Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Schmiss mit Mehltau

 

Der Komponist Leo Fall ist vor allem für ein Werk berühmt, das immer noch auf den Bühnen zu sehen ist  – Madame Pompadour. Seine Dollarprinzessin dagegen kann man als Rarität einstufen. Nun ist eine Gesamtaufnahme dieser Operette unter der Leitung von Ulf Schirmer beim Label cpo erschienen. Die Dollarprinzessin gehörte zu den international erfolgreichsten Operetten des frühen 20. Jahrhunderts. Die Partitur zählt zu den sorgfältigsten und schönsten der Ära, und ist vielleicht die Operette vor dem ersten Weltkrieg, die das Gefühl der Moderne am prägnantesten und amüsantesten einfängt.

Rhythmische Achtel auf Schreibmaschinen: Wer die Dollaprinzessin hört, erfährt viel darüber, was die Zeitgenossen von 1906 so umtrieb: Es gibt ein Auto-Ensemble, emanzipierte Frauen aller Coleur toben über die Bühne – und die Operette hat vielleicht den originellsten Anfang des gesamten Genres – der Vorhang geht auf, und wir hören und sehen einen Chor von Sekretärinnen, die in rhythmischen Achteln auf ihren Schreibmaschinen herumhämmern.

Das moderne Zeitalter triumphiert auf geradezu unverschämte Weise. Für 1906 war das Neuland. Leo Fall und seine Librettisten versuchen hier jede Alt-Wiener Nostalgie-Attitüde abzustreifen und die moderne industrielle Welt auf in einem frechen Operettenlicht zu zeigen.

Das Ganze spielt in Amerika, und dort triumphiert das moderne Zeitalter auf geradezu unverschämte Weise über die alte Operettenwelt – verarmte Aristokraten arbeiten für reiche amerikanische Kapitalistinnen und müssen mit ihren Minderwertigkeitskomplexen fertig werden, während die reichen Damen sich langweilen und recht depressiv sind. Das sind eigentlich Themen, die erst in den 20er und 30er Jahren Einzug halten in die Opern- und Operettenwelt.

Fall verzichtet aber vollständig auf moderne Musik, sein Handwerkszeug sind die Walzer, Märsche und Polken, die auch schon Millöcker verwendet hat. Heute sind uns deshalb vielleicht musikalisch andere Werke näher.

So sehr man die flotte, gut genähte, äußerst elegante und hinreißend instrumentierte Musik bewundern muß: Kalman hat ein ähnliches Thema in der Herzogin von Chicago zupackender gelöst, und reiche emanzipierte Frauen, die Männer in die Verzweiflung treiben, sind in der etwa zeitgleich entstandenen lustigen Witwe genialer gezeichnet. Ganz zu schweigen von Gershwins frühen Musicals.

Eine Operette mit schmissigen Hits: Ulf Schirmer dirigiert eigentlich keine Operette. Er kehrt hier mit dem Münchner Rundfunkorchester die opernhafte Seite des Werks heraus – und das ist erstmal gar nicht so falsch. Nichts wäre schlimmer, als bei dieser fragilen, komplexen Partitur den fröhlichen Haudrauf-Tambourmajor zu geben. Man sollte das Werk ernst nehmen: Da sind zwei große Finali von viertelstündiger Länge, wunderbare ironische Kommentare von Soloinstrumenten zu Singstimmen, die beiden Hauptfiguren haben sehr opernhafte ausgedehnte Duette.

Aber im Kern, bei aller Delikatesse, bleibt die Dollarprinzessin eben doch eine Operette mit schmissigen Hits. Und die gehen hier unter. Ich bewundere Ulf Schirmer wirklich für seine Vielseitigkeit, für seinen Mut, immer wieder unbekanntes Repertoire auszugraben, aber hier fehlt mir über weite Stecken der Schwung eines operettenaffinen Kapellmeisters. Es bräuchte hier wenigstens einen Funken Franz Marszalek, der das Doppelbödige, Frivole der Operette herauskehrt. Der Amerika-Marsch, der in der alten Marszalek-Aufnahme ein Höhepunkt des Werks ist, bleibt hier einfach ein rasches, lautes Stück ohne rechten Charme.

Wie Mehltau liegt eine gewisse Strenge auf allen Stimmen: Die Sänger sind nicht übel. Das klingt gönnerhaft, aber ich denke, im Operettenfach darf man das so sagen. Denn insgesamt ist Operette im 21. Jahrhundert das am miserabelsten  und instinktlosesten gesungene klassisches Genre; niemand würde es wagen, Lieder, Oratorien oder Opern in solch einer Qualität auf dCD zu bringen, wie es seit dem Jahr 2000 mit Operetten  geschehen ist. Natürlich gibt’s glanzvolle Ausnahmen, aber die sind rar. Daran gemessen ist diese Einspielung wirklich erfreulich seriös. Vielleicht zu seriös. Auch hier bleibt die Haltung der Sänger eher opernhaft.

Wir haben diesmal sehr gute Tenöre – oft gewinnen ja heute die Damen in den neueren Produktionen. Ferdinand von Bothmer, Ralf Simon, Thomas Mohr, das ist ein sehr angenehmes Trio mit sicheren Höhen.

Die Frauen klingen allesamt leicht oratorienhaft und kühl. Christiane Libor ist mir persönlich etwas zu dunkel und mütterlich für die Titelpartie der jungen experimentierfreudigen Dollarprinzessin. Geschmackssache. Insgesamt liegt aber wie Mehltau eine gewisse Strenge auf allen Stimmen; man hat über weite Strecken nicht das Gefühl, das ihnen diese Operette wirklich Spaß macht.

Das gilt nicht für den Chor des Musikalischen Komödie Leipzig, der hier nach München eingeladen wurde, die Leipziger stehen zu recht in dem Ruf, dieses Genre mit großer Begeisterung umzusetzen, und so finde ich eigentlich die großen Chornummern hier auch am gelungensten.

Und ich ziehe wie immer meinen Hut vor dem schönen Einführungstext von Stefan Frey im Booklet. Neid unter Autoren, sagt Tucholsky, ist immer ein guter Indikator für Qualität (Leo Fall: Die Dollarprinzessin/ Christiane Libor, Magdalena Hinterdobler, Angela Mehling, Thomas Mohr, Ferdinand von Bothmer, Ralf Simon, Marko Cilic, Münchner Rundfunkorchester, Ulf Schirmer/  CPO 4111675). Matthias Käther

Gounod: „La Nonne sanglante“

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2018 jährte sich der Geburtstag von Charles Gounod zum 200. Mal – Grund für den Palazetto, im Juni  2018 drei  seiner Opern aufführen zwei mitschneiden zu lassen: Le tribut de Zamora (aus München im Januar 2018 für die Eddiciones Singulares), Faust in der Erstversion als Opéra-comique/mit Dialogen (soeben beim Palazetto Labrel Ediciones Singulares erschienen)  und La Nonne Sanglante (die es ja bereits 2008 in Osnabrück gegeben hat und bei cpo  777 388-2 in guter Ausstattung mit Libretto vorliegt, aber auch nun bei Naxos in der hier besprochenen Pariser Version als DVD-Mitschnitt herausgekommen ist/ DVD 2.2110632)

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Der junge Charles Gounod auf einem Foto von Nadar/ OBA

Dazu Rolf Fath über die Nonne Sanglante in der Opéra-Comique: Schwer kommt die Ouvertüre mit ihrem harmonischen Wechselspiel in die Gänge. Die schwere Melodie und die flotten Rhythmen etwa, die das Erscheinen der Nonne begleiten, die chromatischen Eintrübungen, die die Welt des Übernatürlichen beschreiben und sich zusammen mit den Bläsern zu bedrohlichen Situationen bündeln, wie wir sie im vierten Finale wiederfinden. Ganz so schaurig, gespenstisch und finster, wie es das Sujet vorgibt, geht es allerdings im Orchestergraben bei Charles Gounods La nonne sanglante nicht zu, die 2018 an der Opéra-Comique erstmals seit der Uraufführungsserie von 1854 in der Opéra in der Salle Peletier, quasi ein paar Schritte um die Ecke der Opéra-Comique, wieder in Paris ihr Unwesen treibt. Immerhin geistert bereits im sonoren Moderato die weiße Frau über die Bühne, die von ihrem Geliebten verlassen wird und seither auf Rache sinnt, was das folgende Geschehen halbwegs plausibel erscheinen lässt. Der Treulose ist kein anderer als Graf Luddorf, der Vater der eigentlichen Hauptfigur Rodolphe. Wildes Kriegsgetümmel, Lederrocker, die sich im Zeitlupe bekämpfen oder zu stehenden Bildern arrangieren. Im Böhmen des 11. Jahrhunderts, wohin Scribe und sein Zulieferer Delavigne die Story nach The Bleeding Nun aus  M.G. Lewis Gothic Novel Ambrosio or the Monk (1796) versetzten, ist offenbar ewige Dunkelheit ausgebrochen.

Der vom Schauspiel kommende David Bobée, der sich 2016 in Caen erstmals an der Oper versuchte, hat das Operngrusical aus der Mitte des 19. Jahrhunderts in eine endzeitmäßige Gegenwart geholt, wofür er zusammen mit Aurélie Lemaignen zu den schwarzen Lederuniformen (Kostüme: Alain Blanchot) eine ebenso schwarze Szenerie aus Türmen und Säulen, teilweise halbhoch gekachelt und zu Kathedralräumen zusammengeschoben, mit Spielpodesten und Leuchtröhren erfand. Das wirkt alles irgendwie halbherzig, provinziell, öde und klein gedacht und wird durch die größtenteils nichtssagenden Videos auch nicht ansprechender. In dieser Düsternis steht Rodolphe in schweren Stulpenstiefeln, sehr umfangreicher Lederhose und Wams und kann, wie es eine Einblendung klarmacht, seinem Schicksal nicht entgehen. Es ist nämlich so: Die Grafen Luddorf und Moldaw sind seit langem verfeindet, um sie auszusöhnen, schlägt der Eremit Pierre vor, dass die Moldaw-Tochter Agnès den Luddorf-Sohn Théobald heiraten solle. Darüber besteht Einigkeit. Allerdings lieben sich Agnès und der Théobald-Bruder Rodolphe. Sie verabreden zu fliehen. Zu diesem Zweck soll sich Agnès verkleidet als Weiße Frau um Mitternacht einfinden. Tatsächlich erscheint die Weiße Frau, der Rodolphe sein Ja-Wort gibt: Er hätte gewarnt sein müssen, denn ihr Händchen war eiskalt. Nun ist es zu spät. Im blut besudelten Gewand, mit grau verfärbten Händen und leerem Blick weicht sie nicht mehr von seiner Seite. Die Toten kommen zum Bankett, Rodolphe ist an die Erscheinung gebunden, die den Tod jenes Unholds fordert, dessen Opfer sie wurde. Bei der Hochzeit mit Agnes – Théobald ist inzwischen gefallen – erscheint sie abermals und fordert das Leben von Rodolphes Vater. In höchstem Furor stürzt Rodolphe davon. Luddorf ist bereit, für seine Tat zu bezahlen, um Rodolphe vor den mörderischen Gegnern zu schützen. Abermals erscheint die Nonne, die sich jetzt gerächt sieht, und löst den Fluch von Rodolphe, der seiner Agnès folgen kann. Wie sein Vater der Nonne.

„La Nonne sanglante“ von Gounod an der Pariser Opéra-Comique/ Szene/ Foto wie auch oben Pierre Grosbois

Wer die Geschichte nicht kennt, geht im optischen Trübsal leer aus (wären da nicht die Über/Untertitel). Zugegeben, die Szene, in der  sich die Toten im einstigen Festsaal des Schlosses einfinden, hat was. Schlösser, Schlachtfelder, Ruinen, Hochzeiten – es gibt noch die Hochzeit zweier Dorfbewohner – alles das findet keine Entsprechung. Und Gounods Musik vermag die Hoffnungen auch nicht immer zu erfüllen. Sie ist erhaben und ernst, teilweise, so in den Ballettszenen, die hier nicht getanzt werden, fast ein bisschen frivol, doch immer voll melodischer Würde. Von geradezu religiöser Inbrunst erfüllt ist die Anfangsszene des Eremiten, die erkennen lässt, dass sich Gounod vor seiner Hinwendung zur Oper ausgiebig mit geistlicher Musik beschäftigt hatte; die musikalische Melange aus Religiösem und Profanen kehrt in Faust wieder. Rodolphes Duette mit Agnès haben einen Hauch grand opéra, die Finali sind wuchtig und dramatisch, das alles ist gekonnt und oft voll melodischer Grazie.

Agnès und die Weiße Frau haben keine eigene Arie, dafür Rodolphes Vertrauter Arthur, den Jodie Devos zur Freude aller mit einem knackigen, quecksilbrig forschen Hosenrollen-Sopran singt. Auch der alte Luddorf hat kurz vor seinem Ende eine eigene Szene, aus welcher der offenbar kurzfristig besetzte Nebenrollen-Bariton Jérome Boutillier wenig macht. Vannina Santoni ist eine damenhafte Agnès, die im fünften Akt mit Kraft und Pathos agiert, Marion Lebègue eine musikalische, mezzodüster dräuende Nonne, Jean Teitgen ein charaktervoll dröhnender Eremit. Die weiteren Partien sind klein und ordentlich besetzt. Das wäre rasch vergessen, wäre nicht Michael Spyres, der mit männlichem und süßem Timbre singt, Kraft für die machtvollen Anrufungen hat und Finesse für ein zartes Piano, bei dem das hohe C sicher sitzt, freilich (an diesem Abend) mit etwas gequetschtem Ton, der aber diese immens umfangreiche Partie – der gesamte zweite Akt gehört quasi ihm – wie ein Gesangslektion ausbreitet, an der auch der berühmte Uraufführungstenor Guéymard nichts zu mäkeln gefunden hatte. Die Arie „Un jour plus pur“ im dritten Akt war übrigens für Berlioz, der sich vor Gounod lange mit dem viel gescholtenen Libretto geplagt hatte, der Höhepunkt der Oper. Die von Berlioz vertonten Passagen wurden erst im Juli 2007 vom Orchestre National de Montpellier aufgeführt.

„La Nonne sanglante“ von Gounod an der Pariser Opéra-Comique/ Szene/ Foto Pierre Grosbois

Die Mischung aus schwarzer Romantik und Gothic Novel verbunden mit den Hinweisen auf Freischütz, Robert le diable – man denke an das Ballett der aus ihren Gräbern steigenden Nonnen – und die Dame blanche ist nicht uninteressant. Die Opulenz und den dramatischen Geist arbeitete Laurence Equibey, eher eine brave Chorleiterin denn eine souveräne Directrice, mit dem Insula Orchestra nicht hinreichend heraus, gewaltige Lautstärke verwechselte sie mit Leidenschaft. Der koproduzierende Palazzetto Bru Zane wird für die Aufnahme (für Naxos) noch etwas nachjustieren müssen. Der von Christophe Grapperon instruierte accentus Chor war ausgezeichnet. Wie stets.

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Die Osnabrücker Aufführung (cpo  2010) ist hier unbekannt. Beispielsweise heißt es in hauptstädtischem Selbstbewusstsein nur, dass die durchaus erfolgreiche und aufwendigst inszenierte Oper nach elf Aufführungen von der Bühne verschwand, „pour n’ être jamais reprise nulle part“. Und zum ersten Mal in der Neuzeit szenisch stimmt ja auch nicht. Angeblich wollte der damalige neue Directeur der Opéra einen solchen Mist („ordure“) nicht auf seiner Bühne sehen. Bereits 2008 war Die blutige Nonne, die bis dahin als unbekanntes Phantom durch die Literatur gegeistert war, wieder auf die Bühne gelangt. Osnabrück hatte sich, wie sich jetzt zeigt, mit der Aufführung von Gounods zweiter Oper gar nicht schlecht geschlagen (9. Juni 2018).   Rolf Fath

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Eine interessante Beobachtung macht der renommierte Musikwissenschaftler und Berlioz-Spezialist Hugh Macdonald im Vergleich der Nonne zu den Troyens:  In 1841 Berlioz composed at least the first act of a libretto by Eugène Scribe based on Matthew Lewis’s novel The Monk, but with little enthusiasm for the project from Scribe, and perhaps not from Berlioz either, the opera was never completed. Two Airs and a Duo survive in a manuscript at the Bibliothèque nationale de France, each preceded by recitative. The Duo is not complete, breaking off after nearly 400 bars of music. The libretto passed to Gounod, whose opera La Nonne sanglante, was played at the Opéra in 1854. From Gounod’s opera we have the words for the end of Berlioz’s duet, and these are so similar in rhyme and meter to the words of the duet for Cassandre and Chorèbe in Act I of Les Troyens, that it seems likely that the end of the duet in La Nonne sanglante was the same as the duet in Les Troyens. (…) Furthermore, the orchestration of both scenes is the same, with the four horns pitched in a combination of four different keys which is the same in both scores, and very unusual in Berlioz’s music. The situation in both operas is similar, Rodolphe pleading with Agnès to flee with him in La Nonne and Chorèbe pleading Cassandre to flee with him in Les Troyens. (…) Excerpts from Berlioz’s unfinished opera La Nonne sanglante were performed on 28 July 2007 as the closing concert of the 2007 Festival de Radio France and Montpellier Languedoc-Roussillon. The venue was Opéra Berlioz at Le Corum, Montpellier. Alain Altinoglu conducted the Orchestre national de Montpellier, with Cornelia Hunold, Frédéric Antoun, and Franck Ferrari as soloists. Among the pieces performed at the concert was the duo of Agnès and Rodolphe, completed for this performance by Hugh Macdonald. (…) Quelle: The Hector Berlioz website

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Ehrlich

 

Das Buch passt zu ihm. Schmal, lakonisch, bescheiden. Und zurückhalten ist Bernard Haitink, auch grundehrlich: wenn es nichts zu sagen gibt, reichen eben ein paar Worte. Die Ehrlichkeit mag manch einem schmallippig vorkommen. Anekdoten, Klatsch, Privates darf man nicht erwarten. Peter Hagmanns und Erich Singers Gespräche und Essays Bernard Haitink „Dirigieren ist ein Rätsel“ kommen mit weniger als 200 Seiten aus (Bärenreiter Henschel, ISBN 9783761820919), um diese 65 Jahre lang dauernde Dirigentenlaufbahn, die Haitink „über Hindernisse hinweg zu einem singulären Lebensweg gestaltete“ zusammenzufassen. Viel Aufheben hat der medienscheue Bernard Haitink nie um sich gemacht. Nahm es hin, dass 1954 auf dem Programmzettel seines Abschlusskonzertes „Bernard“ statt „Hermann“ Haitink stand und nannte sich fortan Bernard.

Wenige Wochen nach seinem 90. Geburtstag und kurz vor seinem für den 6. September in Luzern angekündigten letzten Orchesterkonzert, wenn Haitink die Wiener, bei denen er sich 1972 mit Bruckners fünfter Sinfonie vorgestellt hatte noch einmal bei der Siebten dirigieren wird, kommt der Band zu rechten Zeit. Der großen Daten der über sechzigjährigen Laufbahn ist bekannt: die 27 Jahren währende, auch durch „Gewitterwolken“ getrübte Tätigkeit als Dirigent – Haitink betont, dass man in Amsterdam den Titel „Chefdirigent“ nicht kannte – des Concertgebouw Orchesters, bei dem er 1956 als Einspringer für Giulini 1956 debütiert hatte. Es folgten u.a. ab 1978 zehn Jahre beim Glyndebourne Festival, anschließend bis 1998 am Royal Opera House Covent Garden. Er war 2002-04 Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle, über Jahrzehnte regelmäßiger Gastdirigent bei den Wienern und Berlinern (Debüt 1964), in London (1967-79 beim London Philharmonic Orchestra), München (1958 erstmals beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks), Zürich, in Boston und Chicago. In den biografischen Skizzen, die zusammen mit Peter Hamanns Beschreibung und Wertung des Dirigierten den Rahmen für die Gespräche im Mittelteil des Buches bilden, spürt Erich Singer den musikalischen Vorbildern Haitinks nach, wobei es die Anlage des Buches mit sich bringt, dass es ständig zu Wiederholungen mit dem Interviews kommt. Geprägt wurde Haitink nicht von Willem Mengelberg, der das Concertgebouw über ein halbes Jahrhundert geleitet hatte und dessen spätromantischen, selbstherrlichen Stil Haitink ihm verpönt waren, sondern von Eduard van Beinum („….hat mich zutiefst beeindruckt“). Doch beide Herren begründeten die intensive Mahler- und Bruckner-Pflege, die Haitink in Amsterdam sowohl im Concertgebouw wie in Schallplattenstudios wiederaufnahm und fortsetzte. Haitinks Gesamtaufnahme der Brucker und vor allem Mahler-Sinfonien in den 1960er Jahren waren Meilenstein; eine Einspielung der Sinfonien Mahlers in den 90er Jahren mit den Berlinen Philharmonikern wurde nicht vollendet. Haitink spielte alle Sinfonien von Schostakowitsch ein, auch das eine Pioniertat, kümmerte sich früh um Ravel. Zu schweigen von all den Beethoven- und Brahms-Zyklen. Bemerkenswert bei dem so zurückhaltenden Haitink („Ich bin nicht sehr verbal“), der sich den Fragen zur Kunst des Dirigierens und ästhetischer Positionen gerne entzieht, da man „darüber eigentlich nicht sprechen kann“, ist seine deutliche geäußerte Abneigung gegen Bayreuth und gegen den übermächtigen amerikanischen Agenten Wilford, „der die von ihm vertretenen Dirigenten wie Marionetten an seinen Strippen führte“.

Das Opernschaffen – „Ich bin ein Dirigent, der auch Opern dirigiert“ – kommt in dem Buch etwas kurz. Für die immerhin zwanzig Jahre an zentralen Positionen des englischen Musiklebens müssen wenige Seiten ausreichen. „In Glyndebourne habe ich als völliger Dilettant in der Opernwelt angefangen“. Haitink lobt die Probenzeit beim Festival, den Umgang mit den Regisseuren Hall, Nunn, Vick, „das waren alles Vertreter der äußerst renommierten britischen Theatertradition“, die Atmosphäre. Mit dem Wechsel nach London und angesichts der beschlossenen Renovierung des Hauses, der langen Bauarbeiten und der Auflösung der Kompanie währen dieser Zeit musste Haitink, was ihm schwer fiel, auch politisch agieren: „Da habe ich etwas getan, was ich selten tue: Ich habe meinen Fuß dazwischen gestellt“. Die Meistersinger und zwei Ring-Produktionen (Götz Friedrich, Richard Jones) stehen auf der künstlerischen Haben-Seite, wozu Haitink auf seine unnachahmlich zurückhaltende Weise bemerkt, „Ich habe daran sehr gute Erinnerungen“. Ein paar Hinweise zu Regisseuren. Wenige Sänger werden genannt, darunter Felicity Lott und Maria Ewing, die Carmen „wie Edith Piaf gesungen“ habe. Hinsichtlich seiner Opernaufnahmen schwärmt er, man darf es schon als Schwärmen auffassen, von Daphne mit Lucia Popp („Die Aufnahme erinnert mich immer an diese wunderbare Sängerin… Sie hat die Hauptrolle bestechend schön gesungen“), spricht garstig über die Sophie in seinem Rosenkavalier und erwähnt auch, dass es nicht zu einer Gesamtaufnahme von Capriccio kam, weil er sich Jessye Norman nicht als Madeleine  vorstellen konnte: „Das war eine total verfahrende Situation. Ich war mit Philips nicht einig über das Engagement von Jessye Norman. Für diese späte Kammeroper von Strauss war ihre Stimme zu schwer, zudem sprach sie das für dieses Konversationsstück sehr wichtige Deutsch nicht akzentfrei“. Das Label siegte, doch Norman hätte nur für zwei Sitzungen zur Verfügung gestanden, „dieses Ansinnen lehnte ich entschieden ab. Darum kam die Aufnahme dann nicht zustande. Das ist die Opernwelt!“. Den in aufgewühlten Zeiten im November 1989 in Dresden entstandenen Fidelio mit Norman erwähnt er nicht. Rolf Fath

Mit Einschränkungen

 

Oberon ist die letzte Oper Carl Maria von Webers – und sie gilt als sein großes Abschiedswerk. Zu sehen und zu hören ist sie allerdings selten auf der Bühne. Der Mitschnitt einer konzertanten Aufführung aus Gießen ist jetzt beim Label Oehms Classics erschienen.

Oberon, das war der Sprung Webers ins internationale Konzertleben, ein Opernauftrag für London, die Chance des Freischützkomponisten, endlich zum allseits anerkannten Weltstar aufzusteigen – allerdings wusste Weber auch, dass dies sein letztes Werk sein würde, er war schon schwer tuberkulosekrank. Also hat er noch mal alles geben, und der Stilmix ist bis heute betörend. Elfenromantik, heroische Helden, ein Hauch Belcanto a la Rossini (Weber hatte sich mit ihm kurz zuvor in Paris ausgesöhnt). Das alles versehen mit äußerst delikaten Orchesterfarben, die noch einen Debussy inspirierten. Ganz große, eigenwillige, sehr persönliche Musik.

Die Fassung: Leider litt das Libretto an enormen Schwächen – es war ein Zauberspektakel, das nur wenig auf die Erfordernisse einer seriösen Opernpartitur einging. Schlüsselszenen tauchen nur im Dialog auf, nicht als Musiknummern. Weber wollte später für Deutschland nachbessern – kam aber nicht mehr dazu. Das Gießener Theater hat  Teile der posthumen Zusammenfassungen, Regieanweisungen und den Dialoge des ersten deutschen Bearbeiters, Theodor Hell, benutzt und diese Texte so für Erzähler arrangiert, dass sie wirklich klingen wie eine konzertante Originalfassung. Dieser Aspekt der Aufführung ist ausgesprochen gelungen.

Michael Hofstetter: Grund für den Mitschnitt war aber zweifellos der Dirigent Michael Hofstetter, der vor allem mit Opern-Wiederbelebungen der Vorklassik berühmt wurde, ihm haben wir etwa diverse Gluck-Wiederentdeckungen zu verdanken. Er gehört zu den wirklich klugen, abenteuerlustigen und unorthodoxen Dirigenten unserer Tage.

In gewisser Weise ist dies hier seine Feuertaufe auf CD – meist erscheinen nur Raritäten von Werken, bei denen es schwierig ist, Vergleiche mit anderen Dirigenten anzustellen. Hier im Oberon bleibt Hofstetter durchaus auf Augenhöhe solcher Oberon-Dirigenten wie Kubelik und Gardiner, sein Vorteil ist die perfekte Kenntnis der vorklassischen Werke, der Wurzeln, aus denen Weber hervorgeht. Bei ihm klingt Weber durchsichtig und saftig zugleich, ohne falschen Zungenschlag, man könnte ihn in der Hofstetter-Aufnahme nie mit einem obskuren Schubert oder frühen Wagner verwechseln. Manchmal arbeitet er mit provokant langsamen Tempi, die aber immer spannungsvoll blieben, und sein Gießener Orchester geht erstaunlich gut mit; da sitzt (fast) alles perfekt, auch in den Solostimmen. Also aus der Dirigentenperspektive gesehen ist das ein sehr sehr spannender Oberon.

Problematische Besetzung: Doch Oberon steht und fällt mit den Sängern. Meistens fällt er. So auch hier. Das ist keine Schande, denn die beiden Hauptpartien kaum singbar. Hüon und Rezia haben schon Sänger wie Jonas Kaufmann und Birgit Nilson den Schweiß auf die Stirn getrieben, Oberon ist gesangstechnisch ein Schreckgespenst der Operngeschichte. Aber gibt es überhaupt die ultimative CD- (oder LP-) Aufnahme dieser so problematischen Oper? Alle sind drastisch bearbeitet und keine kann zufrieden stellen.

Man muss zur Ehrenrettung von Mirko Roschkowski (Hüon) sagen, dass er diese große stimmtechnisch alptraumhafte Partie für einen lyrischen Tenor erstaunlich gut meistert. Das Problem ist: diese Rolle ist eigentlich nichts für ihn, das ist eine bizarre Mischung aus Helden- und lyrischem Tenor, eigentlich eine Partie, die der französischen Tradition näher steht als der deutschen oder italienischen. Man braucht dafür Stimmen, die die Brillanz der Musik feuerwerksartig herüberbringen, und das gelingt hier nur teilweise. Das gilt auch für Rezia. Dorothea Maria Marks‘ Sopran ist einfach zu klein, obwohl sie sich im wörtlichen Sinne heroisch schlägt – doch ich habe beim Hören mitgebangt. Und das ist eigentlich immer ein Zeichen, dass der Kampf des Sängers mit den Noten nicht ausgefochten ist und das Ergebnis offen. Die übrigen Sänger (Clemens Kerschenbauer, Garga Peros, Dmitry Egorov, Karola Pavone und Roman Kurtz) bleiben unauffällig, aber reicht das?

Leider kommt hier aber auch noch eine hochproblematische Akustik hinzu, eine schlechte Aussteuerung, die sich gerade bei den hohen Stimmen bemerkbar macht durch ärgerliche Zisch-Echos – und so ist diese Aufnahme trotz interessanter Ansätze leider nur bedingt empfehlenswert ( Carl Maria von Weber: Oberon mit Mirko Roschkowski, Dorothea Maria Marx, Marie Seidler u. a.| Chor des Stadttheaters Gießen | Philharmonisches Orchester Gießen, Chor und Extrachor des Stadtteaters Gießen | Michael Hofstetter; Oehms Classics, 2 CD OC 984). Matthias Käther/Stefan Lauter

Franco Faccios „Amleto“

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Nach Erstaufführungen im amerikanischen Albuquerque 2015 und Wilmington/Delaware 2016 (operalounge.de berichtete über beide) präsentierte Bregenz bei seinen Festspielen 2016 Franco Faccios vergessene Oper Amleto von 1865 – eine der spannendsten Opern-Wiederentdeckungen der letzten Jahre (in Europa). Dazu gab uns Antonio Barrese, eminenter Dirigent und Musikwissenschaftler, vor allem aber Wiederentdecker und Restaurator der Partitur des Amleto anlässlich seiner Bühnen-Produktionen der Oper in Albuquerque und Delaware ein ausführliches Interview zum Werk und den aufregenden Umständen der Ausgrabung in den Archiven des Musikverlages Ricordi, das wir hier aus gegebenem Anlass wiederholen. Von der Aufführung in Albuquerque gibt es inzwischen eine DVD und CD, aus Delaware zumindest einen Radiomitschnitt – Bregenz hatte also mitnichten die erste Wiederentdeckung des Amleto in moderner Zeit, wie von der Intendantin noch im Radio-Interview gerne behauptet wurde (wo auch Entdecker Barese kleingeredet wurde). Allerdings sind die amerikanischen Dokumente aus Copyright-Gründen der Universal/Ricordi nur in den USA und nicht ins Ausland lieferbar… Die Aufführung in Bregenz wurde am 20. Juli 2016 in Ö1 Radio und ORF3 TV live übertragen und liegt nun auf DVD bei C-Major/ Unitel/ Bregenzer Festspiele sowie als CD-Ausgabe bei Naxos (8.660454-55, 2 CD) vor, eine Besprechung von Matthias Käther findet sich am Schluss.. G. H.

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Franco Faccio/OBA

Franco Faccio/OBA

Amleto von Faccio – zur Einführung: Ein fünfundzwanzigjähriger Komponist, dem bisher nur eine Vorstellung vergönnt war, und ein dreiundzwanzigjähriger Librettist bei der ersten bedeutenden Erfahrung mit einer Oper: der Musik und den Worten dieser beiden jungen Burschen, die die Kunstwelt von Kopf bis Fuß erneuern wollten, galt der Beifall des Genueser Publikums des Teatro Carlo Fenice.am 30. Mai 1865. Seitdem sind knapp 150 Jahre vergangen seit der Premiere von Amleto, eine tragedia irica  in vier Akten, an die Franco Faccio, der Komponist, und Arrigo Boito, der Librettist, viele Erwartungen und Hoffnungen geknüpft hatten. Es handelte sich um ein wahres und tatsächliches Manifest der Scapliatura (= Liederlichkeit, literarische Protest-Bewegung in Mailand), aber die Aufnahme war einige Jahre danach eine ganz andere, als die Scala dieselben Noten ohne Wenn und Aber auspfiff.

Es lohnt sich, die Geschichte dieser Oper sich noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, um die Gründe für den Misserfolg von 1871 zu verstehen, obwohl sie ohne Zweifel innovativ und originell war. Die Geschichte des Amleto von Faccio und Boito ist alles in allem eine kurze. Leider sind die Quellen nicht so zahlreich, wie man es erwarten könnte: Zum Beispiel weiß man von der Zeit vor der Komposition lediglich, dass die beiden jungen Leute voller Pläne und Initiativen waren, nachdem sie das Konservatorium von Mailand verlassen hatten. Warum ausgerechnet eine der bedeutendsten Tragödien Shakespeares?  Es scheint so, als habe Boito begonnen, an dem Libretto noch vor I Fiamminghi zu arbeiten, das dann am 2. Juli 1862 in Polen vollendet wurde. Viel zahlreicher sind die Zeugnisse von diesem unseligen Genueser Premierenabend des Jahres 1865. Zur Besetzung gehörten bedeutende Sänger wie Mario Tiberini als Hamlet, Angiolina Ortolani-Tiberini als Ofelia, Elena Corani und Antonio Cotogni als Königin und König. Die Tatsache, dass das Teatro Carlo Felice zwei fast Unbekannte akzeptiert hatte, ist auf das persönliche Eingreifen von Alberto Mazzuccato zurück zu führen, der am Konservatorium Lehrer Boitos gewesen war und Freund des Dirigenten Angelo Mariani, ebenfalls für dieses Debüt ausgewählt.

Die Zeitschrift  Movimento schrieb damals: „Gestern Abend öffneten sich die Pforten des Carlo Felice für die  angekündigte Aufführung der neuen Partitur von Franco Faccio, den Amleto. Groß waren die allgemeinen Erwartungen, da Zweifel laut geworden waren in Bezug auf  das neue Genre, an dem sich der junge Maestro versucht hatte. Das Publikum kam in Massen und in der Haltung, dessen, der zu  einem wohl bedachten Urteil, sagen wir es offen, mit Strenge bereit war. Aber die Bereitschaft zum Zweifel flaute schnell ab, und nach genauer Prüfung fiel die Entscheidung; man applaudierte und das ganz spontan, aus Überzeugung und mit Enthusiasmus. Ebenso las an es in der Gazzetta di Genova: „Der Oper wurde allgemein nach dem ersten Akt Beifall gespendet, nach dem Duett Ofelia und Amleto, am Ende des zweiten Akts, nach der Canzone der Ofelia im dritten Akt und nach dem Tauermarsch im vierten Akt. Der junge Maestro wurde mehrmals auf die Bühne gerufen.“

Ingrid Wanja übersetzt tapfer und unverzagt aus dem Italienischen für uns - Danke Ingrid!

Ingrid Wanja übersetzt tapfer und unverzagt aus dem Italienischen für uns – Danke Ingrid!

Das eindeutige Talent von Faccio wurde also anerkannt. Nicht derselben Meinung war Giuseppe Verdi, nach dessen Auffassung niemand etwas hatte verstehen können bei all dem „Krach“. Die sechs Jahre, die zwischen Genua und Mailand verstrichen, waren voller Abenteuer und Erfahrungen, vor allem die Teilnahme am Dritten Unabhängigkeitskrieg im Jahre 1866, der beide (Faccio und Boito) betraf, um nicht vom Fiasko des Mefistofele zu sprechen, des es 1868 an der Scala gab. Die Kunst der „Liederlichkeit“ bedurfte also einer schönen Auffrischung, so sehr, dass man 1870 von einer möglichen Wiederaufführung des Amleto in Florenz sprach. Man entschied sich jedoch für Mailand, die Scala und die Saison 1870/71. Tiberini wurde wieder engagiert für dieselbe Rolle, aber auch der Rest der Besetzung war vorzüglich, mit Virginia Pozzi-Branzanti als Ofelia und dem Dirigenten Eugenio Terziani als Dirigenten. Leider erkrankte Tiberini, und das Debüt an der Scala wurde um zwei Wochen verschoben. Aber das reichte nicht. Der Tenor aus den Marken war vollkommen ohne Stimme und desorientiert. Sein Auftritt war ein komplettes Unglück, viele Noten brachte er überhaupt nicht heraus. Faccio zeigte sich ruhig und gelassen, aber in Wirklichkeit hatte sich Nervosität seiner bemächtigt. Es gab zwar einigen Applaus, aber alles in allem sprach man sofort von einem Fiasko. Es ist wirklich schade, dass man Amleto nicht mehr zu Faccios Lebzeiten aufgeführt hat (er starb fünfzigjährig im Jahre 1891, nachdem er in Irrsinn verfallen war). Eigentlich handelte es sich, wie der Verleger Tito Riccordi bemerkte, um einen Amleto aufgeführt ohne Hamlet, vielleicht war es auch Schicksal, dass man diese Tragödie so schnell vergaß. Aber die große Leidenschaft, die Antonio Smareglia, einer der wichtigsten Schüler von Faccio, für die Partitur hegte, ist doch zu erwähnen, für eine Musik und eine Bearbeitung des Stoffes, die in dieser Epoche für zu ehrgeizig und wenig respektvoll gegenüber Shakespeare gehalten wurden. Aber man kann auch von einem wertvollen und konkreten Zeugnis sprechen, das die „Liederlichkeit“ im 19. Jahrhundert zu schaffen versuchte.  (Übersetzung Ingrid Wanja)  

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Anthony Barrese: Dirigent, Komponist und Musikwissenschaftler/AB

Anthony Barrese: Dirigent, Komponist und Musikwissenschaftler/AB

Und nun Fragen an Antony Barrese zu Faccios Amleto: Zunächst einmal die übliche Frage: Was hat Sie zu dieser Oper und zu dem Komponisten geführt? Ich selbst bin und war immer fasziniert von diesen compositori minori im überwältigenden Schatten von Verdi – wie Apolloni oder natürlich Gomes, Montèro, Carrer.Wie sind Sie also auf diesen Komponisten aufmerksam geworden?Hamlet ist mein Lieblingsstück von Shakespeare, und das schon seit meinen frühen Teenagerjahren. Als ich anfing, die Welt der Oper zu erforschen, war ich schockiert, als ich feststellte, dass es keine glaubwürdige (meiner Meinung nach) Opernbearbeitung des Themas gab. Und dann hörte ich, dass Boito ein Hamlet-Libretto geschrieben hatte, und dass es nicht nur sein erstes Shakespeare-Libretto war, sondern sein erstes Libretto überhaupt. Ich kam also wegen des Librettos zur Oper und entdeckte dann später die Musik, aber alles wegen meiner Liebe zu Shakespeares Hamlet.

Verdi ist der Eckpfeiler dieser Periode – was unterscheidet Faccio von Verdi? Wie individuell ist seine Musik im Vergleich zu Verdi? Hat er Rossini gekannt (sicher auch G. Tell und all das, wie Verdi)? Wie sehr ist er Donizetti und den Belcanto-Komponisten verpflichtet? Ich höre mir gerade Ihre Musikbeispiele von Amleto auf Ihrer Website an – seine große Arie und Szene – Hamlet als Tenor scheint so seltsam nach Thomas und all dem. Es macht ihn sicher jünger, vielleicht weniger gewichtig und traditioneller?

„Amleto“: Antonio Cotogni als Il Re der Uraufführung/AB

Faccios Musik ähnelt in vielerlei Hinsicht der von Verdi, aber in dem Maße, in dem er einzigartig ist, ist er definitiv mehr auf die orchestralen Farben bedacht. So gibt es zum Beispiel im Vorspiel des 3. Akts vor Ofelias Wahnsinnsszene wunderbare Stellen mit hohen Streichern und Flageoletts (ganz ähnlich wie zu Beginn von Lohengrin). Außerdem verwendet er sehr subtile Techniken wie Beckenschläge ppp, ein Effekt, den man vor dem Verismo nicht oft sieht. Zweifellos kannte Faccio Rossinis und Donizettis Musik. Während Spuren von Rossini nur schwer zu finden sind, wird Donizettis Präsenz in der Wahnsinnsszene von Ofelia deutlich, in der sie von einem Flötenobligato begleitet wird (Anklänge an Lucia di Lammermoor).

Hamlet mit einem Tenor zu besetzen, erscheint mir in der italienischen Tradition sinnvoller, vor allem im mittleren und späten Verdi, wo der Held ein Tenor ist und das Böse eine tiefere, dunklere Stimme hat. In der Tat sind alle Stimmtypen perfekt besetzt. Ofelia ist ein lyrischer Sopran, Geltrude liegt irgendwo zwischen einem Sopran und einem Mezzosopran, was ihr eine dunklere, eher matronenhafte Qualität verleiht. Und der Geist ist ein Basso profundo, was seiner Figur mehr dramatisches und musikalisches Gewicht verleiht.

„Amleto“: Signora Tiberini war die erste Ofelia/DeRenzis/AB

Außerdem entspricht Hamlets Gesangslinie viel mehr den späteren Verismo-Komponisten. Es ist keine besonders hohe Rolle (B ist die höchste Note, die er hat), und es gibt einen Mangel an gehaltenen hohen Noten. Das soll nicht heißen, dass die Gesangslinie nicht ausdrucksstark ist, denn das ist sie, und zwar an sehr wichtigen Stellen. Aber Faccio achtet darauf, die Gesangslinie im Zaum zu halten und sie nur in Momenten höchster musikalischer und dramatischer Bedeutung explodieren zu lassen.

Gibt es Informationen über die Oper „Amleto“? Wurde sie oft aufgeführt? Wann und warum wurde sie nicht mehr gespielt? Amleto wurde 1865 im Teatro Carlo Felice in Genua uraufgeführt. Allem Anschein nach war es ein Erfolg, sowohl beim Publikum als auch bei den Kritikern. Bald nach der Premiere schlossen sich Boito und Faccio Garibaldis Armee an und kämpften für die italienische Einigung. Ihre Reisen brachten sie in engeren Kontakt mit der Musik Beethovens und Wagners (Wagner war in Italien zu dieser Zeit nur durch seine Schriften oder Klavierauszüge bekannt). Die erste Wagner-Oper, die in Italien erklang, Lohengrin, wurde erst 1871 aufgeführt). Dies trug zu den zahlreichen Überarbeitungen bei, die Faccio vornahm. Nach der katastrophalen Premiere von Boitos Mefistofele (La Scala 1868) wussten Faccio und seine Kollegen, dass sie einen Erfolg brauchten, und so wurde für 1871 eine weitere Aufführung von Amleto an der Scala geplant.

„Amleto“: Virginia Pozzi-Branzanti, Ofelia in Mailand/Fondo Antonio Cervi

Die Vorbereitungen verliefen reibungslos, bis in der letzten Woche der Sänger des Amleto (Tiberini) erkrankte und die Premiere um einige Wochen verschoben werden musste. Tiberini erholte sich, doch kurz vor der Premiere erkrankte er erneut. Die Theaterkommission der Scala befand Tiberini für gesund genug, um zu singen, und er machte weiter. Was dann geschah, war eine Katastrophe. Tiberini, immer noch sehr krank, konnte die Rolle nicht singen. Er markierte die Gesangslinie, transponierte Teile davon eine Oktave nach unten und hörte in anderen Abschnitten einfach ganz auf zu singen. Wie Giulio Ricordi sagte: „Hamlet wurde ohne Hamlet aufgeführt“. Es war ein desaströser Abend, und Faccio ließ das Stück nie wieder aufführen. Tatsächlich wurde es seit jenem Abend an der Scala, dem 12. Februar 1871, nicht mehr aufgeführt.

Der einzige Grund dafür, dass es seither nicht mehr aufgeführt wurde, ist, dass außer dem autographen Manuskript des Komponisten kein Material vorhanden war. Entgegen der üblichen Praxis wurde von Ricordi nie ein vollständiger Klavierauszug des Werks angefertigt. Als ich also auf das Material stieß, musste ich es buchstäblich Note für Note aus dem autographen Manuskript der Gesamtpartitur abschreiben. Nachdem ich die Partitur transkribiert hatte, machte ich mich daran, einen Klavierauszug zu erstellen, so dass ich sofort hören konnte, wie die Musik klang.

.Ich denke, der einfachste Grund, warum das Werk seit 1871 nicht mehr aufgeführt wurde, ist, dass 1) Faccio es nie wieder spielen ließ und 2) es nach seinem Tod kein Material (Klavierauszug, Kopien der Gesamtpartitur, Orchesterstimmen usw.) gab, außer dem autographen Manuskript des Komponisten, das nicht für Aufführungszwecke bestimmt ist.

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„Amleto“: Das Ehepaar Tiberini sang die Uraufführung in Genua/Ipernity

Einige Bemerkungen zur Oper. Struktur, Anordnung der Stimmen und Figuren, musikalische Anmerkungen. Sie sind selbst Komponist (und haben italienische Wurzeln): Worin liegt für Sie der Reiz? Die Struktur des Werks lehnt sich sehr stark an Shakespeare an, ebenso wie die Figuren. Viele Nebenfiguren werden weggelassen (Osric, Rosencrantz und Guildenstern usw.), aber viele der kleinen Figuren werden beibehalten (Spielerkönig und -königin, Lucianus, Totengräber usw.). Wie ich bereits sagte, sind die Stimmen sehr typisch für die italienische Oper des 19. Der Held (oder Anti-Held) Amleto wird von einem Tenor gesungen. Die süße, unschuldige Ofelia – ein Sopran. Die ältere und weise Geltrude wird von einem reicheren, dunkleren Sopran gesungen (im Libretto ein „Mezzosopran“). Der böse König Claudio, ein hoher Verdi-Bariton, und der Spettro, ein Basso rofundo. Auch die kleineren Rollen machen Sinn: sowohl der Totengräber als auch Polonio werden von komischen Bässen gesungen, Hamlets Freunde Orazio und Marcello von Comprimario-Bässen und Laertes von einem Comprimario-Tenor.

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Einige Bemerkungen zu Faccio? Seine Stellung in Verdis Leben, als Dirigent von Aida und so weiter. Gibt es ein gutes Buch über ihn? Es ist schwierig, Informationen zu finden. Es gibt zwei Bücher über Faccio, beide von Raffaello de Rensis, eines heißt Franco Faccio e Verdi, das andere heißt L’Amleto di Franco Faccio. Beide Bücher enthalten einen Großteil des gleichen Materials. In seiner Jugend war Faccio zusammen mit Boito eine wichtige Figur in der Scapigliatura-Bewegung junger Komponisten, Schriftsteller, Künstler usw., die die italienische Kunst radikalisieren und aus ihren traditionellen Fesseln befreien wollten.

„Amleto“: Marco Tiberini war der Uraufführungssänger/DeRensis/Ipernity

Es gibt nur sehr wenige Werke der Scapigliatura-Kunst, die Einfluss hatten. Vieles davon waren Polemiken und Manifeste. Tatsächlich wurde Amleto als der beste Versuch eines solchen Beispiels angesehen, vor allem nachdem Boitos Mefistofele bei seiner Uraufführung ein solcher Reinfall war. Trotz ihrer antagonistischen Haltung gegenüber Verdi wurden sowohl Faccio als auch Boito später offensichtlich zu großen Bewunderern und Verfechtern von Verdis Musik. Im selben Jahr, in dem Amleto an der Scala ein Desaster war, leitete Faccio die italienische Erstaufführung von Aida an der Scala. Anschließend dirigierte er die Uraufführung von Otello (neben vielen anderen wichtigen italienischen Werken) und wurde sozusagen der erste Musikdirektor der Scala, der maestro scaligero.

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1871 ist ein spätes Datum für italienische Komponisten im konventionellen Stil, die Veristen stehen an der Schwelle – ich höre in der Musik viel vom zeitgenössischen Idiom von Gomes (Fosca nämlich): War das so oder wie sehr unterscheiden sich diese Komponisten voneinander? Verdi hat eine andere Richtung eingeschlagen, denke ich – aber das führt zu Catalani und Mascagni, oder? Ich denke, es gibt definitiv Nuancen des Verismo in der Musik. Besonders in der Musik von Amleto. Zwischen der Uraufführung 1865 und der Inszenierung an der Scala 1871 gab es viele Änderungen. Am auffälligsten ist dies bei der Arie „Sein oder Nichtsein“ von Amleto, die in der ursprünglichen Fassung viel deklamatorischer war. Wie ein ausgedehntes Rezitativ. Tatsächlich lautete die Kritik an der ursprünglichen Fassung, dass es „zu wenig Melodie“ und „zu viel Rezitativ“ gebe. Eine Kritik, die sich Faccio bei der Überarbeitung zu Herzen nahm. Aber selbst bei einer größeren Überarbeitung, wie der Wahnsinnsszene von Ofelia, behielt er die deklamatorische Qualität in der Vokalmusik bei, erweiterte aber die melodische Gestaltung im Orchester.

Er war ein brillanter Orchestrator und nutzte das Orchester eindeutig, um eine Stimmung zu erzeugen. Zum Beispiel hören wir im 1. Akt, Szene 2 auf dem Schloss von Elsinore, bevor wir Hamlet, Horatio und Marcellus sehen, 4 Solocelli (Schatten von Guillaume Tell und Vorboten des Liebesduetts im 1. Akt von Otello und des Abschnitts im 3. Faccio setzt das Orchester auch sehr wirkungsvoll in der Marcia Funebre im 4. Akt ein, die dem Drama zwischen der Komödie der Totengräber und der Konfrontation zwischen Laertes und Hamlet etwas Luft zum Atmen gibt. Es ist ein faszinierendes Stück, das für sich allein stehen kann, aber auch im Kontext des Dramas funktioniert.

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„Amleto“: Der junge Franco Faccio zur Zeit der Komposition/DeRensis/Sammlung Heinsen

Meine Ausbildung als Komponist hat mir bei der Aufbereitung dieses Materials in unschätzbarer Weise geholfen. Zum Beispiel waren viele Seiten des autographen Manuskripts verblasst. Aber ich fand heraus, dass, wenn ich den Bass und die Gesangslinie herausfinden konnte, der Rest relativ einfach war, wenn man der Logik der tonalen Harmonie folgte. Wenn ich in der Bratschenstimme nicht erkennen konnte, ob es sich um ein C oder ein B handelte, ich aber wusste, dass der Bass ein Ab war und der Tenor ein Es sang, war die Bratschenstimme höchstwahrscheinlich ein C, weil es die Terz des Akkords war. Solche Dinge wurden auf fast jeder Seite sehr nützlich. Der Reiz, eine italienische Oper aus einer der größten Perioden des italienischen Musikschaffens wieder aufleben zu lassen, und die Aussicht, dass sie möglicherweise eines Tages zum Standardrepertoire gehören wird, ist sehr aufregend.

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Karikatur Franco Faccios/Sammlung Heinsen

Einige Bemerkungen zur Edition, zur Realisierung, zum Projekt? Ich wurde zum ersten Mal auf eine italienische Hamlet-Oper mit einem Boito-Libretto aufmerksam, als ich im Winter/Frühjahr 2002 zum ersten Mal für die Sarasota Opera arbeitete. Im Jahr 2003 nahm ich Kontakt zu Gabriel Dotto auf, einem in Mailand lebenden Musikwissenschaftler, der früher für den italienischen Verlag Ricordi gearbeitet hatte. Ich hatte gehört, dass viele der Archive während des Krieges zerstört worden waren, und ich war mir nicht sicher, ob Ricordi das Autogramm von Amleto noch hatte. Er antwortete mir: „Wie das Glück (und eine ziemlich heldenhafte Anstrengung der Ricordi-Leitung vor sechzig Jahren) es wollte, wurden keine Autographen des historischen Archivs im Krieg zerstört, da die Sammlung heimlich an einen sicheren Ort gebracht wurde.“ (Obwohl die „Produktionskopien“ von Partituren, Leihbibliotheken usw. bei den Bombenangriffen verloren gingen).

Da Ricordi zu dieser Zeit ein neues Domizil in der Biblioteca Brera im Herzen von Mailand bezog, schickte er meinen Brief an Maria Pia Ferraris, die leitende Archivarin des neu eröffneten Ricordi-Archivs. Es stellte sich heraus, dass Ricordi tatsächlich einen Mikrofilm des Autographs besaß, und als dieser eintraf, begann ich mit der mühsamen Aufgabe, das Manuskript zu transkribieren. Zur gleichen Zeit fand meine Frau eine Kopie (ebenfalls ein Mikrofilm) von Boitos Libretto in der Performing Arts Library in New York. Das Libretto war besonders wichtig, da Faccios Handschrift schwer zu entziffern und die Qualität des autographen Manuskripts schlecht war. Der anerkannte amerikanische Musikwissenschaftler und Verdi-Experte Phillip Gossett war unglaublich großzügig und half mir, die handschriftlichen Eigenheiten der Partitur zu entziffern.

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Franco Faccio: zeitgenössische Karikatur/Sammlung Heinsen

Wie bereits erwähnt, war die Erstellung des Zusatzes ein mehrjähriges Projekt, das noch nicht abgeschlossen ist. Nachdem ich das autographe Manuskript Note für Note auf Notenpapier transkribiert hatte (ein Prozess, der weit über ein Jahr dauerte), gab ich die gesamte Partitur in ein Notensatzprogramm ein. Danach fertigte ich eine Transkription einer Klavierpartitur an, um sie leichter verwenden zu können, und gab dann die gesamte Klavierpartitur in ein Notensatzprogramm ein. Danach verbrachte ich Jahre damit, Korrekturen vorzunehmen, Fehler zu finden, die beiden verschiedenen Libretti (1865, 1871) zu vergleichen und die Partitur generell zu überarbeiten. Als beschlossen wurde, dass wir das Werk an der Opera Southwest aufführen würden, begann ich mit der Anfertigung der Orchesterstimmen. Die Anfertigung der Orchesterstimmen förderte viele weitere Fehler in der Orchesterpartitur zutage, und das Durchspielen des Stücks am Klavier offenbarte Fehler im Klavierauszug.

Franco Faccio/Karikatur/Sammlung Heinsen

Was die Umsetzung des Stücks angeht, so haben wir 2004 das Trio des dritten Akts an der Sarasota Opera in einem Konzert mit ihren Apprentice Artists aufgeführt (mit Klavierbegleitung), und 2007 habe ich Ofelias Trauermarsch in einem Konzert mit dem Dallas Opera Orchestra dirigiert. Darüber hinaus sind mir keine weiteren öffentlichen Aufführungen dieser Musik in den Vereinigten Staaten bekannt. Unser Projekt im Oktober/November 2014 an der Opera Southwest war die amerikanische Erstaufführung der gesamten Oper. Bevor wir mit den Proben in Albuquerque begannen, haben wir ein Vorabkonzert der gesamten Oper mit der Baltimore Concert Opera in Baltimore Maryland gegeben. Diese Aufführungen haben mit Klavierbegleitung stattgefunden, ohne Inszenierung, ohne Kostüme, ohne Bühnenbild, etc. Nur der Gesang und das Klavier. Bei Opera Southwest haben wir dann 2014 die komplette Oper mit Orchester, Bühnenbild, Kostümen, Licht, Make-up, Inszenierung usw. aufgeführt (Amleto / Alex Richardson; Claudio / Shannon DeVine; Geltrude / Caroline Worra; Ofelia / Abla Hamza; Laerte / Javier Gonzalez; Polonio / Matthew Curran; Lo Spettro / Jeff Beruan; Orazio / Joseph Hubbard; Marcello / Paul Bower) an der Delaware Opera zudem 2016 (Joshua Kohl/ Amleto; Sarah Asmar / Ofelia; Tim Mix / Claudius,; Lara Tillotson / Geltrude; Matthew Vickers / Laertes; Ben Wager / Lo Spettro).
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Büste Faccios in seinem Heimatort Monza/Sammlung Heinsen

Ein paar Worte über den Komponisten: Franco Faccio (8. März 1840, 21. Juli 1891) war ein italienischer Komponist und Dirigent. Der in Verona geborene Faccio wurde als Dirigent der Musik von Verdi bekannt. Er studierte Musik in Mailand und begann nach seinem Abschluss eine Karriere als Komponist. Er schrieb die Opern I profughi Fiamminghi (Mailand, 1863) und Amleto (Genua, 1865), letztere eine der vielen Opern, die auf William Shakespeare’s Hamlet basieren. Beide Opern hatten weder bei den Kritikern noch beim Publikum Erfolg. Die für den Amleto komponierte Marcia Funebre gilt jedoch als ein wichtiges Beispiel für Faccios Lyrik. Seine Popularität wird durch die Transkriptionen für Blasorchester im späten 19. Jahrhundert deutlich. Noch heute kann man diesen Teil der Oper in Korfu während der Osterzeit hören, wenn die Kapelle der Philarmonischen Gesellschaft von Korfu ihn während der Epitaph-Litanei des Heiligen Spyridon am Morgen des Karsamstags aufführt. 1867 wurde Faccio Direktor des Mailänder Konservatoriums und 1872 wurde er zum Direktor des Mailänder Teatro alla Scala ernannt. Faccio dirigierte die Uraufführung von Verdis Otello (1887), in der seine langjährige Geliebte Romilda Pantaleoni als Desdemona, Francesco Tamagno als Otello und Victor Maurel als Jago mitwirkten. Er dirigierte auch die Londoner Erstaufführung von Otello, bei der Tamagno seinen Triumph als Mohr wiederholte. Zuvor hatte er bereits die italienische Erstaufführung von Aida (1872) und die Premiere der überarbeiteten Fassung von Simon Boccanegra (1881) dirigiert. Faccio starb in Monza im Alter von nur 51 Jahren. (Übersetzung G. H.)

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Dazu Matthias Käthers Ansicht zu CD und DVD aus Bregenz bei Naxos und C-Major: Faccio war ein wichtiger Verdi-Dirigent, er leitete unter andrem die erste italienische Aida und die Otello-Premiere, und er hätte sicher auch den Falstaff dirigiert, wenn er nicht zwei Jahre vor der Premiere an Krebs gestorben wäre – also ein gewiefter Verdi-Kenner, der sich wie kein anderer mit den Finessen des älteren Maestro auskannte. Und das merkt man seiner Hamlet-Oper auch an, die ganz auf typische Verdi-Kontraste setzt.

Doch ihn einen Epigonen zu nennen wäre ungerecht. Denn das Aufregende an Faccio ist, dass sein Hamlet in groben Zügen die Spätwerke Verdis vorwegnimmt. Vieles ist so radikal in diesem Werk von 1865, dass man es eigentlich in den 1880er oder 90er Jahre verorten würde. In der Tat gehörte Faccio zu einer kleinen wilden Gruppe, die zum Teil das vorwegnahm, was die Veristen um Mascagni und Leoncavallo 25 Jahre später umsetzten. Leider kam diese Gruppe damals mit ihren Ideen viel zu früh und war wenig erfolgreich. Übrigens gehörte auch ein junger begabter Dichter und Komponist dazu, der noch viel von sich reden machen sollte – Arrigo Boito. Und der hat auch das Libretto für diesen Hamlet verfasst. Das ist deswegen spannend, weil Boito später für Verdi auch zwei Shakespeare-Bearbeitungen schreiben sollte, Otello und Falstaff.

Die Hamlet-Premiere in Genua 1865 wurde freundlich aufgenommen, fand aber wegen der Radikalität der Oper keine große Resonanz im restlichen Italien, geschweige denn der Welt.  1871 war an der Mailänder Scala ein Revival geplant. Doch der Hamlet-Sänger war so schrecklich indisponiert, dass er nicht nur schlecht sang, sondern auch verbal überhaupt nicht zu verstehen war. Es gab ein gigantisches Fiasko, und Faccio war so verletzt, dass er nicht nur alle weiteren Aufführungen untersagte, sondern nie wieder eine Oper schrieb. Das Werk blieb vergessen, bis es der Musikwissenschaftler Anthony Barrese vor wenigen Jahren wieder ausgrub – und nach einer kleinen US-amerikanischen Premiere 2014 gab es die vielbewunderte europäische Erstaufführung bei den Bregenzer Festspielen 2016. Genau diese Produktion ist hier mitgeschnitten und verewigt worden. Die Inszenierung von Olivier Tambosi war ein großer Erfolg, und es wurde sogar die Vermutung geäußert, dass diese Oper demnächst eine Repertoireoper werden könnte.

Faccios Oper „Amleto“ in der deutschen Erstaufführung in Chmenitz/ Szene/ Foto Nasser Hashemi (Staatstheater Chemnitz 18 November 2018/ Produktion aus Bregenz 2016; Dirigent Gerrit Prießnitz; Hamlet Gustavo Peña ; Claudius Pierre-Yves Pruvot; Polonius Magnus Piontek; Horatio Ricardo Llamas Márquez; Marcellus Matthias Winter; Laertes Cosmin Ifrim; Ophelia Guibee Yang; Gertrude Katerina Hebelkova; Der Geist / Ein Priester Noé Colín; Der König Gonzago / Ein Herold Tommaso Randazzo; Die Königin Giovanna Ina Yoshikawa; Lucianus / Erster Totengräber André Eckert; Zweiter Totengräber Alexander Jahn; Chor der Oper Chemnitz; Robert-Schumann-Philharmonie

Ich bin da weniger optimistisch. Auch andere visionäre Opern jenseits des Verdi-Kanons wie Boitos Mefistofele oder Catalanis La Wally haben es nicht ins Repertoire geschafft. Hamlet hat schöne Momente – allerdings sind die meisten Einfälle auch nicht besser als die in Ambroise Thomas‘ Shakespeare-Oper, und sollte jemand die (längst fällige) Hamlet-Vertonung von Mercadante reanimieren, müssten wir auch noch über ein zweites Konkurrenzwerk nachdenken. Faccios Hamlet ist ohne Zweifel visionär, und grade als gut inszeniertes Spektakel wirkt das Werk stark. Allein schon wegen Boitos genialer Adaption, die sehr viel vom authentischen Shakespeare rettet, ist es hörenswert. Aber rein musikalisch wird Faccio wohl stets eine Assoziationskette zum Verhängnis, für die er nichts kann. Man fragt sich natürlich: was wäre das wohl für eine tolle Oper geworden, wenn Boito den Text nicht Faccio, sondern Verdi angeboten hätte! Man merkt dann doch, grade an den entscheidenden Stellen: es bleibt oft bei der aufgeregten Geste der großen Oper ohne echte Schöpferkraft, es fehlt manchmal an neuralgischen Stellen der Funke des echten Genies – wie etwa im berühmten Monolog „Sein oder Nichtsein“.

Hier haben wir den seltenen Fall, dass ein Werk nicht so sehr wegen der Interpretation unbefriedigend bliebt, sondern wegen der Musik. Erstaunlich, mit welcher Leidenschaft sich die Beteiligten in die Partien werfen, der Tscheche Pavel Cernoch ein bisschen auf den Spuren von Jose Carreras, aber im positiven Sinne und großem gestalterischen Eigenanteil, Claudio Sgura als schurkischer Baritonkönig voller Emphase und großem Pathos (den es auch braucht), Dsamihla Kaiser als Mutter Gertrude beeindruckend auf dem Weg zur Eboli in Verdis späteren Don Carlos. Die Romänin Iulia Maria Dan schlägt sich mutig mit der schwierigen Rolle der Ophelia herum, meist erfolgreich und stimmschön. Sehr beeindruckend auch die Energie von Paolo Carignani am Pult der Wiener Symphoniker. Hier wurde nichts falsch gemacht, und Verdi-Fans sollten sich das unbedingt anhören. Dennoch bleibt ein wehmütiges Gefühl: da haben wir Verdis Dirigenten und Verdis Librettisten, aber das ergibt leider noch keinen Verdi. Und der wäre vielleicht der Einzige, der aus dem Stück wirklich nicht nur eine schöne Oper, sondern eine Jahrhundert-Sensation gemacht hätte. Matthias Käther

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Foto oben: Edwin Booth als Hamlet 1860/Wikipedia; Links: http://anthonybarrese.com/biography/     http://anthonybarrese.com/projects/amleto-project/excerpts/ 

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

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Raffiniertes Kunstmärchen

 

Fast hundert Jahre nachdem Wagner Die Feen abgeschlossen hatte, legte Alfredo Casella seine ebenfalls auf Carlo Gozzis La donna serpente (Die Frau als Schlange, 1762) basierende Opera fiaba vor. Während Wagners erste Oper mehrere Jahrzehnte auf ihre erste Aufführung warten musste, gelangte Casellas Märchenoper im März 1932 auf die Bühne des Teatro Reale dell’ Opera in Rom, wo sich unter der Leitung des Komponisten und in der Inszenierung von Giovacchino Forzano u.a. Alessio de Paolis und Giovanni Inghilleri der in typischer Gozzi-Manier wie eine russische Matroschka verschachtelten Handlung annahmen. Es ist eine ziemlich unterhaltsame Oper, die zwei Jahre später nach Mannheim gelangte, doch dann selbst auf italienischen Bühnen (1942 an der Scala, 1982 in Palermo) eine ausgesprochene Rarität blieb. Im Rahmen eines „Festival Casella“ erinnerte 2016 das Teatro Regio in Turin unter Verwendung einer zwei Jahre zuvor beim Festival in Martin Franca gezeigten Inszenierung von Arturo Cirillo an die einzige Oper des 1883 in Turin geborenen (und 1947 in Rom gestorbenen) Casella , der wie Alfano, Malipiero, Pizzetti und Respighi der generazione dell’ottanta, also der Generation nach Puccini und den Veristen angehörte, die zumeist auf ältere italienische Musiktraditionen zurückgriffen. Zwar zeigte sich Casella in seiner Jugend von Wagner beeinflusst, aber La donna serpente wirkt in der wendigen Stilvielfalt, den hurtigen Rezitativen, den gewitzten Parlando-Einwürfen und den mehr als fünfzig kurzen Nummern, Minuten-Arien und Duetten, Terzett, Quartett und Quintett wie ein Zwilling von Prokofjews Gozzi-Oper Die Liebe zu den drei Orangen und in den zahlreichen Nummern der als Chorballett konzipierten Oper tatsächlich wie eine neoklassizistische Widerbelebung höfischer Divertissement-Opern.

In der Abkehr von Wagner oder Verdi finden sich in der Wiederbelebung klassischer Formen und Formeln Rossini-Reminiszenzen, aufrüttelnde Strawinsky-Rhythmik, puccineske Melodien für das Liebespaar, elegante Madrigalkunst, dabei farbig und bläserstark brillant instrumentiert, was Gianandrea Noseda und das Orchester des Teatro Regio lustvoll ausspielen, wozu nicht nur die Vorspiele zu jedem Akt, die Märsche, Tänze und Kampfszenen ausreichend Gelegenheit bieten; wie von der Liebe zu den drei Orangen gibt es von der Donna serpente eine Suite, frammenti orchestrali op. 50. Die drei Akte samt Vorspiel lassen trotz aller knalligen Rezitativ-Eile auch schmalen Raum für ernste Seiten und tiefe Gefühle. Das ist mehr als eine Farce. Arturo Cirillo mischt in seiner sehenswerten Inszenierung (Naxos 2.110631 DVD, mit einem informativen englischen Text von Ivan Moody) die Commedia dell’Arte-Aktionen mit stummen Spielern auf, halb Tänzer, halb Akrobaten, mit bloßem Oberkörper und in bunten Pluderhosen, die hier nicht nur neckisches Ornament sind, sondern die instrumentalen Momente, darunter den Traum des Altidòr, poetisch ausleuchten. Mit wehenden Mänteln, Turbanen, gerafften Röcken, Federkleidern, kunstvollem Haarputz und den Fantasiegewändern der Stegreifkomödie (Kostüme von Gianluca Falaschi) wird das sowohl märchenhaft illusionistische wie stilisierte Spiel zu einem raffinierten Kunstmärchen. Das ist durchgehend sehr hübsch anzusehen. Dario Gessatis Ausstattung mit ihren Kreisausschnitten und Halbbögen, den bläulichen Stimmungen und dem blutroten Mond (Licht: Giuseppe Calabrò) ist geschmackvoll, etwas plakativ vielleicht, im wahrsten Sinn des Wortes nicht sehr tief, was vermutlich den szenischen Gegebenheiten der Freilichtbühne beim Festival della Valle d’Itria geschuldet ist.

Es geht um die Menschwerdung der Tochter des Feenkönigs Demogorgón. Miranda hat sich in Altidòr verliebt, den König von Téflis, und ist dafür bereit, ihre Unsterblichkeit aufzugeben. So sei es. Unter einer Bedingung: Miranda darf dem Gatten ihre wahre Identität nicht enthüllen, und dieser darf sie nie verfluchen. Klappt das neun Jahre und einen Tag lang, wird Altidòr Miranda endgültig zur Frau erhalten. Andernfalls wird sie für 200 Jahre in eine Schlange verwandelt. Das wird im 20minütigen Prolog erzählt. Wir erinnern uns, dass Motive aus Gozzis Märchenspiele auch bei der Entstehung von Hofmannsthals Die Frau ohne Schatten eine Rolle spielten. Die Handlung setzt genau neun Jahre später ein, während der Höflinge und Feen, Ungeheuer, Amazonen, Soldaten, Priester und Ammen mit falschen Vorspiegelungen an den Nerven des Paares zehren. Tatsächlich verflucht der König seine Gattin. Das Lamento der Schlangenfrau und ihr Wechselgesang mit dem Chor, Responsorio, zu Beginn des dritten Aktes gehört zu den umfangreichsten geschlossenen Nummern der Oper, zugleich zu den schönsten. Carmela Remigio, vielleicht etwas hart im gläsernen Feenton, kann in dieser Recitar Cantando-Szene („Vaghe stelle dell’Orsa“) als Miranda ihre stilistische Vielseitigkeit ausspielen und eine eindrucksvolle Figur erschaffen. Wie das für alle Beteiligten gilt, Pierro Prettis heldisch angespitzten, pathetisch schmachtenden König Altidòr, Erika Grimaldis kriegerische Schwester Armilia, Sebastian Catanas Demogorgòn-Bariton und die vielen Buffi wie Francesco Marsiglia als Alditrúf, Marco Filippo Romano als Albrigór, Roberto de Candia als Pantúl, Fabrizio Paesano als Tartagil, dazu Anna Maria Chiuri als Feen-Schwester Canzàde und Kate Fruchterman als Smeraldina. Natürlich können alle Unbill beseitig, alle Nebel gelichtet und alle Prüfungen bestanden und fast ein Meisterwerk bestaunt werden.  Rolf Fath

BAROCKE TRAVESTIE

 

Bei den zahlreichen Einspielungen und Aufnahmen barocker Arien kann sich bei aller Begeisterung manchmal eine gewisse Monotonie einstellen, Arie um Arie, Affekt nach Affekt, Nummer folgt Nummer. Dabei wußte man schon vor 300 Jahren um den Reiz (und die Ökonomie) des Pasticcios, bei der man Opern aus vorhandenem Material so zusammenstellen wollte, daß sich der Eindruck eines Ganzen einstellen sollte. Die Doppel-CD mit dem irreführenden Titel Baroque Gender Stories ist so eine Arienzusammenstellung, die man als Ganzes wahrnimmt, als eine gelungene Kombination barocker Musik unterschiedlichster Herkunft, der man 85 Minuten sehr gerne zuhört. Es gibt Musik und Arien aus Siroe in den Versionen von Johann Adolf Hasse, Baldassare Galuppi, Georg Christoph Wagenseil, Tommaso Traetta und Georg Friedrich Händel, der auch mit Deidamia, Serse und Alcina vertreten ist, Semiramide riconosciuta von Giovanni Battista Lampugnani und Antonio Porpora sowie aus Antonio Vivaldis Orlando furioso und Hasses Achille in Scirro. Mit Mezzosopranistin Vivica Genaux und Countertenor Lawrence Zazzo hat man zwei routinierte Sänger gewählt, bei denen man weiß, was man an ihnen hat. Der gemeinsame Nenner der Arien-Auswahl ist die barocke Travestie, es geht um Figuren, die etwas verbergen oder enthüllen wollen und um Arien mit ambivalenter Situation. In manchen der ausgewählten Opern gibt es Frauenrollen, die sich als Männer verkleiden (z.B. Emire in Siroe, Amastre in Serse, Bradamante in Alcina, Semiramide) sowie den als Frau verkleideten Achill (Deidamia bzw. Achille in Scirro) und manche Rollen wurde im 18. Jahrhundert variabel von einem Mann oder einer Frau gesungen. Genaux und Zazzo singen beide Prima Donna und Primo Uomo, in zwei Duetten übernimmt Genaux die Männerrolle, Zazzo die Frau. Die Travestie in der Barockoper geschah ursprünglich aus Gründen der Sittlichkeit. Daß Kastraten die Bühnen der Barockopern dominierten lag in gewisser Weise daran, daß manche kirchliche Würdenträger singende Frauen als unsittlich empfanden. Außerhalb Roms war das anders und als dann die Kastraten verschwanden, transponierte man für einen Tenor oder Frauen sangen in Hosenrollen. Diese Werke erzählen weder „Gender Stories“ noch geht es um Geschlechterrollen – die Besetzung der Rollen hat nichts damit zu tun, kastrierte Männer sind kein drittes Geschlecht, das Verbergen der wahren Verhältnisse war nur temporär, Verwechslungskomödien und Bühnenwerke, in denen sich Frauen als Männer verkleideten, thematisieren binäre Beziehungen. Als CD-Titel wäre wohl Baroque Travesty zutreffender gewesen. Ob man mit Gender Stories mehr Geld verdienen kann, sei dahin gestellt, wichtiger ist hier die überzeugende Qualität der Konzeption und Interpretation, die diese Aufnahme über den Durchschnitt erhebt und bemerkenswerte Arien kombiniert, bspw. das verweifelte „Rendimi l’idol mio“ Galuppis, Wagenseils leidenschaftliches „Esci, crudel. d’affanno“, Traettas düsteres „Che furia, che mostro“ sowie viele weitere Arien und Duette. Genaux‘ Mezzosopran und Zazzos Alt-Counter ähneln sich in der Stimmfarbe und tragen weiter zur Geschlechterverwirrung bei, wobei es für den situationsbedingten Ausdruck beim Zuhören allerdings kaum interessant ist, ob es sich nun um Hosen- oder Rockrolle handelt. Genaux‘ Stärke bei Ausdruck und Koloratur sowie Zazzos durchdachte Stimmführung harmonieren und Wolfgang Katschner erweist sich hier als idealer Taktgeber, er läßt seine Lautten Compagney Berlin oft extrovertiert bzw. quasi handgreiflich (Lampugnanis „Tu mi disprezzi“) aufspielen. Eine Doppel-CD mit Schwung und Leidenschaft die durch die Zusammenstellung jenseits von Arien- und Affektroutine auftrumpft (2 CDs, harmonia mundi, 19075943092). Marcus Budwitius

Kontrastprogramm

 

Wieder überrascht die katalanische Sopranistin Nuria Rial bei ihrer Stammfirma dhm mit einem Recital der besonderen Art. Nach dem Programm „Muera Cupido“, das auf diesen Seiten besprochen wurde, wartet sie nun mit einer Anthologie, betitelt Mother“, auf, in welcher Arien des Barock mit Arabischen Gesängen kombiniert werden (19075936412). Die Arien stammen aus Werken von Händel und Telemann, beginnend mit Rezitativ und Kavatine aus Händels Kantate  Il pianto di Maria, die eigentlich Giovanni Battista Ferrandini zugeschrieben wird. Die Stimme der Sopranistin entfaltet sich hier mit besonderer Klarheit, Schlichtheit und Gefühlstiefe. Davon profitiert auch die Arie des First Woman aus Salomon, „Can I see my infant gor’d“, welche die ergreifende Bitte einer Mutter beschreibt, die ihr Kind zurückhaben möchte.

In der Arie „Komm, o Schlaf“ aus Telemanns Germanicus will sich Agrippina, die Mutter Caligulas, samt ihrem Schmerz in tiefer Nacht vergraben. Das folgende Duett zwischen Nitocris und Cyrus aus Belshazzar, „Great victor“, das Frieden und Versöhnung verspricht, bietet die Überraschung der CD, denn die renommierte syrische Mezzosopranistin Dima Orsho, der die Arabischen Gesänge anvertraut sind, vereint sich mit Nuria Rial auch in diesem Händel-Duett – allerdings mit befremdlicher Wirkung. Bei den arabischen Titeln, so dem syrischen Lied zum Karfreitag „Wa Habibi“, klingt ihre Stimme angemessen herb und kehlig. Darüber hinaus ist Orsho auch eine bekannte Komponistin. Eigens für diese Veröffentlichung hat sie das dreiteilige Duett „Ishtar – The greater Mother“ komponiert. Besungen wird in den Abschnitten „The Oracle“,The Fertile“ und „The Transcendent“ die Mutter der arabischen Welt, „Göttin aller Göttinnen“ genannt. Reizvoll mischen sich hier traditionelle europäische mit arabischen Instrumenten.

Die beiden Sängerinnen werden begleitet vom Ensemble Musica Alta Ripa unter Danya Segal. Instrumentalstücke wie die Musette aus Händel Il pastor fido, die Ouverture aus Israel in Egypt oder das Tamburino aus Alcina bilden stimmige Überleitungen zu den einzelnen Mutterbildern. Bernd Hoppe

Hochzeitsnacht im Büro

 

Jeder wird fündig in dieser Glyndebourne-Version von Madama Butterfly. Hochbetrieb in Goros Heiratsvermittlung. Die GIs können aus einer großen Zahl von Bildern in den Karteikästen an der Wand wählen. Einer der GIs, die bis 1952 in Japan stationiert waren und laut eines Kriegsbräutegesetzes ihre ausländischen Ehefrauen zu Amerikanerinnen machen durfte, ist B.F. Pinkerton. Bei „Goro’s“ schaut er sich das von einem Filmprojektor auf die kleine Leinwand geworfene Angebot „Yanks Marry Japanese Maids“ ebenso interessiert an wie die Japanerinnen, die sich durch eine solche Heirat und die praktischen Instruktionen („Learning tob e an American Wife“) ihren Traum vom American way of life zu erfüllen hoffen. „America for ever“: da grüßt die Freiheitsstatue.

Die alten schwarz-weiß Filme (Video Design: Ian William Galloway), die auch dem Liebesduett jede Sentimentalität rauben, gehören zu den gelungensten Momenten der Inszenierung. Mit allen Uneben- und Tumbheiten, die sich aus der Verlegung der Handlung in Goros Heiratsvermittlung ergeben, der gegenüber sich neben dem Tattoo-Studio praktischerweise ein Hotel befindet, erzählt Annilese Miskimmon Puccinis Japanische Tragödie in Glyndebourne, wo ihre 2016 on tour ausprobierte Inszenierung 2018 die Erstaufführung des Werks beim Festival markierte. Die Aufnahme (Opus Arte Bluray OA 807166) entstand am 21. Juni. Dabei bleibt Miskimmons Inszenierung, für die Nicky Shaw das japanische Büro mit allen historischen Büroutensilien ausstattete, reichlich hergebracht, wenngleich die irische Regisseurin zeigt, dass es sich nicht um ein Einzelschicksal handelte, wodurch der im dritten Akt von seinen Gefühlen übermannte Pinkerton nicht ganz als der skrupellose unsympathische Draufgänger erscheint. Er macht’s wie alle. Letztlich ein Geschäft mit Vorteil für beide Seiten, erhielten die ausländischen Ehefrauen der GIs doch durch den Bund die begehrte amerikanische Staatsbürgerschaft. Doch Pinkerton hat gar nicht die Absicht, seine Braut mitzunehmen, obwohl er ihr vor der unromantischen Hochzeitsnacht im Büro ein hübsches Kostüm schenkt. Also richtet sich Butterfly richtet sich in ein amerikanisches Puppenhaus ein.

Bereits 1983 hatte Ken Russel eine ähnlich amerikakritische Auffassung in seiner in den späten 1930er Jahren kurz vor Pearl Harbor spielenden und mit der Atombombe auf Nagasaki endenden Inszenierung geteilt, wobei seine theatralisch ungleich spannendere und krassere Umsetzung nicht die gebührende Aufmerksamkeit fand, da sie am Rand des Opernlebens beim Spoleto Festival in Amerika und Italien gezeigt wurde. Glyndebourne hat dafür die besseren Sänger. In der Titelrolle setzt Olga Busuioc in die Fußstapfen ihrer moldawischen Landmännin Biesu, die in den 1960er Jahren einen Preis als beste Cio-Cio-San errang. Busuioc ist im ersten Akt stimmlich noch ein bisschen flach, singt aber dann aber mit Beginn des zweiten Aktes mit großer Leidenschaft, Emphase, auch Brillanz, etwas spitz und scharf in „Un bel di vedremo“, doch üppig in „Trionfa il mio amor“ und mit zunehmender emotionaler Hingabe und Pathos, die rühren. Das ist Busuiocs Show. Joshua Guerreros Pinkerton sieht auf die Ferne ein bisschen aus wie Travolta, er singt mit Druck und Geradlinigkeit, gleicht fehlende Süße und spezifisches Timbre durch sensible Töne und gesteuerte Leidenschaft aus und punktet durch die Inbrunst, mit er vom „Fiorito asil“ Abschied nimmt. Vielleicht kommt im Duett auch noch keine richtige Stimmung auf, da sich Goro im Hintergrund herumtreibt und Geldscheine zählt,

Der Bassbariton Michael Sumuel scheint als Sharples nicht richtig besetzt, dafür ist die amerikanische Mezzosopranistin Elizabeth DeShong eine stimmlich geradezu luxuriöse, sehr fein klingende und behutsame Suzuki, und Carlo Bosi gibt dem Goro eine herrlich feiste Fratze. Omer Meir Wellber hält das streng klingende London Philharmonic Orchestra an den gefährlichen Stellen zurück, steuert aber bei den Bildern von einer Schiffsüberfahrt zu Beginn des zweiten Aktes Puccinis Melos pathetisch aus, verleiht dem Summchor eine schöne Melancholie und gibt der Musik ansonsten eine nüchterne Dringlichkeit.

Im zweiten Akt hat Cio-Cio-San den amerikanischen Lebensstil völlig angenommen, trägt offenbar ihr Hochzeitsgeschenk, ein türkisfarbenes Kostüm, und schminkt sich wie eine amerikanische Hausfrau. Überhaupt ist im Häuschen, dessen Rückseite wie eine Schwibbogen-Sägearbeit aussieht, alles in bester amerikanischer 50er Jahre Nüchternheit eingerichtet. Einschließlich der amerikanischen Flagge. Nur beim garstigen Goro fährt die sittsame Hausfrau aus der Haut und attackiert ihn mit ihren Absätzen. Wie ein Operetten-Husar wirkt Simon Mechlinskis unterbesetzter Yamadori, reizend ist der kleine Rupert Wade als Sorrow, im Kostüm mit Hütchen und Handtasche – allerdings in rot – wie eine Doppelgängerin Cio-Cio-Sans erscheint die toughe Kate von Ida Ränzlov. Aber Miskimmon schärft die Tragödie nicht weiter zu, setzt in den gesofteten Farben auf der Bühne die Ästhetik ähnlich gearteter Film-Melodramen fort.  Rolf Fath

Von der Kunst der scheinbaren Leichtigkeit

 

Nur absoluten Fans wird die große Elisabeth Schwarzkopf auch als Operettensängerin in Erinnerung sein, gilt sie doch als die Liedersängerin ihrer Generation und darüber hinaus als Mozart- und Strauss-Interpretin par excellence. Aber die herrlichsten und verführerischsten Operetteneinspielungen, komplett und einzeln-arig, sind unter den frühen Aufnahmen der Sängerin zu finden, namentlich unter Otto Ackermann in den Fünfzigern in London mit einem vom Ehemann Legge handverlesenen Ensemble. Dazu kam die die Fledermaus unter Herbert von Karajan 1955. Neben der wunderbaren und hochsuggestiven Einzel-Arien-Operetten-LP/CD mit solchen Perlen wie Giuditta, Der Vogelhändler, Die Dubarry, Casanova u. a. (von 1959, alle Columbia) sind es die Gesamtaufnahmen der Fünfziger, Der Zigeunerbaron, Die Lustige Witwe (I)Das Land des Lächeln, Die Fledermaus  sowie Eine Nacht in Venedig (ach dies köstliche „Frutti di mare..“), auf denen das ganze Talent des unerreicht Scheinbaren sichtbar wird (Die Lustige Witwe von 1963 unter Lovro von Matacic ist da schon recht reif und nicht mehr so spielerisch, man nimmt mehr an der harten Arbeit teil).

Das DELBARRE Abendkleid von Elisabeth Schwarzkopf: Abend- oder Ballkleid aus gelber Moiré-Seide, ca. 1897. Londoner Label: (Frau) „Delbarre, Elizabeth Street, 73. Eaton Square“, ca. 1897; getragen von Elisabeth Schwarzkopf, abgebildet in „The Woman in Fashion“, 1949 von Doris Langley-Levy Moore,  bei Batsford; 1St Edition edition (1949);  LXXI und LXXII, Seite 132 / in Antique Gown/ s. auch  Amazon; Joseph A. Admire schreibt: The hook for this long-out-of-print book is that the vintage fashions, mainly from the 19th century, are modelled by the British celebrities of the day. Thus, you get luminaries such as Vivien Leigh and a young Vanessa Redgrave dressed in the height of Regency, Victorian, Edwardian and flapper costumery. Numerous high-quality full-page photos in B&W (photographed by Felix Fonteyn, husband of Margot Fonteyn, who also appears as one of the models). Every outfit is accompanied by a page-length discussion. Highly recommended as a fashion and classic-film collectible!

Kunst ist Können und nicht Realität – die Schwarzkopf macht uns glauben, sie sei diejenige selbst, deren Arien und Couplets sie singt. In diesem Moment ist sie die fremde Rolle, die mit ihr als reale Person herzlich wenig zu tun hat. Sie verfügt über das Geheimnis, uns eine lebendige Gestalt vorzustellen, die in diesem Moment der Präsentation (und die war ganz sicher keine spontane, sondern hart erarbeitete) uns völlig überzeugt und gefangen nimmt. Sicher, mancher würde andere vorziehen – ich z. B. Sena Jurinac als Saffi, die erdiger und „realer“ scheint. Und der Schwarzkopf wird immer wieder ihre „Manier“ vorgeworfen, eine gewisse „Zickigkeit“ – was blanker Unsinn ist, denn die künstlerischen Ausdrucksmittel eben dieser Sängerin führen zu eben diesem, für mich wie für viele, überzeugenden Ergebnis. Das gilt auch für andere operettennahen Rollen wie ihre hochpersönliche Arabella und selbst für die recht späte und nur durch die Absage von Maria Callas zustande gekommene Giulietta (Les Contes d’Hoffmann  von 1965 unter Cluytens), die noch einmal (und auch da für mich unerreicht) von ihrer großen Kunst der scheinbaren Sinnlichkeit profitiert.

Nachstehend haben wir – apropos Offenbach und sein Jubiläumsjahr 2019 (gewiss ein etwas angestrengtes á propos) – ein Gespräch „ausgegraben“, das Schwarzkopf-Kenner Thomas Voigt mit ihr zum Thema Operette geführt hat und das im März 1995 in der Opernwelt erschien. Es gibt noch einmal die immense Einsicht dieser großen Sängerin in ihre Kunst wider. Danke Thomas für den Text!

 

Elisabeth Schwarzkopf: die Operetten-LP bei Columbia

Frau Schwarzkopf, Sie haben einmal gesagt: Eine Operette gut aufzuführen, ist beinahe noch schwieriger als eine Mozart-Oper. Was macht denn das Leichte so schwer? Operette verlangt viel mehr Improvisation. Das heißt, dem Zuhörer soll alles improvisiert erscheinen, aber es darf natürlich niemals improvisiert sein. Und dazu braucht man vor allem einen erstklassigen Dirigenten, der dem Sänger Freiheiten läßt, der diese Rubato-Kunst, dieses „give-and-take“ beherrscht. Einer, der das fabelhaft gekonnt hat, war Otto Ackermann, mit dem wir den Großteil unserer Operetten-Aufnahmen gemacht haben. Wir Sänger durften uns Freiheiten herausnehmen, mußten aber immer im Rahmen bleiben. Und das ist halt die große Kunst: genau zu wissen, wie weit die Freiheit gehen darf.

 

Diese Aufnahmen, die ihr Mann Walter Legge in den 50er und 60er Jahren produziert hat, gelten nach wie vor als Maßstab. Es sind überaus feinsinnige, kunstvolle Interpretationen – vielleicht sogar Verfeinerungen der Stücke. Nein, nein, diese Qualität steckt schon in den Stücken; es steht alles da, man muß es nur herauslesen. Und selbstverständlich haben wir Operette mit derselben Sorgfalt – auch mit derselben Technik – gesungen, mit der wir Mozart und Strauss gesungen haben. Jedenfalls haben wir uns bemüht, unsere Partien mit der größtmöglichen vokalen Eleganz abzuliefern. Das können Sie auch in den sogenannten Buffopartien hören, die sonst oft in den Sprechgesang abrutschen. Das hat bei uns der Erich Kunz gesungen, und er hatte nun wirklich eine bildschöne, sinnliche Stimme.

 

Also könnte jeder gute Mozartsänger auch mit Erfolg Operette singen? Oder braucht man nicht doch „das gewisse Etwas“? Natürlich muss der Witz, die Ironie und all das, was zwischen den Noten steht, dauernd anklingen. Das war ja bei den Aufnahmen unser Bestreben: An Ausdruck hörbar zu machen, was man sonst eher nur im Gesicht und in der Gestik sehen würde – so dass man die Figuren vor Augen hat, wenn man sie nur hört. Eine klangliche Dramaturgie vor dem Mikrophon, das war das ZieI. Und das heißt nicht, dass da etwa eine Stimme zurechtfrisiert wurde. Mein Mann wollte immer, dass jede Stimme so klingt, wie sie live in einem Haus mit sehr guter Akustik gehört wird. Und da können Sie zum Beispiel auf den Aufnahmen hören, dass meine Stimme gar nicht riesig war.

 

Elisabeth Schwarzkopf: LP-Ausgabe des „Land des Lächelns“/ Columbia

Hätten Sie die Rosalinde oder die Lisa in Lehárs Land des Lächelns denn auch live singen können – und wollen? Die Rosalinde hätte ich schon gerne auf der Bühne gesungen, mit einem Dirigenten, der die Möglichkeiten meiner Stimme hätte einschätzen und das Orchester durchsichtig machen können. Da kommt es eben darauf an, daß der Dirigent weiß, bei welchen Stellen und in welcher Lage der Sänger Gefahr läuft, vom Orchester zugedeckt zu werden.

 

Braucht man für die Lisa nicht fast schon eine Tosca-Stimme? Nicht ganz. Man kann sie schon mit einer schlanken, biegsamen Stimme singen. Viele große Operetten-Sängerinnen haben ja in der Oper das Repertoire von der Susanna bis zur Gräfin gesungen haben. Nehmen Sie zum Beispiel Esther Rethy, die eine wundervolle Sophie im Rosenkavalier war und die später dann das große Operetten-Fach gesungen hat.

 

Lehárs erste Lisa war Vera Schwarz, die unter anderem eine Lady Macbeth singen konnte. Und sie konnte auch Mozart singen. Aber das ist eine große Ausnahme. Und ich glaube, dass es nicht so sehr auf die Größe der Stimme ankommt wie auf den Umfang. Denken Sie zum Beispiel an den Csárdás der Rosalinde. Da gibt es wohl kaum eine Sängerin, die sich nicht davor fürchtet – weil man außer der Höhe auch eine grundsolide Mittellage und eine klingende Tiefe braucht.

 

Elisabeth Schwarzkopf: „Eine Nacht in Venedig“/ Columbia-LP

Haben Sie überhaupt jemals Operetten auf der Bühne gesungen? Nur in meinen Anfängerjahren in Berlin. Da war zum Beispiel die Arsena im Zigeunerbaron, wo ich als Einlage den Frühlingsstimmenwalzer singen durfte. Und ich glaube, ich habe auch einmal die Adele gesungen.

 

Spaß ist für Sie ein Reizwort. Aber gehört nicht die Freude, die Lust am Singen bei der Operette einfach dazu? Nein, die Freude kommt immer erst hinterher, wenn es einem gelungen ist, dem Stück gerecht zu werden. Ich habe nur ein einziges Mal in meinem Leben mit Freude gesungen, und das in Così fan tutte unter Josef Krips in Chicago. Selbstverständlich müssen Sie die Freude, die Lust, das Lachen und das Lächeln in die Stimme legen können – aber das ist etwas ganz anderes. Die Lust am Singen ist eher den Italienern, den Spaniern und den Slawen gegeben – aber nicht uns Nordeuropäern. Und das kommt sicher von der Sprache her.

 

Ihre Operetten-Aufnahmen haben im Ausdruck. vor allem eines: Ironische Distanz. Diesen etwas süffisanten, raffinierten, ironischen Ton, den man für die Operette unbedingt mitbringen muß, hatte ich auf Platten von Fritzi Massary und Yvette Guilbert gehört.

 

Elisabeth Schwarzkopf: auf mehreren Schellacks der Querschnitt vom „Wiener Blut“ mit Rupert Glawitsch und den Kräften des Deutschen Opernhauses Berlin unter Walter Lutze bei Telefunken

Die aber in Stimme und Ausdruck. ganz anders waren: chansonhaft, fast kabarettistisch. Natürlich haben Sänger dieser Generation ihre Stimme anders eingesetzt, als wir sie dann später eingesetzt haben, aber sie hatten eine grundlegende Stimmschulung. Was ja auch notwendig war, denn sie haften ja täglich auf der Bühne zu singen – und ohne Mikrophone, wohlgemerkt. Und natürlich auch ohne klammheimliche Verstärkung seitens der Tontechnik, wie es heute in manchen Opernhäusern fast schon an der Tagesordnung ist – ein Betrug am Publikum, für den ich keine Worte finde. Das ist ein Verlust an Integrität, wie er schlimmer nicht sein kann.

 

Was sind, außer der Improvisationskunst, für Sie die Kriterien für eine gute Operetten-Aufführung?  Ein Schlüsselbegriff ist sicher „Geschmack“ – leider ein Wort, das aus dem heutigen Sprachgebrauch fast verschwunden ist. Dazu könnte man einiges sagen. Doch auf Regisseure und Inszenierungen will ich in diesem Zusammenhang lieber nicht zu sprechen kommen. Wenn Sie Glück haben, werden Sie für eine Operetten-Produktion schon noch einen großen Dirigenten und auch geeignete Sänger finden; aber in erster Linie brauchen Sie einen großen Regisseur, der das Können hat – und eben Geschmack. Wie zum Beispiel Giorgio Strehler. Von dieser Qualität müßten Operetten-Inszenierungen sein.

 

Elisabeth Schwarzkopf: die späte „Lustige Witwe“ von 1963 bei EMI, vom Coverfoto oben ein Ausschnitt

Nun läßt sich nicht immer alles so dezent und diskret zeigen. Nehmen Sie den zweiten Akt der Fledermaus: Müßte da nicht ein Regisseur etwas deutlicher werden, indem er zeigt, was da mit den braven Bürgern passiert? Ach, so viel passiert auf dem Ball ja gar nicht. Natürlich ist da die große Verbrüderung am Schluß – aber da spricht eben die Musik die Hauptsprache, und in der Musik ist wirklich nichts Obszönes drin.

 

Und. was ist mit Zweideutigkeiten wie in Fritzi Massarys Aufnahme von „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben“? Da besteht der Reiz gerade in der Andeutung. Und das ist für mich fast das Hauptkriterium für eine gute Operetten-Aufführung: Andeuten – und nicht mit dem Holzhammer arbeiten. Da kann ich nur mit Hofmannsthal sagen: „Und in dem wie, da liegt der ganze Unterschied.“

 

(aus: Opernwelt, März 1995; mit sehr freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion Opernwelt)

Überwältigendes

 

Nobel geht die Welt zugrunde! Dieses Zitat des russisch-ukrainischen Schriftstellers Nikolai Gogol mag auf den ersten Blick nicht unpassend erscheinen für die neue Luxusausgabe, welche das Eigenlabel der Berliner Philharmoniker vorlegt: Mit der 22 hybride SACDs umfassenden Hardcover-Edition Wilhelm Furtwängler: The Radio Recordings 1939-1945 ehrt das führende Orchester Deutschlands seinen vermutlich bedeutendsten Chefdirigenten und beschränkt sich gleichzeitig doch bis auf eine einzige Ausnahme auf die berühmten Kriegsaufnahmen, die unter Kennern oft als seine allerbesten angesehen werden. Um es gleich vorwegzunehmen: Wirklich Neues wird man hier gleichwohl nicht vorfinden. Furtwängler-Fans kennen die hier vorgelegten sämtlichen Rundfunkmitschnitte der Kriegsjahre seit geraumer Zeit in unterschiedlichen Ausgaben und Klangqualitäten. Also lediglich alter Wein in neuen Schläuchen? Nicht ganz!

Zunächst aber noch einige grundsätzliche Ausführungen. Enthalten sind 42 Werke in Produktionen der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (RRG), wobei die Jahre 1942 bis 1945 eindeutig den Schwerpunkt bilden, nämlich 21 der 22 SACDs ausmachen. Auf der ersten CD sind die einzig auf Schellack erhaltenen Konzerte vom 19. Jänner 1939 – und somit die einzige Vorkriegseinspielung (Furtwänglers eigenes Klavierkonzert mit Edwin Fischer) –sowie vom 13. September 1939 – also kurz nach Kriegsbeginn (Händels Concerto grosso Nr. 5 sowie Beethovens fünfte Sinfonie) – enthalten. Bereits hier zeigt sich ein Charakteristikum der Edition, haben sich doch nicht alle seinerzeit im Konzert aufgeführten Werke als Tonaufnahme erhalten. So ist die im erstgenannten Konzert ebenfalls dargebotene erste Sinfonie von Beethoven genauso verschollen wie etwa drei Minuten im Finalsatz der fünften Sinfonie im letzteren. Bei den übrigen enthaltenen Aufnahmen handelt es sich durchgehend um Tonbandproduktionen. Bereits auf dieser ersten SACD zeigt sich der Gewinn durch die Neuausgabe, ist die bisher klanglich doch nur arg desolat überlieferte Einspielung hier doch erstmals trotz aller Einschränkungen halbwegs genießbar dokumentiert.

Die Tonband-Aufnahmen sind den bekannten Überspielungen klanglich per se überlegen. Im Allgemeinen ist das Klangbild räumlicher (beinahe pseudo-stereophonisiert) und natürlicher als in den bislang landläufig bekannten offiziellen Ausgaben der Deutschen Grammophon Gesellschaft und von Melodija. Letzteres Label legte viele der Jahrzehnte lang verloren geglaubten Furtwängler-Aufnahmen, die in die Sowjetunion verschleppt worden waren, erstmals vor. Doch auch gegenüber ambitionierten neueren Ausgaben von Labels wie Tahra oder der Société Wilhelm Furtwängler können diese Neuauflagen punkten. Störgeräusche wurden behutsam gefiltert, was in den meisten Fällen durchaus als gelungen bezeichnet werden darf; nur ab und an wäre weniger vielleicht mehr gewesen, da sich besonders an den leisen Stellen gewisse Klangartefakte der entfernten Publikumsgeräusche erhalten haben. Dies mindert den grundsätzlichen Wert dieser Vorgehensweise allerdings nur marginal.

Furtwängler dirigiert die Berliner Philharmoniker/ Archiv Berliner Philharmoniker

Das hochinformative, nicht weniger als 184 Seiten umfassende Begleitbuch (welches wirklich die Bezeichnung Buch verdient) listet zunächst sämtliche hier berücksichtigten Konzerte minutiös auf und spart, grau unterlegt, auch die als Toneinspielung verschollenen Werke der Programme nicht aus. Diese Akribie ist absolut begrüßenswert und hebt sich wohltuend ab von einer gewissen Schludrigkeit, wie sie bei neueren Editionen der letzten Zeit häufiger zu beobachten war. Überhaupt macht diese luxuriöse Box einiges her und rechtfertigt damit letztlich auch den hohen Anschaffungspreis, bei dem umgerechnet gut zehn Euro pro SACD aufgewendet werden müssen. Insofern versucht sich das Eigenlabel der Berliner Philharmoniker bewusst von den ramschartig auf den Markt geworfenen Mammutboxen der Majors abzuheben. Klasse statt Masse. Dies gilt auch für die Spielzeiten der SACDs, die durchschnittlich nur etwa 50 Minuten Musik enthalten, dabei aber die Geschlossenheit und den Zusammenhang der einstigen Konzertprogramme wahren.

Zur künstlerischen Qualität der hier enthaltenen Aufnahmen muss im Grunde genommen nicht mehr allzu viel gesagt werden. Sie zu preisen, hieße Eulen nach Athen tragen. Auf der zweiten SACD ist ein reines Richard-Strauss-Programm enthalten mit den Vier Liedern mit Orchesterbegleitung (Solist: Peter Anders) und dem Don Juan. Auf SACD 3 hat man eine bislang vornehmlich in der Filmfassung bekannte Darbietung des Meistersinger-Vorspiels vor versammelten Arbeitern der AEG-Fabrik in Berlin vom 26. Februar 1942 berücksichtigt. Den Rest des Programms machen Schumanns Klavierkonzert (mit Walter Gieseking) sowie Beethovens Siebente aus, wobei hier unsicher ist, ob letztere ebenfalls auf den März 1942 datiert werden kann oder nicht doch eher vom Oktober/November 1943 stammt. Diese Unklarheiten verdeutlichen die schwierige Quellenlage, deren Aufarbeitung trotz intensiver Bemühungen nach wie vor an ihre Grenzen stößt. Dem Furtwängler’schen Feuerwerk tut dies freilich keinen Abbruch, sind gerade diese Tondokumente der fürchterlichen letzten Kriegsjahre doch in ihrer existenziellen Eindringlichkeit niemals überboten worden, nicht einmal vom Maestro selbst. Die meisten Mitschnitte stammen aus der bei Kriegsende leider völlig zerstörten Alten Philharmonie in Berlin, die im Booklet großartig in Farbe rekonstruiert wurde und einen vagen Eindruck ihrer einstigen Pracht vermittelt. Dort wurde auch die vielleicht berühmteste Furtwängler-Aufnahme überhaupt eingespielt: Beethovens Neunte vom März 1942 mit dem Solistenquartett Tilla Briem, Elisabeth Höngen, Peter Anders und Rudolf Watzke sowie dem Bruno Kittelschen Chor, der wenig später im selben Jahr 1942 in Deutscher Philharmonischer Chor umbenannt wurde. Die Unerbittlichkeit der Darbietung macht dieses Tondokument zum Zeitdokument ersten Ranges, mutet der Beethoven-Schiller’sche Humanismus doch kurz nach der berüchtigten Wannseekonferenz geradezu grotesk an. Eine zuweilen schwer erträgliche Angelegenheit, die nur wohldosiert konsumiert werden will, die dafür aber umso nachhaltiger wirkt. Quelle ist nach wie vor die Kopie des Moskauer Rundfunks aus dem Konvolut Russland des Reichsrundfunk-Originals, welches bis zum heutigen Tage nicht wiederaufgetaucht ist. Gleichwohl hat man hier klanglich das Menschenmögliche herausgeholt und den künstlich hinzugefügten Hall reduziert.

Furtwängler dirigiert die Berliner Philharmoniker in der Alten Philharmonie Berlin/ Foto Rudolf Kessler/ Archiv Berliner Philharmoniker

Es ist in jedem Fall unendlich schade, wieviel an Ton-Aufnahmen der RRG aus dieser Zeit vermutlich unwiederbringlich verlorenging. Von den etwa 250 zwischen 1942 und 1945 produzierten Stereo-Aufnahmen (!) haben sich nur einige wenige erhalten, darunter das fünfte Beethoven‘sche Klavierkonzert mit Walter Gieseking, allerdings nicht unter Furtwänglers Stabführung und daher hier nicht berücksichtigt. Wie der Begleitband ausführt, ist es sicher bezeugt, dass die RRG bei den letzten Bayreuther „Kriegsfestspielen“ von 1944 eine komplette Aufführung der Meistersinger von Nürnberg unter Furtwängler per Übertragungswagen stereophon aufzeichnete. Auch diese Bänder sind verschollen. Dieses Malheur kann getrost zu den größten Unglücksfällen in der Geschichte der Tonaufzeichnung gezählt werden.

Zu den besonders hervorzuhebenden Aufnahmen dieser Box muss selbstredend auch die legendäre Interpretation der fünften Sinfonie von Bruckner gerechnet werden, welche im Oktober 1942 in der Philharmonie mitgeschnitten wurde. Wie sehr sich diese völlig säkularisierte Darbietung dieser Klangkathedrale doch vom weihrauchgetränkten Bruckner-Bild unterscheidet, das seinerzeit eigentlich dominierte. Auch Furtwänglers eigene, ein knappes Jahrzehnt später entstandene Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern wirkt im direkten Vergleich geradezu handzahm.

Dass sich Furtwängler auch für zeitgenössische Komponisten einsetzte, belegt unter anderem die Einspielung der zweiten Sinfonie von Ernst Pepping (November 1943) und des Hymnischen Konzerts für Orchester und Orgel mit Sopran- und Tenorsolo des heute praktisch vergessenen Heinz Schubert (Dezember 1942). Mit Erna Berger und Walther Ludwig standen – wie seinerzeit üblich – hochkarätige Solisten zur Verfügung. Ungewohnt auch Furtwänglers Beschäftigung mit der Musik des nordischen Komponisten Jean Sibelius, die immerhin in einigen Tonaufnahmen mündete. Der inkludierte Konzertmitschnitt vom Februar 1943 überliefert der Nachwelt eine der packendsten Aufnahmen der Tondichtung En saga sowie des Violinkonzerts (Solist: Georg Kulenkampff). Gerne hätte man den großen Furtwängler auch zumindest bei der zweiten Sinfonie des Finnen erlebt, die er augenscheinlich aber niemals einstudiert hat. Dominant freilich trotz allem Ludwig van Beethoven, dessen Werke unter Furtwänglers Stabführung besonders gut dokumentiert sind. Zu den schon genannten Aufnahmen gesellen sich noch die vierte Sinfonie (zweifach: einmal ohne, einmal mit Publikum), eine weitere Einspielung der fünften Sinfonie (diesmal vollständig), die Pastorale, die Coriolan-Ouvertüre sowie das vierte Klavierkonzert (mit Conrad Hansen).

Trotz aller Bemühungen: Der Kopfsatz der einzigen Furtwängler-Aufnahme der sechsten Sinfonie von Bruckner (November 1943) bleibt auch hier verschollen. Hiervon ebenfalls stark betroffen das Schumann-Violinkonzert (Solist: Pierre Fournier) aus demselben Mitschnitt, das einzig im Finalsatz komplett erhalten ist. Das Nämliche gilt für Furtwänglers letztes Konzert mit den Berliner Philharmonikern vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, welches am 22./23. Jänner 1945 im Berliner Admiralspalast stattfand. Einzig der Schlusssatz der ersten Brahms-Sinfonie hat sich hiervon erhalten. Auch hier gilt: Besser hat Furtwängler das wohl nie dirigiert.

Furtwängler dirigiert die Berliner Philharmoniker: die im Krieg zerstörte Philharmonie/ Archiv Berliner Philharmoniker

Zu den bedeutendsten daneben enthaltenen Ton-Dokumenten müssen auf jeden Fall die Unvollendete (Dezember 1944) und die Große C-Dur (Dezember 1942) von Schubert, die vierte Sinfonie von Brahms (Dezember 1943), die neunte Sinfonie von Bruckner (Oktober 1944) sowie das zweite Klavierkonzert von Brahms mit Edwin Fischer (November 1942) wie auch Adrian Aeschbacher (Dezember 1943) gerechnet werden. Zu Vergleichszwecken lässt sich auch Mozarts Sinfonie Nr. 39 Es-Dur KV 543 – die dem Dirigenten offenbar nahegehendste Mozart-Sinfonie –, die doppelt berücksichtigt werden konnte (1942 oder 1943 und Februar 1944), heranziehen.

Ein informatives, gut 13-minütiges, von Gert Fischer geführtes Interview mit dem Tonmeister Friedrich Schnapp aus den 1970er Jahren rundet die Edition schließlich ab. Summa summarum kann für diese Prunkausgabe nur die Höchstnote vergeben werden, da sie in allen Belangen vorzüglich abschneidet und eine spürbare Verbesserung gegenüber im Grunde genommen allen bisherigen Ausgaben bringt, was den hohen Preis erklärt und letztlich auch rechtfertigt. Ein wenig Dekadenz darf also sein. Daniel Hauser

Dank an Stefan Stahnke für die Bereitstellung der Fotos aus dem Archiv der Berliner Philharmoniker; Foto oben: Wilhelm Furtwängler dirigiert die Berliner Philharmoniker.

Warum?

 

Angesichts der überwältigenden Konkurrenz an Faust-Aufnahmen: Sag niemals nichts. Sonst müsste man sagen, dass nichts, aber auch rein gar nichts für diesen Faust spreche, den Ville Matvejeff im November 2016 im Kroatischen Nationaltheater Ivan Zajc in Rijeka wie in guten alten Zeiten in zweiwöchigen Aufnahmesitzungen einspielte und abschließend am 16.11. 2016 konzertant aufführte. Vermutlich auch nicht mehr der Preis, gibt es doch alle wiederveröffentlichten Referenzaufnahmen zum gleichen Preis der Naxos-Aufnahme (3 CD 8.66.456-58). Auch die Marketing-Aussage auf der Rückseite hat nichts zu sagen, „Heard here in ist 1864 London version with an additional air and without spoken Dialogue or ballet, Faust represents 19th-century French opera at its peak“. Es handelt sich schlichtweg um die „übliche“ Fassung, die man auf Bühnen oder CD erlebt. Doch, was heißt im Fall dieser „Tragikomödie der Umarbeiten“ und im Vorfeld der Uraufführung von 1859 arg gerupften Oper schon „üblich“. Die Sprechtexte überlebten mit Müh und Not die erste Saison und wurden 1860 durch Rezitative ersetzt, und die später eigens für den Umzug des Faust vom Théâtre Lyrique 1869 an die Opéra komponierte Ballettmusik – rund 20 Minuten Musik – teilt das Schicksal nahezu aller für dieses Institut eingefügten Ballettmusiken. Auf „Avant de quitter ces lieux“, die sogenannte Invocation, will seit Charles Santley, für den Gounod die Arie eingefügt hatte, allerdings kein Bariton mehr verzichten.

Auch nicht Lucio Gallo, der neben Carlo Colombara und Diana Haller der einzige mir bekannte Name auf dieser Aufnahme ist. Gallos Engagement befremdet einigermaßen. Warum ruft man einen namhaften italienischen Bariton nach Rijeka, der für die Partie (mittlerweile) absolut ungeeignet ist, ältlich, unstet und hohl klingt? Würde ich ihn in Rijeka oder in Ljubljana hören, an dessen Slowenischem Nationaltheater er ebenso oft wie am kroatischen Nationaltheater in Rijeka auftritt, wäre ich vermutlich ziemlich angetan von Aljaz Farasin. Auf der CD ermüden das gleichförmige Einheitstimbre und die ebenso monochrome, irgendwie auch provinziell phantasielose Vortragsweise doch sehr rasch. Carlo Colombara liegt der Méphistophèlés wunderbar in der Kehle, Raffinement, Eleganz oder satanische Bonhomie strahlt er nicht aus, dafür verfügt er über ein ordentliches Französisches, gute Höhe und Tiefe.

Für Dina Haller ist das ein Heimspiel. Die in Stuttgart engagierte Mezzosopranistin, die kürzlich bei „Rossini in Wildbad“ einen ausgezeichneten Tancredi sang, hat in Rijeka auch schon die Adalgisa ausprobiert. Hier singt sie mit schönem Timbre, klirrigen Farben und nervös raschem Vibrato einen sinnlichen Siébel. Eine positive Überraschung ist Marjukka Tepponnen, die der finnische Dirigent Ville Matvejeff mit nach Rijeka gebracht hat, wo der 33jährige seit 2014 als Principal Guest Conductor and Music Advisor fungiert und das Haus zuletzt mit Elektra beben ließ. Tepponen war in der Bregenzer Turandot eine der Liùs, singt Fiordiligi, Mimi, Tatjana; man hört einen lyrischen, zunächst wenig charmant klingenden Koloratursopran mit festen, etwas schrillen Koloraturen und sicherer Höhe, der im vierten und fünften Akt immer souveräner klingt und große Eindringlichkeit erreicht. Es wäre sicherlich nett gewesen, diesen Faust im Helmer und Fellner-Bau der kroatischen Hafenstadt zu hören, doch für den internationalen CD-Markt ist das zu wenig.  Rolf Fath

Klangvoll, aber Konsonanten-arm

 

Unter dem Titel Lieder bringt Decca eine neue CD mit Renée Fleming heraus, welche Dokumente von 2010 und 2017 kombiniert, dabei auf Studio- und Live-Aufnahmen zurückgreift (4832335). Den ersten Teil der CD nehmen Lieder von Johannes Brahms und Robert Schumann ein, die im Januar 2017 in Budapest eingespielt wurden und von Hartmut Höll an einem Steingraeber-Flügel begleitet werden.

Unter den acht Liedern von Brahms finden sich so bekannte wie „Wiegenlied“. „Ständchen“ und „Die Mainacht“, aber auch Seltenes wie „Lerchengesang“ oder „Des Liebsten Schwur“. Das spricht für die Sängerin, sich bei der Auswahl des Programms nicht nur auf Gängiges zu stützen, sondern auch Pfade abseits des sattsam Populären zu beschreiten.

Im „Wiegenlied“, dem Auftakt des Programms, produziert die Solistin vor allem noble Töne, ist aber weniger auf Textausdeutung bedacht – ein Fakt, der ein generelles Problem in ihrer Interpretation darstellt. Zuweilen ist die Diktion so verwaschen, dass man die Worte kaum verstehen kann („Lerchengesang“). Gelegentlich machen sich auch ein Zug zum Manierismus und ein Hang zur Larmoyanz bemerkbar. Gut eingefangen wird die melancholische Trauer der „Mainacht“, der Sopran mit seinem schimmernden Leuchten findet hier zu bester Wirkung. Dagegen kommt das „Vergebliche Ständchen“ in seiner Munterkeit und Lautmalerei etwas aufgesetzt daher.

Danach folgt Schumanns Zyklus „Frauenliebe und -leben“, bei dem sich die Sopranistin gegen eine schier unübersehbare Zahl von Interpretationen behaupten muss. Der frauliche Charakter von Renée Flemings Sopran ist diesen Liedern sehr angemessen. Man vernimmt innige Töne, emphatische Aufschwünge und Momente von tiefstem  Schmerz. Höll begleitet die Sängerin bei diesem Zyklus besonders akzentuiert, setzt vor allem in den letzten Liedern der Sammlung ganz eigene Akzente. Die harschen Akkorde bei „Nun hast du mir den ersten Schmerz getan“ wirken geradezu verstörend.

Den stärksten Eindruck hinterlässt ein Live-Dokument vom Oktober 2010 aus der Münchner Philharmonie am Gasteig. Unter Christian Thielemann singt Fleming, begleitet von den Münchner Philharmonikern, Mahlers „Rückert-Lieder“. Die Stimme klingt hier betörend, flirrt und gleißt in der Höhe, schmeichelt mit ihrer cremigen Textur. In der nicht festgelegten Reihenfolge der fünf Lieder setzt  Fleming „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ an den Schluss und  findet dafür einen berührend entrückten Ton, In Thielemann und den Münchner Philharmonikern hat sie kongeniale Begleiter. Bernd Hoppe

folgenloses vergessen

 

Im Jahr 2005 profilierte sich die Staatsoperette Dresden mit einer überregional vielbeachteten Konferenz, die den Titel Operette unterm Hakenkreuz trug. Sie fiel zusammen mit der damals noch jungen Intendanz von Wolfgang Schaller, der sich explizit für die einstmals als „entartet“ gebrandmarkten Jazzoperetten der Weimarer Jahre einsetzte – lange bevor Barrie Kosky das tat und TV-Serien wie Babylon Berlin die 1920er-Jahre wieder ganz groß herausbrachten. Leider hatten die u. a. von Dirigent Ernst Theis betreuten Produktionen und Rekonstruktionen von Emmerich Kálmáns Herzogin von Chicago (1928), Paul Ábraháms Viktoria und ihr Husar (1930) und Ralph Benatzkys Im weißen Rössl (1930) nicht die Impulswirkung der späteren Komische-Oper-Projekte, weil sie in einer teils erschreckenden Provinzialität (musikalisch, besetzungstechnisch, inszenatorisch) stecken blieben. Deshalb blieben diese Staatsoperetten-Projekte mehr oder weniger folgenlos und wurden schnell wieder vergessen.

Trotzdem ist aus jener Zeit ein Tagungsband erhalten, der quasi als Auftakt für eine Neubewertung der Operette vor/nach 1933 gesehen werden kann und ein Standardwerk zum Thema ist. Jetzt, wo Wolfgang Schaller als Intendant abtritt und den Weg in Dresden frei macht, für einen neuen und vor allem international wegweisenden Umgang mit Operette, kommt nochmals ein Essayband heraus zum Thema Operette vor/nach 1933. Er heißt „…was verloren ging“, behandelt aber explizit auch die Frage, was nach der Machtergreifung der Nazis erhalten blieb.

Diesem Aspekt der Kontinuität(en) hatte sich jüngst erst Matthias Kauffmann gewidmet (Operette im ‚Dritten Reich‘. Musikalisches Unterhaltungstheater zwischen 1933 und 1945, in der Serie Musik im ‚Dritten Reich‘ und im Exil, Band 18, von Bockel Verlag, 450 Seiten, ISBN 978-3-95675-006-9) – mit Heinz Hentschke als Intendant des Metropoltheaters Berlin als einem Fokus und vielen wichtigen Aspekten wie beispielsweise „Erotik“, „Exotik“ und „Starkult“ in der NS-Zeit.

Hier nun wird ein gänzlich anderer Weg eingeschlagen: Auf 145 Seiten von insgesamt 250 Seiten des Buchs untersucht Boris Kehrmann das Wirken und Werk des Regisseurs, Groteskkomikers und Librettisten Eduard Rogati, der vorwiegend in der zweiten Reihe und an Provinztheatern tätig war (dort teils zusammen mit Walter Felsenstein). Mit einer beeindruckenden Materialschlacht schildert Kehrmann, wie in der Provinz rückwärtsgewandte und sentimentalisierte Operettentraditionen an Stadttheatern über 1933 hinaus weiterlebten – und dies auch nach 1945 taten bis in die Zeit der jungen BRD. (Die DDR-Situation kommt nicht vor.)

Kehrmanns Fazit lautet, dass es in der Provinz kaum Brüche in der Aufführungstradition und im Verständnis des Genres gab. Allerdings konstatiert er auch, dass im Nationalsozialismus Operettenschaffende wie Rogati mit ihrer „Ästhetik der Provinz“ plötzlich den Ton für die gesamte Gattung angaben. Das war der Todesstoß für eine Form des unterhaltenden Musiktheaters, das ursprünglich und bis 1933 primär eine international vernetzte, kosmopolitische und kommerzielle Theaterform war und sich über die entsprechenden Ur- und Erstaufführungsproduktionen definierte. Diesen Aspekt erwähnt Kehrmann nur en passant. Dass es zwischen den Girl-Reihen und der nackten Haut einer NS-Revueoperette und einer Erik-Charell-Produktion am Berliner Großen Schauspielhaus der 1920er-Jahre einen sehr entscheidenden Lebensgefühlunterschied gibt sowie zwischen den erotischen Anspielungen vieler Libretti und Liedtexte vor/nach 1933 ebenfalls Lebensgefühlwelten liegen, das problematisiert Kehrmann nicht. Er erklärt auch nicht, was genau an Rogatis NS-Operette Alpenglühen „pornographisch“ am Tiroler Bauern-Quodlibet sein soll. Dafür setzt Kehrmann den „dadaistischen Humor“ von synkopierten Nonsens-Schlagern wie „Kau Kaugummi“ aus der Nachkriegsoperette Chanel No. 5 (1947) gleich mit Fritz Löhner-Bedas Zwanziger-Jahre-Nonsens und attestiert einer weiteren Friedrich-Schröder-Operette Premiere in Mailand (1949) einen „leisen Hang zur Offenbachiade“.

Ich muss gestehen, dass ich das recht verstörend fand, ebenso die Verwendung von Begriffen wie „Schnulze“ (S. 93) als Beschreibung von Fred Raymonds „Ich hab‘ mein Herz in Heidelberg verloren“, Text von Löhner-Beda. Was im 1920er-Jahre-Schlagerkontext ‚Schnulze‘ bedeutet, bei einem Autor, der auch „Ausgerechnet Bananen“, „Dein ist mein ganzes Herz“ und „Do-do-do“ textete, wäre meiner Meinung nach wichtig zu erwähnen, vor allem wenn man 145 Seiten Platz hat.

Eigentlich hätte der Rogati-Essay eine eigene Publikation sein müssen, denn er erdrückt die anderen Texte im Band und steht fast im vollständigen Kontrast zu ihnen. Wobei „die anderen“ vor allem die Zeit vor 1933 behandeln. Stefan Frey untersucht Leo Falls Spanische Nachtigall (1920) und „Operettendada“, der intellektuell und musikalische extrem prickelnd ist; was ich von Chanel No. 5 nicht behaupten würde. Peter Kramer schildert das tragische Schicksal der Rotter-Brüder und den Zusammenbruch ihres Theaterimperiums 1933; es ist eine Kurzfassung seines Buchmanuskripts Die Rotters. Scherz über „Hitlers Bart“ oder warum Berlins Operettenglanz den Untergang der Weimarer Republik nicht verhindert hat (2017), das noch einen Verleger sucht. Christoph Schwandt untersucht mit Frühlingsstürme – von Jaromir Weinberger für Richard Tauber und Jarmila Novotna geschrieben und im Januar 1933 uraufgeführt – die „letzte Operette der Weimarer Republik“, die kommende Spielzeit von Barrie Kosky an der Komischen Oper inszeniert wird. Daran anschließend analysiert Thomas Seedorf den Gesangsstil Richard Taubers („Ich singe überhaupt nicht Operette, ich singe nur Lehár“). Karin Meesmann gibt mit „Pál Ábrahám: mein Name wird gemacht“ einen ersten öffentlichen Vorgeschmack auf ihre große Ábrahám-Biografie und untersucht speziell die Unterschiede zwischen der ungarischen Viktoria und ihr Husar-Originalfassung und der späteren deutschen Erfolgsversion, mit der Ábrahám 1930 der Durchbruch gelang – mit einem Text von Fritz Löhner-Beda. Giselher Schubert nimmt Kurt Weills Der Kuhhandel (1933/34) in den Blick („Die beste Tradition der Operette“).

Vielleicht hätte eine ausführlichere Einleitung der Herausgeber Heiko Cullmann von der Staatsoperette Dresden und Michael Heinemann von der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden die extremen Gewichtungsprobleme dieses Essaybandes erklären und schildern können, warum ausgerechnet eine Provinzgröße wie Rogati derart viel Platz einnimmt, mit Stücken und Inszenierungen, die die Operettengeschichte kaum nachhaltig beeinflusst haben. Aber die Einleitung von Cullmann-Heinemann besteht aus drei Seiten und greift diese Aspekte nicht auf.

Trotzdem ist der Band eine wichtige Publikation, die dokumentiert, dass immer mehr Perspektiven auf das komplizierte Phänomen „Operette in der NS-Zeit und danach“ geworfen werden. Teils sind es gerade die Nebensächlichkeiten, die erschreckend aussagekräftig sind – etwa das Verhalten Rogatis bei seinem Entnazifizierungsverfahren, wo er haarsträubende Falschaussagen zu seinem Eintritt in die NSDAP machte, Falschaussagen, die typisch für die Epoche sind und über die zu lange unkritisch bis entschuldigend hinweggegangen wurde. Kehrmann schildert dies im Detail und schonungslos.

Für mich persönlich als Leser bleibt vor allem das Kapitel über die Spanische Nachtigall hängen, was dazu führte, dass ich mir sofort die Fritzi-Massary-Aufnahmen anhörte, die Truesound Transfers in einer eigenen Ausgabe herausgegeben hat. Auch wurde meine Neugierde auf Weills Kuhhandel geweckt sowie viel Vorfreude auf Weinbergers Frühlingsstürme – wobei ich mich frage, wie die Komische Oper eine Tauber/Novotna-Operette heutzutage adäquat besetzen will oder kann. Man wird es sehen.

Dass das Wirken von Personen wie Eduard Rogati die Operette in der Nachkriegszeit prägen konnte, erklärt im Nachhinein, warum das Genre dem Untergang geweiht sein musste – egal wie viel „Hang zur Offenbachiade“ darin angeblich zu finden sein soll, von „dadaistischem Humor“ ganz zu schweigen. Da ist, für mich zumindest, der „Operettendada“ von Leo Fall oder Paul Ábrahám für die heutige Zeit deutlich anschlussfähiger. Man darf daher gespannt sein, ob die junge neue Intendantin der Staatsoperette, Kathrin Kondaurow, künftig mehr in Bewegung setzen kann als ihr Vorgänger das schaffte, der sich von diesem Band ein „Nachdenken über Prozesse von Repertoirebildung und Aufführungspraxis“ erhofft.

Dieses Nachdenken lohnt, und die Staatsoperette Dresden ist geradezu ein Paradebeispiel dafür, „was verloren ging“ und wie verheerend die „Ästhetik der Provinz“ für die Positionierung der Kunstform Operette immer noch ist. Hoffen wir mal, dass Kathrin Kondaurow diese Provinzialität abschütteln kann. Hinweise darauf, wie das geht und wie’s nicht geht, finden sich auf den 250 Seiten des vorliegend Bandes zuhauf  („…was verloren ging“ Operettenkultur nach 1933; Beiträge einer Tagung der Staatsoperette Dresden, hrsg. v. Heiko Cullmann und Michael Heinemann; 250 Seiten, Thelem Verlag, ISBN 978-3-95908-467-3)Kevin Clarke

 

Kevin Clarke hat 2005 zusammen mit Carin Marquardt die Tagung „Operette unterm Hakenkreuz“ für die Staatsoperette Dresden konzipiert und organisiert, die Herausgabe des Tagungsbandes hat Uwe Schneider mit den bereits fertig edierten Texten im Auftrag von Wolfgang Schaller übernommen, als damals neuer Chefdramaturg des Hauses.

 

 

Wunderklänge aus dem Märchenschloss

27

Jahrzehntelang quälten wir uns mit den technisch absolut grottigen Ausgaben der Weberschen Euryanthe mit der absolut stupenden (wenngleich wortfernen) Joan Sutherland in ihren Jugendtagen bei der BBC – diese berühmte Aufnahme litt in den verschiedenen Erscheinungsformen bei Walhall, Ponto und anderen Labels unter übersteuerten Höhen, unscharfen Chorstellen und im ganzen unter eingeschränktem Hörgenuss. Wie wenn man einen Rembrandt mit der Taschenlampe betrachten muss. Jetzt hat Nimbus die BBC-Bänder vom 30. September 1955 (aus der „Itter Broadcast Collection“ des Labels Lyrita, NI 7901, 2 CDs ohne Libretto, aber mit einem ausführlichen Aufsatz und Biographien im insularen Idiom, wobei die Sammlung Itter bereits die Kopien der gelöschten BBC-Bänder darstellt, die nun ihrerseits frech Lizenzen erhob, also „original.-BBC-Bänder“ stimmt nur bedingt), und das pure Glück tut sich beim Hören auf. In bester Radioqualität  erklingt nun Webers wunderbare (und hier stark gekürzte) Oper. Was für eine Besetzung! Außer der Sutherland als vokal betörende Euryanthe singen da hochfulminant und absolut die beste Eglantine weit und breit (und für mich noch vor der Borkh auf dem Maggio Musicale Mitschnitt) Marianne Schech in dramatischem Auftritt, der seinesgleichen sucht. Unglaublich. Der Holländer Frans Vroons war damals für mich eine Entdeckung: ein solider, höhenstarker Adolar mit bester Diktion (wie alle außer La Stupenda) und schönster Rolleneignung. Überrascht hatte mich beim ersten und erneuten Hören Otakar Kraus – was für ein toller, viriler Telramund-Bass-Bariton als Lysiart. Markig, körnig, interessant im Timbre und auch er in hochengagierter Rollengestaltung. Kurt Böhme (der auf der Rückseite der CDs seinen Umlaut verloren hat) gibt einen gestandenen, langweiligen, aber stimmlich grundierten  König. Dazu der falbelhafte BBC-Chor und das dto.  engagierte Orchester unter Altmeister Fritz Stiedry, dem wir viele Wagner-Aufnahmen an der Met verdanken.

Webers „Euryabnthe“ in sensationellem Sound bei Prima Voce

Überhaupt muss man wieder mal die BBC loben, die – trotz unvergessenem „Blitz“ und Deutschen-Abneigung  jener (?) Jahre – eine Oper von Weber (wie später andere deutsche Titel) aufnahmen, vielleicht weil Weber wegen seines Oberon auch als quasi-englischer Komponist gesehen wurde? In any case – anders als die kürzlich erschienene Clemenza di Tito (nämlich als The Mercy of Titus, 1956) gab es 1955 diese Euryanthe im deutschen Original (und man soll den anderen „modernen“ Neuzugang zur Serie nicht vergessen, den Don Giovanni live aus Glyndebourne 1954 mit Sena Jurinac und Leopold Simoneau unter Georg Solti.)

Danke dafür und Dank an Nimbus, deren Prima Voce Serie bei uns eine sehr ausführliche, wenngleich Würdigung erfährt. Rüdiger Winter wird sich einen ganzen Stoß von Prima Voce CDs widmen und braucht dafür naturgemäß auch Zeit. Stefan Lauter frischt bei uns seine Erinnerungen an seine Reise nach Wyastone zum Nimbus Hauptquartier auf, und Daniel Hauser hat für uns den Nimbus-eigenen langen Text zum technischen (Klang-)Geheimnisse des Prima Voce Erfolges übersetzt. Words from the great horn also… Geerd Heinsen

Nun also der Reisebericht von Stefan Lauter: High Tech aus dem Märchenschloss – Prima Voce in den walisischen Downs. Es sind noch gute zwei Stunden mit der Eisenbahn von London Paddington Station in Richtung Swansea bis Monmouth in Wales, und dann nimmt man besser ein Taxi (oder wird, wie in meinem Fall, in einer Limousine abgeholt), bis man nach einer kurzen Fahrt durch die malerische hügelige Landschaft des Grenzgebiets zwischen England und Wales vor das Manor House von Wyastone Leys rollt. Was sich hinter der herrschaftlichen Fassade großgrundbesitzlichen Ambientes verbirgt, ist in der Tat erstaunlich, denn hier – wie auch in den nahen Fertigungsstätten in Monmouth selbst – wird High Tech nach neuesten Erkenntnissen gefertigt, und bevor man über die risikofreudige Aufnahmefirma Nimbus spricht, muß man auf das Renomee von Nimbus als gesuchte Fertigungs- und Press-Stätte für viele englische Firmen sprechen: ehemals EMI, Virgin und andere ließen und lassen hier herstellen, und das war die Ausgangssituation für die heutige Firma Nimbus.

Nimbus: Das Märchenschloss Weyastone Leys/ Nimbus

Gründe ist Graf Alexander Numa Labinsky, auch unter seinem Künstlernamen Shura German bekannt und im Programm von Nimbus mit eigenen Aufnahmen dokumentiert. Labinskys Liebe zur Musik und seine Experimentierfreudigkeit mit möglichst genauer Klangwiedergabe („Tonaufnahmen sind der aufrichtigste Versuch des Menschen, um in der Zeit zu reisen!“ ist eine seiner Überzeugungen) führten nach verschiedenen Anläufen zur Gründung der Firma, als er 1976 das Schloß von Wyastone Leys kaufte (1818 gebaut und im Laufe der Zeit mehrfach substantiell verändert, dem heutigen Besucher bietet sich ein Gemisch verschiedener Stile dar. Lustigerweise gehört bis heute das Recht auf freien Fischfang zum Grund, aber nicht das Recht auf Jagd; Forellen also gibt es reichlich auf dem großen Eichentisch des Hauses …). 1977 begann man mit der Produktion von LPs; 1982 unterzeichnete Nimbus einen Lizenzvertrag mit der das Patent haltenden Firma Philips zur Fertigung von CDs (auch hierzu eine Information: Nimbus wäre längst in der Lage, CDs von einer Spieldauer von mehr als neun Stunden herzustellen, verböte eben dieser Lizenzvertrag das nicht, denn die von Philips gesetzte „internationale“ Norm erlaubt nur eine Spieldauer von ca. 75 Minuten im besten Falle; das erinnert an die Herstellung von schnell ermüdenden Glühbirnen, während das aufgekaufte Patent für eine Dauerbirne im Safe eines Glühbirnenfabrikanten schlummert). Innerhalb eines Jahres entwickelte Nimbus ein Fertigungssystem, das weit unter den Kosten herkömmlicher Verfahren liegt. Eine Besichtigung der technischen Einrichtungen zeigt denn auch diese verblüffend ökonomischen Vorgänge, die weitgehend von Hand und immer im Einzelnen überwacht werden, von der Herstellung der Master über die Galvanisierung bis zur Vervielfältigung.

Nimbus Prima Voce: Rosa Ponselle

Dies schafft – ein ganz wesentlicher Punkt im wirtschaftlich geschüttelten Südwales – eine ganze Reihe von Arbeitsplätzen hoher Qualifizierung. 1984 also fiel die erste CD vom Band, noch für einen fremden Auftraggeber, 1985 erschien dann die erste eigene Nimbus-CD. In den nächsten Jahren gab es nur Erfolge, Preise und Expansionen in Form einer neuen Fertigungsstätte im nahen Cwbran und vor allem auf dem amerikanischen Markt, wo Nimbus eine Tochterfirma in Virginia installierte, während neue Technologien entwickelt wurden (u. a. die erste Quadruble Density CD und die CD ROM mit mehr als neuneinhalb Stunden Spieldauer für Datenübermittlung, besonders für die Industrie eine wichtige Sache, mit der Nimbus einen bedeutenden Teil des Umsatzes macht). Inzwischen ist Nimbus auch weltführend auf dem Gebiet der optischen Disc-Technologie. Das inzwischen berühmten Amisonic-System – Grundlage der Nimbus-Serie „Prima Voce“ (und der gesamten Neuproduktion) – wurde erstmals 1990 vorgestellt: eine besonders eindrucksvolle „natürliche“ Wiedergabetechnik, die dem einzelnen Ton sein Umfeld läßt und einen warmen, natürlichen Klang in einer Aufnahmetechnik mit nur wenigen Mikros bevorzugt.

Nimbus: aus den Gründerjahren – Adrian Farmer und das Große Horn/ Nimbus

Der Nimbus-Katalog weist viele Einspielungen auf, die ein gezieltes Standardrepertoire ausmachen, aber anders als andere britische Firmen vermeidet Nimbus den allzu insularen Eindruck, schon weil man sich nicht auf Großbritannien allein beschränkt hat. So findet sich eine Vielfalt von Komponisten des 20. Jahrhunderts (Copland, Britten, Tippett, Strauss) oder Schumann und andere Romantiker z. B., wie die Mozart-Aufnahmen mit Roy Goodmans Hanover Band oder das Haydn-Projekt mit dem von Nimbus sehr geförderten ungarischen Dirigenten Adam Fischer, der alle Haydn-Sinfonien mit dem Austro-Ungarischen Orchester in Eisenstadt im dortigen Esterhazy-Theater aufnimmt, oder Bartok in Einspielungen ebenfalls unter Adam Fischer. Es spricht für den Mut der Firma, sich nicht von parallelen Veröffentlichungen anderer Firmen beirren zu lassen und akute Marktchancen der erzielten Qualität zu überlassen. Vivaldi, Gabrieli, Beethoven, Debussy oder Brahms – das Spektrum ist breit, und Nimbus vermeidet es sich festzulegen. Die vokalen Beiträge von Shura German wurden bereits erwähnt (Schumann, Schubert etc.), aber auch der verdiente Tenor Hughes Cuenod singt hier Mélodies von Satie oder Debussy, und der Belcanto-Tenor Raúl Giminez fand bei Nimbus Gelegenheit für seine ersten Aufnahmen mit Mozart- und Rossini-Arien; June Anderson und er nahmen Rossini-Lieder auf.

Nimbus Prima Voce: Tito Schipa

Grund für die meine Neugier an einer Firma wie Nimbus (und meinen Besuch) war die Edition Prima Voce, viele Namen lassen Sammlerherzen höher schlagen (Eidé Norena, Ernestine Schumann-Heink, Claudia Muzio, Rosa Ponselle und viele, viele mehr, die vom Kollegen Rüdiger Winter sukzessive besprochen werden, die hochpersönliche Auswahl Labinskys an Künstlern für das Prima-Voce-Programm erstaunt, denn viele fehlen, die man erwarten würde und andere finden sich, die überraschen). Was also ist das Geheimnis dieses außergewöhnlich warmen, natürlichen und frappierend „modernen“ Klangs bei den Überspielungen der alten Schellacks? Den Besucher erwartet im herrschaftlichen Manor House von Wyastone Leys der Anblick eines überdimensionalen Hornes als Schallrichter eines nach modernsten Kriterien ausgestatteten Abspielgeräts, das im großen Saal des Gebäudes installiert ist. Erste Proben: Maggie Teyte mit mir unbekannten französischen Aufnahmen – verblüffend; dann die neue Battistini-Platte in ihrer Schellack-Original-Form – ungeheuer! Dominick Fyfe, der für die Research-Seite der Produktionen zuständig ist, war in Berlin, um Tiana Lemnitz ihr Exemplar der gerühmten Zauberflöten-Ausgabe unter Beecham zu überreichen und kam mit Schellack-Schätzen der Sopranistin zurück: „Rosenüberreichung“ oder „Wesendonck-Lieder“ – sensationell! Der Klang, der aus dem Horn tönt, ist raumhaft, groß und aufregend, nie metallisch oder eng,  mit kleinen Retuschen gegen die. Norman White, Produzent und selber Sänger, wusste um die Probleme der Wiedererkennbarkeit von Stimmen auf dem technischen Medium und strahlt bei meiner offen gezeigten Begeisterung. Ich fachsimpele über die neue Nimbus-Aquisition – ein ganzer Keller voll Schellacks aus französischem Privat-Besitz: meterweise Ninon Vallin, Georges Thill, Emma Luart und, und, und … Dem Sammler läuft bildlich das Wasser im Mund zusammen. Leider haben bis heute manche noch nicht den Weg auf die Prima-Voce-CD gefunden (wenngleich – und das muss man auch fairerweise sagen – eigentlich alle Titel der Serien-Teilnehmer sich ebenfalls bei anderen Labels wie Pearl, Marston u. a. anderen finden; Prima Voce ist also nicht exklusiv sortiert, sondern besticht durch ihren ganz eigenen Klang).

Und dann geht es ab ins supermoderne hausinterne Soundstudio mit unüberbietbarem Blick auf die „Grounds“, die Umgebung. Adrian Farmer, Resident Music Director von Nimbus, spielt eine Digest der Aufnahmen vor: Besonders der Haydn von Esterhazy nimmt durch seine Wärme und Natürlichkeit des Klanges für sich ein, die Bartok-Aufnahmen haben eine überspringende Sonorität, und es sind diese Kriterien, die den Hörer beeindrucken. Stefan Lauter

Nimbus: aus den Grpünderjahren – Count Labinsky, Norman White und Adrian Farmer/ Nimbus

Und nun ganz offiziell – die Serie Prima Voce! Zur Einführung: Die frühe Geschichte der Tonaufnahme ist mehr als nur die Geschichte einer Erfindung und einer Industrie. Obwohl die Pioniere und Unternehmer eine wichtige und faszinierende Rolle spielten, würde ihre Arbeit uns heute wenig interessieren, wenn sie nicht mit der einzigartigen Kunst von Caruso und Melba, Schaljapin und Ponselle zusammenfiele. Es war das goldene Zeitalter des Gesangs und Prima Voce bewahrt dieses Archiv großer Stimmen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Transfers, die die Unmittelbarkeit der ursprünglichen Aufführungen einfangen.

Bei Prima Voce steht die Aufführung an erster Stelle. Unser Ziel bei der Übertragung von 78er Schellackplatten auf CD ist einfach: Wir möchten den vollen Musikgenuss dieser Aufnahmen ermöglichen, ohne dass störende Oberflächengeräusche zwischen dem Interpreten und dem Hörer davon ablenken. Dies wird durch ein Verfahren erreicht, bei dem der Originalton neu aufgenommen wird, anstatt ihn neu zu remastern. Dabei handelt es sich um eine Kombination aus dem Besten der neuesten und frühesten Technologien der Tonwiedergabe.

Im Folgenden eine Reihe von Artikeln, die von den für die Prima Voce-Serie verantwortlichen Tontechnikern verfasst wurden und die Techniken beschreiben, mit denen wir 78er auf CDs übertragen.

Nimbus Prima Voce: Charles Kullman

Die Suche nach 78ern: Nicht alle Pressungen wurden auf die gleiche Weise hergestellt. Norman White, Berater der Prima Voce-Serie, reist um die Welt, um geeignete 78er zu finden, die zur Vorbereitung der Übertragung auf CD dem Prima Voce-Archiv hinzugefügt werden können. Seine Reisen können zu Privatsammlungen wie auch zu den Museen führen, mit denen wir eine Verbindung haben, z. B. das Staatliche Museum für Theater und Musik in St. Petersburg. Die Erfahrungen, die Norman aus jahrelangen Sammlungserfahrungen gewonnen hat, sind für ihn von unschätzbarem Wert, da er fast instinktiv weiß, welche Label und Typen oder Zeiträume der Pressung am wichtigsten sind, und außerdem diese charakteristischen Merkmale visuell erkennen kann. Wenn man sich über 500 Platten pro Tag ansieht, hat man kaum Zeit, jeden potenziellen Kauf abzuspielen.

Manchmal ist es sinnvoll, eine bestimmte 78er zu kaufen, obwohl mehrere Exemplare derselben Aufnahme in unserem Archiv vorhanden sind, einfach weil die Qualität des Schellacks oder die Art und Weise, in der die 78er gepresst wurde, auf eine mögliche Verbesserung der Klangqualität hindeutet. Wir kommen daher häufig zu einer Übertragungssitzung mit einer Auswahl von Pressungen und verbringen einige Zeit mit der Auswahl der zu verwendenden Kopie. Nur so können wir den Hörern unserer Serie die Möglichkeit geben, Oberflächengeräusche zu vergessen und die Aufführung zu genießen.

Vorbereitung: Wir investieren viel Zeit und Mühe in jedes einzelne Prima Voce-Projekt, lange bevor wir bereit sind, ins Studio zu gehen und die Transfers der 78er fortzusetzen. Ideen für neue Ausgaben können der Veröffentlichung einer CD um einen Zeitraum von einem Monat bis zu mehreren Jahren vorausgehen und aus verschiedenen Quellen stammen: – ein Lieblingssänger derjenigen, die an der Serie beteiligt sind;/ – Sammlungen innerhalb von Museen, die zur Nutzung bereitgestellt werden;/ – wichtige Stimmen, die in unserer Serie bisher unterrepräsentiert sind;/ – Gespräche, die unsere Handelsvertreter mit dem Einzelhandel führen;/ – Briefe von anderen Sammlern, die sich für einen bestimmten Sänger einsetzen.

Nimbus: Back view of horn, Norman White and record player/ Nimbus

Ab dem Moment, in dem wir uns auf einen bestimmten Künstler konzentrieren, wird Norman White, unser Serienberater, seine Bemühungen verstärken, die relevanten Aufnahmen zu finden. Je nach Sänger und Aufnahmedauer kann diese Aufgabe sehr lange dauern. Auch wenn unser Archiv über viele Jahre aufgebaut wurde, kann man sich immer ein bisschen mehr Mühe geben, die sauberste Pressung zu finden. Einige Projekte können daher etwas länger dauern als andere.

Wenn der Künstler relativ unbekannt ist, etwa Vilhelm Herold (NI 7880), bieten diese Sitzungen die Möglichkeit, sich mit ihrer Stimme und ihrem aufgezeichneten Erbe vertraut zu machen. Ansonsten bieten sie die Gelegenheit, sich gründlich an die Stimmen bekannter Künstler zu erinnern und ihre Aufnahmen in den Kontext einer Karriere zu stellen. Aus rein praktischer Sicht ist dies die Phase, in der die Anzahl der Datensätze für die Übertragung auf eine überschaubare Größe reduziert wird. Dies entspricht in der Regel einer Spieldauer zwischen 80 und 120 Minuten, je nach Zustand der Schallplatten.

Nimbus Prima Voce: Luisa Tetrazzini

Die letzten Etappen unserer Vorbereitung sind darauf ausgerichtet, die Übertragungssitzung so reibungslos wie möglich zu gestalten. Jede 78er muss gestimmt werden, d. h. die richtige Wiedergabegeschwindigkeit muss eingestellt werden. Jede Seite muss dann mit einem professionellen Reinigungsgerät gereinigt und die von uns verwendeten Holzdorne geschärft werden. Beide Aufgaben sind extrem zeitaufwändig und langwierig, aber für die Erzielung der besten Ergebnisse unerlässlich.

Pitching (Tonhöhe): Trotz der Tatsache, dass die meisten Aufzeichnungen vor 1950 ein Etikett mit der Angabe „78 rpm“ (d. h. 78 Umdrehungen pro Minute) tragen, ist die Wiedergabegeschwindigkeit nicht selbstverständlich. Aufgrund der Unzuverlässigkeit des primitiven Aufzeichnungsgeräts, mit dem diese Aufzeichnungen erstellt wurden, kann die korrekte Wiedergabegeschwindigkeit einer Seite nur 68 rpm oder gar 88 rpm betragen. Wenn man die Aufnahme zu langsam abspielt, klingt alles matt. In ähnlicher Weise ist der Ton zu scharf, wenn die Wiedergabegeschwindigkeit zu hoch ist. Ein zeitgenössischer Zuhörer änderte einfach den Geschwindigkeitsregler des Grammophons, bis er die Stimme des Künstlers hörte, die er am Abend zuvor im Opernhaus gehört hatte. Für den modernen Zuhörer sind die Dinge etwas schwieriger.

Nimbus: Adrian Farmer und Norman White mit der Schellack-Sammlung/ Nimbus

Um die richtige Wiedergabegeschwindigkeit zu ermitteln, muss die Tonart festgelegt werden, in der die Musik geschrieben wurde, und ein Klavier verwendet werden, um die Aufnahme zu begleiten. Die Geschwindigkeit der Schallplatte kann dann über einen elektrischen Plattenteller mit fein abgestufter Tonhöhenregelung geändert werden, bis der Klang zusammenpasst. Bei dem von uns verwendeten Drehteller handelt es sich um einen Technics SP-15, bei dem die Zahlen auf der Digitalanzeige eine prozentuale Abweichung der Geschwindigkeit von den Standarddrehzahlen von 78 rpm angeben, z. B +0,1 = 78,078 rpm. Eine Veränderung von ungefähr 5,5 % auf diesem Plattenteller entspricht der musikalischen Umsetzung eines Halbtons.

Es gibt eine Reihe von Hinweisen, die uns dabei helfen, eine Aufnahme auf die korrekte Tonhöhe einzustellen. Am offensichtlichsten muss die Stimme des Sängers natürlich klingen, ebenso wie alle Instrumente, die in der Begleitung enthalten sind. Wenn beispielsweise die Wiedergabegeschwindigkeit einer ausgewählten Seite sowohl bei +3.0 als auch bei -2.5 auf eine Tonart passt, können wir normalerweise feststellen, welche am natürlichsten klingt, insbesondere wenn wir mit anderen Aufnahmen des betreffenden Sängers vertraut sind.

Andere Hinweise liefern ebenfalls wertvolle Informationen, aber wir verwenden sie normalerweise, um zu überprüfen, was uns unsere Ohren bereits offenbart haben. Einige Beispiele sind unten angegeben:

Nimbus Prima Voce: Maria Ivogün

Das verwendete Aufzeichnungsgerät war im Verlauf dieser Sitzung in der Regel gleichbleibend, weshalb auch die Wiedergabegeschwindigkeiten von am selben Tag erstellten Aufzeichnungen in der Regel gleich waren. Sequenzen und Muster entstehen schnell, wenn man mit einer Gruppe von Aufzeichnungen arbeitet, und Anomalien können leicht identifiziert werden. Jede Regel hat jedoch ihre Ausnahme und es ist bekannt, dass die Wiedergabegeschwindigkeit zwischen Datensätzen mit aufeinander folgenden Matrixnummern und sogar zwischen dem Anfang und dem Ende einer Seite wechselt. Die 1936er Aufnahme von Schumanns Der Nussbaum mit Marian Anderson für HMV ist ein solches Beispiel.

Es ist oft bekannt, ob ein Künstler dazu neigte, eine Arie nach oben oder unten zu transponieren, und ob seine Tessitura es ihm ermöglichen würde, die höchste oder niedrigste Note zu erreichen, die wir hören.

Musikalische Grundprinzipien bestimmen das Verhältnis zwischen Instrumentalbegleitung und Tonart. Angesichts der Tatsache, dass die tiefste Note einer Gitarre ein E ist, kann es sein, dass die Aufnahme zu langsam läuft, wenn wir auf eine Gitarrenbegleitung stoßen, in der ein Bass-Es häufig zu hören ist.

Nimbus: Colourized old horn and microphone in ball room/ Nimbus

Die Übertragungssitzung: Im Gegensatz zu anderen Firmen, die dazu neigen, moderne elektrische Tonabnehmer zur Übertragung ihrer Schallplatten zu verwenden, spielen wir unsere 78er lieber mit einem Schallhorn-Grammophon. Auf diese Weise erzeugen wir einen warmen, lebendigen und äußerst naturgetreuen Klang, der vor der Ausgabe nur sehr wenig Verarbeitung erfordert (nur die schlimmsten Klicks werden entfernt). Tatsächlich ist der einzige „elektrische“ Teil des gesamten Wiedergabevorgangs der Technics SL-15-Plattenspieler, der verwendet wird, um sicherzustellen, dass die Aufzeichnung mit der richtigen Geschwindigkeit läuft.

Unser speziell angefertigtes Horn-Grammophon ist nichts anderes als eine Entwicklung von Maschinen, die es in den 1930er Jahren gab. Ohne das Problem zu haben, das Gerät in ein Wohnzimmer mit durchschnittlicher Größe einzubauen, haben wir es viel länger gemacht (seine Länge beträgt fast sechs Meter) und die Form der Hornkurve geändert. Diese Anpassungen ermöglichen es, extreme Frequenzen der Originalaufnahme klarer zu hören und einen ausgeglicheneren Klang zu erzielen. Die Stachel, die wir verwenden, bestehen aus einem biegsamen Holz und formen sich schnell so, dass sie genau in die Rille einer 78er passen. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Dorn viel länger hält als eine Seite einer Schallplatte, bevor die Klangqualität beginnt sich zu verschlechtern. Abschnitte der Datensätze, die wir übertragen (normalerweise die Enden), werden daher häufig mehrmals abgespielt und die besten der verschiedenen Takes werden in der Bearbeitungssuite abgeglichen und zusammengefügt.

Indem wir die Platten im Performing Arts Center der Nimbus Foundation abspielen, geben wir den Künstlern praktisch eine zweite Chance, ihre Aufnahmen zu machen, diesmal in einer großzügigeren Akustik. Die Bedingungen, unter denen viele dieser Künstler aufgenommen haben, waren oft beengt und schwierig und man fragt sich oft, welche Chance die Stimme wirklich hatte.

Das Mikrophon, das wir verwenden, ist genau das gleiche, mit dem wir den größten Teil unserer Ambisonic-Aufnahmen machen. Es ist so positioniert, dass es zentral zur Öffnung des Horns liegt und der Abstand zum Horn variiert, abhängig von der Stimme des Sängers und der Qualität der zu übertragenden Schallplatten. Änderungen der Mikrophonposition werden während einer Sitzung auf ein Minimum beschränkt, es sei denn, die Originalaufnahmen unterscheiden sich grundlegend. Es sind keine Mixer, Fader oder Prozessoren beteiligt. Eine Sitzung in der Halle kann bis zu einer Woche dauern, in der normalerweise mindestens zwei CDs übertragen werden sollen.

Trotz aller Überlegungen und des Zeitaufwands für jede Prima Voce-Veröffentlichung bleibt das Grundprinzip sehr einfach: Wir spielen die Platten so, wie sie gespielt werden sollten, und nehmen die Ergebnisse auf, wie alle unsere Aufnahmen gemacht werden. (Quelle: Nimbus/ Dank an die deutsche Naxos/ die Distributorin für Nimbus in Deutschland, Rainer Aschemeier und Salvatore Pichireddu, für die Unterstützung! Foto oben Conchita Supervia im Ausschnitt aus dem Cover des Prima-Voce-Samplers).