Festival 2023: Cristina (Bartoli) and Eduardo (Barcelona); Carlo (Scala), Bartoli, Shkarupa/ Foto ROF
Die musikalischen Darbietungen konnten den kindischen Unfug auf der Bühne nur teilweise retten. Anastasia Bartoli hat eine sehr große Stimme und sie beherrschte die Koloraturen, aber ihr Ton war oft metallisch und manchmal wirkte sie einfach laut. Enea Scala als König Carlo schrie leider noch mehr, und er war in seiner großen Arie, die er aus Ermione übernommen hatte, deutlich unterfordert. Gut gesungen ist sie eine Tour de Force, schlecht gesungen ist sie einfach nur lang. Daniela Barcelona als Eduardo wirkte auf mich müde, obwohl sie in der zweiten Aufführung, die wir sahen (17. August), besser war; vielleicht war sie aber auch nur entmutigt, weil sie in einer so schrecklichen Produktion mitwirken musste. Die schauspielerische Leistung bestand vor allem darin, Posen einzunehmen. Scala (König Carlo) hingegen musste, wenn er nicht gerade sang, auf der Bühne herumhüpfen, sah geistesgestört aus und schlug auf die Genitalien einer großen griechischen Statue, die Poda auf die Bühne stellte. Gregory Shkarupa sang den Giacomo und Matteo Roma Atlei kompetent. Shakarupa hatte die undankbare Aufgabe, eine Arie zu singen, die noch aus der Originalpartitur von Pavesi stammte, aber er sang sie gut. Ich weiß nicht, wer Gustavo spielte (am Ende waren es zwei, einer in Weiß und einer in Schwarz, was etwas Wichtiges bedeutet). Jader Bignamini dirigierte das 56-köpfige Orchestra Sinfonica Nationale della RAI und den Chor des Teatro Ventidio Basso.
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Adelaide di Borgogna, oder Küss mich, Olga: Offensichtlich hat der Regisseur dieser selten gespielten Rossini-Oper, Arnaud Bernard sich ein altbewährtes und abgedroschenes Konzept ausgedacht, um die Geschichte nicht direkt erzählen zu müssen. Adelaide war bei ihrer Uraufführung in Rom im Dezember 1817 nicht sehr erfolgreich (und Rossini griff sofort auf die Musik für Eduardo e Cristina zurück, so dass es interessant war, die beiden Werke mehr oder weniger Rücken an Rücken zu sehen). Die knarzige Handlung wird durch eine knarzige Poesie unterstützt, und Regisseur Bernard beschloss, das Libretto zu „retten“, indem er ein separates zeitgenössisches Drama um Schmidts mittelalterliches „dramma per musica in due atti“ legte. (…) Mit anderen Worten: Bernard verwandelt Adelaide di Borgogna in Kiss Me Kate, wo sich die Schauspieler, die Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung proben, auf der Bühne und im Off miteinander streiten. Auch hier gibt es eine zusätzliche „Bedeutungsebene“, denn die Adelaide, Olga Peretyatko, hatte einen sehr öffentlichen, gesellschaftlich vermittelten Streit mit ihrem früheren Ehemann, dem Dirigenten Michele Mariotti, als sie durch Nachrichten herausfand, dass er fremd ging. Am Ende, als Adelaide und Ottone kurz vor der Hochzeit stehen, legt die Mezzosopranistin (Varduhi Abrahamyan) ihr königliches Kostüm ab und lässt ihr Haar herunter, um der Sopranistin einen Heiratsantrag zu machen. Die lieto fine wird keine Vereinigung zwischen dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und der burgundischen Königin sein, sondern eine lesbische Hochzeit zwischen einer Sopranistin und einem Mezzo! Bernards Interaktion mit der Rossini-Oper während der Proben funktioniert eigentlich ziemlich gut, aber dabei verwandelt er ein historisches Drama in eine Komödie, die nicht allzu weit von Donizettis Le convenience ed inconvenienze teatrali entfernt ist – außer dass Donizettis Werk eine Satire über die Tücken der Opernproduktion sein soll. (…) Der Gesang selbst war ziemlich gut. Olga Peretyatko ist immer noch hübsch anzusehen und verfügt über intakte Koloraturen, auch wenn ihre Stimme an Glanz und Charisma verloren hat. Varduhi Abrahamyan in der Rolle des heroischen Hosenscheißers und lesbischen Liebhabers Ottone glänzte in ihren Arien „Soffri la tua sventura“ und „Vieni, tuo sposo“. Der Tenor Adelberto, gesungen von René Barbera, hat eine gewaltige Arie im 2. Akt, „Grida, o natura“, als er zwischen seiner Liebe zu Adelaide und seinem Wunsch, seinen Vater aus der Gefangenschaft zu befreien, hin- und hergerissen ist, und Barbera bewältigte sie auf großartige Weise mit sicheren Höhen und Koloraturen.Berengario wurde vom Bass Riccardo Fassi gesungen, Eurice von Paola Leonci, Iroldo von Valery Makarov und Ernesto von Antonio Mandrillo.
Pesaro Rossini Festival 2023: Szene „Adelaide di Borgogna“/ ROF
In beiden Vorstellungen, die wir sahen (16. und 19. August), war der Dirigent Enrico Lombardi, der in letzter Minute für den angekündigten Dirigenten Francesco Lanzillotta einsprang, der sich bei einem Motorradunfall nach der Premiere Knochenbrüche zugezogen hatte. Lombardi war der junge Assistent von Lanzillotta, und er machte seine Sache ausgezeichnet, indem er das Orchestra Sinfonica della RAI und den Chor des Teatro Ventidio Basso leitete.
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Aureliano in Palmira, oder ein Tenor, ein Mezzo, ein Sopran und drei Ziegen. Rossini verbrachte viel Zeit mit Aureliano in Palmira (1813), aber es war kein Erfolg, wahrscheinlich sowohl aus politischen Gründen als auch aus Gründen der Aufführung. Das Libretto des jungen Felice Romani war so etwas wie ein Rückgriff auf die Art von Opera seria, die das achtzehnte Jahrhundert dominiert hatte, mit wohltätigen römischen Kaisern und Happy Ends. Es war auch die einzige Oper, die Rossini jemals für einen Kastraten (Giambattista Velluti) komponierte. Die wunderbare Ouvertüre wurde zunächst für Elisabetta, Regina d’Inghilterra, seine erste Oper für Neapel, und dann für Il barbiere verwendet. (…) Die Inszenierung von Mario Martone (Bühnenbild von Sergio Tramonti und Kostüme von Ursula Patzak) stammt aus dem Jahr 2014. Martone hat die Geschichte in der antiken römischen Kulisse belassen und nur das Fortepiano auf die Bühne gestellt, manchmal durch Kulissen verdeckt, eben dass die Oper auch eine zeitgenössische Geschichte erzählt, wenn auch an einem antiken Schauplatz: In unserer Zeit ist Palmyra durch den Krieg in Syrien zerstört worden, und der Nahe Osten ist ständig in Aufruhr. Der Hintergrund und die Kulissen suggerieren eine Wüstenlandschaft mit zeltartigen Strukturen, mit Ausnahme der arkadischen Szene, die durch drei langhaarige Ziegen aus Griechenland gekennzeichnet ist. Das idyllische Hirtenleben steht in scharfem Kontrast zu den Kämpfen zwischen den Imperien, wie die Musik („O care selve, o care/stanze di libertà“) und die Ziegen widerspiegeln.
Das ROF brachte für die diesjährige Produktion vier Ziegen aus Griechenland mit, aber eine entkam nach der Generalprobe und machte sich auf den Weg in die ländliche Umgebung der Arena. Auf jeden Fall beschlossen die Verantwortlichen, Ziege Nr. 4 sich selbst zu überlassen, aber wir hatten drei hübsche Ziegen auf der Bühne und „Hirten“, die hinterher mit Schaufeln und Besen aufräumten.
Pesaro Rossini Festival 2023: Szene „Aureliano in Palmira/ ROF
Obwohl die Ziegen niedlich waren, konnten sie die Sänger nicht in den Schatten stellen, da das ROF mit Sara Blanch als Zenobia, Raffaella Lupinacci als Arsace und Alexey Tatarintsev in der Titelrolle die beste Besetzung des diesjährigen Sommerfestivals für Aureliano aufbot. Sara Blanch ist ein echtes Talent: groß und markant, mit silbrigem Sopran und makellosen Koloraturen. Sie ist auch eine gute Schauspielerin und stellte sowohl die stolze Kriegerkönigin als auch die verliebte Frau in gefühlvollen Duetten mit Arsace dar. Besonders gut war ihr langes Schlussduett „Mille sospiri e lagrime“, für das Blanch und Lupinacci auf einem Laufsteg ins Publikum kamen und von vorne im Orchestergraben sangen. Es gab keine überflüssigen Ablenkungen, und das Publikum konnte einen weiteren Moment theatralischen Zaubers und wunderbaren Gesangs genießen. Tatarintsev war auch in der Tenorrolle des Aureliano sehr gut. Seine große Arie „Più non vedra Il perfido“ wurde mit viel Beifall bedacht. Marta Pluda (Publia), Sunnyboy Dladla (Oraspe), Davide Giangregorio (Licinio), Alessandro Abis (Sacerdote) und Elcin Adil (Un Pastore) bildeten den Rest der Besetzung. George Petrou gelang es, die vertraute Musik von Babiere so zu dirigieren, dass sie nicht wie eine Komödie klingt. Mehrere Themen aus der Ouvertüre stammen aus dem Finale des ersten Aktes und klangen im Kontext großartig. Er leitete das Orchester Sinfonia G. Rossini und den Chor des Teatro della Fortuna von Fano, wo der neunjährige Gioachino 1801 im Orchester die Bratsche gespielt hatte, während seine Mutter Anna auf der Bühne in der Oper sang. Es war eine gute und fesselnde Lesung einer langen Oper. Wie in Pesaro, mit allen Rezitativen und der gesamten Musik, dauerte die Aufführung etwas weniger als vier Stunden, mit einer Unterbrechung. Es wäre hart für das Sitzfleisch gewesen, wenn es nicht so gut gewesen wäre (… Kürzungen/ Redaktion/Übersetzung G. H.) Charles Jernigan
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Zum zweiten Mal findet in Kooperation mit dem Festival Alte Musik Knechtsteden auf dem Gelände an der Rennbahn in Neuss die Sommeroper im Globe statt. In der 1991 errichteten maßstabsgetreuen Verkleinerung des Londoner Globe-Theaters, in dem jeden Sommer das Shakespeare Festival mit internationalen und nationalen Theatergruppen den Schwan von Stratford-upon-Avon feiert, gibt es Mitte August erneut Barock-Musik vom Feinsten mit Dorothee Oberlinger und ihrem vor 20 Jahren in Köln gegründeten Ensemble 1700. Während die im letzten Jahr präsentierte Serenata Il giardino d’amore mit Venus und Adonis noch einen direkten Bezug zu Shakespeares epischer Dichtung aufwies, wendet man sich in diesem Jahr einer der berühmtesten mythologischen Figuren der Opernliteratur zu: Orpheus. Zahlreiche Komponisten haben sich mit dem Schicksal des thrakischen Sängers beschäftigt, der seine Geliebte Eurydike aus der Unterwelt zurückholen will und sie erneut verliert, weil er sich auf dem Weg zurück zur Erde nach ihr umdreht. Die Serenata von Giovanni Alberto Ristori zählt dabei zu den heute gänzlich unbekannten Vertonungen und behandelt den Stoff auf eine recht ungewöhnliche Weise.
Dorothee Oberlinger/ Foto Sony
Im Mittelpunkt stehen im Libretto von Giovanni Claudio Pasquini Orpheus (Orfeo) und seine Mutter, die Muse Kalliope (Calliope). Zu ihr begibt sich der Sänger nämlich, nachdem er seine Geliebte Eurydike verloren hat. Am Fuß des Parnass kommt es zu einem Streitgespräch zwischen den beiden. Calliope versucht, ihrem Sohn klarzumachen, dass das Unterfangen von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen sei. Orfeo ist zunächst anderer Meinung und beklagt die Grausamkeit der Götter, die sein Glück zerstört haben. Als er seine Leier vor Wut zerstören will, gebietet ihm seine Mutter Einhalt. Schließlich habe ihn niemand gezwungen, sich auf dem Weg nach seiner Geliebten umzudrehen. Der erneute Verlust sei folglich seine eigene Schuld. Dem kann Orfeo nicht widersprechen. Er ist bereit, sich wieder seinen musikalischen Fähigkeiten zu widmen. Seine Leier soll nun eine Dame namens Ermelinda Talea rühmen, die einst auf Erden ebenso viel musikalischen Ruhm ernten werde wie Orfeo. In einem bewegenden Duett feiern die beiden die Zukunft.
Mit Ermelinda Talea war die Ehefrau des sächsischen Kurprinzen Friedrich Christian, Maria Antonia Walpurgis, gemeint. Ristori, der als Cembalist, Organist, Komponist, Vizekapellmeister und Musiklehrer der kurfürstlichen Kinder fast vier Jahrzehnte eine zentrale Stellung im Musikleben des Dresdner Hofes bekleidete, widmete die Serenata im Eröffnungskonzert des Jahres 1749 der 24-jährigen Prinzessin und pries sie darin als würdige Erbin des mythologischen Sängers. Die junge Dame konnte bereits, bevor sie 1747 an den Dresdner Hof kam, auf eine hervorragende musikalische Ausbildung am kurfürstlich-bayerischen Hof zurückblicken und bildete ihre Talente in Dresden weiter aus. 1754 komponierte sie auf ein selbstgedichtetes Libretto ihre erste Oper, der 1763 als zweite Oper Talestri, ein Stück über die Amazonenkönigin, folgte. Bevor in Neuss die Serenata präsentiert wird, erklingt das Allegro aus der Sinfonia dieser Oper, das mit ungeheurer Wucht deutlich macht, welches kompositorische Talent Maria Antonia Walpurgis gegeben war. In einer Videoprojektion sieht man dabei den Namen Ermelinda Talea, der am Ende der Serenata wieder aufgegriffen wird. Dorothee Oberlinger fächert mit dem Ensemble 1700 die spannungsgeladene Musik in diesem relativ kurzen Allegro differenziert auf, so dass man Lust bekommt, von diesem Werk mehr zu hören.
Es folgen zwei Sätze aus Johann Adolf Hasses Cantata per flauto. Hasse feierte am Dresdner Hof bei Kurprinzen Friedrich Christian ebenfalls große Erfolge. Unter anderem komponierte er besagte Kantate für eine Blockflöte, was für Oberlinger natürlich von besonderem Interesse ist. Im Adagio lässt Hasse die Flöte regelrecht singen, während sie im temperamentvollen Allegro mit virtuosen Läufen und Akkordbrechungen begeistert. Dies alles wird von Oberlinger grandios umgesetzt. Dann geht es zu Ristori. Aber bevor die Serenata erklingt, werden noch zwei Sätze aus seinem Oboenkonzert gespielt, in denen Clara Blessing als Solistin glänzen kann.
Ristori in Knechtsteden: Orfeo (Valer Sabadus) beklagt vor seiner Mutter Calliope (Francesca Lombardi Mazzulli) den Verlust seiner geliebten Gattin Eurydike/ FAMK
Bei der folgenden Serenata führt wie bereits im Vorjahr Nils Niemann Regie, der auf barocke Gestik setzt. Die Rückwand der relativ kleinen Bühne wird mit Videoprojektionen angestrahlt, die den Fuß des Parnass als Gemälde andeuten. Mit eindrucksvollen Lichtstimmungen werden die Gefühle von Orfeo und Calliope eingefangen. Teilweise sieht man auch die von Orfeo besungenen Büßer der Unterwelt in den Projektionen. Orfeo und Calliope tragen relativ klassische Kostümen, für die Johannes Ritter verantwortlich zeichnet. Requisiten werden recht spärlich eingesetzt, so dass sich alles auf die Bewegungen und den Dialog zwischen Calliope und Orfeo konzentriert. Den Text kann man im Programmheft nachlesen. Eine Übertitelung wäre jedoch hilfreich gewesen.
Mit Valer Sabadus und Francesca Lombardi Mazzulli hat man zwei großartige Barockinterpreten für dieses kleine musikalische Juwel gewinnen können. Sabadus verfügt als Orfeo über einen geschmeidigen und weichen Countertenor, der die Leiden des Sängers bewegend nachvollziehen lässt. In seiner ersten Arie beklagt er sein Schicksal mit fließenden Bögen. In der virtuosen zweiten Arie „Persa la speme“ lässt er seiner Wut in halsbrecherischen Koloraturen freien Lauf und glänzt durch große Beweglichkeit in der Stimme. Lombardi Mazzulli punktet als Calliope mit einem vollen Sopran, der in den Höhen große Durchschlagskraft besitzt, und zeigt, dass sie für die Vorwürfe und Klagen ihres Sohnes kein Verständnis hat. Lombardi Mazzulli unterstreicht diese Einstellung auch durch eine großartige Mimik. Während sie in ihrer ersten Arie versucht, ihren Sohn mit sachlichen Argumenten zu überzeugen, wird Lombardi Mazzullis Sopran in der zweiten Arie wesentlich härter und autoritärer und führt schließlich dazu, dass Orfeo einlenkt.
Im Schluss-Duett finden beide zu einer bewegenden Innigkeit. Neben dem Bildnis von Maria Antonia Walpurgis erscheinen in der Videoprojektion auch noch andere Bilder von Frauen der Musikgeschichte. Das Ensemble 1700 unter der Leitung von Dorothee Oberlinger präsentiert sich auch bei der Serenata absolut ausdrucksstark, so dass es am Ende großen Beifall für alle Beteiligten gibt. Nahezu ungewohnt ist es, dass es statt der obligatorischen Blumen am Ende eine Flasche Wein für die Solistinnen und Solisten gibt.
Ristoris Vertonung ist inhaltlich zwar ungewöhnlich für den Orpheus-Mythos, enthält aber wunderbare musikalische Momente, die von Valer Sabadus und Francesca Lombardi Mazzulli mit dem Ensemble 1700 unter der Leitung von Dorothee Oberlinger mit viel Gefühl präsentiert werden (dieser Artikel erschien zuerst in OMM, und wir danken für die Genehmigung zur Übernahme). Thomas Molke
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Von spannend bis banal – Bayreuther Festspiele 2023: Fünf Tage nachdem Barbie auch die deutschen Kinos eroberte, wurden die Bayreuther Festspiele 2023 mit einem neuen Parsifal eröffnet, dessen zweiter Akt sich mit den sechs Barbie-Blumenmädchen ebenfalls wie ein einziger Hymnus auf die pinkfarbene Welt der Barbie ausnimmt. Ein Zufall. Sicher. Doch irgendwie wird er in unserer Erinnerung Barbie und Parsifal zusammenschweißen. Doch bevor Parsifal in einem Barbie-Land auf Kundry und die Manga Blumenmädchen trifft, vergnügt sich Gurnemanz während des Vorspiels mit einem Kundry-Double. Etwas widerwillig, zögernd, schließlich mit Abscheu. Er trägt dazu ein albernes, überlanges weißes Hemd, albern sind vor allem die kniekurzen gelben Hosen, über die er einen wadenlangen gelben Wickelrock festklettet. Wickelröcke sind derzeit das angesagte Kleidungstück auf dem Gralsgelände.
Bayreuther Festspiele 2023: Elina Garanca war die „Parsifal“-Kundry der Premiere/ Foto Enrico Navrath
Doch eigentlich hat alles bereits davor begonnen. Während das Licht noch nicht mal ausgegangen war, hüpfte eine weiße Taube entlang des Bühnenrands und flatterte über die Köpfe der Zuschauer hinweg. Das könnten allerdings nur die mit speziellen Brillen ausgestatteten Besucher sehen. Man darf davon ausgehen, dass die Aufführung für 85 % der Zuschauer im Festspielhaus genauso aussieht, wie für die Fernsehzuschauer. Nur rund 15 %, also die 330 glücklichen Träger der Video-Brillen, kamen in den „vollen“ Genuss der Inszenierung von Jay Scheib, die das schlichte Bühnengeschehen mit „Augmented Reality“ anreichert. Viel wurde über die Zweiklassengesellschaft gemeckert, über den halbherzigen Probelauf, der einen Großteil des Publikums von dem festspielunwürdigen Experiment ausschließt, über eine technische Spielerei, die nicht viel bringt. Letzteres stimmt – zumindest im Premierenjahr. Der künstlerische Zugewinn ist nach der Anpassung der Brillen bei einem Extratermin am Vormittag und einer Einführung für die Brillenträger vor der Aufführung marginal und kann als harmlose Bebilderung abgetan werden. Dennoch scheint der Professor vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston und ausgewiesene Theater- wie Opernregisseur der richtige Mann für eine solche Theatererfahrung, die Schule machen wird. Die achte Parsifal Inszenierung seit 1951 ist ein wichtiges Experiment, das zeigt, wie intensiv Katharina Wagner über neue Wege der Präsentation nicht zuletzt auch im Hinblick auf das 150jährige Bestehen der Festspiele 2026 nachdenkt. Dass es bereits die achte Nachkriegs-Inszenierung der seit Bestehen der Festspiele mit Abstand meist gespielten der zehn Festspielopern ist, hatte ich nicht vermutet, haben doch die beiden Wolfgang Wagner-Inszenierungen von 1975 und 1989, die auf die stilprägende und fast 20 Jahre lang gezeigte Wieland Wagner-Inszenierung folgten, die Bayreuther Parsifal-Rezeption getrübt; Schlingensief und Laufenberg sind dagegen fast schon vergessen, Götz Friedrich und Herheim in guter Erinnerung.
Was ist durch die Brille zu sehen, die gar nicht so bequem ist und die man, wenn man es nicht schon vorher getan hat, nach 4 Stunden Spieldauer erleichtert abnimmt. Anfangs doch sehr viel Possierliches, dazu gehören schwebende Glühwürmchen, mit denen und zu denen Pablo Heras-Casado die Musik wie aus dem Nichts hervorzaubert und illuminiert. Schwerelos und magisch, mystisch und poesievoll. So wie die diese Musik entstehen soll. Erstaunlich leicht und behände wie auf Samtpfoten, doch durchaus weihevoll, ernst und erhaben, selbstverständlich fließend, aber nie laut und vordrängend. Der bislang kaum als packender Operndirigent in Erscheinung getretene Spanier scheint keine Probleme mit Werk und Akustik zu haben. Selten überzeugte ein Bayreuth-Debüt so auf Anhieb. Andreas Schager wird gefeiert als Parsifal. Er muss deshalb nicht eigens dem Publikum seine Rückseite mit dem Shirt-Aufschrift „Remember Me“ zukehren, um mit seiner Beliebtheit zu kokettieren. Schager versucht sich an leisen und zarten Tönen, doch die massive Kraftentfaltung seines metallisch strahlenden, wenig auf Linie getrimmten Tenors ist viel eher seine Sache, wobei es toll ist bei „Amfortas, die Wunde“ eine derart kraftvolle gesunde Stimme zu hören, die dann freilich am Ende bei „Nur eine Waffe taugt“ einknickt. Wie gewohnt sinnt Georg Zeppenfeld jeder Silbe nach, doziert als Gurnemanz schulmeisterlich vorbildlich, ist mir an diesem Abend aber doch ein wenig zu einförmig (19. August) und ohne Kraftentfaltung, etwa beim Karfreitagszauber. Zu diesem ausgesprochen sorgsam ausgewählten Ensemble mit dem sehr schönstimmigen Derek Welton als Amfortas, dem ebenfalls baritonal-verführerischen Jordan Shanahan als gar nicht geifernd brüllender Klingsor im pinkfarbenen Anzug, mit Stöckelschuhen und langen Kringellöckchen und dem markant kernigen Titurel von Tobias Kratzer kommt Ekaterina Gubanova, die der Garanca als Kundry nachfolgt. Gubanova singt mit erlesener Schönheit und Vorsicht, gerundet und sicher in allen Lagen, bewegend in der Herzeleide-Erzählung. Ein Bühnentier ist sie nicht. Sehr gut sind alle sechs Blumenmädchen, fabelhaft die Männerchöre, nur die Ritter und Knappen erreichen dieses Niveau nicht.
Bayreuther Festspiele 2023: „Parsifal“/Szene/ Foto Enrico Navrath
Munter ballert uns Scheib weiter mit einer animierten Bilder-Welt zu, mit Schmetterlingen, Insekten, Tauben, einem Fuchs, wie wenn wir uns in Janáčeks mährischen Tierwelt befänden, mit Schlangen und Pferd, Parsifals Fachwerkhütte, pumpendem Herz und Blutkörperchen, Speer und Pfeilen: flirrende Fauna und Flora, Kommentar und Bebilderung zugleich, aber keine inhaltliche Vertiefung oder gar Interpretation. Vanitas- und Memento Mori-Motive wie aus barocken Stillleben gebrochen mit Skeletten, Schädeln, angebohrten Früchten und Pflanzen wabern um uns herum. Keine Raum- und Zeit-Schleife, keine erotisch und religiös-spirituelle Spielwiese, die mit Augmented Reality neuen Sinn ergibt. Scheib punktet mit der pinkfarbene Bilderwelt der Blumen-Barbies, doch insgesamt ist seine Inszenierung und Nicht-Personenregie brav und altbacken, handwerklich rudimentär, so dass die Zivilisationskritik mit den Umweltsünden- und Militärschrott-Bilder im dritten Akt – es geht laut Scheibe um den naturzerstörenden Abbau von „Seltenen Erden“ – fast schon verschreckt. Dazu schweben für die Brillenträger Plastiktüten, Batterien, Kunststoffbehälter und Granaten durch den Raum, verschränken sich Dürer- und Michelangelo- Hände und -Arme, schwebt auf der Bühne ein Strahlenkranz über der Gralsgemeinde, während Parsifal den blauen Gralskristall aus seltenen Metallen zur Erlösung der Menschen – wir sehen das „Remember Me“-Shirt“ – zertrümmert. Parsifal kriegt Kundry, Gurnemanz die Fremde des Anfangs. Mit Kundry steigt Parsifal in den giftig grünen Tümpel. Ein wenig kitschig ist das, ein Bilderbuch eben, inklusive der Taube, die wieder in den Zuschauerraum fliegt. Musikalisch vom Feinsten, szenisch ein Versuch.
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Bayreuther Festspiele 2023: „Der fliegende Holländer“/Szene/ Foto Enrico Navrath
Der fliegende Holländer: Zum dritten Mal ereignet sich in diesem Sommer „Der sonderbare, immer wiederkehrende Traum des H.“, der während der Ouvertüre den Platz einer Kleinstadt, mit Kirche und ein paar klötzchenartigen Backsteinhäusern zeigt. Ein Junge kommt an der Hand seiner Mutter, die ihn wegschickt, da sie sich, an eine Hauswand gelehnt, mit einem älteren Mann vergnügt. Der Junge betrachtet die Szene, die ihm wahrscheinlich vertraut ist. Der Junge wird größer und balanciert staksig über den Platz und um die Straßenlampen, während die Mutter weiterhin ihre heimliche Beziehung zum reichen Mann unterhält, der ihrer irgendwann überdrüssig wird und sie daraufhin von sich stößt. Und weil der reiche Mann sich von ihr abwendet, ist die Frau auch für die anderen eine Ausgestoßene, der überall die Tür gewiesen wird und die sich schließlich aufhängt. Ausgehend von diesem grauschlierig verhangenen Traum, entwickelt Dmitri Tcherniakov die Geschichte des Fliegenden Holländers mit zäher Konsequenz. „H. kehrt nach vielen Jahren in seine Heimatstadt zurück“. Vor der Kneipe mit den schicken Wandfließen und Chromregalen hocken die Männer trinkend unter der herausgekurbelten Markise und Bahnhofsuhr, wo der Alte aus dem Traum das Sagen hat. Stoff für eine finstere Dorfgeschichte, einen alpenländischen Dorfthriller, der hier allerdings irgendwo im Norden spielt, wo die Provinz genauso eng ist. In einer gesichtslosen Gegenwart, alles grauschlammig, braun ockerfarben. Wie Bauklötzchen werden die Häuser – beispielsweise für die Chorprobe – zu neuen, ebenso gesichtslosen Plätzen zusammengeschoben (die Bühne hat Tcherniakov entworfen, für die dumpffarbenen Kostüme war Elena Zaytseva zuständig). Der Mann kehrt in den Ort zurück, wo seine Mutter starb. Er wird grausame Rache nehmen. Am ganzen Dorf. Der Regisseur erzählt das spannend. Grandios die Personenregie und die Zeichnung aller Figuren, denen Tcherniakov jeweils ihre eigene Geschichte gibt, präzise die Details, etwa beim gemeinsamen Abendessen der Dalands mit Mary als Gattin und dem Holländer als Gast im puppenhausengen Wintergarten. Wie in einem Thriller laufen die Ereignisse auf einen Showdown bzw. eine Katastrophe zu. Der Holländer erledigt es selbst oder lässt auf die Dörfler schießen und wird seinerseits von Dalands Frau erschossen. Kein Mythos, keine Abgründe und Jenseitiges, eher Fernsehkrimi. Und der rebellische Teenager Senta? Sie fällt Mary in die Arme. Man spoilert nicht und verdirbt nicht künftigen Besuchern das Finale, da der achte Nachkriegs-Holländer der Festspiele binnen kürzester Zeit auf DVD und in den Mediatheken greifbar war. Inzwischen haben sich die Holländer in der Kleinstadtkneipe im jährlichen Wechsel die Klinke in die Hand gegeben. Michael Volle ist nach Lundgren und Mayer der dritte Holländer. Ganz anders als der massige und killermäßig bedrohliche Racheengel Lundgren gibt Volle den Besuch des alten Mannes, fast ein wenig gemütlich wirkt er, wie er in der Kneipe eine Lokalrunde wirft, ein lieber Onkel mit Embonpoint, der freundlich Senta zunickt, die seine Halbschwester sein könnte. Und vielleicht ist. Bemerkenswerter als die möglichen Familiengeheimnisse, wie Volle die Partie Satz für Satz ausschöpft, klug gestaltet und interpretiert, wie er mit machtvollem Bariton den Text zum Klingen bringt und klug dosiert die Verzweiflung steigert. Die Tiefe ist nicht ganz rund, gegen Ende des Duetts mit Senta gibt es Momente der Mattigkeit, doch den Schluss singt Volle so eindringlich und mit großem Bogen, dass uns dieser Holländer lange in Erinnerung bleiben wird. Unermüdliche Kraft- und Stimmreserven stehen der in diesem Jahr noch als Sieglinde und Elisabeth stark beschäftigten Elisabeth Teige zu Verfügung, die bereits im Vorjahr die Senta übernommen hatte. Die Norwegerin kann die Sehnsucht der jungen Frau, die den Fängen der Männer und der Kleinstadt entkommen möchte, gut nachzeichnen. Mit breitem, mittellagensattem Brünnhildensopran gibt sie der Ballade schiere Leuchtkraft und strahlend vibrierende Höhen.
Bayreuther Festspiele 2023: „Der fliegende Holländer“/Szene/ Foto Enrico Navrath
Eine Konstante ist Georg Zeppenfelds Daland, wunderbar fokussiert, wortklar. Zeppenfelds edler Ton und nobler Vortrag geben der Soigniertheit des Kaufmanns, der seine Tochter an den Mann bringen will, einen besonders fiesen Unterton. Es fehlt stets die schwarz derbe Spiellust, die diese dem Buffokreis entstammende Figur umgibt. Vor allem, da Oksana Lyniv im Duett Holländer/ Daland solch Momente von Spieloperngespenstigkeit kreiert. Tomislav Mužek, der schon in den beiden zurückliegenden Inszenierungen als Steuermann (2004/05) Wache tat oder als Erik (2013-18) auf Freiersfüßen wandelte, löste in diesem Jahr Eric Cutler ab und versucht Senta in eine kleinbürgerliche Ehe zu locken. Mit weinerlichem Timbre, aber draufgängerischem Ton wird er dem Erik, den man meist als undankbare Partie sieht, gerecht. Nach Sentas Ohrfeige bleibt ihm nur Resignation. In Attilio Glasers auffallend gut gesungen und gespielten Steuermann kündigt sich der nächste Erik an. Müde werkelte Nadine Weissmann als Mary, die am Ende wieder die Geschlossenheit der Gesellschaft herstellt. Oksana Lyniv setzt Tcherinakovs Thriller maßstabgetreu um, ihr Dirigat besitzt im dritten Jahr neben peitschender Intensität, etwa in der Ouvertüre und in den scharf geschnittenen Chorszenen des dritten Aufzugs, in den finalen Auseinandersetzungen auch Leidenschaft und Farben; sie packt das schwierige Stück handwerklich souverän an. Allerdings wirkte die Aufführung (18. August) über lange Stellen hinweg auch merkwürdig blutleer und fade. Der Abend beginnt spannend und endet banal. Sehr großer, donnernder Applaus für alle Mitwirkenden. Rolf Fath
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Vivaldis Olimpiade bei den Festwochen der Alten Musik zwischen Musikphilologie und missverstandener barocker Theaterpraxis: Nüchterne, kohärente, aber nicht völlig aufgelöste Inszenierung des äußerst seltenen Titels auf ein Libretto von Pietro Metastasio in Innsbruck. Die „Innsbrucker Festwochen der Alten Musik“ in der Tiroler Landeshauptstadt hatten für den Sommer 2023 ein Programm ganz im Zeichen von Antonio Vivaldi, dessen Olimpiade und später seine Fida Ninfa aufgeführt wrrden. Dirigent der Olimpiade war der musikalische Leiter der Festspiele, der Italiener Alessandro de Marchi, Regisseur ist ebenfalls ein Italiener, Stefano Vizioli.
Ein ziemlich vergessener Titel (wenngleich nicht für Barockliebhaber) ist diese Olimpiade, zumindest in der Version von Vivaldi. Tatsächlich wurde das Libretto später, wie in der Barockmusik üblich, von mehr als 70 Komponisten vertont. Die Oper wurde am 17. Februar 1734 im Teatro Sant’Angelo in Venedig uraufgeführt, geriet aber bald in Vergessenheit. Vivaldi hatte sie aus Zeitmangel als ‚Pasticcio‘ komponiert und dabei stark auf Stücke zurückgegriffen, die bereits für mindestens acht andere Opern, darunter die Fida Ninfa, konzipiert worden waren.
Wenn man so will, ist L’Olimpiade ein Lehrbuch barocker Bühnenpraxis. Ein Libretto, das aus verschiedenen Quellen schöpft, hinreichend komplex und manchmal verwirrend, mit Verkleidungen, verlorenen Söhnen, Orakeln, Männerfreundschaften, unmöglichen Liebschaften und einem Happy End im Stil der Opera seria, mit einem Prinzen, der sich im Finale als weise und erleuchtet erweist. Es ist übrigens immer eine gute Übung, die Zusammenfassungen barocker Opern zu lesen. Sie sind ein Meisterwerk der Unverständlichkeit, eine prosaische Konstruktion, bei der man immer und unweigerlich den Faden verliert.
Innsbrucker Festwochen der Alten Musik: Vivaldis „Olimpiade“/ Szene/ Foto © Birgit Gufler
Kurz gesagt, ein musikalisches Pasticcio, das um die Sänger herum gebaut wurde, die dem Komponisten zur Verfügung standen, wie es damals üblich war, mit verschiedenen Arien aus anderen Opern, zu denen oft noch die berühmten „arie da baule“ hinzukamen, die Glanzstücke, die jeder Sänger immer bei sich hatte und die er oder sie in der Oper oft auf Kosten anderer, weniger gefälliger Stücke sang.
Stefano Vizioli siedelt die Geschichte in der Zeit der Olympischen Spiele 1936 an, in einer Art Turnhalle, in der während der Ouvertüre einige tapfere junge Männer sportliche Übungen machen. Eine schöne Idee, ebenso wie die Massage in der Sauna während des Dialogs zwischen den beiden Protagonisten. Megacle ist in Wirklichkeit ein Athlet, der gekommen ist, um an den Spielen teilzunehmen. Manchmal gibt es Ironie, manchmal sogar eine erotische Zweideutigkeit zwischen den Figuren, aber all das verblasst im Laufe des Abends, die Ideen gehen sozusagen aus und wir wenden uns dem Vorhersehbaren und Berechenbaren zu. Statt der olympischen Spannung im Stil von Leni Riefenstahl oder Jesse Owens finden wir uns unweigerlich in der kontrollierten, bürgerlichen Ruhe von Manns Zauberberg wieder.
Auf der Bühne gibt es verzierte Vorhänge, einige griechische Statuen, verschiedene Sportgeräte, einen Balkon auf der rechten Seite, im zweiten Akt die Andeutung einer Schneiderwerkstatt, in der die Flaggen der Nationen vorbereitet werden, im dritten Akt das Feuer einer großen olympischen Fackel. Alles genau und gut gemacht, aber nach den ersten interessanten Akzenten, vielleicht ein Versuch des Regietheaters, wird die Handlung steril in einer Abfolge von Arien und Rezitativen, die von keiner wirklichen Dramaturgie getragen werden. Jenseits des Könnens der Sänger und der Pracht der Musik gleitet das Bühnengeschehen unaufhaltsam in Wiederholungen ab.
Es lohnt sich, darüber nachzudenken, dass diese philologischen Operationen sich oft auf das musikalische Studium beschränken. Dabei wird die ‚Philologie‘ der Inszenierung vergessen. In der Tat führen wir eine Barockoper mit den Instrumenten der Epoche auf, aber wir stellen sie in einen post-wagnerianischen theatralischen Kontext, in dem der oft zu großem Saal dunkel und das Publikum still und ruhig ist. Damals hingegen war der Saal beleuchtet, es handelte sich um ein gesellschaftliches Unterhaltungsereignis, das Publikum konnte kommen und gehen (in der Regel kamen alle, wenn die Oper bereits begonnen hatte) und nur den Arien folgen, die das Interesse weckten, oder dem Phänomen Sänger des Augenblicks.
Der beste Beweis dafür, dass die barocke Aufführung aus diesen Gründen funktionierte, war die Arie des Aminta aus dem zweiten Akt, ‚Siam navi all’onde algenti‘, die im Mund des hervorragenden Soprans Bruno de Sá zu einem Bravourstück wurde, mit einem da capo voller Verzierungen, Triller und hoher Töne, die das Publikum in Verzückung versetzten. Hier, unter dem tosenden Beifall des Publikums, offenbarte sich die Bedeutung der Barockoper im 18. Jahrhundert: musikalische Unterhaltung für einen gesellschaftlichen Abend. Die Aufgabe einer zeitgemäßen Wiederbelebung sollte also nicht nur darin bestehen, die Musik zu rekonstruieren, sondern auch einen Weg zu finden, wie das Bühnengeschehen funktionieren kann.
Heute gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder ein Regietheater, das von einer Dramaturgie getragen wird, die es schafft, den Zuschauer ernsthaft in die Dunkelheit des ‚wagnerianischen‘ Saales für lange Akte, die eine Aneinanderreihung von Arien sind, zu verwickeln, was sehr oft auch bedeutet, das Ganze zu verzerren und modern und provokativ zu gestalten. Oder man akzeptiert die damalige Praxis und betreibt vielleicht sogar Philologie in der Inszenierung: ein wenig Licht im Saal, die Sänger treten aus ihrer Rolle heraus, um ihre Arien zu singen. Die „da capo“ werden nicht identisch gesungen, sondern mit einer Zurschaustellung von Virtuositäten, die oft nicht vom Komponisten stammen. Die Einbeziehung von „arie da baule“ aus anderen Opern, vielleicht auch etwas Zeitgenössisches. Das wäre interessant und innovativ.
In beiden Fällen geht es um musikalischen Purismus, aber es ist auch Purismus, sich bewusst zu sein, dass es sich nicht um Musik handelt, die mit der Idee des Demiurgen-Künstlers komponiert wurde, die uns seit der romantischen und wagnerianischen Revolution durchdringt, sondern um bodenständiges kompositorisches Handwerk. Es sei nur daran erinnert, dass die Komponisten im Barocktheater meist schlechter bezahlt wurden als die Sänger und Librettisten.
Zurück zur Inszenierung: Stefano Vizioli tut sein Bestes und hat auch ein gutes Gespür, wenn er versucht, Ironie zu vermitteln oder die Rezitative mit szenischer Präzision zu würzen. Auf die Dauer überwiegt jedoch eine gewisse Monotonie, in der die Lösungen rein ästhetischer Natur sind, indem die Sänger kommen und gehen, um ihre Stücke zu spielen. Alles in allem bleibt es eine angenehme, gut organisierte und sorgfältig inszenierte Produktion, auch dank des nüchternen Bühnenbildes von Emanuele Sinisi und der Kostüme von Anna Maria Heinreich, die angemessen, aber nicht immer treffend sind.
Absolut makellos, präzise und aufmerksam ist das Dirigat von Alessandro de Marchi, der mit seinem Können den Standard im Barockrepertoire gesetzt hat. Der Dirigent sorgte für einen vollen, agogischen Klang und eine ausgezeichnete Beziehung zwischen Orchestergraben und Sängern.
Gesanglich war Bruno de Sá der Held des Abends, weil er die Fähigkeit hatte, ein ‚Star‘ zu sein, und weil er sein sängerisches Talent unter Beweis stellte. Sein sopranistisches Können war überragend, aber was überragend war, war die Darbietung als Ganzes. Der Sänger zeichnete eine Figur, die aus dem Rahmen fiel, aus dem dramaturgischen Zusammenhang gerissen, wenn man so will, denn er hatte in der Tat wenig mit dem ‚alten Erzieher‘ zu tun. Aber er war ein Sieger, eben weil das Publikum, das immer Recht hat, instinktiv nicht die szenische Inkongruenz, sondern die Fähigkeit zur Show, zur gesanglichen Unterhaltung erfasste, die plötzlich unter dem Klang des Beifalls den wahren Zweck, die wahre Mission des barocken Musiktheaters erhellte.
Alle anderen Darsteller waren ausgezeichnet, aber mehr ‚in der Rolle‘, mehr dem szenischen Diktat treu, das in dieser Art von Theater niemanden interessiert und daher weniger ‚Eindruck‘ macht, wie man früher sagte. Raffaele Pe bestätigt sich als hervorragender Künstler mit einer feinen Countertenorstimme und einem guten interpretatorischen Schwung. An seiner Seite vervollständigt Bejun Metha das Countertenor-Paar mit einer festen und geschmeidigen Stimme, auch wenn er auf der Bühne weniger sicher auftritt. Christian Senn interpretiert die Figur des Königs mit weicher und homogener Stimme, flankiert von dem ausgezeichneten Bass Luigi De Donato als seinem Berater. Weniger überzeugend, aber korrekt und engagiert waren Margherita Maria Sala (Alt) und Benedetta Mazzuccato (Mezzosopran).
Volles Theater und überzeugender Erfolg für alle Darsteller im Finale. Großer Applaus fürAlessandro De Marchi, der sich mit diesem Festival nach 14 Jahren von der Leitung der Innsbrucker Festwochen verabschiedet. Raffaello Malesci (8. August 2023)
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Rossini in Wildbad: Giovanni Pacinis Melodramma serio Gli Arabi nelle Gallie. Der heitere Rossini steht im Juli 2023 im Mittelpunkt von Rossini in Wildbad. Dafür sorgen die aus dem Jahr 2009 stammende Inszenierung von Il Signor Bruschino, die für eine DVD aufgehübscht wird, sowie ebenfalls in einer Inszenierung des Festspielchefs Jochen Schönleber Il barbiere di Siviglia. Die Raritäten sind derweil in den Konzerten versteckt, darunter die Kantate Il vero omaggio im Konzert auf dem Turm des Baumwipfelpfads über Bad Wildbad oder Rossinis Hymne à Napoléon III, die Kantate De l’Italie et de la France und Ausschnitte aus dem Guillaume Tell im Konzert auf dem Sommerberg, wo auch die diesjährige Inge Borkh-Stipendiatin vorgestellt wird; die Auszeichnung wurde zur Erinnerung an die Sängerin und begeisterte Festspielbesucherin gestiftet.
Giovanni Pacini/ Wikipedia
Die Stelle einer großen ernsten Oper von Rossini nimmt in diesem Jahr die konzertante Aufführung des zweiaktigen Melodramma seria Gli arabi nelle Gallie ossia Il trionfo della fede von Rossinis Nachfolger am Teatro San Carlo in Neapel ein. Giovanni Pacini (1796-1867) war noch keine 30 Jahre alt, als ihm der Erfolg der Uraufführung von L’ultimo giorno di Pompei im November 1825 in Neapel zu einem Neunjahres-Vertrag als künstlerischer Leiter des Teatro San Carlo verhalf. Pacini war alles andere als ein Newcomer. Er hatte zu diesem Zeitpunkt bedeutende Erfolge u.a. an der Mailänder Scala vorzuweisen und hatte bereits im Jahr zuvor mit Allessandro nell’Indie, der den Auftakt seiner Neapolitanischen Jahren bildete, seine Visitenkarte am San Carlo abgegeben. Wie der fast gleichaltrige Saverio Mercadante (1795-1870) profitierte Pacini von Rossinis Rückzug zunächst von der italienischen und dann auch von der französischen Bühne. Die unermüdlichen Mercadante und Pacini ließen sich auch von Donizetti (1797-1848) und Bellini (1801-35) nicht verdrängen und behaupteten durch Fleiß und lange Lebens- und Schaffenszeit über viele Jahrzehnte ihre Brückenfunktion zwischen Rossini und Verdi. Ähnlich wie Mercadante, der als Hauskomponist des San Carlo 1823-25 direkt auf Rossini gefolgt war, brachte es Pacini zwischen 1813 und 1858 auf 70 bis 80 Opern, nur für wenige Jahre Mitte der 1830er Jahre ausgebremst durch einen Karriereknick nach dem Misserfolg des Carlo di Borgogna. Pacinis Vertrag mit dem Impresario Barbaja sah auch Werke für dessen andere Spielstätte, die Mailänder Scala, vor. Nach dem grandiosen Erfolg des Letzten Tags von Pompei im November 1825 in Neapel folgten im März 1827 in Mailand Die Araber im Frankenreich oder Der Triumph des Glaubens. Mit einem Libretto von Luigi Romanelli, das auf dem 1822 in Paris erschienenen und zwei Jahre später bereits ins Italienische übersetzten Roman Le renégat von Charles-Victor Prévost, Vicomte d’Arlincourt (1788-1856) basiert. Der Vicomte d’Arlincourt zählte auch zu den Quellen, die Gaetano Rossi später für den unglücklichen Carlo di Borgogna heranzog, dessen eklatanter Misserfolg den gegenüber Konkurrenten keineswegs nachsichtigen und zimperlichen Pacini in tiefe Selbstzweifel stürzte.
Pacinis „Arabi nelle Gallie“ in Bad Wildbad 2023: Michele Angelini sang die Tenorpartie des Algobar/ Michele Angelini
Gli Arabi waren ein sensationeller Erfolg. Giuseppina Mascari, die die Kritische Edition des Werkes herausgegeben hat, spricht von 80 Produktion im ersten Jahrzehnt nach der Uraufführung. Die Errungenschaften von Alessandro und L’ultimo giorno di Pompei setzte Pacini in Gli arabi fort, darunter die Aufhebung der Ouvertüre und statt ihrer eine breit angelegte erste Musiknummer. Auf bestürzende Weise drängt er mit der Introduktion wirkungsvoll und dabei anspruchsvoll im Aufbau mitten in die Handlung. Vor dem Schloss ihrer Fürstin Ezilda sehen die Bergbewohner der arabischen Invasion entgegen, getröstet von Gondaïr, dem Vertrauten der Fürstin. Man denkt bereits an Norma und Nabucco und die entsprechenden Bass-Szenen. Der junge Roberto Lorenzi singt den Gondaïr mit fester und ruhiger Linie und lodernd in der sicheren Höhe, in der Cabaletta vermittelt er den großartigen Eindruck dieser ersten Szene mit priesterlicher Würde. Wie stets in den konzertanten Aufführungen bei Rossini in Wildbad klingen Chor und Orchester, in diesem Fall der Philharmonische Chor und das Philharmonische Orchester Krakau zu gewaltig und laut, malen sie die kriegerischen Trommeln und die Signale der Trompeten und die Ängste der Bergbewohner so drängend nach als befinden wir uns mitten auf dem Schlachtfeld zur Zeit von Karl Martell, der wegen seiner Siege über die Araber zum Retter des christlichen Abendlandes stilisiert wurde. Der arabische Anführer Agobar ist aber kein anderer als der letzte legitime Königsspross Clodomiro. Ezilda und er wurden sich als Königskinder einst versprochen. General Leodato, ein General Karl Martells aber Anhänger des legitimen Königs, hofft vergebens, die Liebe von Ezilda zu erringen. Das ergibt ein weiträumiges Seelen- und Geschichtsdrama, das im Inneren einer Burg, vor Ezildas Schloss, im Kloster und auf dem Schlachtfeld spielt.
Pacini setzt seine Mittel so souverän ein wie Eugène Delacroix die Farben in seinen Schlachtbildern. Er überrascht stets mit neuen Wendungen, frohen maurischen Märschen, instrumentalen Couleurs, wie der Orgel beim Gebet der Ezilda, treibt die Sänger zu immer virtuoseren Leistungen und erweist sich als maestro delle cabalette. Pacinis Anlage, die sich im ersten Akt neben der Introduktion und dem ersten Finale in drei Arien und einem Duett ausbreitet, ist zunächst von einer aufregenden Farbigkeit und mitreißenden vokalen Zirzensik. Doch bereits im ersten Finale greifen die dramatischen Ereignisse nicht richtig ineinander, werden sie eher stufenförmig aufeinandergeschichtet als verdichtet. Mit stürmischem Impetus und zupackender Leidenschaft wischt Marco Alibrando über die Längen hinweg und unterstreicht die Bedeutung dieser modernen Erstaufführung, der zweifellos eine stärkere Feinzeichnung und intensivere Probenzeit gutgetan hätten, die er aber gleichwohl drei Stunden lang bis zur letzten Schlacht und dem Tod des rechtmäßigen Thronfolgers Agobar bzw. Clodomiro zusammenhält. Der junge Maestro aus Messina kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Pacini in den Arien oft etwas zu wohlfeil auf Bravour, Effekt, Brillanz und Abwechslung bedacht ist. Mit warmem Ausdruck, ruhigen Linien und füllig markantem Ton in den Rezitativen kann Serena Farnocchia sowohl im Gebet der Ezilda im ersten Akt „Qual sei, Signor, per prova“ als auch in der Arie des zweiten Aktes „Nel suo rapido passagio“ dem ratternden Zierwerk, dem Wechsel von schnellen und langsamen Passagen Seele einhauchen. Farnocchia verkrallt sich nicht in die Figur der frühmittelalterlichen Fürstin, bleibt dezent und damenhaft und verschenkt nur ganz selten einen Ton. Pure Virtuosität verlangt die von Giovanni David kreierte Partie des Agobar bzw. Clodomiro, für den Michele Angelini fanfarenhafte Höhen und sängerisches Draufgängertum aufbietet, mit denen er sich in extreme Höhen schraubt und windet, aber sein Ton ist für mich im Saal oft uneben, kraftlos in der Mittellage, manchmal dünn und faserig und die Lagen klaffen auseinander, dann wieder protzend in der Höhe, ein Krieger eben. Im schönsten Ebenmaß einer Hosenrolle dieser Epoche tritt uns Diana Haller mit ihrem runden, satten im dramatischen Feuer wie schwärmerischen Liebesgefühl gleichermaßen ausgeglichenen und edlen Mezzosopran entgegen. Wenn sie als Leodato im Duett mit Ezilda in der Stretta von „Hoffnung ist der Regenbogen“ schwärmt, atmet ihr Gesang unverstellten Ausdruck. Francesco Lucii, der im letzten Jahr bereits beim Donizetti Festival in Bergamo aufgefallen war, singt Agobars aufrichtigen Vertrauten Aloar mit schönem Silbertenor, Camilla Carol Farias ist eine Äbtissin, der man Großes zutraut, und Francesco Bossi singt Agobars intriganten General Mohamud mit gebührendem Verschwörer-Bass. Rolf Fath
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Rossini in Wildbad: Bürgermeister Marco Gauger und Intendant Jochen Schönleber/ Foto RIW
Als ein kleines PS. schiebe ich meinen Eindruck vom Radiohören nach, wurde doch die Oper live am 22. Juli, dem Abend der Premiere, auch gesendet. Der Tenor Michele Angelini kam da für mich in der ersten Hälfte ganz anders herüber, mit sehr sympathischer, gut fundierter und für mich wirklich schön (!) klingender Stimme mittlerer Größe, topsicher in den eleganten Höhen und sehr, sehr ausdrucksvoll in seinem Gesang. In der zweiten Hälfte musste man das revidieren, vielleicht war da irgendwas stimmtechnisch passiert? Er hielt nur mit Mühe durch, und auch das musste man bewundern. Ich litt mit ihm. Seine Ver-Stimmung war unbestreitbar. Für mich war er dennoch der Gewinn des Abends neben dem balsamischen Bass von Roberto Lorenzi, der mit seiner Gestaltung immer eine Geschichte erzählte. Die sehr unruhigen, weit schlagenden, für mich recht aggressiv-hellen Damenstimmen klirrten am Radio mit unliebenswürdigen Höhen wie ein Stapel Teller, beide leider, wenngleich man beide wegen ihrer Furchtlosigkeit bewundern muss. Aber man dachte mit Wehmut and solche Sängerinnen wie Valentini, Scalchi, Gasdia oder Antonacci. Es ist zudem wahr, dass das Orchester auch mir am Radio zu dunkel, zu „rumpsig“ und zu wenig federnd klang. Nicht zu vergessen sei Paolo Raffo am eleganten Fortepiano. Wie stets ist man hin und hergerissen zwischen Bedauern ob der Manki der problematischen Besetzungen (dieser Primadonnen-Partien) und der Bewunderung ob der Initiative des Festivals
Ein Artikel in unserer Reihe Die vergessene Oper wird sich intensiver mit diesem spannenden und unbekannten Werk beschäftigen. Zudem ist wohl doch hoffentlich eine Veröffentlichung bei Naxos angedacht. G. H.
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New York/ Lincoln Center: Riccis Crispino e la Comare: Das Teatro Nuovo ist Will Crutchfields Programm, seltene Belcanto-Opern wiederzubeleben und sie so aufzuführen, dass sie dem Klangbild der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts (primo ottocento) so nahe wie möglich kommen. Das umfangreiche Trainingsprogramm, das in den Live-Aufführungen von zwei Werken pro Jahr gipfelt, schult Sänger und Spieler, die auf historischen Instrumenten spielen, in der Anwendung von Techniken, die zur Zeit der Komposition der Oper üblich waren, und somit in der Erzeugung eines „Klangs“, der dem nahekommt, wie Crutchfield und seine Kollegen glauben, dass die Opern geklungen hätten, als sie neu waren. Für den Theaterbesucher ist dies am deutlichsten an der Anordnung des Orchesters zu erkennen: Die Spieler sitzen auf der Höhe des Publikums und nicht im Orchestergraben, die geteilten Streicher und die Soloviolinen sind den anderen Spielern zugewandt (die ihrem Beispiel folgen, da sie oft die Lehrer der anderen Streicher waren). Es gab keinen „Dirigenten“ im modernen Sinne, sondern der Hauptgeiger war gleichzeitig der Direttore d’orchestra, der das Orchester leitete und die Tempi vorgab sowie die Geige spielte, während der Maestro al cembalo für die gesamte Aufführung verantwortlich war. Als sich die Oper der Mitte des Jahrhunderts näherte, wurden diese Rollen in der Regel in einer oder der anderen zusammengefasst, da sich das Arrangement immer mehr der Aufführung unter einem Dirigenten annäherte. Beide Opern, die in diesem Jahr aufgeführt wurden, fallen in die Kategorie Mitte des Jahrhunderts, so war Jakob Lehmann „primo violin e direttore dell’opera“ für Donizettis Poliuto (1838/48) und Jonathan Brandini für Ricci.
Federico und Luigi Ricci /Wikipedia
Crispino e la Comare. Die zweite Oper dieser Reihe war die Komödie Crispino der Gebrüder Ricci aus dem Jahr 1850. Einst enorm populär, ist sie wie fast alle italienischen komischen Opern zwischen Don Pasquale (1842) und Falstaff (1893) in Vergessenheit geraten. Natürlich haben italienische Komponisten in diesen sechzig Jahren eine Vielzahl von Opera buffa komponiert, auch wenn sie heute aufgrund der totalen Dominanz Verdis in dieser Ära unbekannt sind – und das war das interessante Thema von Will Crutchfields Vortrag, der dieser Opernaufführung vorausging. Er versprach, dass das Teatro Nuovo uns weitere Beispiele dieser „verlorenen“ Werke bringen wird, und angesichts des immensen Erfolgs seiner Crispino-Aufführung können wir nur hoffen, dass dies der Fall sein wird. (…) Die äußerst melodiöse Partitur ist in der Tat voller Walzer, was darauf hindeutet, dass um 1850 die populären Walzer die italienische Oper, insbesondere die Komödie, übernommen hatten. Crutchfield argumentiert, dass der Walzer, obwohl er ursprünglich aus Wien stammte, in Italien Eingang in die Opernunterhaltung fand und seine Popularität in der italienischen komischen Oper ihn zurück nach Wien in die Wiener Operette brachte. Annettas berühmtestes Walzerlied, „Io non sono piu` l’Annetta“, wurde von Joan Sutherland oft als Zugabe-Nummer verwendet. Die Nummern der Oper folgen den bewährten Formeln der Opera buffa, insbesondere denen von Donizetti. Das urkomische Trio von Dr. Crispino und seinen beiden Mitbrüdern, „Di Pandoletti medico“, ist ein direkter Verwandter ähnlicher Duette und Trios, die über Donizetti bis zu Rossini zurückreichen.
Cesare Zoppetti und Guglielm Sinaz in Vincenzo Sorellis Film von 1938, „Crispino“/ Teatro Nuovo
Die halbszenische Produktion des Teatro Nuovo folgte der Formel von Poliuto. Projizierte Bühnenbilder, diesmal in Farbe, bildeten die Kulissen der Szenen; diesmal handelte es sich um Originalentwürfe von Adam Thompson, die auf den Bühnenbildern von Pieretto Bianco für die Inszenierung von 1919 an der Metropolitan Opera basierten, offensichtlich das einzige Mal, dass Crispino dort aufgeführt wurde. Die Titel wurden auf die Oberseiten der Bühnenprojektionen projiziert. Andere und der Chor waren formell gekleidet. Das Bühnengeschehen spiegelte die physische Natur der Komödie wider, die ist sehr witzig und körperbetont. Es gibt sogar ein gewagtes Karnevalslied – das Lied der Frittola – das von Annetta in venezianischem Dialekt gesungen wird, vielleicht um das Publikum nicht zu beleidigen, da die Oper außerhalb von Venedig, dem Ort ihrer Uraufführung, aufgeführt wurde. Francesco Maria Piave, der Librettist (und Verdis Librettist für La traviata und andere Werke), machte sich einen Spaß aus der sexuellen Anzüglichkeit des Liedes.
Mattia Venni war ein ausgezeichneter Crispino. Seine Musik ist nicht besonders schwierig, aber er war sehr witzig, agierte mit seiner Stimme und spielte die physische Komik auf der Bühne. Annetta hat wesentlich mehr Koloraturen in ihrer Rolle und kann viele Techniken des Belcanto-Gesangs zeigen. Es scheint, dass Teresa Castillo über alle diese Techniken im Überfluss verfügt, zusammen mit vielen hohen Tönen und angemessenem Schwung. Manchmal ist ihr Gesang jedoch etwas gequetscht. Frau Castillo ist eine langjährige Mitarbeiterin von Herrn Crutchfield. . Liz Culpepper war die neue Mezzosopranistin in der Rolle der Comare. Sie war gut und souverän, auch wenn sie keine eigene Arie sang. Dorian McCall und Vincent Grana waren beide gut und lustig als die beiden Ärzte, ebenso wie Scott Hetz Clark als Don Asdrubale. In der Oper gibt es eine Nebenhandlung über die Liebe eines stimmgewaltigen Tenors, des Contino del Fiore, zu Lisetta, einem Mündel von Don Asdrubale. Er scheint da zu sein, damit es zu Beginn der Oper eine schmelzende Tenorarie („Bella siccome un angelo“) geben kann. Toby Bradford spielte die liebeskranke Rolle bewundernswert und sang die schmelzende Arie. Der Maestro al cembalo und Leiter der Aufführung war Jonathan Brandini, ein weiterer langjähriger Mitarbeiter von Crutchfield. Er leitete mit großem Brio die Ensembles und schunkelte bei den Walzern. Die Brüder Ricci, Federico und Luigi, sollte man öfters hören. Il birraio di Preston von Luigi wird diesen Sommer bei einem Festival in Italien mit dem Titel „Il bel canto ritrovato“ aufgeführt. Wenn es auch nur annähernd so ist wie Crispino, wird es mit endlosen Melodien und viel Spaß gefüllt sein. Dem Teatro Nuovo gebührt großer Dank dafür, dass es Crispino zurück nach New York gebracht hat. Das sah auch das dankbare volle Haus im Rose Theater so. Charles Jernigan
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Festival Palazzetto Bru Zane 2023 – Louise Bertin: Fausto – Théâtre des Champs-Elysées, Paris 20. Juni 2023. Ich wünschte, ich könnte enthusiastischer über diese jüngste Wiederaufnahme eines bisher vergessenen Werks sein. Aber sowohl die Oper selbst als auch diese Aufführung haben mich sehr enttäuscht.
Von meinem Platz aus, vorne in der Mitte des Ersten Balkons, überwältigte das Orchester die Sänger, insbesondere die beiden weiblichen Hauptdarstellerinnen, Karine Deshayes in der Titelrolle (eine Hosenrolle, die ursprünglich für Benedetta Rosmunda Pisaroni konzipiert war) und Karina Gauvin als Margarita. Beide haben einen guten Ruf, letztere vor allem im Bereich der Barockmusik, aber Deshayes kam im Orchesterklang oft nicht durch und Gauvin klang ehrlich gesagt nicht ganz bei sich. Das Gleichgewicht zwischen Stimmen und Orchester war durchweg zugunsten des Orchesters, Les Talens Lyriques unter der Leitung von Christophe Rousset, ausgeprägt. Vielleicht wird das Gleichgewicht bei der kommenden Aufnahme für das Label Palazzetto Bru Zane (geplante Veröffentlichung im Januar 2024) besser sein. Vielleicht hätte eine szenische Aufführung mit dem Orchester im Orchestergraben das Problem beheben können. Und vielleicht liegt die Ursache zum Teil in der Musik selbst.
Zu Louise Bertins „Fausto“: Die Komponistin/ Wikipedia
Es schien mir, als ob Bertin um jeden Preis vermeiden wollte, wie Rossini zu klingen, der zu dieser Zeit (1831) noch die dominierende Figur am Théâtre Italien gewesen wäre und ihren musikalischen Studien bei Fétis und Reicha Tribut zollen wollte. Mir kam es so vor, als ob die meiste Zeit praktisch nur das gesamte Orchester spielte, was seinen Beitrag sowohl laut als auch dicht machte. Zwar spielten die drei Posaunen (einer der wenigen Anklänge an Mozarts Don Giovanni) nicht ununterbrochen, aber abgesehen von den Rezitativen war dies mein Eindruck.
Anscheinend wurde Berlioz vorgeworfen, einen Teil der Musik für Bertins letzte Oper Esmeralda geschrieben zu haben, aber während Berlioz‘ Orchestrierung brillant und transparent klingt, tönte die von Bertin, so wie sie hier zu hören war, einfach nur dick. Der Mefistofele des kroatischen Basses Ante Jerkunica war viel besser zu hören – er hat eine Reihe von Wagner-Rollen gesungen. Und Nico Darmanins Auftritt als Valentino zu Beginn des dritten Aktes war ein Bekenntnis zu Rossini. Ich fühlte mich flüchtig an Corradinos Auftritt in Matilde di Shabran erinnert; auch wenn Valentinos hohe Noten und Läufe wahrscheinlich weniger extrem waren, so hatte er doch wenigstens welche. Andernorts wurden Koloraturen in Bertins Gesangsstil fast völlig vermieden. Ich fragte mich, ob andere musikalische Einflüsse Cherubini und Spontini gewesen sein könnten. Es gab nur wenige eigenständige Arien und wenige Applausrufe, und es gab viel Ensemblearbeit, die ein durchkomponiertes Gefühl vermittelte.
Aus den Namen der Figuren kann man schließen, dass die Kenntnis von Gounods Oper ein guter Ausgangspunkt ist, um der Handlung von Fausto zu folgen. Es gibt Unterschiede, aber noch mehr Gemeinsamkeiten. Bertin schrieb ihr eigenes Libretto auf Französisch, vertonte es dann aber in einer italienischen Übersetzung von Luigi Balocchi.
Ich würde mich gerne positiver äußern können. Die Entdeckung einer neuen Oper aus dieser Zeit, noch dazu von einer Komponistin, macht Appetit, aber in diesem Fall blieb mein Hunger ungestillt. Ich sollte hinzufügen, dass der Beifall während der Oper und am Ende der ersten Hälfte begrenzt war, während er am Ende warm und langanhaltend war. Alan Jackson (Der Autor ist Schatzmeister bei der Londoner Donizetti Society und war so freundlich, uns seine Rezension für die website der Gesellschaft zu überlassen, ganz herzlichen Danke Alan./ Übersetzung G. H./ Louise Bertins Oper wird in operalounge.de in der Reihe „Die vergessene Oper“ vorgestellt werden. Für ihr Frühwerk „Loup garreau“ findet sich in unserer Reihe „Die besondere Oper“ die Rezension von Charles Jernigan von der Aufführung in Albuquerque 2022.
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Musikfestspiele Potsdam Sanssouci: Rokoko-Zauber im Schlosstheater. In Freundschaft lautet das Motto der diesjährigen Festspiele in Potsdam Sanssouci, das im Schlosstheater des Neuen Palais zwei absolute Opernraritäten präsentiert. Erstere, die Festa teatrale L’Huomo von Andrea Bernasconi, kam als Koproduktion mit Musica Bayreuth nach Potsdam und erlebte am 11. 6. 2023 ihre gefeierte Premiere. Das Stück mit einem französischen Libretto von Wilhelmine von Bayreuth, das der Hofdichter Luigi Maria Stampiglia in italienische Verse gesetzt hatte, kam 1754 im Markgräflichen Opernhaus von Bayreuth zur Uraufführung. Anlass war ein Besuch von Friedrich II., Wilhelmines jüngerem Bruder, in der fränkischen Metropole.
Dorothee Oberlinger/ Foto Sony
Die Festa teatrale vereint ausgedehnte italienische Bravourarien, empfindsame Kavatinen und Ballettmusiken im französischen Stil. Mit ihrem Ensemble 1700 breitet Dorothee Oberlinger die reiche Palette der Musik mit Drive und straffem Zugriff aus. Immer wieder setzt sie markante Akzente, ob mit festlichem Trompetengeschmetter und Paukenwirbel, einer graziösen Gavotte oder einem gravitätischen Marsch. Sie hat auch die Edition verantwortet, welche die nicht überlieferten Ballettmusiken durch jene aus Carl Heinrich Grauns Armida ersetzt. Ohnehin enthält das Werk Einschübe fremder Komponisten gemäß der individuellen Wünsche einzelner Interpreten, so von Johann Adolf Hasse und Wilhelmine von Bayreuth höchstselbst.
Nils Niemann, ein ausgewiesener Regisseur für historische Aufführungspraxis, hat die Handlung in zauberhaften barocken Kulissen von Ausstatter Johannes Ritter arrangiert. Ein Wolkenhimmel aus Soffitten, eine Claude Lorrain nachempfundene Parklandschaft, ein Palmenhain und wandernde Wolken sorgen für stimmungsvolle Impressionen und den theatralischen Zauber vergangener Zeiten. Video-Animationen von Christoph Brech im Hintergrund, die vom Totenkopf über ein Gehirn zum Sternenhimmel wechseln, schlagen die Brücke ins Heute. Tänzer und Tänzerinnern stellen in eigenen Choreografien Liebesgeister, Furien und Erdenbewohner dar. Allegorische Figuren streiten um zwei Seelen, eine weibliche und eine männliche, die durch das Liebespaar Animia und Anemone in entzückenden Rokoko-Kostümen personifiziert sind. Die Sopranistin Maria Ladurner hat als Animia reizende, auch kokette Arien, reich an Verzierungen, zu singen, was ihr beachtlich, doch nicht ohne grelle Momente in der exponierten Höhe gelingt. Phänomenal im Koloraturfluss bewältigt sie ihr resolutes Solo im zweiten Teil. Die Stimme des Sopranisten Philipp Mathmann klingt fragil und unausgewogen in den Rezitativen, doch trumpft sie in Anemones Arien in der oberen Lage mit stupender Wirkung auf. Virtuos wechselt er in der Arie „Sino al respiro estremo“ zwischen baritonaler Tiefe und der Extremhöhe.
Bernasconis Oper „L´Uomo“ in Potsdam/ Szene/ Foto Stefan Gloede
Spektakulär beginnt die Aufführung mit dem Auftritt des Buon Genio. Francesca Benitez in prachtvoller Gewandung und herrscherlicher Attitüde singt ihre Gleichnisarie „Soffre talor del vento“ vom sanften, aber auch tobenden Meer mit dramatischem Aplomb, flexibler Stimmführung und bravouröser Bewältigung des Zierwerks. Der Gute Geist befreit seine von Höllengeistern gefesselte Tochter Negiorea, die von Alice Lackner mit klangvollem Alt gesungen wird. Mit dem pathetischen „Ti sembro austera“ und der Wutarie „Del tuo malvagio impegno“ fallen ihr zwei attraktive Nummern zu, welche sie mit kultiviertem Vortrag bzw. explosiver Attacke vorträgt. Gegenspieler zum Guten ist der Böse Geist, Cattivo Genio, den Florian Götz mit auftrumpfender Gebärde und resolutem Bass singt. Er befiehlt der Flüchtigen Liebe, Amor Volubile, und der Wollust, Volusia, das junge Liebespaar zu verführen. Anemone kann deren Verlockungen nicht widerstehen und wird Animia untreu. Die Sopranistin Anna Herbst kann als Verführerin in vielfältigen Arien mit reicher Farbpalette glänzen. Als Amor Volubile (und verkleidet als Amor Ragionevole) wartet der Tenor Simon Bode mit beherztem Vortrag und buffoneskem Beiklang auf. Die rundum ausgewogene Besetzung komplettiert Johanna Rosa Falkinger als Incosia, die Unbeständigkeit, die mit der reizenden Schmetterlings-Arie „Della farfalla infida“ voller funkelnder staccati und lieblicher legati erfreut. Am Ende will Anemone seine Schuld mit dem Leben büßen, doch Animia verzeiht ihm. Ein Freudenchor besingt den Sieg über die Finsternis und den Triumph des Lichts. Ein abschließender Tanz erinnert an das legendäre Liebespaar Rinaldo und Armida.
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Französischer Glanz in der Erlöserkirche: Alle drei Inszenierungen des diesjährigen Festspielsommers kamen als Koproduktionen mit renommierten Festivals der Alte-Musik-Szene nach Potsdam. Zweites Ereignis war am 17. 6. 2023 die Aufführung von Marc-Antoine Charpentiers Biblischer Tragödie David et Jonathas in der Erlöserkirche. Sie kam von der Opéra Royal/Château de Versailles und belegte in überwältigender Manier den Glanz der französischen Barockoper, wenn diese in angemessener Inszenierung und Ausstattung dargeboten wird. Hier hatte Marshall Pynkoski, Spezialist für das Theater des 17./18. Jahrhunderts, das Liebesdreieck um König Saul, seinen Sohn Jonathan und dessen geliebten Freund David auf einem erhöhten Podest in Szene gesetzt. Die lebhaften Arrangements und das engagierte Spiel der Akteure ließen den Aufführungsort Kirche total vergessen und die Frage, ob das hybride Werk nun zur Gattung der Oper oder des Oratoriums zählt, gänzlich in den Hintergrund treten.
Prägend für die Optik und bestimmend für den Luxus der Produktion waren die historisierenden Kostüme des berühmten französischen Modedesigners Christian Lacroix. In ihrer reichen Ornamentik, den kostbaren Materialien und den phantasievollen Entwürfen gehörte ein jedes von ihnen in das Geschichtsmuseum. Tänzerinnen und Tänzer des Ballet de l’Opéra Royal du Château de Versailles zeigen in gemusterten Trikots eine Choreografie von Jeannette Lajeunesse Zingg, die sich auf historischen Barocktanz spezialisiert hat. Da sieht man Freudentänze über das Glück des Friedens, Fechtszenen und im Finale den Jubel um David als neuen König. Dieser ersteigt den turmartigen Aufbau hinter der Spielfläche (Bühne: Antoine & Roland Fontaine), um sein Volk zu grüßen, und bricht zusammen. Denn er hat seinen geliebten Freund Jonathan verloren, der in der Schlacht gefallen ist.
Charpentiers „David et Jonathas“ in Potsdam 2023/ Foto Stefan Gloede
David Tricou sorgt in der Abschiedsszene von dem toten Geliebten nach dem existentiellen Aufschrei „Ciel! il est mort!“ für einen ergreifenden Klagegesang. Die Stimme des Sängers ist ein Phänomen, bewegt sich gleichermaßen souverän in der Region eines haute-contre (für den die Partie vom Komponisten notiert wurde) und eines Tenors, ist von faszinierender maskuliner Sinnlichkeit, zu der eine umwerfende charismatische Erscheinung korrespondiert. In jedem Moment ist sein Gesang von hinreißender Emphase, nie verzärtelt oder larmoyant. Das trifft eher auf den Sopran von Caroline Arnaud zu. Ihr Jonathas hatte anfangs wenig individuelle Kontur, steigerte sich erst im 3. Akt, klang dann aber streng und bohrend. Mit starkem spielerischem Einsatz und virilem Bariton war David Witczak ein imposanter Saül. Im Prologue begibt er sich zu einer Wahrsagerin, La Pythonisse, um den Schatten (Nicolas Certenais) seines Vorgängers Samuel erscheinen zu lassen. François-Olivier Jean hat gleich einer Drag Queen einen spektakulären Auftritt in großer Barockrobe und reichem Glitzerschmuck, führt seinen Tenor mit jammerndem Beiklang bis in Counterregionen. Die Besetzung komplettieren Cyril Costanzo als Achis, König der Philister, mit prägnantem, nachdrücklichem Bassbariton und Antonin Rondepierre als Oberbefehlshaber mit charaktervollem Tenor von bedrohlichem Ausdruck.
Gleich den Tänzern haben auch der Petit und Grand Choeur vielfältige Aufgaben als Volk, Krieger, Gefangene und Schäferinnen. Da werden im 1. Akt jubelnd die Taten des Helden David verkündet und im letzten mit einem ergreifenden Klagegesang der Tod des Jonathan betrauert. Alle diese Stimmungen bringen die Sänger mit vokalem Glanz und engagiertem Einsatz zu optimaler Wirkung.
Ein veritabler Tänzer am Pult war Gaétan Jarry, der das von ihm gegründete ENSEMBLE MARGUERITE LOUISE mit ansteckender Vitalität und größtem körperlichem Engagement leitete. Seine Interpretation besaß Drive und Esprit, festlichen Glanz, rasanten Wirbel bei den Ballettmusiken und am Ende erhabene Größe.
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Liebeswirren mit Bauarbeitern: Aus Innsbruck kam die dritte Neuinszenierung der diesjährigen Festspiele, Bernardo Pasquinis Idalma, als Koproduktion mit den Festwochen der Alten Musik. Der originale Titel dieser 1680 in Rom uraufgeführten Commedia per musica lautet L’Idalma, ovvero Chi la dura la vince. Und am Ende gibt es tatsächlich allseits Gewinner, denn dank ihrer Beharrlichkeit kommen alle Personen zum guten Schluss.
Alessandra Premoli hat das Verwirrspiel um Liebe, Treue und Eifersucht lebendig inszeniert, doch leider die unglückliche Idee gehabt, in dem von Nathalia Deana entworfenen Raum mit Kamin, Architekturteilen, Marmorintarsien, einer Sopraporte und Amphore Bauarbeiter mit Schutzhelmen, Taschenlampen, Handwerkszeug, Leitern und Gerüsten auftreten zu lassen. Permanent geistern sie durch die Szene, machen gelegentlich eine Pause mit Bier und Broten, geraten auch mal in handfesten Streit. Der Raum befindet sich in Rekonstruktion, wurde offenbar lange nicht begangen, was die langen Eiszapfen an den Wandleuchtern belegen. Immerhin flackern diese noch bei ausgedehnten Koloraturgirlanden, was ihre Funktionstüchtigkeit bezeugt. Auch eine Restauratorin mit Smartphone und Bauplänen ist im Einsatz, das elegante Outfit und die Highheels (Kostüme: Anna Missaglia) stehen nicht unbedingt für eine Arbeitskleidung. Insgesamt war die aufgesetzt wirkende Verlegung der Handlung in die Gegenwart nicht nur überflüssig, sondern auch störend.
Die Regisseurin war in der Premiere am 23. 6. 2023 auch szenisch im Einsatz, spielte den Lindoro, die männliche Hauptrolle, weil Anicio Zorzi Giustiniani krankeitsbedingt nicht proben und den Part im Orchestergraben nur singen konnte. Sein baritonal timbrierter Tenor gefiel besonders in der beherzten Arie „Voglio amar“ zu Beginn des 3. Aktes mit behändem Fluss der Koloraturen. Er bekennt sich hier zu seinem flatterhaften Liebesleben. Seine römische Geliebte Irene hat er verlassen und in Neapel Idalma geheiratet, will aber nun zu Irene zurückkehren. Prachtvoll gewandet und glänzend besetzt waren beide Damen mit der Sopranistin Arianna Vendittelli in der Titelrolle und der Altistin Margherita Maria Sala als Irene. Erstere kann sogleich in ihrer ersten Arie, in welcher sie sich über die Treulosigkeit ihres Gatten beklagt, mit klangvoller Stimme und vehementer Ausformung der Koloraturen überzeugen. Mitunter ist ihr Ton streng, doch stets intensiv und auch in den Rezitativen nachdrücklich. Fast eine Furienarie hat sie im 3. Akt zu bewältigen, wenn die Eifersucht sie plagt, was die Stimme in ihrer Raserei nahe ans Keifen führt, doch ist der hochdramatische Aplomb beachtlich. Mit satter, reizvoll timbrierter Stimme von üppiger Tiefe war Margherita Maria Sala eine Entdeckung. Das Ausdrucksspektrum der Sängerin reicht von schwärmerischen bis zu furiosen Facetten, überzeugte auch mit der reichen lyrischen Empfindung in der Arie „Giusti Numi“ im 3. Akt.
Pasquinis „Idalma“ in Potsdam/ Foto Birgit Gufler
Nicht weniger als sensationell ist der Auftritt ihres Bruders Almiro, der sich in Idalma verliebt, zu nennen. Denn der Bariton Morgan Pearse wartete mit einer Stimme auf, der geradezu Verdi-Potential eignet. Optisch gibt er im grünen Anzug, mit reich geschmücktem Hut und Flinte fast eine komische Figur ab, doch überwältigt der Sänger mit seiner Stimme von singulärer Pracht und ausladender Fülle. Beim Anblick der vermeintlich toten Idalma im 3. Akt kann er mit „Anima bella“ auch mit lyrischen Valeurs glänzen.
Der zweite Tenor der Besetzung, Juan Sancho als Irenes Gatte Celindo, kann sich mit hellerer, metallischer Stimme wirkungsvoll von Giustiniani abgrenzen. Männlich-elegant seine Erscheinung, munter und beherzt sein Vortrag. Mit Anita Rosati als Irenes Page Dorillo kommt ein kecker Soubrettenton ins Geschehen, der Bass Rocco Cavalluzzi kontrastiert als Lindoros Diener Pantano mit tiefen Noten und hat im 3. Akt eine reizende neapolitanische Canzone mit Fandango-Anmutung zu singen.
Am Ende ist die Restaurierung des Raumes beendet und ein Schriftzug über der Tür wird enthüllt: „Chi la dura la vince“. Für Pasquinis galante Musik mit farbiger Instrumentation, den reizvollen melodischen Floskeln auch in den Rezitativen und der Nähe zur spanischen Komödie war Alessandro De Marchi am Pult des Innsbrucker Festwochenorchesters der beste Anwalt. Das Publikum im Schlosstheater feierte die Interpreten anhaltend und herzlich – Potsdam Sanssouci 2023 war ein exquisiter Jahrgang. 2024 bringt vom 7. bis 23. JuniVeranstaltungen unter dem Titel „Tanz“. Bernd Hoppe
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Schloss Rheinsberg Osterfestspiele La clemenza di Silla: In Koproduktion mit den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik kam Carl Heinrich Grauns Dramma per musica Silla nach Rheinsberg und schmückte das Programm der Osterfestspiele im Schloss. Viele Berliner Opernfreunde waren zur Nachmittagsvorstellung am Ostersonntag angereist, erlaubte der günstige Termin doch eine abendliche Heimfahrt mit dem Regionalzug.
Kein Geringerer als Friedrich II. verfasste das Libretto zu dieser Oper, die 1753 im Berliner Opernhaus Unter den Linden uraufgeführt wurde. Vier Kastraten wirkten bei dieser Premiere mit und führten die hochvirtuose Musik des Königlichen Hofkapellmeisters Graun zu eindrucksvoller Wirkung. Auch in Innsbruck und Rheinsberg war eine prominente Besetzung aufgeboten, die dem Publikum im ausverkauften Schlosstheater ein Fest des Gesangs bescherte.
Georg Quander, Künstlerischer Direktor der Osterfestspiele Rheinsberg, hatte die Sänger in dekorativen Posen arrangiert und dankenswerterweise auf alle Verfremdungseffekte verzichtet. Die optische Faszination der Aufführung war vor allem der Ausstatterin Julia Dietrich zu danken, der durch Kopien von Wandmalereien in pompejanischer Manier und Zeichnungen von Säulen-Architektur ein Mix aus dem römischen Kapitol und dem Potsdamer Schloss Sanssouci gelang. In der Mitte eines Treppenrondells fanden sich wenige Versatzstücke wie eine Ottomane, ein Schreibtisch, eine Büste sowie Banner und Hoheitszeichen zur Bestimmung der Schauplätze.
Osterfestspiele Schloss Rheinsberg/ Grauns Oper „Silla“/ Foto Birgit Guller
Der Titelheld des Werkes ist der römische Diktator Silla, der ein Terrorregime führte und auf dem Höhepunkt seiner Macht alle Ämter aufgab, sogar auf die angebetete Ottavia zugunsten seines Konkurrenten Postumio verzichtete. Bejun Mehta zeichnete die Figur zwischen Machtmissbrauch und Verzicht sehr eindringlich. Von Julia Dietrich in einem roten Samtanzug mit kostbarer Goldstickerei kostümiert, war er auch optisch eine imposante Erscheinung. Sein Countertenor ließ gelegentlich ein paar larmoyante Töne hören, überzeugte aber schon in seiner erregten Arie „Perfido, sì comprendo“ mit vehementem Einsatz und dramatischem Aplomb. In den empfindsamen Arien kostete er das sanfte Melos schwelgerisch aus und krönte seine Interpretation mit dem Koloraturjubel in „Sia questo giorno altero“. Seinen Gegner Postumio stattete der Sopranist Samuel Mariño mit zärtlich sanften Tönen aus. Aber er wusste in „Non più tardi la vendetta“ auch ein Koloraturfeuerwerk von äußerster Erregung abzufeuern. „Caro bell’Idol mio“ mit lieblichen Melismen war sein Liebesgeständnis an Ottavia. Die Sopranistin Eleonora Bellocci, ganz in Weiß in einem Gewand im griechisch-römischen Stil gewandet, sang sie beherzt und entschlossen, was in ihrer Arie „Sol nel caro amabil volto“ auch zu grellen Spitzentönen führte. Hinreißend war sie im Duett mit Postumio, „Quando potrem giammai“, wo sich beider Koloraturläufe perfekt verblendeten. Auch ihr Zwiegesang mit Silla war von starker Wirkung durch die unterschiedlichen Emotionen – sie mit loderndem Zorn, er besänftigend und schwärmerisch. In ihrer letzten Arie, „In quest’amplesso“, konnte sie Postumio dann noch einmal ihrer Liebe versichern. Sie setzt sich damit auch über ihre Mutter Fulvia hinweg, die ihr geraten hatte, sich dem Antrag Sillas zu fügen. Die im Barockfach namhafte Roberta Invernizzi in strenger schwarzer Robe über der Krinoline trat gebührend resolut auf und sang mit reifem, herb getöntem Sopran. Ihr großes Solo gegen Ende des Werkes, „Se l’augellin si vede“, bewies aber ihre noch immer ihre kompetente Beherrschung des virtuosen Zierwerks.
Zwei weitere Countertenöre traten als die römischen Ratsherren Metello und Lentulo auf. Ersteren gab Valer Sabadus in einem reich bestickten, prunkvollen Gehrock. Seinem Auftritt fehlten Energie und Verve, auch irritierte ein nasaler Beiklang in der Stimme. Besser gelang ihm „Vinci, Signor, te stesso“. Als Lentulo hinterließ Hagen Matzeit einen glänzenden Eindruck. Sein warmer, resonanzreicher und in der baritonalen Tiefe substanzreiche Counter betörte in der Arie „Dopo l’orror“, doch sollte der Sänger in der ausgedehnten Kadenz auf den zirzensischen Effekt verzichten, die weite Spanne seiner Stimme bis zum Extrem auszureizen. Von reinem Wohlklang erfüllt war sein letztes, sanftes Solo „Nel reo destin crudele“.
Ein Tenor ist die tiefste Stimme der Besetzung, Sillas Ratgeber Crisogono, der dem Diktator rät, Ottavia zu entführen. Mert Süngü in römischer Toga und langem weißem Haar sang mit vehementem Einsatz und bedrohlichem Ausdruck, welcher die zwielichtige Figur anschaulich profilierte. Vor allem in seiner aufgewühlten Arie „Invan mortale ardito“ verfehlten die rasenden Koloraturen nicht ihre Wirkung.
Am Ende legt Silla seinen goldenen Umhang ab und verlässt die Szene. Zuvor hatte die Gesangsvereinigung Chorisma Neuruppin (Leitung: Dieter Winterle) noch den Großmut des Herrschers gepriesen („Viva di Silla il nome“) – mit mehr Fortune als im ersten Auftritt („Trionfar veggasi l’Eroe“), wo der Gesang unausgewogen und intonationstrüb klang. Auch das Orchester der Innsbrucker Festwochen fand unter Alessandro de Marchi zu keiner einheitlichen Leistung. Geradezu ausgedünnt klang die Sinfonia und auch später hätte man sich zuweilen ein affektreicheres Musizieren gewünscht. Aber es gab auch viele erfüllte Momente von orchestralem Glanz und ausgewogener Balance zwischen Bühne und Graben. Enthusiastischer Beifall des Publikums galt am Ende allen Mitwirkenden. Bernd Hoppe