„Dis-mois, Vénus…”

 

Ums Image der Operettendiva steht‘s derzeit nicht gut. Abgesehen davon, dass es seit Margit Schramm wohl keine wirkliche hauptberufliche Operettendiva mehr gab, verwechseln die meisten Opernsängerinnen, die seither vorübergehend in den Rolle einer „OD“ geschlüpft sind, das Fach meist mit einer besonders dümmlichen Karnevalsveranstaltung. Egal ob Ingeborg Hallstein, Renée Fleming, Angela Denoke oder Anna Netrebko: Mit Federboa und Champagnerglas wirken sie als pseudo-laszive „Vamps“ im besten Fall lächerlich. Im schlimmsten Fall sind sie ein Verrat all dessen, wofür Operette als eigenständige Kunstform einmal stand. Denn vor 1933/38, den Jahren des Sündenfalls der Gattung und der grundsätzlichen Neudefinierung des Genres durch die Nationalsozialisten, operierte die typische Operettendiva in ganz anderen Dimensionen. Da sah man zum Beispiel Fritzi Massary im Berlin der 1920er Jahre als Werbeträgerin für Zigaretten und als Stil-Ikone für fashionable Frauen in Modemagazinen, die mit der Massary singend fragten, „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben?“. Da warb Elsie Altmann 1924 mit Nacktfotos aus dem Studio d’Ora in Wien für die Gräfin Mariza und den Shimmy „Komm mit nach Varasdin“.

Offenbach: Hortense Schneider im Kostüm der Grande-Duchesse de Gerolstein/ Wiki

Auch in den Generationen davor qualifizierten sich Operettendiven damit, dass sie mit Nacktheit und erotischer Ausstrahlung Großstadtpublikum anlockten – nicht mit Gesangs- oder Schauspielkünsten. Marie Geistinger (1833-1903) etwa, die Direktorin des Theaters an der Wien und Ur- bzw. Erstaufführungssängerin vieler Operetten von Jacques Offenbach, Franz von Suppé und Johann Strauss II – darunter die Rosalinde in Die Fledermaus (1874) – machte in Wien ursprünglich als Schöne Helena Furore, weil sie in „einer gewagten Entkleidungsszene ihre nur durch dünnes, straffes Trikot verhüllten körperlichen Reize nicht geizend zur Schau trug“, wie Biograf Emil Pirchan bemerkt (Emil Pirchan, Marie Geistinger: Die Königin der Operette, Wien 1947).  Die Wiener Zeitung nennt Geistinger als Helena eine „höchst rou­tinierte Schau­spielerin“ und „leidliche Sängerin“, die aber im­stande war, ein Stück zu „tragen“. An­sonsten wird an der Produktion hervor­ge­hoben, dass sich „einzelne Damen“ durch ihren „tadel­losen Körper­bau“ verdient gemacht hätten in einem Stück voller „derbe[r] Zwei­deu­tig­­keiten“, in dem „in verschiedenem Sinne flo­rieren­d[e] Nacktheit“ vor­käme, die das Publikum angeblich „gelangweilt“ habe (so Pircher). Auch wenn „hyperprüde Denunzianten“ im Zusammenhang mit der Produktion energisch das Verbot von „Prostitution auf der Bühne“ verlangten, lief das Stück in Wien weiter und weiter und war einer der größten Offenbach- und Geistinger-Erfolge überhaupt. In der Margaretenstraße machte sogar ein Kaffeehaus auf, das sich „Zur schönen Helena“ nannte: „Auf den Spiegelscheiben war ihre [Geistingers, Anm.] Figur in allen möglichen und unmöglichen Posen eingeätzt. Das lebensgroße Bildnis der Helena hing dort, auf der Rückseite hatte der Maler die Geistinger – nackt hingemalt. Ein wilder Verehrer der Künstlerin schoß deswegen zwei Pistolenkugeln gegen dieses schöne Ölgemälde“, berichtet Pirchan, auf dessen Biografie Geistinger als Helena in eben diesem Ölgemälde mit grünlich-blauer Tunika auf dem Umschlag zu sehen ist.

Die Ur-Diva der Ur-Operette: Rollenmodell für Geistinger und andere Operetten-Hauptrollen-Darstellerinnen war die Pariser Ur-Operettendiva schlechthin, Hortense Schneider (1833-1920). Was sie von allen Nachfolgerinnen unterscheidet ist die Tatsache, dass sie in einem Roman von Emile Zola verewigt wurde. Zwar schafften es Mizzi Günther [die erste Hanna Glawari] und die Massary auch, Teil von Romanen und huldigenden Buchveröffentlichungen zu werden, Günther als „Fräulein Mizzi Rittmann“ in Operettenkönige: Ein Wiener Theaterroman von Franz von Hohenegg, Massary in Oscar Bies Tagebuch eines jungen Mannes. Aber keiner dieser Titel hat die weltliterarische Bedeutung von Zolas Nana (1880).

Offenbach: Hortense Schneider en folie, portrait by Alexis Pérignon/ Wiki/ ORCA

Dank des Zola-Romans bekommt man noch heute einen detaillierten Einblick in die Ur-Operettenszene der 1860er Jahre in Paris sowie eine genaue Beschreibung dessen, worauf es bei den ursprünglichen Operettendarstellerinnen ankam – Qualitäten, die allen Sängerinnen dieses Fachs in der Jetztzeit fehlen, egal ob in der Wiener Volksoper, in Mörbisch oder Bad Ischl. Bei Zola spielt der die Handlung im Théâtre des Variétés, wo alle für Schneider geschriebenen „Offen­bachiaden“ uraufgeführt wurden, von La belle Hélène (1864) über Barbe-Bleue (1866) und La Grande-Duchesse [de Gérolstein] (1867) bis zu La Périchole (1868). Bei Zola wird dort die fiktive Operette „Die blonde Venus“ gegeben.

In seiner Ein­leitung zur Penguin-Classics-Ausgabe von Nana schreibt George Holden: „Zola had decided that Nana’s career should be closely associated with the theatre, and that the novel should open with a first night at the Variétés. He himself had come to know the world of the theatre at close quarters […] but he did not know enough as yet about theatrical life in general and the Variétés in particular; and for the information he wanted he turned to Ludovic Halévy, Offenbach’s brilliant librettist, who was an ardent admirer of L’Assommoir and had offered to help him to the best of his abilities. Halévy not only took him on 15 February 1878 to the Variétés, to see an operetta called Niniche by Alfred Hennequin and Albert Millaud. At the theatre he entertained Zola with the story of the marital and amorous life of the star, Anna Judic, whose husband, a sometime shop-assistant, had once fought her lover Millaud in the wings of the Bouffes, but now winked at the liaison and devoted his life to managing her affairs and caring for their two children. Zola avidly noted down the details […] and he looked and listened just as eagerly during the intervals, when Halévy took him backstage and showed him the dressing-room where in 1867 Hortense Schneider, dressed as the Grand Duchess of Gerolstein, had ceremoniously received the Prince of Wales.” (George Holden, Einleitung zu seiner Übersetzung von Émile Zolas Nana, London 1972)

Es ist interessant, dass der Direktor des Théâtre des Variétés, im Roman Bordenave genannt, von seinem Haus mehrfach als „Bordell“ spricht und Zola den Auftritt Nanas folgendermaßen in Worte fasst: „Ganz Paris war da, das Paris der Literatur, der Finanz und des Amüsements […] und mehr Halbwelt als anständige Frauen; es war eine eigen­artig gemischte Gesellschaft, aus allen Geistesschattierungen zusam­men­gesetzt und von allen Lastern verdorben. […] In diesem Augen­blick teilten sich die Wolken im Hintergrund, und Venus erschien. Nana, groß, sehr üppig für ihre achtzehn Jahre, trat in ihrer weißen Göttin­nen­tunika mit langem blondem Haar, das aufgelöst die Schultern umfloß, sicher und gelassen an die Rampe vor und lachte ins Publikum. Dann stimmte sie ihr großes Couplet an: ‚Geht Venus abends auf den Strich…’ Beim zweiten Vers sahen sich die Zuschauer an. […] Noch nie hatte man eine so falsche, so ungeschulte Stimme gehört! […] Als Nana die Heiterkeit der Zuschauer sah, fing sie ebenfalls an zu lachen. […] Beim Lachen entstand ein reizendes Grübchen in ihrem Kinn. Ganz ungeniert und ohne Scheu wartete sie und stellte sich gleich mit dem Publikum auf guten Fuß; dabei machte sie ein Gesicht, als wollte sie mit einem Augenzwinkern sogar selber sagen, daß sie für keinen Dreier Talent hätte, aber das mache nichts, sie hätte ja was ganz anderes zu bieten. Dann gab sie dem Kapellmeister einen Wink, der heißen sollte: ‚Hopp, alter Junge!’ und begann ihr zweites Couplet: ‚Um Mitternacht streicht Venus vorbei…’ Es war wieder dieselbe essigscharfe Stimme, aber jetzt kitzelte sie das Publikum an der richtigen Stelle und jagte ihm für Momente einen Schauer über den Rücken. […] Sie wiegte sich hin und her, denn sie wußte nicht, was sie sonst machen sollte. Aber das fand man jetzt keines­wegs mehr scheußlich, im Gegenteil; die Männer hoben ihre Operngläser ans Auge. Als ihr Couplet auf den Schluß zuging, blieb ihr vollkommen die Stimme weg, und sie begriff, daß sie nie zu Ende kommen würde. Da gab sie sich einfach in aller Ruhe einen Ruck mit den Hüften, wobei sich unter der dünnen Tunika alle Rundungen markierten, verneigte sich mit wogender Brust und breitete grüßend die Arme aus. Lauter Beifall brach los. Sofort wandte sie sich um und trat zurück; dabei zeigte sie ihre Hinterfront, auf die das rotblonde Haar wie die Mähne eines Tieres herabfiel. Und der Beifallssturm wurde rasend.“ (Émile Zola, Nana [dt. Übersetzung von Erich Marx], Leipzig 1979, S. 21ff.)

Monet: Olympia/ Musée d´orsay/ Wikipedia

Dieses Couplet gibt es tatsächlich in der Belle Hélène, und Offenbach komponiert im Refrain der „Anrufung der Venus“ (Nr. 10, Romanze) eine der anrüchigsten Passagen der gesamten Operettenliteratur, als Helena alias Hortense Schneider fragt: „Dis-moi Vénus. Quel plaisir trouves-tu, A faire ainsi cascader, cascader la vertu?“

In seiner Offenbach-Biografie schreibt Alexander Faris zu dieser Nummer: „The young men in the audience would shout ‚Cascade, Hortense, cascade!’“ (Alexander Faris, Jacques Offenbach, London/Boston 1980, S. 122.)

War die Anrufung der Venus zu Beginn des 2. Akts eines der erotischen High­lights der Hélène, so kam der pornografische Höhepunkt kurz darauf, als Helena/Hortense sich zu Bett legte, um auf Prinz Paris zu warten. Bei Zola liest sich diese Passage folgender­maßen: „Ein Schauer durchrieselte den Saal. Nana war nackt, nackt mit einer gelassenen Frechheit, der Allgewalt ihres Fleisches sicher. Nichts als ein Gazeschleier umhüllte sie; ihre vollen Schultern, ihr Amazonenbusen, dessen rosige Spitzen aufgerichtet und steif wie Lanzen standen, ihre breiten Hüften, die sich wollüstig hin und her wiegten, ihre strammen blonden Schenkel, kurz ihr ganzer Leib zeichneten sich ab und schim­mer­te durch das dünne Gewebe wie weißer Schaum. Das war Venus, die aus den Wogen steigt und keine andere Hül­le trägt als ihr Haar. Und als Nana die Arme hob, sah man im Rampen­licht die goldenen Haare in ihren Achselhöhlen flimmern. […] Die Gesichter der Männer spannten sich; schmal­nasig, mit zuckendem, ausgetrocknetem Mund starrten sie auf die Bühne. […] Nanas Geschlecht schlug die Männer mit Wahnsinn und riss unbekannte Abgründe der Gier vor ihnen auf. Sie lächel­te immerzu, jetzt aber mit dem geilen Lächeln des männer­fressenden Weibes.“ (Farris)

Die Beschreibung der nackten Darstellerin entspricht den tatsächlichen Bühnen­begeben­heiten, wie wir durch einen Eintrag in den Münchner Polizeiakten wissen. Da heißt es ver­gleichend: „Bei alledem verdient Anerkennung, daß die Direction des Theaters [in München, Anm.] sichtlich bestrebt war, das Stück möglichst dezent zu geben. Die Costüme enthüllten bei weitem nicht die Blöße so, wie in Paris am Vaudevilletheater oder in Wien am Carltheater der Fall ist. In Paris u. Wien ent­kleidete sich Helena in der Nachtszene des II. Actes fast vollständig auf der Bühne.“ Doch auch ohne vollständige Nacktheit konstatiert der alarmierte Münch­ner Sittenwächter: „Richtig ist […], daß schamlose Zwei­deutigkeiten bei der ursprünglicheren u. rohen Sinnlichkeit des Münchener Publikums einen größeren u. bedenklicheren Eindruck machen als dies bei den blasierten Parisern u. Wiener der Fall ist.“ (Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Frankfurt a.M. 1994 [1. Ausgabe Amsterdam 1937], S. 242.)

Es überrascht angesichts solcher Aufführungspraktiken nicht, dass der bei der Premiere anwesende Fürst Metternich beim Verlassen des Theaters zu seiner Ehe­frau gesagt haben soll: „Wir haben unrecht daran getan, der Premiere beizuwohnen. […] Unser Name wird in allen Zeitungen stehen, und es ist nicht angenehm für eine Frau, gewissermaßen offiziell in einem solchen Stück gewesen zu sein.“ (Krakauer)

 

Offenbach: “La loge de Madame Hortense Schneider” 1873. Painting by Edmond Morin/ Wiki

Die Theatergarderobe als „Prinzenpassage“: Wenn man um Schneiders spezielle erotische Beziehung zu ihrem Publikum weiß, dann bekommen auch die diversen langsamen, fast geflüsterten, chroma­tisch durchglühten Liebeserklärungen in der Großherzogin („Dites-lui“) und Périchole („Ô mon cher amant“) eine mehr als eindeutig pornografische Note. Man kann diese Lieder und die Art, wie Schneider sie vermutlich sang, vergleichen mit Marilyn Monroes gehauchten Geburtstagsständchen im hautengen Glitzer­kleid für J. F. Kennedy 1962. Leider wagt es heute niemand, Offenbachs Liebeslieder auch nur annähernd so aufzuführen, wie von Offenbach ursprünglich be­ab­sichtigt. Die entsprechenden „historisch informierten“ Offenbach-Aufführungen eines Nikolaus Harnoncourt, John Eliot Gardiner oder Marc Minkowski, jeweils mit Kritikerpreisen überhäuft, versuchen rein besetzungstechnisch die hier beschriebenen Aufführungspraxis erst gar nicht.

Wie intensiv die Beziehung von La Snédèr zu ihrem Publikum war, wird deutlich in der Anekdote rund um ihre Großherzogin-Auftritte. Sie empfing, ganz offiziell, in der Pause in ihrer Garderobe die adligen Häupter Europas. „Alle hohen Fürstlichkeiten, die Napoleon III 1867 empfängt, machen auch der ‚Groß­herzogin von Gerolstein’ ihre Aufwartung: manche ‚nur’ im Zu­schauer­saal, andere auch in ihrem Boudoir (wie der englische Thronfolger, der russische Zar oder der ägyptische Vizekönig). Die Kurtisane Esther Guimont nennt dieses Bou­doir gehässigerweise die ‚Prinzenpassage’. König Wilhelm von Preußen führt ihre Hunde spazieren. Alle Besucher haben natürlich ein ‚kleines Mit­bring­sel’ dabei, und das Vermögen der Hortense Schneider, in Diamanten aus­ge­drückt, mochte nun jene 800.000 [Francs], die es zur Zeit der Schönen Helena betragen hat, noch übertreffen.“

Dieser Besuch des Prince of Wales fand wie erwähnt Eingang in Zolas Nana, und liest man dort, wie sich die Operettendiva mit dem Prinzen unterhielt, dann weiß man auch, wie man sich ihren Bühnenauftritt vorzustellen hat: ‚Ich bitte um Verzeihung, meine Herren’, sagte Nana und zog den Vorhang aus­ein­ander, ‚aber ich bin überrascht worden…’ Alle wandten sich nach ihr um. Sie war ganz unvollständig bekleidet, bloß ein kleines Kor­sett aus Perkal hatte sie übergeknöpft, das ihre Brust nur halb bedeckte. […] Hinten ließ ihre Hose noch einen Hemdzipfel heraushängen. Mit nackten Armen und Schul­tern, die Spitzen ihrer Brüste steif emporragend, stand sie da, ein strahlendes Bild der Jugend, blond und üppig […]. Liebenswürdig hob der Prinz sein Glas hin und her. […] Dann trank er in einem Zug aus. Graf Muffat und Marquis de Chouard hatten das gleiche getan. Man trieb keinen Ulk mehr, man war bei Hofe. Die Theaterwelt spielte die wirkliche Welt als seriöse Posse im heißen Dunst des Gaslichts weiter. Nana ver­gaß ganz, daß sie in Hosen war mit heraushängenden Hemdzipfeln, und spielte die große Dame, die Königin Venus, die den Staatsmännern ihre intimen Gemächer öffnet.“

So legendär war der Besuch der Prinzen (und der übrigen Hoheiten), dass er in einem Aquarell von Edmond Morin verewigt wurde (1873), das heute im Musee du Second Empire in Compiegne hängt, der offiziellen Sommerresidenz Napoleons III.

 

Monet „Frühstück im Freien“/ Wikipedia

Offenbach in Arabien: Der Ruhm der Schneider war derart legendär, dass der besagte Vizekönig von Ägypten, Isma’il, in Kairo ein Theater nach dem Vorbild des Variété-Theaters in Paris bauen ließ, mit Haremsloge für den Hof und Drahtgittern zum Schutz vor neugierigen Blicken, wie Alexander Flores in seinem Aufsatz „Offenbach in Arabien“ berichtet (Alexander Flores, „Offenbach in Arabien“, in: Die Welt des Islams, Nr. 48 (2008), S. 131-169.) Dieses Theater wurde mit Belle Hélène am 4. Januar 1869 eingeweiht. Da Isma’il mehr noch als von Offenbach und dessen Helena von La Snédèr begeistert war, lud er sie nach Ägypten ein. Sie folgte der Einladung im Winter 1869/70. „Es ist wohl kein Zufall, dass in Ägypten drei Werke Offenbachs mit Vorliebe gespielt wurden, in denen Hortense Schneider brilliert hatte: La Belle Hélène, Barbe-Bleue und La Grande-Duchesse de Gérolstein. Das einzige andere in Ägypten gespielte Werk, von dem wir wissen, ist Orphée aux enfers.“

Es ist aus heutiger Sicht fast aberwitzig sich vorzustellen, dass die sexuell extrem befreiten Stücke, die Offenbach für Hortense Schneider schreib, in der streng muslimischen Welt Kairos des 19. Jahrhunderts gespielt wurden, Drahtgitter hin oder her.

La Snédèrs offizieller Lebenspartner war, bis zu seinem frühen Tod 1857, der Duc de Gramont-Caderousse, Anführer der jeunesse dorée der Zeit (allesamt Mitglieder des notorischen Jockey Clubs). Er war auch der Vater ihres Kindes. Als Caderousse starb, hinter­ließ er ihr 50.000 Francs und 1.000.000 für den gemeinsamen Sohn, wodurch die Schauspielerin zu einer vermögenden Dame wurde. Trotz dieses Vermögens handelte Schneider mit Theaterdirektoren in den 1860er Jahren immer wieder gigantische Gagen aus, die für Aufsehen sorgten und sie noch berühmter machten. Am Ende des Zweiten Kaiserreichs spielte sie in der Offenbach-Operette La Diva (1869) sogar mehr oder weniger sich selbst. Natürlich übernahm in Wien Marie Geistinger die Rolle. Mit Erfolg.

 

Offenbach: Die drei Helenen three famous Helenas in Vienna, in the 1860s, showing their legs to attract male audiences/ ORCA

Rückzug von der Bühne und Biografien: Nach dem Deutsch-Französischen-Krieg – der ein gravierender Einschnitt in Offenbachs Karriere und der ursprünglichen Spielart von Operette war – ließ sich Schneider für bemerkenswerte 300 Francs am Abend für die Uraufführung von Hervé’s La Veuve du Malabar (1873) engagieren und kehrte auch ins Variétés zurück, um in einer erweiterten Fassung von La Périchole mitzuwirken. Danach sollte sie Margot spielen, die Bäckersfrau in La Boulangère a des écus, dem Stück von Meilhac & Halévy, Textautoren ihrer größten Operettenerfolge. Aber Schneider verließ schon vor der Premiere die Produktion und gab die Rolle ab. Stattdessen übernahm sie die Poulette in Hervés La Belle Poule (1875), hatte damit aber nur mäßigen Erfolg. Vor allem erntete sie von ihren Widersacher(inne)n bösartige Kommentare bezüglich ihres Alters, das man unpassend für eine junge Bühnenfigur wie Poulette empfand. Allerdings hatte Schneider nicht die Absicht, fortan altersgerechte Rollen zu spielen. Kurt Gänzl schreibt in seiner Encyclopedia of the Musical Theatre: „Schneider had no intention of playing her age. She had been the reigning queen of the Paris stage for a good half-dozen years, and she had no intention of now being its queen mother.“

Die Diva hatte vorher mehrfach im Streit mit Direktoren gedroht, dem Theater den Rücken zuzukehren. Nun tat sie es tatsächlich. Mit La Belle Poule sank der Vorhang über einer der bemerkenswertesten Karrieren in der Geschichte des Musiktheaters. Hortense Schneider lebte noch 45 Jahre „a life of respectability at utter odds with the gay and gallivanting years of her theatrical heyday“, wie Gänzl schreibt. Damit unterscheidet sie sich deutlich von Zolas Titelheldin Nana, die elendig an Pocken zugrunde geht – als Metapher für den moralisch-politischen Untergang des Zweiten Kaiserreichs. Allerdings schildert Zola in Nana auch einen Landausflug, bei dem die diversen Halbwelttheaterdamen voller Bewunderung das Anwesen einer Kurtisane-im-Ruhestand betrachten, die den Absprung geschafft und ihr Vermögen so angelegt hat, dass sie einen aristokratischen Lebensabend genießen kann. Hortense Schneider wurde dieses Glück ebenfalls zuteil. Sie starb am 5. Mai 1920 in Paris.

In der ungarischen Biografie-Operette Offenbach (1920) treten neben Kaiserin Eugenie als Geliebter des Komponisten Offenbachs Ehefrau Herminie sowie Hortense Schneider als Charaktere auf. Die Rolle übernahm ursprünglich Juci Lábass, in Wien wurde sie von Olga Bartos-Trau gespielt, am Broadway von Odette Myrtil. 1949 trat dann Yvonne Printemps in dem Film Valse de Paris als Hortense Schneider auf, allerdings hat die dort gezeigte Figur wenig mit deren tatsächlicher Vita Schneiders gemein.

Offenbach: Poster depicting can-can dancers by Henri de Toulouse-Lautrec, 1895/ Wiki

Eine Biografie der Diva haben 1930 die Herren Rouff und Casewitz veröffentlicht, erst 1995 folgte Jean-Paul Bonami mit Hortense Schneider, la Grande-Duchesse du Second Empire, ein Buch das 2004 unter dem Titel La diva d’Offenbach. Hortense Schneider (1833–1920) neu herauskam. Es ist eine angesichts des bewegten Lebens der Schauspielerin eher dürftige Publikation, genau wie Peter Hawigs Hortense Schneider. Bedingungen und Stationen einer Erfolgsbiographie, ein Bad Emser Heft von 2006. Diese schlanken Veröffentlichungen sind in keiner Weise zu vergleichen mit Jean-Claude Yons monumentaler Offenbach-Biografie von 2000. Dort finden sich natürlich vielfach Passagen zu Schneider, u.a. ein Zitat aus Le Figaro über ihre Darstellung der Boulotte, der revolutionären Vorkämpferin für Frauenrechte in Barbe-bleue. Besser kann man die Stellung und Bedeutung der Diva kaum zusammenfassen: „Chanteuse et comédienne, mademoiselle Schneider est la Malibran de ces cocasseries musicales. Elle a la verve, la finesse et la grace.“

Autor und Operettenchampion Kevin Clarke/Foto ORCA

Bemerkenswerterweise weigert sich die deutschsprachige Offenbach-Forschung bis heute Zolas Nana als Quelle zur Operettengeschichte zur Kenntnis zu nehmen, vermutlich weil die darin enthaltenen Darstellungen nicht ihren Vorstellungen von der Respektabilität des Genres (und ihrer eigenen Existenz) entsprechen. Genauso wird in Operettengeschichten nirgends Hortense Schneider im Zusammenhang mit der Halbwelt des Zweiten Kaiserreichs diskutiert und werden nicht die entsprechenden interpretatorischen Konsequenzen fürs Verständnis der Operetten gezogen, die zumindest in ihrer Ur-Form weit subversiver und sexuell befreiter sind, als man aufgrund von heutigen Aufführungen denken könnte. In Meyers Konversations-Lexikon heißt es noch 1877 zu Offenbach: „[D]ie meisten [seiner Operetten] aber […] sind überdies noch so vom Geiste der Demi-monde durchsetzt, daß sie mit ihren schlüpfrigen Stoffen und sinnlichen […] Tonweisen eine entschieden entsittlichende Wirkung auf das größere Publikum ausüben müssen.“  Man könnte das auch als Kompliment lesen. An der entsittlichenden Wirkung hatte Hortense Schneider entscheidenden Anteil. Eine „entsittlichende Wirkung“ wird man berühmten Helenas der neueren Schallplatten- und Aufführungsgeschichte allerdings nicht zusprechen wollen. Oder hat irgend jemand nach Anneliese Rothenbergers, Jessye Normans oder Felicity Lotts Wiedergabe der „Anrufung der Venus“ lautstarke „Cascade, cascade“-Rufe vernommen? Da steht der historisch informierten Aufführungspraxis von Operette noch eine gewaltige Herausforderung für die Zukunft bevor. Sie würde die Mühe allerdings lohnen, um das Fach der Operettendiva neu zu definieren und das Genre wieder für ein modernes, kosmopolitisches, geistig junges Publikum so interessant zu machen, wie es einstmals war. Kevin Clarke/ Operetta Research Center Amsterdam

 

(Wir danken dem Autor, operalounge.de-Lesern absolut kein Unbekannter und Chefredakteur der website des Operetta Research Center Amsterdam, für seine freundliche Genehmigung, diesen vor einigen Jahren bereits publizierten Text zu übernehmen! Die hier fehlenden Fußnoten sind im originalen Text enthalten und können gerne angefordert werden. Danke Kevin! Foto oben Hortense Schneider/ Ipernity)