An Jessye Norman (die am 30. September 2019 im Alter von 74 Jahren verstarb) erinnere ich ganz genau, vor allem an ihren ersten Liederabend in Berlin 1968 im damaligen West-Berliner Amerika-Haus, wo sie als ganz junge Stipendiatin die Zuhörer und mich – gleichaltrig – zutiefst beeindruckte: eine Stimme wie Samt, dunkel, erotisch und geheimnisvoll. Schubert und Amerikanisches gut artikuliert, mit wunderbaren Augen in einem interessanten Gesicht über einer wüsten Haarpracht und beträchtlicher Leibesfülle.
1969 wurde Jessye Norman in das Opernstudio der Deutschen Oper Berlin übernommen. Und von da an war sie für einige Jahre ein fester Bestandteil des Ensembles, sang – wie die nachstehenden Artikel beifügen – Elisabethen, Elviren und Aidas. Letztere sehe ich noch vor mir in dieser abenteuerlichen, zweigeteilten Bühne. Aber auch ihre Figaro-Contessa, über deren Hand sich Fischer-Dieskau auf der Suche nach Erika Köth im Halbdunkel des letzten Aktes beugte… Es ist heute absolut nicht politisch korrekt, sich über die Körperfülle und vor allem die Hautfarbe eines Künstlers zu äußern, aber für uns damalige unaufgeklärte Operngänger der Sechziger war es schon gewöhnungsbedürftig, Jessye Norman im Kostüm von der Grümmer als Tannhäuser-Elisabeth oder statt Pilar Lorengar als Mozarts Elvira zu erleben … Über viele Jahre hing in der U-Bahn-Station der Deutschen Oper ein Schwarz-Weiß-Poster für Aida mit Jessye Norman und George Fortune abgebildet, wovon Frau Norman später in einem Interview zu Zeiten ihres internationalen Ruhmes nichts mehr wissen und ihren Beginn in Berlin nicht erinnert werden wollte („Ich habe immer gern mit Herrn von Karajan gearbeitet“, und ihr Deutsch hatte sie auch verloren.).
Ich erinnere mich auch an diese Abende mit Herbert von Karajan und anderen in der Berliner Philharmonie, wo sie ihre immer afrikanischer werdenden Roben zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Auftritte machte. Sie hatte da bereits in Frankreich ein drastisches image-polishing erfahren und stand nun als die große Heroine des Gesangs vor uns: stolz, aztekisch anmutend, charismatisch und geheimnisvoll. Sie war neu erfunden, war durch Video-Auftritte und die vielen, vielen Einzel-LPs/CDs bei Philips mit den fabelhaften Covers zur Ikone der Musik geworden. Namentlich die Franzosen (Sergio Segalini von L´Opéra vor allem) wiesen ihr den Göttinnen-Status zu, der in ihre Umhüllung in die Trikolore zum 14. Juli mündete (man hat immer schon schwarze Sängerinnen in Frankreich geliebt, vor allem Amerikanerinnen wie Josephine Baker, Ethel Semser, Barbara Hendricks bis zu – nun – Pretty Yende).
De mortuis… Ein Nachruf ist ja auch der Moment, sich über das bleibende Erbe des Verstorbenen Gedanken zu machen: Was bleibt von Jessye Norman für uns heute? Sie hat (gefühlt) wirklich unendlich viele Aufnahmen gemacht, mehr Liederplatten als Operneinspielungen. Und es sind sicher die Lied-Aufnahmen, mit denen sie in Erinnerung bleiben wird. Die Opernpartien leiden (nur für mich, um die Welle der Empörung einzudämmen!!!) unter einer gewissen Monochromie an Ausdruck: Alles klingt für mich gleich glorios, cremig, üppig. Nach einer Weile ist mir diese Üppigkeit über, sagt mir nichts mehr über den bloßen Klang (wunderbar) hinaus. Das scheint mir ein amerikanisches Syndrom zu sein, wo Stimmen auf Klang und Reichweite geschult werden und (für mich) oft eine gewisse Blässe des Ausdrucks aufweisen. Jeder hört Stimmen anders, natürlich, aber die Stimme von der Norman sagt mir so wenig, erzählt mir keine Geschichte, ist zu oft „nur“ Wohlklang, namentlich bei der Oper (und da gibt’s monströse Aufnahmen, die man wirklich schnell vergisst), keine Aussage. Es ergießt sich eine köstliche Cremespeise über Text und Musik und ertränkt beide.
Ich denke, Jessye Norman war die Sängerin des gefeierten Moments, ein (gehypter) Event, eine Inszenierung und eine Projektionsfläche für viele. Sicher auch eine stolze schwarze Frau, die viel für die Akzeptanz schwarzer Sänger im Musikbetrieb getan hat. .Zudem eine Diva, ohne Zweifel, und eine Ikone, die in ihrer Zeit zu Marmor erstarrt war. Sie war eines der letzten großen Ereignisse des Musiklebens und hat als solches ihren Platz in der Erinnerung. G. H.
Die Deutsche Oper Berlin trauert mit der gesamten Musikwelt um Jessye Norman. Zugleich sind wir jedoch stolz darauf, dass diese Jahrhundertsängerin ihre Karriere auf der Opernbühne bei uns begonnen hat. Für eine junge Opernsängerin gehören die ersten Jahre in einem Ensemble zu den prägendsten, zumal wenn sie diese Zeit an der Seite großer Kollegen verbringen und von ihnen lernen kann. Das war auch bei Jessye Norman der Fall, als sie 1969 nach ihrem Gewinn des ARD-Musikwettbewerbs an die Deutschen Oper Berlin kam. Hier wurde sie sofort mit zentralen Rollen betraut und konnte als Gräfin in Mozarts LE NOZZE DI FIGARO an der Seite von Dietrich Fischer-Dieskau, als Donna Elvira im DON GIOVANNI, als Elisabeth im TANNHÄUSER und in der Titelpartie von Verdis AIDA unter dem Dirigat von Claudio Abbado in den folgenden Jahren die Möglichkeiten ihrer einzigartigen Stimme auf der Opernbühne erproben und zur Sängerdarstellerin reifen.
Dabei lernte Jessye Norman aber auch die Schattenseiten eines großen Repertoirebetriebs kennen: Ihren ersten Auftritt am Haus, zugleich ihr Rollendebüt als Elisabeth, musste sie ohne eine einzige Bühnenprobe absolvieren und darüber hinaus wurde die Tochter einer amerikanischen Bürgerrechtlerin auch noch weiß geschminkt. Die Partie der Elsa im LOHENGRIN hingegen studierte sie zwar als Coverbesetzung für Pilar Lorengar, bekam aber nie die Gelegenheit, diese Rolle auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin zu singen. Dennoch betonte Jessye Norman auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Ensemble 1975 immer wieder, wie wichtig diese Zeit in Berlin für sie gewesen sei – um das große Opernrepertoire kennenzulernen, aber auch aufgrund des besonderen künstlerischen Klimas der geteilten Stadt, deren Kulturangebot von Karajan bis Felsenstein, von Schaubühne bis Schiller Theater in ihr eine begeisterte Besucherin fand. Sicher auch deshalb hat Jessye Norman Berlin die Treue gehalten und ist auch als Weltstar immer wieder in die Stadt gekommen.
Noch in diesem Jahr, am 20. Februar 2019, wurde Jessye Norman mit dem Glenn Gould Prize 2018 in Toronto ausgezeichnet, im Rahmen des Galakonzerts zu ihren Ehren dirigierte Donald Runnicles das TRISTAN-Vorspiel und „Isoldes Liebestod“ mit Nina Stemme als Solistin.
Die Deutsche Oper Berlin gedenkt einer großen Künstlerin, die durch ihr beeindruckendes Charisma, ihr warmherziges Wesen und ihre außergewöhnliche Bühnenpräsenz die Welt der Oper geprägt hat und uns allen in Erinnerung bleiben wird.
Und das bewährte Wikipedia fügt an: Jessye Norman wurde 1945 als Tochter einer Lehrerin und eines Versicherungsagenten in Georgia geboren. Die Eltern waren aktiv in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und Amateurmusiker, die Mutter Pianistin, der Vater Sänger in einem Kirchenchor. Schon in ihrer Kindheit sang Norman gerne und häufig. Ein prägendes Erlebnis war nach ihrer Aussage ein Radiofeature mit Marian Anderson und Rosa Ponselle, von dem sie tief beeindruckt war.
Sie erhielt ein Stipendium an der Howard University, wo sie Musik studierte und 1967 mit einem Bachelor abschloss. Außerdem nahm sie Gesangsunterricht bei Alice Duschak in Baltimore und Pierre Bernac in Michigan. 1968 gewann sie den ersten Preis beim internationalen Musikwettbewerb der ARD in München, worauf sie 1969 in der Rolle der Elisabeth in Richard Wagners Tannhäuser an der Deutschen Oper Berlin debütierte. In der zweiten Pause des Tannhäuser bot man ihr ein vierjähriges Engagement an, das sie überrascht annahm. Dort sang sie unter anderem auch die Rolle der Gräfin Almaviva in Mozarts Le nozze di Figaro.
In den folgenden Jahren trat sie mit verschiedenen deutschen und italienischen Opernensembles auf, 1972 gastierte sie unter der Leitung von Claudio Abbado in der Rolle der Aida in Verdis gleichnamiger Oper erstmals an der Mailänder Scala. Noch im selben Jahr sang sie erstmals die Cassandra in Les Troyens von Hector Berlioz am Royal Opera House Covent Garden in London. Erste Auftritte in den USA hatte sie ab 1972 in Los Angeles und 1973 im Lincoln Center. In den drei folgenden Jahren entfaltete sie eine vielfältige Konzert- und Operntätigkeit, die sie unter anderem zum Maggio Musicale Fiorentino führte, wo sie an Aufführungen von Giacomo Meyerbeers Africana und Georg Friedrich Händels Deborah mitwirkte.
Um diese Zeit begann Norman, sich verstärkt mit dem Liedrepertoire zu beschäftigen, das sich als für ihre Stimme besonders geeignet erwies. Bis 1980 sang sie keine weiteren Opern, sondern konzentrierte sich ausschließlich auf die Welt der Lieder, in der sie sich ein bemerkenswertes Repertoire erarbeitete. Zu ihren Spezialitäten gehörten Wagners Wesendonck-Lieder, die Gurre-Lieder von Arnold Schönberg und Alban Bergs Altenberglieder. Außerdem beschäftigte sie sich ausführlich mit französischen Komponisten wie Henri Duparc, Francis Poulenc, Gabriel Fauré und den Liedern Modest Petrowitsch Mussorgskis.
Ab 1981 gab sie wiederholt Liederabende bei den Salzburger Festspielen, wo sie 1987 auch unter Herbert von Karajan mit Isoldes Liebestod zu hören war. 1982 kehrte sie mit dem Part der Dido in Henry Purcells Oper Dido and Aeneas (Philadelphia) auch wieder auf die Opernbühnen zurück. 1983 trat sie dann erstmals in der Metropolitan Opera auf, dort sang sie erneut die Cassandra in Les Troyens in der Jubiläumsproduktion zur 100. Spielzeit des Hauses. 1985 sang sie die Titelpartie in Ariadne auf Naxos an der Wiener Staatsoper.
In den 1980er und 1990er Jahren war sie an vielen großen Konzerthäusern zu hören, unter anderem an der Lyric Opera in Chicago (Debüt 1990 mit Christoph Willibald Glucks Alceste), der Scala, der Philharmonie Berlin und dem Royal Opera House in London. Norman trat bei Festivals in Verbier, Saito Kinen, Aix-en-Provence und Salzburg auf und sang die Marseillaise aus Anlass des 200. Jahrestages der Französischen Revolution. 1996 eröffnete sie die Olympischen Sommerspiele in Atlanta. Seit den 1990er Jahren begann sie zusätzlich im Jazz zu arbeiten und erarbeitete Programme mit Musik von Michel Legrand oder Duke Ellington.
2015 erlitt Norman eine Rückenmarksverletzung, an deren Folgen sie im September 2019 in einem Krankenhaus in Harlem starb.