Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Valerie Eickhoff im Gespräch

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Die junge Mezzosopranistin Valerie Eickhoff hätte es sich für ihr CD-Debüt auch einfacher machen können. Doch warum mit schönen Bravourstücken brillieren, wenn es jenseits der Komfortzone auch „brennendere“ Themen gibt. In heutigen kriegstrunkenen Tagen sind die Exil-Texte von Bertolt Brecht und die von Hanns Eisler dazu komponierte Musik für das „Hollywood Songbook“ ein aufwühlendes Statement.

Zusammen mit dem Pianisten Eric Schneider hat sich Valerie Eickhoff diesem Repertoire angenommen, das er während seines amerikanischen Exils verfasste. Hier fand er Zuflucht vor den Nazis und dem Zweiten Weltkrieg, doch auch in den USA war Eisler wegen seiner Kapitalismuskritik nicht gut gelitten. Die Distanz zum weltkriegsgebeutelten Europa mag für den Komponisten fruchtbar gewesen sein, um die Botschaft von Brechts Texten durch die Musik noch eindringlicher zu bündeln.

Das hochmotivierte Duo beweist auf dieser Aufnahme ein tiefes intuitives Verständnis von Texten und der Musik. Valerie Eickhoff mit ihrem Mezzosopran und Eric Schneider als kraftvoll akzentuierender Klavierspieler machen in den insgesamt 48 Einzelstücken dieses CD-Programms hörbar gemeinsame Sache.

Der komplexe Kompositionsstil des Schönberg-Schülers mit seinen kantigen Intervalle und schroffen Tonlagenwechseln, Anflügen von Dodekafonie und Jazz-Elementen ist für die junge Mezzosopranistin Herausforderung genug, welcher sie sich, was hörbar ist, vorbehaltlos annimmt. Flexibel navigiert Valerie Eickhoffs Stimme durch die Registerwechsel und Intervallsprünge, was die Höhen mit expressionistischem Drängen auflädt, während in der Mittellage Momente von eine aufrichtig empfindender Lyrik imemr wieder tief berühren. Auch Eric Schneider hat sich tief in die Sache eingehört, um auf dem Flügel mächtige Klangräume bereitzustellen und der Dramatik genug dynamische Kraft zu geben. Es ist ein Kosmos, in dem neben aller verstörenden Wucht auch viel musikalische Schönheit und menschliche Innigkeit lebt. Eisler wusste bei aller Modernität auch immer, effektvoll und un-akademisch die Töne zu setzen – und nie einen zu viel davon. Immer wieder überraschende Wendungen stehen für das ständig lauernde Doppelbödige, was auch nicht selte ins Bodenlose fallen lässt.

Niemals geriet Hanns Eisler in Versuchung, Brechts lakonische Worte durch Musik zu verwässern oder zu romantisieren. Tief berührende emotionale Momentaufnahmen wie im Stück „Der Sohn“ fächern eine breite Palette von Emotionen auf, die von unschuldiger Liebe bis hin zu Verzweiflung und Bitterkeit reicht. Kindliche Lyrik schwingt in Valerie Eickhoffs Stimme, etwa in der Liebeserklärung „An den kleinen Radioapparat“, aus dem im nächsten Moment wieder das Gebrüll der Kriegspropaganda scheppert. „Auf der Flucht“ suggeriert durch ruhelos pochende Klaviertöne ein auswegloses Drängen. Zwei Inschriften-Tafeln inspirierten expressive Miniaturen über die anonymen Gefallenen im Krieg. „Über den Selbstmord“ beginnt wie eine zärtliche Elegie, bevor das finale Wort, in dreifachem Fortissimo von Stimme und Klavier herausgeschleudert, die Brutalität eines solchen Aktes hervorhebt.

Die Hollywood-Elegien markieren eine kleine Welt für sich im „Hollywood-Songbook“. Hier geht es spürbar metaphorischer zur Sache. Die „Anakreontischen Fragmente“ sorgen für zusätzlichen Reiz dadurch, dass Valerie Eickhoffs Gesang hier auch mal auf englisch und französisch zu erleben ist. Das finale Stück mit dem Titel „Sturmesnacht“ ist anders als alles, was vorher war: Jetzt nimmt die Mezzosopranistin den Druck und die Spannung weitgehend heraus, dass es fast wie ein schlichter Choral anmutet. Brecht wagt hier einen im wortwörtlichen Sinne entwaffnenden Ausblick: Die Menschen werden es vielleicht schaffen, die ganzen Hitlers der Weltgeschichte zu überwinden. Aber sie müssen sich bemühen. Tun sie das?

Eine ironische Randnote im Zusammenhang mit der Aufnahme dieser bedeutenden Musik hätte vielleicht Bertolt Brecht zu einem weiteren Text inspiriert: Valerie Eickhoff und Eric Schneider mussten sich mit der Aufnahme dieses Stücke-Marathons beeilen. Denn das Rosbaud-Studio des SWR, ein musikhistorisch bedeutsamer, akustisch exquisiter und allemal würdiger Ort für so ein Unterfangen, wurde kurz danach abgerissen (Ars152096548;.). Stefan Pieper

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Anlässlich der neuen CD führte Stefan Pieper auch ein Gespräch mit der Sängerin: Diese zeitlose Botschaft lässt mich über die Gegenwart nachdenken“ Die Mezzosopanistin Valerie Eickhoff, im Jahr 1996 in Herdecke geboren und aktuell als Gast an der Düsseldorfer Oper am Rhein engagiert und längst international gefragt, hat sich mit bemerkenswerter Konsequenz auch dem Liedfach angenommen. Jetzt gerade hat sie zusammen mit dem Pianisten Eric Schneider ihre Debut-CD vorgelegt – Hanns Eislers Zyklus „Hollywood-Songbook“ nach Texten von Bertolt Brecht ist in aktueller Zeit ein erschütterndes, pazifistisches Statement. Was sie antreibt und bewegt und wo sie in ihrer jungen Karriere noch alles hin will, erläuterte sie im Gespräch mit Stefan Pieper für opera lounge. Am 28. März gibt es ein CD-Präsentationskonzert im Pianosalon Cristophori. 

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Sie sind gerade erst aus Hongkong zurückgekehrt. Was haben Sie erlebt? In Hongkong debütierte ich in der Rolle der Dryade bei einem Gastspiel der Bayerischen Staatsoper. Es war meine erste Zusammenarbeit mit der Bayerischen Staatsoper. Wir haben „Ariadne auf Naxos“ aufgeführt, es war großartig neben etablierten Größen der Opernwelt, auf der Bühne zu stehen. Kurz zuvor feierte ich mein Konzert Debüt in Italien mit Liedern von Gustav Mahler. Wir haben drei Konzerte in Florenz, Livorno und Pisa unter der Leitung von Emmanuel Tjeknavorian. Die Atmosphäre in Hongkong war einzigartig. Auch die Toskana bot eine wunderschöne Kulisse für die Konzerte – und das Publikum war von den Liedern begeistert.

Wie fühlen Sie sich jetzt, wo Ihre Debüt-CD veröffentlicht ist? Diese Veröffentlichung ist ein aufregender Moment für mich. Ich bin sehr dankbar, dass dieses Album ab sofort erhältlich ist. Es war eine intensive und lohnende Erfahrung, diese Lieder aufzunehmen und ich hoffe, dass sie den Hörern genauso viel Freude bereiten werden, wie sie mir beim Aufnehmen gemacht haben.

Wie kam es dazu, dass Sie sich für das Hollywood-Songbook von Hanns Eisler entschieden haben? Es fühlte sich einfach von Anfang an richtig an. Die Texte und die Themen, die da behandelt werden, könnten aktueller gar nicht sein und berühren mich sehr. So traurig das ist. Es ist wichtig, dass solche Botschaften gehört und verstanden werden, auch wenn sie oft erschütternd sind. Die Musik von Eisler und das Hollywood-Songbook transportieren so etwas auf eine raffinierte Art und Weise. Das ist einfach es wert, entdeckt zu werden.

Wollen Sie bewusst aus einer gewissen Komfortzone raus mit diesem Debut? Ich habe mir gedacht, warum soll ich jetzt eine weitere von ganz vielen Best-of-Mezzo-Sopran-Arien-CDs als Debüt-Aufnahme herausbringen, wenn es so etwas doch schon von so vielen Leuten gibt. Also mache ich doch lieber etwas, was es noch nicht gibt und was auch zeitgeschichtlich gerade sehr relevant ist. Hinzu kommt, dass es meine Erachtens noch keine Komplettaufnahme dieser Werke von einer Frau bislang gegeben hat.

Wo sind Sie dieser Musik zum ersten Mal begegnet und wie ging es dann weiter? Das erste Mal bin ich mit Eisler in Berührung gekommen, als ich für das Robert-Schumann-Fest in Düsseldorf einen Liederabend gestalten sollte. Der Veranstalter schlug vor, einige Lieder aus dem Hollywood-Songbook mit einzubeziehen. Daraufhin habe ich den Pianisten Eric Schneider gefragt, der bereits eine CD mit Eisler-Liedern aufgenommen hatte, und wir haben uns gemeinsam mit dem Repertoire auseinandergesetzt. Obwohl diese Lieder ganz anders als Schubert oder Schumann sind, passten sie gut zu mir und meiner künstlerischen Ausrichtung. Wir haben zunächst einen Teil des Hollywood-Songbooks aufgenommen und dann beschlossen, das gesamte Album einzuspielen. Insgesamt haben wir fünf Tage für die Aufnahmen gebraucht, aufgeteilt in zwei Blöcke. Der erste Block fand im Februar 2023 statt, der zweite im August. Dazwischen war ich im Juni oder Juli nochmal in Berlin, um den zweiten Teil vorzubereiten und dort zu proben.

Was machen die Lieder aus dem Hollywood-Songbook mit Ihnen? Beim ersten Hören denkt man vielleicht nur, dass es schöne Lieder sind. Aber wenn man genauer hinhört, erkennt man, worum es wirklich geht und welche Botschaften transportiert werden. Oft erlebt man dann einen bestürzenden Aha-Moment. Sozusagen als Bonustrack zum Hollywood-Songbook habe ich Eislers Lied „In Sturmesnacht“ hinzugefügt, da es mir wegen seiner klaren Aussage sehr am Herzen liegt: Wenn wir alle zusammenhalten, sind wir stärker als autoritäre Regime wie Hitler oder vielleicht auch in der heutigen Zeit Putin. Diese zeitlose Botschaft berührt mich sehr und lässt mich über die Gegenwart nachdenken.

Können Sie ein paar Herausforderungen beim Singen bestimmter Lieder beschreiben? Ich kann mir vorstellen, Eislers Kompositionsstil ist fürs Singen etwas gewöhnungsbedürftig. Ein Stück, das mir sofort in den Sinn kommt, ist „Später Triumph“. Beim Singen fühlt es sich zunächst unangenehm und sperrig an, aber genau das war wohl die Absicht des Komponisten. Der Text verstärkt dieses Unbehagen. Aber genau darum geht es: Eine eindringliche Bildkraft zu transportieren, die jeder empfindet, der das Stück hört.

Wie sind Sie auf das Label Ars gekommen und wie war die Erfahrung damit? Ich hatte vor circa zwei Jahren Kontakt mit Frau Schumacher vom Label Ars, nach dem ARD-Wettbewerb. Damals hatten wir bereits überlegt, gemeinsam ein Projekt zu realisieren, aber zu dieser Zeit war alles noch recht vage und ich hatte kein klares Ziel vor Augen. Als wir dann mit der Idee für diese Debüt-CD kamen, habe ich Frau Schumacher erneut kontaktiert und sie war sofort begeistert dabei. Ihr Engagement und ihr Interesse an interessantem Repertoire sind wirklich bemerkenswert und ich bin froh, dass wir mit Ars zusammengearbeitet haben.

Wie meistern Sie eine so große Bandbreite zwischen Ihren Opernrollen und einer derart ambitionierten Liedproduktion wie „Hollywood-Songbook“? Es ist für mich eine faszinierende Verschmelzung zweier Welten. Mein Gesangslehrer Konrad Jarnot hat mir immer geraten, auch das Liedrepertoire zu pflegen, und das habe ich beherzigt. Neben meiner Arbeit mit Orchestern und in der Oper ist das Lied für mich eine wichtige Facette meines Gesangs. Es erlaubt mir, meine Stimme auf eine andere Art zu nutzen und verschiedene Nuancen auszudrücken. Etwas erschwerend kommt hinzu, dass im Liedfach der Markt relativ eng ist und es weniger Möglichkeiten gibt. Umso dankbarer bin ich für jede Gelegenheit, die sich auftut. Ein aktuelles Beispiel ist meine Aufführung von Mahlers „Des Knaben Wunderhorn“ in Italien. Solche Projekte sind Balsam für die Seele. Ich liebe auch die Musik von Korngold sehr. Ebenso finde ich Mischformen aus Lied und Arie, wie zum Beispiel Respighis „Tramonto“, finde ich reizvoll. Ich habe dieses circa 15-minütige Werk bereits mit dem Adelphi Streichquartett aufgeführt. Bald folgt eine Version mit einem Streich-Orchester in Zusammenarbeit mit dem Kurpfälzischen Kammerorchester

Sehen Sie in solchen Liedprojekten einen eigenen künstlerischen Freiraum jenseits des Opernbetriebes? Ja, ich sehe in solchen Liedprojekten definitiv einen eigenen künstlerischen Freiraum. Auf der Opernbühne verkörpert man eine Rolle, die oft von Regisseur:innen und Dirigent:innen vorgegeben wird. Im Liedbereich hingegen kann ich selbst entscheiden und meine eigene Interpretation in den Vordergrund stellen. Das ist eine kreative Freiheit, die mir sehr wichtig ist. Natürlich gibt es auch hier einen Duo-Partner, aber letztendlich können wir zusammen eine Interpretation selbst gestalten und ausleben.

Haben Sie bestimmte Bilder im Kopf für Ihre Zukunft als Künstlerin? Ich möchte immer offen für neue Erfahrungen bleiben, denn Neugier ist für das künstlerische Schaffen am wichtigsten. Ich würde gerne an renommierten Opernhäusern wie der La Scala, der Metropolitan Opera in New York und der Wiener Staatsoper auftreten. Auch Konzertorte wie die Carnegie Hall oder die Wigmore Hall stehen auf meiner Liste. Mein Ziel ist es, mit bedeutenden Dirigenten und Dirigentinnen zusammenzuarbeiten und Liederabende in renommierten Konzertsälen zu geben. Seit meinem Engagement in Kopenhagen 2022 habe ich gemerkt, dass mich das Reisen und die Zusammenarbeit mit inspirierenden Menschen glücklich macht. Ich schätze den sozialen Aspekt meines Berufs sehr, da ich ständig neue Menschen kennenlerne und mich dadurch als Künstlerin weiterentwickeln kann. Persönliche Erfahrungen spielen eine entscheidende Rolle beim Erzählen von Geschichten. Es ist schwierig, authentisch und einfühlsam zu sein, wenn man nicht selbst etwas erlebt hat.

Sie haben neben vielen anderen Wettbewerben, ja auch den ARD-Wettbewerb erfolgreich absolviert. Was für Möglichkeiten und Wege hat er Ihnen eröffnet? Ich frage deswegen, weil dieser Wettbewerb ja von massiven finanziellen Einsparplänen bedroht ist. Ja, ich habe kürzlich mit einer Vertreterin des Wettbewerbs gesprochen und erfahren, dass die Zukunft des Wettbewerbs unsicher ist. Vor allem dieser Wettbewerb ist meines Erachtens extrem wichtig für die Sichtbarkeit und Vernetzung junger Musikerinnen und Musiker. Für meine bisherige Entwicklung waren auch noch andere Wettbewerbe von Bedeutung – zum Beispiel „Neue Stimmen“ sowie der Concours musical international de Montréal, Kanada. Dort durfte ich wieder einmal die Erfahrung genießen, in einer schönen Halle mit einem Orchester zu singen. Solche wertvollen Erfahrungen bereichern immer wieder das Leben.

Was steht als nächstes an? Ich stehe vor meinem Rollen Debüt als Angelina in „La Cenerentola“ in Düsseldorf an der Deutschen Oper am Rhein. Direkt danach habe ich ein Konzert in Mannheim mit dem SWR, bei dem wir die Wesendonck-Lieder mit Kammerorchester und „Il Tramonto“ von Respighi aufführen werden. Ganz besonders freue ich mich auf mein CD-Präsentationskonzert am 28. März im Piano-Salon Christophori in Berlin. Das ist eine großartige Gelegenheit, die Lieder live zu präsentieren und mit dem Publikum zu teilen. Ich hoffe, dass viele Freunde und Interessierte dabei sein können. Im Mai gebe ich mein Konzertdebüt in Spanien. Zusammen mit dem Pianisten Hartmut Höll werde ich am 21. Mai einen Liederabend in Barcelona bei Life Victoria geben (alle Photos Valerie Eickhoff).

Endlich

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Der einzige Makel dieser beglückenden Aufnahme oder, um im Bilde zu bleiben, der einzige Schatten, der auf sie fällt, ist der Titel, den man sich bei Erato für die neue Arien-CD von Michael Spyres hat einfallen lassen: In the Shadows, dazu ein grauschwarzes Cover, auf dem Spyres mit starr nach oben gerichtetem Blick wie zur Geisterbeschwörung aufruft (Erato 5054197879821).

Es geht schlichtweg um Komponisten im Schatten Wagners, um „those who formed the foundation of his compositional aesthetic and sculpted the framework of vocal writing that would become the Wagnerian tenor“. Und Spyres selbst spricht im Beiheft richtigerweise von Einflüssen, „Ich entdeckte, dass mein Weg zu Wagner über ein verflochtenes Netzwerk von Einflüssen verläuft, die ihn geprägt haben. Mit wenigen Ausnahmen war das Repertoire, das mich am meisten bewegte und herausforderte, Musik, die den jungen Wagner selbst inspirierte“. Im Schatten Wagners standen zu Lebzeiten weder Méhul noch Weber, weder Auber noch Meyerbeer und schon gar nicht Spontini, Rossini und Bellini, dessen Norma Wagner bekanntlich außerordentlich bewunderte. Manches davon ist heute freilich vergessen.

Umso schöner, dass Spyres und Christophe Rousset das Augenmerk auf die eine oder andere Rarität lenken. Dazu gehört gleich zu Beginn Josephs leidenschaftliche Arie „Vainement Pharaon“ aus Etienne Méhuls gleichnamiger Opéra comique von 1807, in der Spyres die Eingangsphrasen souverän gestaltet und sie nahtlos in den ariosen und leidenschaftlich gesteigerten Teil überführt. Auf diese Weise wirkt die Arie wie eine Vorlage zu Beethovens Florestan, dessen orchestralen Teil Rousset und Les Talens Lyrique ebenso behutsam ausmalen wie Spyres das Rezitativ und schließlich die ekstatischen, leicht gebremsten Aufschwünge „ein Engel Leonore“ und „führt mich zur Freiheit ins himmlische Reich“. Die verflixt schwere Arie klingt, bei aller flüssigen Aufbau, stellenweise etwas vorsichtig, auch ist die Stimme etwas angedickt und in der Höhe nicht ganz frei. Auf Beethoven folgt, chronologisch korrekt, der Leicester aus Rossinis Elisabetta. Dazu Spyres, „Es war Rossinis musikalische Gestaltung der Rolle des Earl of Leicester in Elisabetta, regina d’Inghilterra (1815) mit der innovativen Verschmelzung von Koloratur und einem dramatischen Tenor als romantischen Protagonisten, – quasi ein Vorläufer des Stimmfachs des jugendlichen Heldentenors – , die den Gesangsstil veränderte und Meyerbeer bei seiner Gestaltung des Adriano in Il crociato in Egitto (1824) tiefgreifend beeinflusste“. Bei Rossini bewegt sich Spyres, der auf der Aufnahme dann auch die großartige, von den tiefsten Tiefen bis zu den höchsten Höhen reichende Szene „Suona funerea“ mit Chor aus Meyerbeers Crociato folgen lässt, auf dem vertrauten Terrain seiner frühen Erfolge.

Michael Spyres zu seinen Aufnahmen von „In the shadows“ bei Warner/youtube

Erstmals gehört hatte ich ihn mit Rossini 2007 in Bad Wildbad als Alberto in La Gazzetta, in der er bereits alle Mitwirkenden an stilistischer Versiertheit übertraf, doch Sensation machte im folgenden Jahr sein Otello, bei dem er neben der baritonalen Grundlage bis zu den sicher platzierten Höhen Klangfülle und Schönheit, vokale Energie und gestalterische Phantasie auf triumphale Weise verband. Sein Rossini-Katalog erweiterte sich in Bad Wildbad noch um Néoclès und den Arnold in Guillaume Tell, stets auf hohem, wenngleich nicht ungetrübten Niveau. Toll ist auf der aktuellen CD die furiose, von Les Talens Lyrique zugespitzte Attacke des Leicester. Die Leichtigkeit der frühen Jahre freilich ist dahin.

Als Webers Max verbindet Spyres sowohl sensible Seelentöne wie dramatische Aufwallungen zu einer bravourösen Gesangsnummer. Eine sichere, feste Höhe demonstriert er als Aubers Masaniello aus La muette de Portici, eine Besonderheit ist – als World-premiere recording in the original German – der Heinrich aus Spontinis preußischer Festtagsoper Agnes von Hohenstaufen; die Arie quält sich allerdings genauso mühsam wie der Text des Hohenstaufen-Chronisten Ernst Raupach „Der Strom wälzt ruhig seine dunklen Wogen“.

„In the shadows“: Dirigent Christophe Rousset/Warner

Welch ein Unterschied dann der mit heroischer Geste und martialischer Wucht draufgängerisch gestemmte Pollione aus Bellinis Norma, in der Julien Henric als Schwertträger Flavio assistiert. Mit einem Ausschnitt aus Hans Heiling weist Spyres nachdrücklich auf die Bedeutung von Marschner hin, dessen Szene des Konrad „Gönne mir ein Wort der Liebe“ geradezu den Erik vorwegnimmt. Spyres singt allerdings den wie eine Fleißarbeit wirkenden Arindal in Wagners Die Feen. Rienzi („Allmächt’ger Vater, blick herab“) und Lohengrin („Mein lieber Schwan“) schließlich erscheinen im Zusammenspiel mit den anderen Arien und Komponisten zwar nicht in neuem Licht, aber doch als konsequente Weiterentwicklung eines Gesangsstils, dessen Verankerung in den innovativen Werken der Übergangszeit vom 18. zu 19. Jahrhundert zu finden ist, was Spyres in der feinen Artikulation, den skrupulösen Steigerungen und den bravourös angelegten Höhepunkten belegt.  Rolf Fath

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Dazu auch die Rezension von Rolf Fath zum ersten Lohengrin von Michael Spyres in Strasbourg in der Rubrik „Die besondere Oper“.

Rares vom Donizetti Festival

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2022 hievte DonizettiOpera, also das Donizetti Festival in Bergamo, ein Werk aus der Versenkung, das seit seiner Uraufführung vor exakt zweihundert Jahren nie wieder gespielt wurde. Das Melodramma semiserio Chiara e Serafina gilt als einer der größten Misserfolge Donizettis, mit dem sich der damals 25jährige im Herbst 1822 jede Chance verbaute, an der Mailänder Scala Fuß zu fassen. Es dauerte mehr als zehn Jahre, bis er im Dezember 1833 mit Lucrezia Borgia die Scala-Schande ausmerzte. Wieder schrieb ihm Felice Romani den Text, dem Donizetti für Chiara e Serafina, o sia Il pirata das französische Melodram La Cisterne (1809) des seinerzeit populären Charles Guilbert de Pixérécourt, des „Corneille der Boulevards“, empfohlen hatte. Das umfangreiche Stück um die auseinander-gerissenen Schwester Chiara und Serafina ist Verwechslungs-, Verkleidungs- und Intrigenstück sowie Schauer- und Rettungsoper, vermischt also alle Moden der Zeit zu einem unterhaltsamen zweieinhalbstündigen Zweiakter, dem allerdings schon bei den ersten vier Aufführungen die Zuschauer der Scala davonliefen. Heute mag man das großherziger sehen. Auf jeden Fall ist es verdienstvoll, dass DonizettiOpera das Werk in seiner den Frühwerken Donizettis gewidmeten Reihe #200 zu retten versuchte. Und heutige Hörter und Zuschauer reagieren möglicherweise großherziger auf die Musik des jungen Donizetti, der den Schablonen und Mustern seiner Zeit durch eine ausgesuchte Instrumentation und aufwendige Ensembles – das erste Finale und das Sestetto am Ende des zweiten Aktes – durch seine Melange aus Melancholie und Zärtlichkeit ein eignes Flair zu geben versuchte.

Regisseur, Ausstatter und Kostümbildner Gianluca Falaschi unternahm jedenfalls alles, um das Publikum von der unbedingten Kraft des Stückes zu überzeugen. Pures Amüsement, ohne Logik, doch nicht ohne Hintersinn. Falaschis szenisches Potpourri holt vom Boulevard- und Unterhaltungstheater, von Revue und Show, Kleinkunst und Varieté des 19. und frühen 20. Jahrhunderts alles auf die Bühne, was Effekt macht und dekoriert diese mit allem, was Thema und Fundus hergeben von der runden Insel samt Palmen, Kreuzfahrtschiff, schaumgekrönten Wellen, weißen Wölkchen vor blauem Himmel bis zur furchterregenden Zisterne und maroden Burg. Bevölkert wird das Schautheater von Tanz-Girls in Glitzer-Petticoats, feschen Matrosen (Coro dell’Accademia Teatro alla Scala) und Menschen, die allesamt ihre roten Bäckchen auf weiß geschminkten Gesichtern, langen Nasen und vorstehenden Kinnpartien Spazierenführen. Das ist nostalgisch ausgebleicht wie ein liebevoll restauriertes Musical.

Das Stück scheint kompliziert. Chiara und ihr fälschlicherweise des Verrats angeklagter Vater Don Alvaro wurden von Piraten verschleppt und auf einer Insel festgesetzt. Serafina verblieb derweil in der Obhut von Don Alvaros Feind Don Fernando, der Serafina heiraten will, um an ihr Vermögen zu kommen. Serafina liebt aber Don Ramiro, den Sohn des Bürgermeisters. Soweit die Vorgeschichte. Nach zehn Jahren gelingt Chiara und ihrem Vater die Flucht. Sie stranden an der Küste Mallorcas, wo sie auf Don Meschina, Lisetta und ihre Mutter Agnes treffen, die so etwas wie das Faktotum des verlassenen Schlosses Belmonte ist. Don Fernando muss rasch handeln und heuert den Piraten Picaro an, der Serafina die Heirat mit ihm schmackhaft machen soll. Schließlich landen alle irgendwann in der Zisterne, die dem ursprünglichen Stück den Titel gab, bevor es zum absehbaren Happy End kommt und durch ein wieder aufgefundenes Dokument sogar die Unschuld des Don Alvaro bewiesen wird.

Ich hätte nicht erwartet, dass die DVD (Dynamic 37987) die bei der Premiere nicht unbedingt mitreißende Aufführung im Teatro Sociale in Bergamos Oberstadt, derart animierend einfangen würde. Das liegt aber vor allem an Sesto Quatrini und seinem Originalklangorchester Gli Originali, die Donizettis Musik und seine ambitionierten Instrumentaldetails so gustös und rhythmisch schwerelos präsentieren, dass der Hörer davongetragen wird. Vor allem in dem swingenden Duett Serafinas mit Don Ramiro „Come più dolce il zeffiro“, dem Porzellanpüppchen und dem Frack tragenden Conférencier, der kleinstimmig zuckersüßen Fan Zhou und dem tenoral durchdringenden Hyun-Seo Davide Park. Die Tanzbein schwingende Operetten-Lust steigert sich noch in Serafinas Szene mit dem Piraten in der schmucken weißen Kapitäns-Uniform „Per vederli o mia figliuola“, wobei Sung-Hwan Damien Park mit höhenstark beweglichem Bariton in der für Antonio Tamburini geschriebenen Paraderolle des Picaro glänzt. Sie alle kommen von der Accademia Teatro alla Scala, wodurch der einstige Misserfolg wieder mit der Stätte der Uraufführung in Berührung kommt, und erhielten von Pietro Spagnoli ihren letzten Schliff. Der erfahrene Buffonist selbst glänzt in der Partie des Don Meschino durch vokale Vis comica. Neben der im ersten Finale durch ihre intensive Gestaltung herausstechenden Greta Doveri als Chiara machen Valentina Pluzhnikova mit ihrem originellen Mezzosopran als groteske Lisetta und die dunkel tönende Mara Gaudenzi als skurrile Agnese großen Effekt.  Rolf Fath

Pure Labsal

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Es  ist nicht er, Andreas Scholl, der Urvater aller deutschen Countertenöre, sondern es ist Jochen Kowalski, aber auf eine mittlerweile jahrzehntelange Karriere in diesem Fach kann der 57jährige mittlerweile auch zurückblicken und legt nun eine CD mit Invocazioni Mariane vorwiegend aus dem neapolitanischen Raum  und dem 18. Jahrhundert vor. Mit dem Sänger, der wie ein Mönch in eine schwarze Kutte gekleidet und zudem noch vor einem düsteren Hintergrund posiert,  scheint das Cover vor allem der schmerzgebeugten Mutter des Gekreuzigten Tribut zu zollen, in Wahrheit aber begegnet dem Hörer auch Maria als Trösterin und Anwältin der Bedrückten. In einem im Booklet nachlesbaren Gespräch legt der Säger auch Wert darauf zu betonen, dass sein Auftritt nicht als Travestie zu verstehen ist, sondern dass er sich in die Rolle der Maria hineinversetzt hat („humanity before gender“). Außerdem richtete er seine Interpretation  danach aus, dass man sich die Stücke auch als Opernarien vorstellen könnte, in denen der Wunsch nach mütterlicher Liebe oder aber der Schmerz der Mutter zum Ausdruck kommt. Zum Ziel gesetzt hat er sich nach eigenem Bekunden auch, seine Kunst nicht wie Kunst wirken zu lassen.

Seit zwanzig Jahren arbeitet Scholl mit der Accademia Bizantina zusammen, die von Ottavio Dantone in Ravenna gegründet wurde und nun von Alessandro Tampieri geleitet wird, der  von der ersten Geige aus dirigiert. Besucher des noblen Festivals von Ravenna, das Riccardo Muti ins Leben gerufen hatte, kennen dieses Orchester und wissen seine Qualitäten zu schätzen. Auch Andreas Scholl arbeitet regelmäßig und seit bereits zwanzig Jahren mit dem Klangkörper zusammen.

Bereits beim Anhören der ersten Tracks, Ausschnitte aus Nicola Porporas Il trionfo della divina giustizia ne‘ tormente e morte di Gesù Cristo, ist man erfreut über Frische, Reinheit und Farbigkeit der Stimme, die ein junges Timbre vermuten lässt. Davor erklingt festlich glänzend die Sinfonia. Eine zarte, pure Klage, die die Stimme als reines Instrument wirken lässt, kann man in „Occhi mesti“ vernehmen, im „Per pietà“ wird das Rezitativ fein ziseliert dargeboten. In schöner, schmerzlicher Klarheit lässt sich Leonardo Vincis Oratorio Maria Dolorata vernehmen, schwerelos schwebend und von reinem, tröstlichem Klang. Im „Tutti sono del materno seno“ faszinieren die Intervallsprünge. Es folgt Pasquale Anfossis Salve Regina als schöner Dialog der Stimme mit den variationsreich eingesetzten Instrumenten. Vivaldis Stabat Mater schließlich ist von wunderschöner Getragenheit. Das Anhören der CD befriedigt den ästhetischen Anspruch und tut darüber hinaus der Seele gut (Naive V 5474). Ingrid Wanja   

Spannende Reiseoper

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Wohl zu allen Zeiten reisefreudig waren, glaubt man der Opernliteratur, die Italienerinnen, auch wenn die Rossinis (von 1813) nicht freiwillig gleich bis nach Algier reiste und die weit weniger bekannte Domenico Cimarosas erst auf der Suche nach dem untreu geglaubten Geliebten bis nach London gelangte. Auch dem Dirigenten und dem Regisseur der Frankfurter Aufführung aus dem Jahre 2021 war das Werk nicht bekannt, Il Matrimonio segreto ein Begriff, dem Dirigenten allerdings auch ein Flötenkonzert des Italieners. Dieser lässt in L’Italiana in Londra (1778) in einem Londoner Hotel fünf Personen, die typisch für das Land ihrer Herkunft sein sollen, aufeinandertreffen (und an Rossinis Viaggio a Reims erinnern): die titelgebende Italienerin aus Genua, deren Landsmann aus Neapel, einen englischen Lord, einen holländischen Geschäftsmann und die Inhaberin der Herberge. Typisch für die Oper vor Rossini ist, dass die Liebhaber der beiden Damen über tiefe Stimmen verfügen, während der offensichtlich Ältere und unbeweibt Bleibende von einem Tenor gesungen wird.

Die Frankfurter Produktion siedelt in dem zweckmäßigen Bühnenbild von Paul Steinberg das Geschehen in einem Hotel der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts an mit noch einer Telefonzelle, einem Tresen und begrenzt von einer drehbaren Rückwand mit geographischem Muster. Die Kostüme (Doey Lüthi) sind teils witzig wie für die Wirtin, teils glamourös wie für die Italienerin, die zum Schluss wie ein aufgeplusterter Flamingo über die Bühne schwebt, und für die Männer die jeweilige Nation vertretend, d.h. der Neapolitaner in Grün-Weiß-Rot, mit Goldkettchen und Brustbehaarung. In seinem Gehabe allerdings gleicht er trotz aller Bemühungen eher einem kanadischen Holzfäller als einem Südländer. Natürlich wird in London viel Tee getrunken, und man hüllt sich auch gern in die damals allerdings noch nicht existierenden Flaggen. Mit immer neuen Einfällen weiß die Regie das Publikum bei der Stange zu halten, Monty Python, Brian Rix oder Linder Sterling scheinen Pate gestanden zu haben, und alle fünf Sänger sind mit sichtbarer und hörbarer Begeisterung dabei.

Auch die hoch amüsante akustische Seite lässt den Streit darüber, ob Cimarosa zweitrangig, weil zu vorhersehbar, sei, als müßig erscheinen, denn der auch am Hammerklavier begleitende Leo Hussain weiß die Erfahrung des Frankfurter Orchesters mit älterer Musik zu nutzen und sorgt für eine frische, durchsichtig erscheinende, temperamentvolle Begleitung. Auch die Rezitative sind unterhaltsam, da durchaus auch den Zuschauer von heute interessierende Themen berührend.

Einen hellen, zarten Sopran, der auch einer Blonde gut anstehen würde, hat Bianca Tognocchi für die liebeskranke Wirtin, die sich schließlich doch den dem Aberglauben verfallenen Neapolitaner sichert. Einen lyrischen, kühlen und höhensicheren Sopran setzt Angela Vallone für die titelgebende Livia ein, ist sehr attraktiv und hat mit „Dunque per un infido la libertà perdei?“ die bemerkenswerteste Szene. Mit präzisem  Charaktertenor und sicherer Höhe gestaltet Theo Lebow den Holländer, Iurii Samoilov ist der zu Unrecht treulos geglaubte Milord mit etwas dumpfem, aber sehr beweglichem Bariton, Gordon Bintner hat die sonorere, prägnantere dunkle Stimme für den Don Polidoro. Alle gemeinsam bilden ein hochkompetentes, sich einander ergänzendes Solistenensemble, das den Zuschauer für mehr als zweieinhalb Stunden bei der Stange halten kann (Naxos NBD0155). Ingrid Wanja   

Deutsch-Polnisch-Italienisches

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Viel weniger bekannt als die drei Tudor-Opern Gaetano Donizettis ist Gioachini Rossinis Elisabetta regina d’Inghilterra, für Neapel komponiert und deshalb von vornherein unter einem schlechten Stern stehend, denn der erträumte Protegé, Napoleons Schwager, Marschall und König von Neapel, Jerome Murat, war gerade vom Thron der beiden Sizilien verjagt worden, und die Bourbonen waren zurückgekehrt. Trotzdem war das Werk durchaus ein Erfolg, irritiert allerdings heutige Hörer dadurch, dass die Sinfonia identisch ist mit der vom Barbiere di Siviglia, zu der sie in ihrer munteren Beschwingtheit weit eher zu passen scheint als zu der mit einem Verzicht auf den geliebten Leicester endenden Oper des Schwans von Pesaro. Die endet nicht so blutig wie Donizettis Maria Stuarda, die den Grafen zwischen zwei Königinnen stehend zeigt, bei Rossini ist er bereits glücklich verheiratet, einer Intrige  des Herzogs von Norfolk ausgesetzt, aber dem Schafott entgehend, weil sich Elisabetta dafür entscheidet, der Liebe zu entsagen und nur noch Landesmutter zu sein. So hat sie zwar am Schluss auch ihre große Szene, aber die ist anders als bei Donizettis Roberto Devereux nicht eine des Verzichts, sondern eine der Selbstbesinnung.

Wirft man einen ersten Blick auf das Cover der bei Naxos erscheinenden CD, denkt man, es handele sich dabei um eine polnische Produktion, denn Orchester und Chor sind die aus Krakau. Auch in der polnischen Stadt wurden Teile der CD aufgenommen, inszeniert wurde aber in Bad Wildbad zu den Rossini-Festspielen im Jahre 2021. Auf westlichen Bühnen bedient man sich noch immer gern aus dem ehemaligen Ostblock stammender Orchester und Chöre, so auch in Martina Franca, deren Mitglieder gern ihr Können an Orten, wo andere Urlaub machen, zur Schau stellen. Die Inszenierung stammte übrigens vom Begründer der Rossini-Festspiele Jörg Schönleber, für deren Authentizität lange Jahre Alberto Zedda und William Matteuzzi garantierten.

Den Genuss der beiden CDs wesentlich erhöhen kann die Lektüre des Booklets, das vom Rossini-Kenner Reto Müller gestaltet wurde und wertvolle Informationen über das Werk liefert. Zwar gibt es kein Libretto im Booklet, aber eine sehr ausführliche Inhaltsangabe auch in deutscher Sprache.

Die anspruchsvolle Partie der Elisabetta ( komponiert für Isabella Colbran) wird  hier nun von  Serena Farnocchia gesungen, die einen sehr jung klingenden, leuchtenden Sopran dafür einsetzen kann, auch in der Höhe meistens angenehm zart, unter Druck auch einmal schrill werdend, insgesamt wünscht man sich, obwohl die Sängerin zunehmend an ihrer Aufgabe zu wachsen scheint, etwas mehr Majestät in der Stimme, obwohl sie sich bemüht, ihr einen intriganten Anstrich zu geben, ehe der Entschluss zum Verzicht gereift ist.  Matilde, die Gattin des umschwärmten Leicester, ist ebenfalls ein Sopran, Veronica Marini, und gestaltet sehr schön die Verzierungen ihrer Partie, empfindsam klingt ihr „Sento un’interna voce“, sie klingt zugleich anmutig und virtuos.

Es gibt nicht vier, wie im Otello, aber immerhin drei Tenöre, die des Intriganten wurde sogar für Manuel Garcia komponiert. Merit Süngü, der eher ein Charaktertenor ist, singt einigermaßen virtuos, aber mit wenig Substanz in der sich manchmal nur mit Mühe gegenüber dem Orchester durchsetzenden Stimme. Leicester ist Patrick Kabongo mit weichem, fein konturiertem Tenor, mit guter Höhe und dem Wissen um die Bedeutung der Rezitative. Die Spitzentöne sind kraftvoll, sein „Sposa amata“ klingt empfindsam, allerdings darf man mit einem Rockwell Blake oder Chris Merrill nicht vergleichen, aber Bad Wildbad war ja nie berühmt für Starauftritte, sondern für die Entdeckung und Förderung junger Talente, was hoch verdienstvoll ist. Eher ein Stichwortgeber ist der Guglielmo von Luis Aguilar, aber er scheint ein schönes Timbre zu besitzen.

Für Italianità im Orchester sorgt Antonino Fogliani, der Chor war wohl nicht  immer optimal für eine Aufnahme platziert, schlägt sich aber  achtbar. Da die wie die Sinfonia aus anderen Opern Rossinis stammenden Tracks aus weniger bekannten Werken stammen, stört der Pasticcio-Charakter der Elisabetta kaum (Naxos 2 CD. 8.660538-9). Ingrid Wanja

A te, Puccini

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In letzter Zeit fast ausschließlich Puccini und von ihm fast ausschließlich Mimi gesungen hat Angela Gheorghiu, die sich im zum Teil selbst gestalteten Booklet zu ihrer Aufnahme von des Luccheser Canzonen noch auf die Eloge der New York Sun beruft, die sie als „the world’s most glamorous and gifted opera star“ bezeichnete, während ein anderes Urteil ihr bescheinigte, „she penetrates the hearts“. Auch mit ihren Auftritten vor gekrönten Häuptern schmückt sich der Sopran aus Rumänien gern, selbst mit denen vor einem, dem eine Krönung nie zuteil wurde wie dem Monarchen aus ihrem Heimatland.

Die CD mit siebzehn Tracks, die 2023 in Lucca aufgenommen wurde und  zum 100. Todestag des Komponisten erscheint,  zeichnet sich durch die weltweit erste Einspiellung von Melanconia aus, deren Text vom Opernlibrettisten Antonio Ghislanzoni stammt, und es gelingt der Sängerin, die Kontraste zwischen den „astri radianti“ und dem „gel eterno“ durch den Wechsel der Stimmfarben wirkungsvoll herauszustellen. Auch dem in ähnlicher Stimmung sich bewegenden Morire? überzeugt eine schöne Nachdenklichkeit, die die Stimme auch einmal wirkungsvoll aufblühen lässt.

Über diese Fähigkeit verfügt Gheorghiu auch bereits beim einleitenden A te des Sechzehnjährigen, allerdings sind auch eine verwaschene Diktion  und Züge von Manierismus unüberhörbar und eine Überfrachtung des Stückleins mit überbordender Agogik. Das von einem Harmonium begleitete Salve Regina wird sehr theatralisch aufgefasst, man bemerkt eine ausgeprägte Effekthascherei und ist verstimmt. Als Storiella bezeichnete der Komponist die Geschichte von einem Paar, das sich über einem Liebesroman der eigenen Liebe bewusst wird. Darin Francesca und Paolo zu erkennen, ist etwas gewagt, da  sie allzu heiter erscheint. Sehr schön einfühlsam erklingt A una morta, in dem die Stimme den Flug der Seele nachzuvollziehen scheint. Mit recht scharfer Extremhöhe, hochdramatisch die Kontraste hervorhebend, wird Mentia l’avviso interpretiert, erstaunlich erscheint, dass Sole e amore auch mit der von Tod und Abschied sprechenden Szene aus dem dritten Akt von La Bohéme vereinbar sind. Wie ein stolzes Bekenntnis klingt Inno a Diana und lässt den Sopran mit seinen Stimmfarben spielen. Dass sie über ein klangvolles Piano verfügt, beweist Gheorghiu mit É l’uccellino, die Melancholie von Terra e mare wie das stolze Sichaufbäumen, von dem Canto d’anime erzählt, werden in den entsprechenden Canzoni hörbar, allerdings auch eine gewisse Schärfe. Schlicht und einfach, wie es sich gehört, interpretiert der Sopran Casa mia, sanft und einschmeichelnd den Sogno d’or und mit frischer Unbekümmertheit ohne chauvinistischen Beiklang den Inno a Roma.

A te, Puccini heisst die als persönliche Gabe an den Komponisten gedachte CD, der sich sicherlich über das Geschenk einer so schönen Frau gefreut hätte.

Keinen erfahreneren und besseren Begleiter als Vincenzo Scalera kann man sich am Klavier vorstellen (SIGCD780: Ingrid Wanja   

Lichter im Gran Canal

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Nur wenige Stunden trennen an jedem 1. Januar die Übertragung des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker von der des Venezianer Opernhauses La Fenice, ein ganzes Jahr jedoch die überprompt erscheinende CD vom ersteren von der DVD des letzteren. Eine gleiche beruhigende Gewissheit kann man auch in Bezug auf die Programmgestaltung beider Institutionen haben, denn während die Wiener sich musikalisch im Umfeld der Familie Strauß bewegen, sind in Venedig „Va pensiero“ aus Nabucco, „Libiam ne‘ lieti calici“ aus Traviata und „Nessun dorma“ aus Turandot unverzichtbar und so sicher im Programm auftauchend wie das Amen in der Kirche. Von den Wienern unterscheiden sich die Venezianer auch dadurch, dass stets Gesangssolisten auftreten und die weiblichen sich als perfekt im schnellen Kostümwechsel erweisen. In dieser Hinsicht enttäuscht auch der Sopran vom Jahreswechsel zu 2023 nicht, indem er nacheinander, wenn auch in veränderter Anordnung die deutschen Fahnen Schwarz Rot Gold trägt, wobei die Wahl der Farbe bereits Teil der Interpretation sein dürfte.

Es beginnt allerdings ungewöhnlich mit einem nichtitalienischen Dirigenten, Daniel Harding, und einem langen rein orchestralen Programmteil, der Italienischen Sinfonie von Felix Mendelssohn Bartholdy, nachdem ein außerordentlich edel aussehender Jüngling durch ein von Schneefall zusätzlich verzaubertes Venedig wallt und sich tanzend einer Ballettgruppe anschließt. Ein ähnliches Bild gibt es später so unvermittelt wie ungewöhnlich noch einmal. Es handelt sich um Jacopo Tissi und das Ballett des Teatro Massimo di Palermo. Das Orchester jedoch ist das des Teatro di Fenice, das unter Daniel Harding sehr beschwingt, sehr melodiös, sehr romantisch aufspielt. Es folgt die Ouvertüre zu Le Nozze di Figaro, die durchaus auch als eine solche von Rossini durchgehen könnte, und schließlich ein Ausschnitt aus Tschaikowskis Dornröschen.

Ihren ersten Auftritt hat Federica Lombardi mit Normas „Casta Diva“, die sie süß flötend sehr mädchenhaft klingend bewältigt, obwohl man sich eine „wissendere“ Stimme für die komplexe Partie vorstellen kann. Musettas Auftrittslied aus La Bohéme passt hingegen perfekt, die wenigen Töne des Schlusses von Turandot, „Padre augusto“, sagen wenig aus über die Kompetenz für die Gesamtpartie wie auch das sogar mit einem Bis bedachte Brindisi aus La Traviata.

Der Tenor des Konzerts ist Freddie De Tommaso, der mit weicher, dunkel getönter Stimme die Blumenarie aus Carmen dramatisch angeht, sich einen kleinen Schluchzer leistet und mit einem schönen Diminuendo endet. Kraftvoll wird „Nessun dorma“ in Tiefe wie Höhe bewältigt und erntet natürlich den meisten Beifall. Der Chor reüssiert mit Nabucco und La Clemenza di Tito, das Orchester mit einem süffigen Intermezzo aus Cavalleria Rusticana und dem spektakulärsten Ausschnitt aus der Ouvertüre zu Guglielmo Tell. Dirigent und Professori scheinen sich bei allen Stilrichtungen gleichermaßen in ihrem Element zu befinden (C Major 766208). Ingrid Wanja        

Endzeitstimmungen

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Immer wieder wurde die Kunstform Oper totgesagt. Aber sie lebt noch immer. 1598 wurde die nachweislich erste Oper „Dafne“ von Jacopo Peri uraufgeführt. Sie ist allerdings nur noch fragmentarisch erhalten.  1607 hat der Hofkapell­meister Claudio Monteverdi im Palast Vin­cen­zo Gonzagas, des Herzogs von Mantua, seine „Fa­vola in musica“, L’Orfeo zum ersten Mal aufgeführt. Monte­verdi beschritt mit seinem Orfeo in der musikalisch-dramatischen Schil­­derung menschlicher Freuden und Leiden einen Weg, der inzwischen ein vierhundert Jahre alter ist. 

Der bedeutende jüdischen Musik-Schriftstellers Oscar Bie meinte in seiner Publi­kation „Die Oper“ (aus dem Jahre 1913) : „Die Oper ist ein unmögliches Kunstwerk.“

Ob unmöglich oder nicht, die Oper diente der Staats-Re­prä­sentation, aber auch der Selbstdarstellung des Bürgertums. Sie gaukelt dem Zuschauer noch heute Träume vor, aber sie taugt auch für Gesellschaftskritik. Sie kann poetisch sein und weltfern, aber auch aufklärerisch und utopisch. In der Oper ist alles möglich.

Das eben macht das Faszinosum Oper aus, dass sie auf eine seltsame, unvorher­sehbare, unrealistische Art und Weise etwas in uns anspricht, was außerhalb unser kog­nitiven Sphäre liegt, aber „auf hohem Testosteronspiegel“, wie Carolyn Abbate und Roger Parker in ihrer bemerkenswerten Operngeschichte schrieben. Oper sei „manipulative Kommunikation“ jenseits des alltäglichen Lebens: „Im Sterben Lie­gende, die nichtsdestotrotz in den höchsten Tönen weitersingen, sind in der Oper das Normalste von der Welt.“ Man denke nur an Violetta in „La Traviata“

Dass eben macht die Oper so spannend. Gerade wegen der oft krassen Diskrepanz zwischen „un­­seren Plau­sibilitäts­erfahrungen aus der wirklichen Welt“ und dem, was in der Oper statt­finde, übe diese Gattung … eine so ungebrochene Anziehungskraft auf uns aus.“ Carolyn Abbate und Roger Parker haben Recht mit ihrem Seitenhieb aufs so genannte Regie- oder Regisseurstheater, wenn sie alle Versuche, All­tägliches auf die Opern­bühne zu bringen, als fragwürdigen Populismus bezeichnen.

Damit wären wir beim Thema: Heute stehen plüschiger Nostalgie, oder sagen wir althergebrachte Konventionalität zum Teil abstrusen Neudeutungen gegenüber. Vielerorts ist es das Opernpublikum leid, immer wieder Gewalt und Blut, Nazimäntel, Urinale und Kühlschränke auf der Opernbühne zu sehen, oft mehr Kommentare zu den Werken, als die Werke selbst, oft nur Selbstdarstellungen von berufenen wie unberufenen, nicht selten jungen, unerfahrenen Regisseuren und sogar Quereinsteigern.

Man fragt sich: Ist Oper vom Aussterben bedroht? Hat sie noch ausreichend künstlerische Kraft und Energie oder ist sie vielmehr so etwas wie ein Dinosaurier, gegen den sie in ihrem ursprünglich vorwärtsgewandten Anliegen angekämpft hat?

Autorin Carolyn Abbate / Professorin an der Harvard University of Music

Das heutige Operntheater hat zweifellos eine neue Lust am Obszönen und Vulgären entdeckt, und immer mehr Regisseure lieben es, wenn Kot spritzt, Urin fließt und Blut schießt, wenn nacktes Menschenfleisch sich zeigt, wenn der Geschlechtsakt in allen Variationen öffentlich vorgeführt wird, wenn Grausamkeit und Mord sichtbar sind. Das Vergnügen an extremen Grenzüber­schreitungen und die Schaulust der Grausamkeiten kennt keine Tabus mehr. Noch nie wurde das sadistische, voyeuristische Erregungs-Potential auf der Opernbühne so ausgereizt.

Jahrhundertelang glaubte man an die Kraft des Theaters, das nie versuchte, mit der Realität zu konkurrieren, sondern Wunsch und Wirklichkeit illusionistisch oder abstrahierend komprimierte, überhöhte, idealisierte oder kritisier­te.  

Musiktheater war immer grenzüberschreitend, brach immer Tabus. Doch welche Tabus? Tabus brechen kann jeder. Zeitungen und Fernsehsendungen sind tagtäglich voll davon. – Sie spiegeln eins zu eins den Zustand unserer Zeit, deren Menschenbild, Werteorientierung und Umgangsformen mehr und mehr zu verrohen drohen. Warum muss Theater Sex und Gewalt des Alltags mit dem alltäglichen TV- und Videoclip-Realismus, mit derselben Vulgarität und Obszönität (auch Banalität) kommerzieller Pornographie widerspiegeln, was auf der Bühne meist lächerlich wirkt? Warum werden Opern-Libretti und -Partituren von vielen Regisseuren oftmals so bedenkenlos und arrogant ignoriert, verstümmelt, ja ad absurdum geführt?  Und warum machen das die Sänger mit? Warum erheben so wenige Dirigenten, die es besser wissen müssten, Einspruch gegen solche Opernvergewaltigungen? Ist das Musiktheater wirklich an dem Punkt angelangt, wo es nur noch an die primitiven, atavistischen Instinkte einer Spaß- und Freizeitgesellschaft appelliert, einer Gesellschaft, die versucht, ihre wachsende Lustunfähigkeit und intellektuelle Verarmung dadurch aufzuhalten, dass sie auch noch die letzten Reste an Intimität in ihren Talkshows durchdiskutiert und jedermann offenbart? Wenn dem tatsächlich so sein sollte, dann setzt diese deprimierende Tatsache die Glaubwürdigkeit und Legitimation der ganzen Gattung Oper aufs Spiel.   

Die Gattung Oper ist seit je die die festlichste wie subversivste, die phantasie­vollste und teuerste von allen Künsten, aber auch die utopischste wie zerbrech­lichste. Sie hat nur überlebt, weil sie das Bedürfnis ihres Publikums befriedigte, ein Bedürfnis eben nach mehr als nur nackter Alltagsspiegelung mit unzurei­chenden Mitteln, die mit Fernsehen und Video ohnehin nicht konkurrieren kann. Wenn die Oper nur noch dem Motto „Menschen, Tiere, Sensationen“ huldigt, wenn sie nur noch nach „Einschaltquoten“ unserer Mediengesellschaften schielt, die immer lapidarer und larmoyanter selbst gräulichste Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Sprache bringt und ins Bild setzt, dann ist die Oper auf dem Weg, sich selbst abzuschaffen. Gottlob gibt es noch und wieder Regisseure und Intendanten, die sich dem widersetzen!

Der Autor und Musikwissenschaftler Roger Parker/ Foto OR/ Russell Duncan

Mehr denn je stellt sich die Frage nach der Zukunft der Oper. Erleben wir die letzten Tage der Oper?  Dieser Frage ist eine opulente zweisprachige Publikation des renom­mierten Skyra-Verlags gewidmet, die Denise Wendel-Poray, Gert Korentschnig und Christian Kirchner herausgegeben haben. Da die Fertigstellung des Buches sich wegen der Covid-Pandemie um zwei Jahre verzögerte, sind auch Äuße­rungen von Persönlichkeiten (wie Christa Ludwig und Mariss Jansons) vertreten, die inzwischen verstorben sind.

Das Buch (ich rede von der deutschen Ausgabe) versucht eine umfassende Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation der Kunstform Oper. Es ist die umfangreichste, die je erschienen ist. Ziel des Sammelbandes, der rund 100 Essays umfasst, ist es, die Relevanz der Oper in der heutigen Welt zu erörtern und einen Blick auf mögliche Entwicklungen des Genres in der Zukunft zu werfen. Mehr und weniger prominente Autoren aus allen Wirkungsbereichen der Oper (Sänger und Dirigenten, Regisseure und Ausstatter), aber auch aus Philosophie, Bildender Kunst, Architektur, Film und Schauspiel wurden für befragte zum Thema Oper, darunter Marina Abramovic, Laurie Anderson, Cecilia Bartoli, Georg Baselitz, George Benjamin, Robert Carsen, Amira Casar, Martin Crimp, Peter Gelb, Markus Hinterhäuser, Mariss Jansons, Philippe Jordan, Jonas Kaufmann, William Kentridge, Christian Lacroix, Daniel Libeskind, Christa Ludwig, Katie Mitchell, Jonathan Meese, Riccardo Muti, Shirin Neshat, Hermann Nitsch, Hans Ulrich Obrist, Richard Peduzzi, Denis Podalydès, Thaddaeus Ropac, Bogdan Roscic, Tilda Swinton, Keith Warner und Robert Wilson.

So gegensätzliche Persönlichkeiten sollen ein weitgefächertes Panorama abbilden, kommen aber natürlich nicht auf einen gemeinsamen Nenner. Startenor Jonas Kaufmann etwa sehnt sich nach den guten alten Zeiten des Ensemble­theaters. Und, ach ja: „Oper muss (für ihn) Emotion sein.“ Dirigent Mariss Jansons wünschte sich mehr Geldgeber. „Die Oper muss sich permanent verändern, um lebendig zu bleiben“, schreibt Cecilia Bartoli in ihrem Beitrag. Schön und gut, aber wie, wäre die Frage? Tilda Swinton geht es vor allem um die „visuelle Wirkung“ von Menschen auf der Bühne. Performance-Künstlerin Marina Abranović meint: „Es ist Zeit, die Regeln zu ändern.“ Eva Wagner-Pasquier erinnert nostalgisch an das seinerzeitige Protestgewitter um Götz Friedrichs „Tannhäuser“ und Patrice Chéreaus „Ring“. Das waren noch Zeiten! Markus Hinterhäuser beschwört die kathartische Wirkung von Elektra“ und „Salome“ bei den Salzburger Festspielen und meint damit: „Macht, Liebe, Hass, Begehren, Eifersucht“ und vor allem „die Zerrissenheit zwischen dem Leben an sich und dem, was man sich vom Leben erträumt. “ Das sei das Wesen der Oper. Unerschrocken und ehrlich wie immer sind die kritischen Anmerkungen zum heutigen System Oper der jüngst verstorbenen Christa Ludwig.

Die gesammelten Statements zum Thema Oper sind höchst divers. Es gibt essentielle wie banale, wichtige wie unwichtige, originelle wie langweilige Bekenntnisse. Was die Autoren und Autorinnen zum Thema zu sagen haben, ist von sehr unterschiedlicher Kompetenz und Bedeutung.  Wegweisend, aufregend und neu ist das, was in diesem Buch zu lesen ist, nicht wirklich.   

Natürlich, Viele bedauern die mangelnde Urteilsfähigkeit und Phantasie ihrer jüngeren Kollegen. Auch bühnenästhetische Fragen kommen zur Sprache. fundierte Kenntnisse über Gesang und Opern- wie Aufführungsge­schichte, so die Meinung Vieler, werden heute weitgehend ersetzt durch Abarbeitung eigener Obsessionen in der Regie, die Musik spiele oftmals nur eine untergeordnete Rolle. Dem kann man nur zustimmen.

Auch der angesprochenen Tatsache, dass mindestens 25.000 Opernaufführungen jährlich stattfinden, aber meist immer di gleichen fünfzig Werke gespielt werden, die vor dem 20. Jahrhundert geschrieben wurden, kann man nur zustimmen. Georg Baselitz gesteht in dem Buch übrigens freimütig, kaum eine moderne Oper erlebt zu haben, der man beeindruckende Wirkung und nachhaltigen Erfolg bescheinigen könne.

Das Buch, dessen Titel auf das Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus anspielt, sucht wie gesagt, nach Antworten auf die Frage, was das Genre Oper heute im 21. Jahrhundert ausmacht und wie es sich in Zukunft definieren könnte. Doch die Antworten sind dürftig.

Über eine Bündelung von nüchternen Analysen, gefühligen Liebeserklärungen, trockenen Schilderungen von Problem­bereichen und allenfalls vagen konstruk­tiven Ansätze geht das Buch nicht hinaus. Es gibt kluge Essays und harte Kritiken, optimistische Einwürfe und pessimistische Abrechnungen.  Allerdings ist das Buch recht redundant und enthält– mit Verlaub gesagt – auch viel über­flüssiges Geschwätz. Eine Signalwirkung für die Branche und eine Vision von der Oper der Zukunft hat das Buch nicht.

Sie wird wohl irgendwie erhalten bleiben, die Kunstform Oper. Das Publikums­inte­resse jedenfalls ist nach wie vor ungebrochen, wie die Theaterstatistiken belegen, aber wie schon der Regisseur Alexander Kluge einst sagte: „Oper ist ein Kraftwerk der Gefühle und sollte als solches keiner Mode unterworfen werden.“  Alle weiteren Fragen bleiben offen (Die letzten Tage der Oper, Skyra Verrlag, ISBN 9788857245119, 487 Seiten/ Abbildung oben: The New York Public Library Digital Collection/The old New Yorker Metropolitan Opera House). Dieter David Scholz

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Denise Wendel-Poray/facebook

Klappentext: The title is inspired by the epic drama The Last Days of Mankind by Karl Kraus. Published in full in 1922, its author ridicules the interconnected ills of modernity that he saw as fueling the war machine (nationalism, capitalism, unbridled technology, militarism, journalistic unscrupulousness) as well as the Viennese cultural scene of the time. The drama bears chilling parallels to our world in 2020. The goal of the anthology, which includes some 100 essays, is to consider the relevance of opera in today s dystopian world and to look to possible developments in the genre in the foreseeable future.

The writers include opera professionals: singers, directors, and conductors as well as creative minds from other fields, like philosophers, artists, film directors, and actors. The book features an iconography of original works by famous artists, in particular those of the renowned stage designer Richard Peduzzi.

Authors include: Marina Abramovic, Laurie Anderson, Cecilia Bartoli, Georg Baselitz, George Benjamin, Robert Carsen, Amira Casar, Martin Crimp, Peter Gelb, Markus Hinterhauser, Mariss Jansons, Philippe Jordan, Jonas Kaufmann, William Kentridge, Christian Lacroix, Daniel Libeskind, Christa Ludwig, Katie Mitchell, Jonathan Meese, Riccardo Muti, Shirin Neshat, Hermann Nitsch, Hans Ulrich Obrist, Richard Peduzzi, Denis Podalydès, Thaddaeus Ropac, Bogdan Roscic, Tilda Swinton, Keith Warner, Robert Wilson.

 
Denise Wendel-Poray war Sängerin, ist Musikwissenschaftlerin, Kuratorin und Opernkritikerin. Nach ihrem Studium sang sie auf internationalen Bühnen wie Covent Garden, Opera Bastille und Theatre du Chatelet, kuratierte u.a. für das Lehmbruck Museum und schreibt für das Canadian Opera Magazine. Die Kanadierin lebt und arbeitet in Paris./ JPC

 

Diebe und Huren auf Londons Bühnen

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Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert würden viele Werke, die das anglophone Publikum als „Opern“ betrachtete, heute nicht mehr unter diese Bezeichnung fallen. Der Begriff „Oper“ existierte in einem Spektrum mit verschiedenen anderen Arten von theatralischer musikalischer Unterhaltung. Unser Katalog versucht, dieses Spektrum abzudecken. Er umfasst Werke, die auch heute noch als Opern gelten (Raymond and Agnes, The Soldier’s Legacy, The Wreckers, The Boatswain’s Mate und Fête Galante), neben Operetten (Pickwick und Cups and Saucers), Charles Dibdins ‚Table Entertainments‘, die er als Ein-Mann-Opern betrachtete (Christmas Gambols und The Wags), ein Singspiel (The Jubilee) und ein Konzertmelodram (The Happy Prince).

Jack Sheppard (Jack Sheppard – A Victorian Melodrama, a Play by John Baldwin Buckstone (1802–79), Music by G. Herbert Rodwell (1800–52), Adaptation by David Chandler and Valerie Langfield) erweitert den Blickwinkel von Retrospect Opera auf das theatralische Melodram, ein im 19. Jahrhundert äußerst beliebtes Unterhaltungsgenre, das mit der Oper konkurrierte, ihr nacheiferte und sie beeinflusste, da es oft in denselben Theatern aufgeführt wurde. Obwohl keine Melodramen aus der frühen viktorianischen Zeit vollständig erhalten sind, wurden bei Jack Sheppard – einem der erfolgreichsten Vertreter dieses Genres – das Libretto und die Lieder veröffentlicht. Daher hielten wir es nur für notwendig, die passende melodramatische Musik – handlungs- und stimmungsbestimmende Musik – desselben Komponisten einzuschieben, um diese gekürzte, speziell als Hörerlebnis konzipierte Adaption präsentieren zu können. Wir hoffen, dass dies dem modernen Publikum ein echtes Gefühl für die Aufregung, die Emotionen und die Melodramatik des Melodrams in seiner fesselndsten Form vermittelt und gleichzeitig einen wichtigen Kontext für die britischen Opern der damaligen Zeit liefert.

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‘The Escape No. 2’ by George Cruikshank, from „Jack Sheppard“ by W.H. Ainsworth (1839)/aindsworth and friends

Was ist ein Melodrama? In seinem Buch Melodrama (1973) wies James Smith auf das Definitionsproblem hin: „Fragen Sie einen Musiker, einen Literaturwissenschaftler oder sogar diese bequeme Abstraktion, den Mann auf der Straße, und Sie werden drei verschiedene Antworten erhalten.“ Aber in den 1830er Jahren ging das britische Publikum mit einer klaren Vorstellung davon ins Theater, was es zu erwarten hatte. Für sie war ein Melodram ein aufsehenerregendes musikalisches Stück, in der Regel aufwändig inszeniert und mit vielen Spezialeffekten versehen; die Handlung war auf maximale Spannung und Emotionen ausgelegt; es gab eine bestimmte Anzahl von Liedern, möglicherweise Refrains, und die gesprochenen Dialoge wurden durch Ausbrüche von Orchestermelodien unterbrochen, die oft ein „eingefrorenes“ Tableau begleiteten. Es handelt sich um ein Genre des neunzehnten Jahrhunderts. Jahrhunderts. Das erste vollwertige Melodram in diesem Sinne war Coelina, ou l’enfant du mystère von René-Charles Guilbert de Pixérécourt, das am 2. September 1800 in Paris uraufgeführt wurde. Obwohl das Melodram in London, wo es 1802 eingeführt wurde, zunächst als Kuriosität betrachtet wurde, feierte es in Großbritannien und später in Amerika bald denselben außerordentlichen Erfolg, den es bereits in Frankreich erzielt hatte. Seine Popularität hielt bis zum Aufkommen des Kinos an.

Der Autor und Schauspieler J_B_Buckstone/ Stich von Frederick_Waddy/aindsworth and friends

Das englische Melodrama des 19. Jahrhunderts kann als eine Art Alternative zur englischen Oper betrachtet werden (die ihrerseits in hohem Maße auf gesprochene Dialoge zurückgreift), zumal die beteiligten Komponisten die Dinge oft in diesem Sinne sahen. Nichtsdestotrotz hätte der Großteil des sehr unterschiedlichen Publikums das neue Genre aufgrund seiner eigenen Vorzüge genossen, und diese Aufnahme soll das Argument liefern, dass wir das auch tun sollten. Jack Sheppard ist ein hervorragender Ausgangspunkt, denn das Stück, das sich 1839, als es am 28. Oktober im Adelphi Theatre uraufgeführt wurde, großer Beliebtheit erfreute, vermittelt einen sehr guten Eindruck davon, was das Londoner Publikum zu Beginn des viktorianischen Zeitalters attraktiv fand. Tatsächlich löste Jack Sheppard, die Geschichte eines charismatischen Verbrechers, eine so große Begeisterung aus, dass nicht nur die konservativeren Mitglieder des Publikums, sondern auch die Genehmigungsbehörden, die darüber wachten, was in britischen Theatern aufgeführt werden durfte und was nicht, alarmiert waren. Als William Bodham Donne 1857 zum Examiner of Plays ernannt wurde, veranlasste er rasch ein Verbot der Aufführung von Jack Sheppard. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Stück jedoch bereits einen Eindruck in der Populärkultur hinterlassen, wie ihn kaum ein anderes Melodrama jener Zeit hinterlassen hat.

Der Komponist G. Herbert Rodwell/ainsworthandfriends.

Der echte Jack Sheppard (1702-24) war eine legendäre Figur in den Londoner Kriminalgeschichten. Der Sohn eines Zimmermanns ging selbst in die Lehre und führte bis etwa 1722 ein respektables Leben. Dann begann er nach eigenen Angaben, die Taverne Black Lion in der Drury Lane aufzusuchen, ein Treffpunkt für Kriminelle und Prostituierte. Sheppard begann 1723 eine Karriere als Dieb und wurde der Geliebte von Elizabeth Lyon, einer Prostituierten, die als Edgworth Bess bekannt war. In den letzten Monaten seines kurzen Lebens erlangte er sensationellen Ruhm, da es ihm gelang, viermal aus dem Gefängnis auszubrechen, darunter zweimal aus Newgate, dem berüchtigtsten Gefängnis des Landes. Er war ein Held für die ärmeren Bevölkerungsschichten und eine Figur von romantischer Faszination für viele in höheren Kreisen. Sheppards unerbittlicher Feind war Jonathan Wild (1682-1725), der berüchtigte „General der Diebe“, der auf beiden Seiten des Gesetzes agierte. Einer von Sheppards Verbündeten war Joseph „Blueskin“ Blake (1700-24), selbst ein berühmter Dieb und Gefängnisausbrecher. Sheppard wurde am 1. November 1724 zum letzten Mal verhaftet und am 16. November hingerichtet. Blueskin ging ihm in Wirklichkeit voraus, da er am 11. November hingerichtet wurde. Sheppards Geschichte wurde im Laufe des 17. Jahrhunderts immer wieder erzählt, und er war eine wichtige Inspiration für John Gays The Beggar’s Opera (1728), in dem Wild als Peachum persifliert wird. Wahrscheinlich hat er auch William Hogarth zu seiner Serie Industry and Idleness (1747) inspiriert, in der der Abstieg eines Lehrlings in die Kriminalität mit dem Aufstieg eines anderen Lehrlings kontrastiert wird, der die Tochter seines Meisters heiratet.

Diese Idee des Kontrasts zwischen zwei jungen Männern steht wiederum im Mittelpunkt des Romans Jack Sheppard von William Harrison Ainsworth, der zwischen Januar 1839 und Februar 1840 als Fortsetzungsroman erschien und mit großem Erfolg das Interesse an der Geschichte von Jack Sheppard wiederbelebte. Ainsworth erfand die zusätzlichen Figuren des Thames Darrell und seines schurkischen Onkels Sir Rowland Trenchard. Letzterer, so erfahren wir, war ein Jakobiter und erbte deshalb den Titel seines Vaters, nicht aber dessen Ländereien, die stattdessen an Thames‘ Mutter gingen. Ainsworth machte Blueskin zu einem viel älteren Mann aus Wilds Generation. Der Roman ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil spielt im Jahr 1703, zur Zeit des Großen Sturms (26. November), als Jack und Thames noch Babys sind. Der zweite Teil spielt im Jahr 1715, zur Zeit der jakobitischen Verschwörungen nach dem Tod von Königin Anne. Jack und Thames sind jetzt Lehrlinge in der Schreinerei von Owen Wood, und Thames ist Woods Adoptivsohn (ein Detail, das im Melodram nicht berücksichtigt wird). Die Unterschiede zwischen den Jungen werden stark hervorgehoben: „Die beiden Freunde standen in auffälligem Kontrast zueinander. In Darrells offenen Zügen standen Offenheit und Ehre in lesbaren Buchstaben geschrieben, während in Jacks Physiognomie Gerissenheit und Schurkerei ebenso stark eingeprägt waren. In allen anderen Aspekten unterschieden sie sich ebenso stark. Der dritte Teil, der im Jahr 1724 spielt, schildert die Ereignisse, die zu Jacks Hinrichtung führen.

Ainsworth’s „Jack Sheppard and the Newgate Controversy“/Illustration zum Roman/ainsworthandfriends

Das rasante Tempo und die ununterbrochene Spannung von Ainsworths Roman machten ihn zu einer offensichtlichen Quelle für ein Melodrama. So begann der Schauspieler und Dramatiker John Baldwin Buckstone (1802-79), ein regelmäßiger Mitarbeiter des Adelphi Theatre, lange vor der Fertigstellung der Serie mit der Ausarbeitung einer dramatischen Fassung, in der er einen Großteil von Ainsworths Dialogen wortwörtlich wiedergab. Dies war genau die Situation, die Charles Dickens zu dieser Zeit in Nicholas Nickleby (1839) angriff: Die „unvollendeten Bücher lebender Autoren“ wurden „hastig und grob“ für die Bühne adaptiert, und Romanautoren hatten keinen rechtlichen Schutz gegen solche Praktiken. In diesem Fall waren die Dinge noch komplizierter, da Ainsworth den kompletten Roman in drei Bänden am 15. Oktober 1839 veröffentlichte. Wenn man Melodram und Roman vergleicht, ist es offensichtlich, dass Buckstone zwischen dem 15. und 28. Oktober viele Änderungen an seinem Text vorgenommen haben muss, um Material einzubringen, das ihm vorher nicht zur Verfügung stand. In Anbetracht dessen ist es bemerkenswert, wie fließend das Melodrama ist, das sich nur bis zu dem Punkt eng an den Roman anlehnt, an dem Jack und Thames aus dem St. Giles’s Roundhouse fliehen; danach wird die Beziehung zwischen den Texten viel lockerer. Buckstones Melodram besteht aus vier Akten, von denen der erste 1703, der zweite 1715 und der dritte und vierte 1724 spielt. In dieser Form war es fast vier Stunden lang, so dass in der Praxis der erste Akt (der keine Lieder enthält) oft weggelassen wurde, so auch in dieser Aufnahme. Um ein kohärentes Hörerlebnis zu schaffen, haben wir zusätzlich einen Erzähler eingesetzt, der es ermöglicht, das Melodrama weiter zu kürzen und von abschweifenden Episoden zu befreien, während alle Lieder enthalten bleiben. Jack Sheppard eignet sich hervorragend für eine Präsentation in Audioform, da er viele dramatische Szenen zwischen nur zwei Sprechern enthält.

‘Jack Sheppard escaping from the condemed hold in Newgate’ (aided by Edgeworth Bess and Poll Maggot) by George Cruikshank, from Jack Sheppard by W.H. Ainsworth (1839)/ainsworthandfriends

Das Melodrama verlangt nach mutigen Schauspielern, die die einfachen, überlebensgroßen Figuren überzeugend verkörpern und das leicht ablenkbare Publikum auf das Bühnengeschehen fixieren können. In dieser Hinsicht hatte Jack Sheppard besonderes Glück, denn die Chemie zwischen Mary Anne Keeley (1805-99) in einer Hosenrolle als Jack und Paul Bedford (1792?-1871) als Blueskin war vom ersten Abend an als ein einzigartiges Stück Theatermagie anerkannt. Beide Schauspieler wurden stark mit diesen Rollen identifiziert, die sie bis in die 1850er Jahre hinein spielten. Noch 1899 schrieb Clement Scott: „Die alten Theaterbesucher werden nicht müde, uns in das Jahr 1839 zurück zu versetzen und Mrs. Keeley als Jack Sheppard und Paul Bedford als Blueskin zu beschreiben. Blueskin ist in dem Melodram eine viel sanftere Figur als im Roman – wo er beispielsweise Mrs. Wood tötet, indem er ihr die Kehle durchschneidet – und Bedford spielte ihn mit gewinnendem Charisma.

Der Mann, der die Musik für Jack Sheppard komponierte und arrangierte, war George Herbert Buonaparte Rodwell, allgemein bekannt als G. Herbert Rodwell. Er wurde am 15. November 1800 in London geboren und „begann sein Leben unter sehr günstigen Vorzeichen“, wie es in seinem Nachruf in The Times heißt. Schon in jungen Jahren zeigte er eine starke Anziehungskraft auf die Bühne, sowohl als angehender Schriftsteller als auch als Komponist. Er machte sich zunächst als Dramatiker einen Namen, seine populäre gesprochene Farce Where Shall I Dine? erschien bereits 1819. In den folgenden Jahren konzentrierte er sich jedoch auf die Musik und nahm Privatunterricht bei Henry Bishop (1786-1855), Großbritanniens führendem Theaterkomponisten in den 1810er und 20er Jahren. Rodwells späteres Lehrbuch, The First Rudiments of Harmony (1830), war Bishop in den schmeichelhaftesten Worten gewidmet: „Ihnen allein verdanke ich all das musikalische Wissen, das ich besitze. … es wird immer meine stolzeste Erinnerung sein, wenn ich daran denke, dass ich der Schüler unseres englischen Mozarts gewesen bin“.

‘Jonathan Wild throwing Sir Rowland Trenchard down the well-hole’ by George Cruikshank, from Jack Sheppard by W.H. Ainsworth (1839)/ainsworthandfriends

Sein kompositorisches Debüt gab Rodwell mit der „Dramatischen Romanze“ Waverley, or Sixty Years Since von Walter Scott, die 1824 am Adelphi Theatre aufgeführt wurde. Der Text stammte von Edward Fitzball (1792-1873), der bereits auf dem besten Weg war, einer der erfolgreichsten britischen Bühnenautoren zu werden. Fitzball schrieb später, er habe „das große Glück gehabt, einen genialen Mann für die Komposition der Musik zu haben, der die Ideen des Autors mit seinem eigenen überlegenen Können umzusetzen wusste“. Rodwell, laut Fitzball „stets ein höchst fröhlicher Gefährte, war damals ein fröhlicher junger Mann, voller Frohsinn und voller Freude“ (das Zitat stammt passenderweise aus einem populären Lied). Es überrascht nicht, dass Rodwell und Fitzball weiterhin zusammenarbeiteten. Ihren größten Erfolg hatten sie mit dem Melodram The Flying Dutchman, or The Phantom Ship (1826), das jahrzehntelang auf beiden Seiten des Atlantiks aufgeführt wurde und die populärste Theaterfassung der später von Wagner bearbeiteten Geschichte darstellte. Die Hauptperiode von Rodwells Karriere als Theaterkomponist erstreckt sich von Waverley bis Jack Sheppard. Sein berufliches Leben wurde in diesen Jahren vom Adelphi dominiert, wo er von 1827 bis 1835 und erneut von 1838 bis 1843 als Musikdirektor tätig war. Dazwischen war er Musikdirektor in Covent Garden und unterrichtete ab 1834 auch die zukünftige Königin Victoria. Im Jahr 1840 erlitt Rodwell eine schwere gesundheitliche Krise und widmete sich für den Rest seines Lebens hauptsächlich der eher sitzenden Tätigkeit des Schreibens von Fortsetzungsromanen, wobei seine sehr kompetenten Bemühungen seine tiefe Vertrautheit mit den populären Romanen seiner Zeit erkennen lassen. Er starb am 22. Januar 1852 in London.

Mary Anne Keeley war eine berühmte Hosenrollen-Darstellerin, namentlich als Jack Sheppard im Londoner Adelphy/Wikipedia

Als Komponist empfand Rodwell viel kreative Frustration, wie sein Brief an die Musiker Großbritanniens (1833) deutlich macht. Es handelt sich um eine schrille Klage, in deren Mittelpunkt die Tatsache steht, dass britische Komponisten nur sehr selten die Möglichkeit hatten, „große Opern“ zu komponieren, die er als „die Spitze des musikalischen Baumes“ ansah. Große Oper“ war eine eher vage Kategorie, bezog sich aber im Allgemeinen auf Opern im kontinentalen Stil, sei es im italienischen Stil von Rossini, im französischen Stil von Boieldieu (dessen La dame blanche Rodwell für den britischen Konsum als The White Maid adaptierte) oder im deutschen Stil von Weber. Am nächsten kam Rodwell der Komposition eines solchen Werks mit seiner „Grand National Opera“ The Lord of the Isles (nach Scott) mit einem Libretto von Fitzball, die 1834 vom Surrey Theatre herausgebracht und im darauf folgenden Jahr in Covent Garden aufgeführt wurde. Doch obwohl The Lord of the Isles erfolgreich war, konnte oder wollte Rodwell nicht mehr in diesem Umfang komponieren. Er war zwar immer gefragt, aber nicht für die große Oper. Ein Großteil seiner kreativen Energie musste in das fließen, was das Publikum am meisten wollte: das Melodram.

Die Lieder in Jack Sheppard haben meist Texte von Ainsworth selbst. The Newgate Stone“, das in Rodwells Vertonung als „Claude Duval“ bekannt wurde, „Jolly Nose“ und „The Carpenter’s Daughter“ stammen alle direkt aus dem Roman, während Jacks „St Giles’s Bowl“ eine Strophe einer langen Ballade ist, die Ainsworth Blueskin singen lässt. Nix My Dolly“, das Lied in der Umgangssprache, ist dagegen eine gekürzte Version von Jerry Juniper’s Chant“ aus Ainsworths früherem Roman Rookwood (1834). Ainsworth war sehr stolz auf diese Komposition und argumentierte, dass ihr „großes und besonderes Verdienst darin besteht, dass sie für den uninformierten Verstand völlig unverständlich ist, während ihre Bedeutung für den geübten Patterer des Romany oder Pedlar’s French vollkommen klar und deutlich sein muss. Der einzige von Buckstone gelieferte Text, „Farewell My Rory Tories“, enthält einen vergleichbaren Gebrauch von Diebesjargon.

Jack Sheppard vermittelt einen guten Eindruck von Rodwells Arbeitsmethoden, wenn er mit solchem Material konfrontiert wird, das er mit Sicherheit mit ausgewählt hat. Jolly Nose“ und „Nix My Dolly“ wurden originalgetreu vertont und erlangten beide enorme Popularität. Jolly Nose“ wurde zu einem Markenzeichen von Bedford, der es jahrzehntelang sang. Der große musikalische Hit der Show war jedoch „Nix My Dolly“. Die Era urteilte: So wie dies eindeutig das beste Lied in „Jack Sheppard“ ist, so ist es bei weitem das beste, sowohl vom Charakter als auch von der Originalität her, das wir je aus der Feder von George Herbert Buonaparte Rodwell kennen gelernt haben“. Es war „das Lied des Tages“, wie S. M. Ellis es beschrieb, und wurde stets als Zugabe gesungen, wobei das Publikum begeistert mitsang. Sir Theodore Martin (1816-1909) schrieb später über diese Zeit:

‘Jack Sheppard escaping from the condemed hold in Newgate’ by George Cruikshank, from Jack Sheppard by W.H. Ainsworth (1839)/ainsworthandfriends

Nix My Dolly kam überall hin und machte das Getrappel von Dieben und Einbrechern „in unserem Mund zu einem vertrauten Wort“. Es betäubte uns in den Straßen, wo es bei den Leierkastenmännern und deutschen Musikkapellen so beliebt war, wie es Sullivans hellste Melodien später je waren. Es schallte mittags vom Kirchturm von St. Giles, der Kathedrale von Edinburgh (Eine Tatsache. Dass ein solches Thema für das Glockenspiel einer Kathedrale, noch dazu in Schottland, überhaupt gewählt werden konnte, wird man kaum glauben. Aber meine erstaunten Ohren haben es oft gehört.); es wurde von jedem schmutzigen Straßenköter gepfiffen und in Salons von schönen Lippen gesungen, die die Bedeutung der Worte, die sie sangen, kaum kannten.

Kurzum, „Nix My Dolly“ war ein kulturelles Phänomen innerhalb eines kulturellen Phänomens. Nur ein denkwürdiges Beispiel für seine immense kulturelle Wirkung findet sich in einer Beschreibung des „Wagens der Zeit“ in Charles Henry Knox‘ Roman Harry Mowbray (1843): Vulkan selbst hatte die Räder geschmiert, bevor er losfuhr; Bacchus hielt die Zügel, und Phaeton schwang die Peitsche über seine Schultern, mit Venus auf der Kiste, Diana und den Grazien als innere Passagiere, und Apollo als Wächter, der in das Horn blies: „Nix wie weg, Kumpels, fake away“. Die Zeit selbst bewegte sich zu Rodwells Takt! Es gibt guten Grund zu der Annahme, dass Rodwell mit der enormen Popularität von „Jolly Nose“ und „Nix My Dolly“ nicht ganz glücklich war, denn dies war nicht die Art von Musik, für die er in Erinnerung bleiben wollte. Er lizenzierte jedoch vornehmere Salonversionen der beiden Lieder mit anderen Texten: Sparkling Wine“ und „The Woodland Call“. Von ersterem haben wir ein Fragment in diese Aufnahme aufgenommen.

‘Jonathan Wild throwing Sir Rowland Trenchard down the well-hole’ by George Cruikshank, from Jack Sheppard by W.H. Ainsworth (1839)/ainsworthandfriends

Für die anderen Lieder adaptierte Rodwell bestehende Melodien, die sein Publikum in den meisten Fällen wiedererkennen würde. The Carpenter’s Daughter“ adaptierte den alten Kinderreim „Dame Get Up and Bake Your Pies“. Farewell, My Rory Tories“ adaptierte Charles Dibdins „Farewell, My Trim-Built Wherry“, eine berühmte Ballade aus The Waterman (1774). St Giles’s Bowl“ ist eine Adaption von „If the Heart of a Man“, einem Lied aus The Beggar’s Opera, dem Werk, dem Jack Sheppard eine wunderbare Hommage widmet. Claude Duval“, das sich als Jacks Erkennungsmelodie durch das Melodrama zieht, wurde ebenfalls als „Arranged from an Old Tune“ veröffentlicht, obwohl es bisher nicht identifiziert wurde und möglicherweise eine umfassendere Bearbeitung darstellt. Alle diese Lieder, mit Ausnahme von „St Giles’s Bowl“, wurden in ihrer bearbeiteten Form veröffentlicht, und für „St Giles’s Bowl“ haben wir John Parrys Bearbeitung von „If the Heart of a Man“ aus den 1810er Jahren verwendet. Es ist selten, dass ein Melodram aus dieser Zeit, in der alle Lieder veröffentlicht wurden, so einfach zu rekonstruieren ist.

Der Autor und Musik-/Literatur-Wissenschaftler David Chandler/OBA

Wie bei den meisten Melodramen des 19. Jahrhunderts ist die Instrumentalmusik zu Jack Sheppard leider verloren gegangen, obwohl der Text eine Vorstellung davon vermittelt, wo die Musik gespielt wurde. Glücklicherweise sind einige Orchesterstimmen für den Fliegenden Holländer im Working Men’s Institute, New Harmony, Indiana, erhalten. Wir können nicht sicher sein, dass Rodwell die Instrumentalmusik für Jack Sheppard im gleichen Stil komponiert hätte, aber das Melodrama stützte sich in hohem Maße auf bestimmte „Standard“-Klänge, und Kritiker kommentierten oft die Vertrautheit dessen, was sie hörten. In Anbetracht dessen und der Tatsache, dass es sich bei Der fliegende Holländer um echte melodramatische Musik von Rodwell handelt, die in den 1820er Jahren für ihre Originalität bewundert wurde, sind wir der Meinung, dass Jack Sheppard heute am authentischsten mit dieser früheren Rodwell-Partitur präsentiert werden kann, der das kurze Vorspiel und die Schlussmusik entnommen sind.  Für die Begleitmusik hat Valerie Langfield die Stimmung der Szenen in den beiden Melodramen sorgfältig verglichen und die Musik aus dem einen ausgewählt, die für das andere am besten geeignet schien, oder sie hat Musik aus den Liedern genommen. Nachdem wir auf diese Weise eine Art Verbindung zwischen dem Fliegenden Holländer und Jack Sheppard hergestellt haben, haben wir die populärste Gesangsnummer aus dem ersteren in unsere Adaption des letzteren eingebracht, und zwar in einem Geist, den das Publikum des neunzehnten Jahrhunderts durchaus für zulässig gehalten hätte.

„Jack Sheppard“/Poster für die Premiere in Edinburgh/Weir Collection/Wikipedia

Es handelt sich um die Ballade „Return, O My Love“, ursprünglich gesungen von Lestelle, der Heldin des Fliegenden Holländers (entspricht Wagners Senta). Sie war einer von Rodwells ersten großen Hits und wurde von dem zeitgenössischen Dramatiker John Maddison Morton als „die schönste Ballade der Zeit“ bezeichnet, während William Makepeace Thackeray seinen fiktiven Helden Arthur Pendennis als „das aufregendste Liedchen meiner Jugend“ bezeichnete. Es war eine von nur zwei Nummern aus The Flying Dutchman, die veröffentlicht wurden, und erhöht die Zahl der Rodwell-Lieder auf diesem Album auf drei.

Alles in allem gibt diese Aufnahme einen guten Vorgeschmack auf Rodwells Musik für zwei bahnbrechende Melodramen und stellt hoffentlich sicher, dass seine Musik und diese lange verschollene Theatertradition nicht völlig in Vergessenheit geraten. Jack Sheppard wird nie wieder so zu erleben sein wie 1839, aber in der hier aufgenommenen Form ist es hoffentlich immer noch möglich, ein wahres Echo von Apollos Horn zu hören, das „Nix My Dolly“ aus dem fernen Wagen der Zeit erklingen lässt.   © 2023 David Chandler/ Übersetzung DeepL

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JACK SHEPPARD. A Victorian Melodrama. Play by John Baldwin Buckstone (1802–79). Music by G. Herbert Rodwell (1800–52). Adaptation by David Chandler and Valerie Langfield. Charli Baptie – Jack Sheppard. Peter Benedict. – Owen Wood /Sir Rowland/Trenchard,/Davies,/Hogarth. Simon Butterises – Narrator,/Blueskin/Jonathan/Wild/Mrs Wood/Mendez/John Gay, Daniel Huttlestone – Thames Darrell/Quilt/Slimkid, Emily Vine – Winny, Stephen Higgins, piano. Recorded at the Richard Burnett Heritage Collection,. Royal Tunbridge Wells, 4–7 January 2023. Recording Producers Simon Butteriss, Valerie Langfield. Recording Engineer Adam Binks. First Recording. Executive Producer David Chandler (LC 52095)

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Diese Aufnahme wurde größtenteils von David Chandler und Kaori Ashizu finanziert und erhielt Forschungsmittel von der Doshisha University, Kyoto. Wir sind The Finchcocks Charity und Michael Symes für zusätzliche finanzielle Unterstützung sehr dankbar.  Das Klavier auf dieser Aufnahme ist der Erard-Flügel von 1866 aus der Richard Burnett Heritage Collection. Valerie Langfield hat die Musik bearbeitet und die Partitur vorbereitet. Sie übernahm auch die Verantwortung für die verschiedenen „live“ produzierten Soundeffekte und sang im Chor mit.

Retrospect Opera  (eingetragene Wohltätigkeitsorganisation 1164150) mit den Treuhändern Valerie Langfield, David Chandler, Andrew H. King, Christopher Wiley und Benjamin Hamilton hat ein klares Ziel: die Wertschätzung und das Wissen über die britische Oper und verwandte Musikwerke von Mitte des 17. bis Mitte des 19. Jahrhunderts zu fördern. Wir tun dies, indem wir vergessene britische Opern und verwandte Musik erforschen, aufnehmen und veröffentlichen. Unsere Arbeit ist spannend, bereichernd und erfüllt die wertvolle Aufgabe, das britische Opernerbe für künftige Generationen zu bewahren. Ohne die Unterstützung einzelner Spender und anderer gemeinnütziger Einrichtungen, von denen wir finanzielle Mittel erhalten, wäre dies nicht möglich. Bitte besuchen Sie retrospectopera.org.uk, um mehr zu erfahren, wenn Sie glauben, dass Sie für unsere zukünftigen Veröffentlichungen spenden können.

Zu Unrecht selten

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Diesen Ernani aus Florenz hätte man doch gern als DVD gehabt, denn das Cover der CD beweist, dass man sich beim Maggio Fiorentino Musicale alller inszenatorischen Mätzchen enthielt und schön grimmig dreinschauende echte Räuber auf der Bühne standen, mit Pistol bewaffnet und phantasievoll gewandet. Ob die Aufnahme von 2022 allerdings die altbekannte und fast unangefochten ihren Platz behauptende mit Freni, Domingo,  Bruson und Ghiaurov aus der Scala ablösen kann, ist zweifelhaft, denn dazu ist die Qualität der sängerischen Leistungen allzu unterschiedlich.

Nicht sechs wie der Don Carlo und auch nicht fünf vorzügliche Sänger wie Il Trovatore braucht Ernani, sondern lediglich vier, aber die müssen tatsächlich Erstaunliches leisten, um das Werk aus seinem durch nichts zu begründenden Schattendasein herauszuholen.

Francesco Meli hat sich vorsichtig und Schritt für Schritt vom tenore lirico zum tenore spinto vorgearbeitet und ist inzwischen einer der begehrtesten Stimmen dieses Faches. Allerdings fehlt ihm jede Aura des Glamourösen wie Domingo oder des Skandalösen wie einst Franco Bonisolli, und so wie die Optik eine angenehme, aber keine die Herzen höher schlagen lassende ist, so ist die Stimme, was das Timbre betrifft, keine aufregende, die Technik eine durch und durch zuverlässige, eine reiche Agogik ermöglichende mit immer wieder überraschenden Schwelltönen. Manchmal erleidet sie in der Höhe einen Qualitätsverlust, wird dort auch einmal eng, kann aber in den Finali auch überraschend auftrumpfen. Lyrisch Getragenes liegt dem Tenor besonders, sein zärtlich-pathetisches „Ah, morir potessi“ kann berühren.

Eine wunderbare Partie ist die des Carlo V, der zwei höchst effektvolle Arien singen darf, so das verführerische „Vieni meco“ und die elegische, den Verlust der „verd‘ anni“ beklagende. Für den gestandenen Bariton von Roberto Frontali aber sind zwar die wütenden Ausbrüche des verschmähten Liebhabers eher im Bereich des Möglichen als zärtliche Verhaltenheit, der Bariton klingt streckenweise dumpf, oben eng und generell recht kurzatmig.

Die Unerbittlichkeit, mit der der russische Bass Vitalij Kowaljow als Silva die Vollstreckung des Todesurteils fordert, lässt wohlig erschauern, weit gespannte Bögen und eine angenehme Geschmeidigkeit lassen keinen Wunsch offen.

Wer nie mit Mirella Freni als Elvira glücklich wurde, kann sich über Maria José Siri freuen, deren Timbre von Tragik weiß, deren Piano präsent ist und der man abnimmt, wenn sie singt: „Ogni cor‘ serba un mistero“. Die Partie verlangt ein ausgeprägtes tiefes Register, über das sie verfügt, wenn auch manchmal etwas fahl klingend,  die Höhe selten gepresst und die Intervallsprünge sicher. Ihre Stimme passt zu den Sopranfiguren aus dieser Schaffensperiode des Komponisten.

Genießen kann man, was Chor und Orchester unter James Colon mit viel Brio und Slancio von sich geben und womit sie das genussreiche Verdi-Hochgefühl erzeugen können (Naxos 8.660534-35). Ingrid Wanja   

Exquisit

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Extrempuristen mögen ihn in Anlehnung an den ebenfalls verunglimpften Salontiroler als Salonneapolitaner bezeichnen, aber Sänger wie Publikum lieben Francesco Paolo Tosti gleichermaßen, von ersteren besonders die Tenöre, von denen besonders Di Stefano, José Carreras oder Carlo Bergonzi Zeugnisse ihrer Zuneigung hinterlassen haben. Eher dem Salon als dem Neapolitaner zugeneigt zeigt sich Javier Camarena, denn der seine ist ein tenore di grazia und in seinem Zugriff auf die Canzoni recht weit entfernt von dem naturstimmennahen Giuseppe Di Stefano.

Die vom Mexikaner ausgewählten, zum Teil sehr, zum Teil weniger bekannten Canzonen stellen an den Beginn der CD die Quattro Canzoni d’Amaranta, die eigentlich für einen Mezzosopran komponiert wurden und mit dem Schicksal einer der vielen Geliebten des Dichters Gabriele D’Annunzio verbunden sind, mit dem der wesentlich ältere Tosti, beide stammten aus den Abruzzen, befreundet war. Es handelt sich um die Contessa Giuseppina Mancini, die wie die weitaus berühmtere Eleonora Duse vom Dichter verführt und dann verlassen wurde, im Unterschied zur Schauspielerin aber nach dem Treuebruch D’Annunzios in Wahnsinn verfiel, dem Ex-Geliebten damit wie so viele andere Material für sein künstlerisches Schaffen liefernd. Camarena nimmt sich der vier Lieder nicht mit einem  in schönen Farben prunkenden und deshalb entzückenden  Tenor an, sondern mit einem hoch kultivierten, technisch perfekt geführten und allen feinsinnigen Intentionen gehorchenden in der Tradition eines Tito Schipa. Er hat einen wunderschönen Schwellton für „pianto“ im ersten, einen zu Herzen gehenden Sehnsuchtsruf auf „O notte“ und eine strahlende Höhe für „il sole eterno“ im zweiten Track.  Für „Invan preghi“ steht ihm die Klarheit der Stimme zur Abmilderung der Schwüle des Textes zur Verfügung, und  die „ombra infinita“ der abschließenden Canzone atmet eine schöne Melancholie. Bereits inhaltlich in einem starken Kontrast dazu steht ein ebenfalls von D’Annunzio stammender Text, das im neapolitanischen Dialekt verfasste „‘A vucchella“, dessen gewollt schlichte Naivität auch vom Pianisten Ángel Rodriguez wunderbar getroffen wird.

Francesco Paolo Tosti war nicht nur Komponist, sondern auch Tenor und musikalischer Erzieher für italienische und englische Prinzessinnen, so zwei Töchter der Königin Victoria. So ist es nicht verwunderlich, dass er während langer Aufenthalte in London auch englische Texte vertonte. Die allerdings üben einen weit geringeren akustischen Zauber aus als die italienischen und französischen. In Because of you gefällt allerdings die reiche Agogik, in The first Waltz die rhythmische Gestaltung. Die französischen Mélodies bezaubern durch tatsächliche Eleganz und scheinbare Schwerelosigkeit des Singens.

Zu den populärsten Canzonen gehören Malia mit zauberhaften „ninfa“ und „fata“, Aprile, der für den Italiener der deutsche Mai, das heißt der Frühlingsmonat, ist und wo der Tenor ebenso wie in Sogno sich als besonders feinsinniger, allen Gefühlsregungen nachspürender Interpret zeigt. L’ultima canzone schließlich weiß dolcezza und amarezza aufs Schönste miteinander zu vereinen.

Vom Pianisten für Piano arrangiert wurde Marechiare, in dem Stimme wie Piano Lebensfreude versprühen und genüsslich ausgekostet werden, in der abschließenden Chitarrata abruzzese kann der Tenor noch einmal alle seine Vorzüge unter Beweis stellen und mit einer Superhöhe prunken (Pentatone 5187 184). Ingrid Wanja              

Alexander Weatherson

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Mit Bestürzung hörten wir vom Tode unseres Freundes, Mentors und unersetzlichen Musikwissenschaftlers Alex Weatherson. Operalounge-Lesern ist er ja ein Bekannter wegen seiner vielen Artikel und Kommentaren namentlich im Donizetti- und Belcanto-Repertoire. Mir selbst ist er stets ein liebevoller Freund gewesen, ein auch widersprüchlicher und hochspannender Gesprächspartner, ein Felsen an Wissen. Die Trauer über den auch persönlichen Verlust bleibt. Geerd Heinsen

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Alex´ enger Mitarbeiter bei der englischen Donizetti Society, deren Gründer, Movens und Felsen Alex Weatherson war, Fulvio Lo Presti, hat uns den folgenden Text geschickt: 1973 gründete eine kleine Gruppe von Enthusiasten und Gelehrten in London die Donizetti Society. Weder Alexander Weatherson noch der Schriftsteller, der einige Jahre später beitrat, waren damals Mitglieder, während sich die Gesellschaft allmählich ausbreitete und im Einklang mit der immer ehrgeizigeren weltweiten Wiederbelebung der untergegangenen Donizetti-Produktion, der Donizetti-Renaissance, immer weniger ausschließlich britische Konnotationen annahm. Weatherson war ein eifriger Mitstreiter der Gesellschaft und wurde ihr mutiger Präsident, den er bis zum Schluss behielt. Er verlieh der Gesellschaft ein hohes internationales Profil, auch dank seiner Kontakte und seiner fruchtbaren und freundschaftlichen Beziehungen zu den wichtigsten Musikwissenschaftlern, Kritikern, Dirigenten, Sängern und verschiedenen Persönlichkeiten, darunter Montserrat Caballè, Alberto Zedda, William Ashbrook, Patric Schmid, Leyla Gencer, Philip Gossett, Joan Sutherland, Franca Cella, Sergio Segalini und Piero Mioli.
Geboren am 6. Oktober 1927 in Mansfield (Nottinghamshire) als Sohn eines schottischen Arztes, den er nicht kannte, und einer französischen Adeligen, die aus einem Zweig der Familie Rohan stammte, lebte er auch in Frankreich und Portugal und lernte Charles De Gaulle in dessen Londoner Wohnung kennen.
Nach seinen beruflichen Erfahrungen als Krankenhausarzt und Psychologe, seiner künstlerischen Tätigkeit als bald etablierter Maler und seiner Karriere als Hochschullehrer – er erzählte mir von der Zeit, als er als Dekan der Fakultät Frau Thatcher, die damalige Bildungsministerin, in seinem Büro empfing – kam Weatherson zur Musikwissenschaft als vollwertige und endgültige Berufung mit einem heftigen und beharrlichen Engagement und einer beneidenswerten Kompetenz. In erster Linie widmete er Donizetti größte Aufmerksamkeit, unter anderem mit einem beachtlichen Werk an Aufsätzen und unzähligen Rezensionen. Umfassende Schriften, in denen der scharfe Blick und der Humor eines Menschen von großer Kultur, aber mit den Füßen im Alltag, eines Donizettianers, der wie kaum ein anderer den Geist und den Elan des Bergamasken verinnerlicht hat, zum Ausdruck kommen. Er überwachte die Herausgabe der verschiedenen Zeitschriften der Donizetti-Gesellschaft, die 2002 ihre siebte Ausgabe erreichte, und redigierte jahrzehntelang, bis zum Sommer 2022, fast den gesamten Newsletter, dessen Reihe mit der Ausgabe 146 zu Ende ging. Diese Rundbriefe enthielten auf den rund 30 Seiten jeder Ausgabe eigene und fremde Texte von überzeugendem Inhalt und großem Interesse. Neben dem gedruckten Nachlass werden seine Veröffentlichungen auch auf seiner Website veröffentlicht.
Die Besonderheit von Weathersons Engagement liegt jedoch in dem durchdringenden und kritischen Überblick, in dem er die Persönlichkeit und das Werk Donizettis in das Panorama des Melodramas des 19. Jahrhunderts einordnet, das er bietet und das von Rossini bis Verdi reicht, unter den verschiedensten Figuren der bevölkerungsreichen Sixtina der italienischen Oper: Simone Mayr, Carlo Coccia, Saverio Mercadante, die Brüder Luigi und Federico Ricci, Nicola Vaccai, Giuseppe Lillo, Alessandro Nini, sowie Giacomo Meyerbeer für die italienische Seite, jeder mit seiner eigenen Individualität nicht voreilig betrachtet, ganz zu schweigen von anderen. Einen besonderen Platz in Weathersons Herz hat jedoch bis zu seinem letzten Atemzug der Katanier Giovanni Pacini eingenommen, der in seiner Heimatstadt leider viel zu sehr misshandelt und verunglimpft wurde. Über Pacini kann man den sorgfältigen Essay von Weatherson nicht ignorieren, der unter seinem Namen ins Netz gestellt wurde.
Zum Abschied von Alex, der am 7. Februar in London gestorben ist, leihe ich mir die Worte von Horatio, Hamlets Freund: „Gute Nacht, süßer Prinz“./ Fulvio Stefano Lo Presti/12/2/2024/DeepL

Tödlicher Dreier

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Was uns die relativ ausführliche Ouvertüre zu dem relativ kurzen Einakter erzählen will, kann sich auch ein unbegabter Zuhörer so trefflich ausmalen wie beim Rosenkavalier. Alexander Zemlinsky türmt Leidenschaften, Zärtlichkeiten, Begehren in großartig orchestral wuchernder Manier hundert Takte lang aufeinander. Guido Bardi und Bianca haben offenbar nicht nur Händchen gehalten. „Der Florentiner Prinz Guido Bardi kniet vor Bianca. Sie haben ihre Hände verschlungen. Er sieht lächelnd zu ihr auf, als sie plötzlich zusammenschrickt, aufsteht und sich von ihm loslöst“. So die Szenenanweisung. Der Kaufmann Simone kehrt unerwartet von einer Reise zurück, spürt rasch, dass er Bianca und Guido inflagranti überrascht hat und es beginnt eine scheinbar artige Konversation, in die Wilde manche doppelbödigen Fallen eingebaut hat. Scheint es zunächst so als wolle Simone ein gutes Geschäft mit dem Sohn des Herzogs zu machen, schlägt die Stimmung langsam um, bis Simone den Prinzen mit dem Schwert herausfordert, ihn entwaffnet und zum Dolchkampf reizt und schließlich erwürgt. Berühmt wurde Biancas Begeisterung, „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du so stark?“ und Simones Bewunderung, „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du so schön!“.
„Sex. Macht. Mord“ bzw. „Sex and Crime in der Renaissance“, die Schlagworte, mit denen 2011 zwei unterschiedliche Borgia-Produktionen im Fernsehen beworben wurden, gelten auch für eine Reihe von Opern zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Willkürlich ausgewählt: während des Ersten Weltkriegs wurden 1915 Schillings Mona Lisa, im Jahr darauf Korngolds Violanta, 2017 Zemlinskys Eine Florentinische Tragödie und 1918 Schrekers Die Gezeichneten uraufgeführt; und irgendwie könnte man Franz Schmidts Pariser Renaissance-Bild Notre-Dame von 1914 auch dazuzählen. Alle zeichnet der Klangrausch aus Spätromantik und Expressionismus aus.
Mit der in Stuttgart unter von Schillings uraufgeführten Eine Florentinische Tragödie vollbrachte der damals 27jährige Patrick Hahn Ende November 2022 im Prinzregententheater eine seine ersten Großtaten als Erster Gastdirigent des Münchner Rundfunkorchesters, das erneut seine bei vielen konzertanten Opernaufführungen unter Beweis gestellte besondere Befähigung für das Musiktheater ausstellen konnte (BR Klassik 900347); seinen Einstand hatte Hahn ein Jahr zuvor mit Ullmanns Der Kaiser von Atlantis gegeben . Hahn hat eine theatralisch packende, fast bühnennah wortverständliche Aufführung realisiert, die trotz der manchmal überbordenden Orchesterwogen durchsichtig bleibt, orchestrale Details der Celesta, Violine und Harfe ausleuchtet und die lauernden Momente in der Konversation der beiden Männer, des hell tenoralen, gleisnerischen Benjamin Bruns als Guido Bardi und des mit splitterndem Bariton mächtig auffahrenden Christopher Maltman als Simone, energisch und eindrucksvoll nachzeichnet. Rachel Wilson bleibt in diesem tödlich endenden Dreier, irgendwie außen vor. Ausgesprochen spannend. Rolf Fath

Wilhelmenia Fernandez

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Die amerikanische Sängerin war vor allem durch ihre Mitwirkung in dem Film Diva von Jean-Jacques Beineix berühmt geworden. Sie erlangte plötzlichen Ruhm, als 1981 der Film Diva von Jean-Jacques Beineix in die Kinos kam, in dem sie mitwirkte und in dem sie eine überwältigende Arie aus Catalanis La Wally sang. Abgesehen von diesem Coup verfolgte sie jedoch eine klassische und eher unauffällige Opernkarriere, nachdem sie an der Academy of Vocal Arts in Philadelphia (wo sie 1949 geboren wurde) und später an der Juilliard School in New York ausgebildet worden war.

Wilhelmenia Fernandez debütierte 1976 in Porgy and Bess, einer Produktion der Houston Grand Opera, die durch Europa tourte. Sie kehrte nach Europa zurück, um Musetta in La Bohème an der Pariser Oper zu singen, zusammen mit Kiri Te Kanawas Mimi und Giacomo Aragals und Placido Domingos Rodolfo in den Jahren 1979 und 1980 – bei dieser Gelegenheit wurde sie von Beineix entdeckt. Ihre Karriere führte sie auch nach Toulouse, Straßburg und Liège. Sie übernahm die Titelrollen in Carmen, Aida (insbesondere bei einer Produktion von Verdis Oper in Luxor und am Fuße der Pyramiden in Ägypten), Tosca, Luisa Miller.

Die Sängerin, die am 2. Februar im Alter von 75 Jahren in Kentucky verstarb, hinterlässt eine knappe Diskographie: neben dem Soundtrack zu Diva ein Album mit Gershwin-Liedern und eines mit Spirituals. Außerdem gibt es eine Gesamteinspielung von Oscar Hammersteins Musical Carmen Jones nach Bizet, eine Rolle, die sie auf der Bühne gespielt hatte und für die sie 1992 mit dem Laurence Olivier Theatre Award ausgezeichnet wurde (Foto youtube). Jane Avril/DeepL