Ab-Ebbendes

 

Vom Meer singt Marie-Nicole Lemieux auf ihrer neuen CD bei Erato (0190295424336). Der französische Originaltitel Mer(s) steht deshalb im Plural, weil die Altistin drei Zyklen interpretiert, die sich thematisch dem Phänomen des Meeres widmen. Zu Beginn erklingen Edward Elgars Sea Pictures op. 37. Die fünf Gesänge auf Texte verschiedener Dichter (darunter Elgars Ehefrau Alice) entstanden 1899 als Auftragswerk für das Norfolk und Norwich Festival. Referenzaufnahmen dieses Zyklus sind die mit Janet Baker und Yvonne Minton, gegen die es die Neueinspielung schwer hat. Die dramatischen Partien der jüngeren Vergangenheit (Azucena, Cassandre) haben Marie-Nicole Lemieux offenbar nicht gut getan, die Stimme ist in ihrer Lasur nunmehr spröder und in der Höhe ausgefasert. Das stört vor allem beim dritten und fünften Titel, dem bewegten „Sabbath Morning at Sea“ und „The Swimmer“ mit einem unschön verzerrten exponierten Ton. Auch vermisst man die schwebenden Momente, die ihre Vorgängerinnen so atmosphärisch gezaubert hatten. Am besten gelingt ihr Nummer 4, „Where Corals Lie“, in ausgeglichenem Fluss. Das Orchestre National Bordeaux Aquitaine unter Paul Davis begleitet schwelgerisch und wartet auch mit impressionistisch flirrenden Nuancen auf.

Auch bei Ernest Chaussons Poème de l’amour et de la mer mer op. 19 hat Lemieux starke Konkurrenz – wieder ist es Janet Baker, dazu die griechische Mezzosopranistin Irma Kolássi, aber auch französische Soprane wie Régine Crespin haben Modellaufnahmen hinterlassen. Der Zyklus besteht aus drei Titeln, wobei der zweite ein kurzes instrumentales „Interlude“ ist, welches das Orchester in seiner wehmütigen Melancholie stimmungsvoll wiedergibt. Im ersten, dem ausgedehnten„La Fleur des eaux“, klingt die Stimme von Marie-Nicole Lemieux wieder unruhig vibrierend. Reizvoll wirken einige tiefe Noten. Groß rauscht das Orchester auf und findet zu grandioser Steigerung. Solche findet sich auch in Nummer 3, „La Mort de l’amour“, was die Interpretin an Grenzen führt.

Der dritte Zyklus, Victorin Joncières’ vierteilige Komposition La mer, ist eine Weltpremiere auf CD. Sie wurde 1881 in Paris aus der Taufe gehoben. Eine Besonderheit ist die Einbeziehung des Chores, hier der stimmgewaltige Choeur de l’Opéra National de Bordeaux in der Einstudierung von Salvatore Caputo. Die Stimmung des Werkes ist spätromantisch, der mehrfach eingesetzte Hörnerklang erinnert gar an Weber und Mendelssohn. Der Alt und der Chor geben im Wechsel die Stimmen der Nixen, Fischer und Meereswellen wieder. Die Schrecken der Stürme, Blitze und Brandung werden fast naturalistisch geschildert, was zu  dramatisch aufgetürmten Klangwogen führt. Im letzten Stück, „Épilogue“, tröstet die Stimme des Meeres all jene, die in den Wellen den Tod fanden. Lemieux findet hier endlich zu warmen, sanften Tönen, die für die einstige Schönheit der Stimme stehen. Bernd Hoppe