Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Umsäuselndes Gewoge

 

Die französische Sopranistin Sandrine Piau ist vor allem berühmt für ihre Auftritte in Barockopern, hin und wieder widmet sie sich aber auch dem Lied. Nun hat sie bei alpha classics eine neue CD mit französischen Liedern aufgenommen.

Das ist nicht die erste Lieder-CD der Sängerin. Mit Klavierbegleitung war sie im französischen Liedrepertoire schon zu hören. Hier sind nun erstmals Orchesterlieder französischer Komponisten des späten 19. Jahrhunderts mit ihr zu hören – in der Regel originale Werke und keine nachkomponierten Instrumentierungen von Klavierliedern.

Das ist mal wieder eine Koproduktion des Labels Alpha Classics mit dem verdienstvollen Zentrum für französische musikalische Romantik (Palazetto Bru Zane) – und deren Mitarbeiter schauen erstmal nicht so genau auf die Komponistennamen, wenn sie sich in den Bibliotheken vergraben, diese Forscher holen vorurteilsvoll alles aus dem Keller, was ihnen gefällt,  und so finden sich hier sowohl unbekannte Stücke bekannter Meister wie Camille Saint-Saens, aber auch Lieder sehr wenig bekannter Musiker Louis Vierne oder Gabriel Pierné.

Eine wehmütige Themenauswahl: Dennoch empfand ich die Auswahl der Stücke diesmal recht einförmig, besonders, was ihre Stimmung angeht. Das mag auch an der Übervorsicht der Franzosen liegen, ihre Lied-Sänger in Klangmassen zu ertränken, wenn sie es mit einem Orchester auf und nicht vor der Bühne aufnehmen mussten. (Die Deutschen hatten da weniger Skrupel.)

Kein Schlagzeug und fast nie Blech – das heißt, es umsäuselt uns eine volle Stunde lang ein hochartifizielles, aber mitunter auch einförmiges Gewoge aus Streichern und Holz. Dann die wehmütige Themenauswahl: Erinnerung, Sehnsucht und Verführung lauten die Schwerpunkte, wobei es bei der Verführung wenig handfest zugeht, gemeint ist wohl eher so etwas wie die Verführungskraft der Melancholie. Mir kam nach dem vierten Lied das Leben derart düster vor, dass ich in dieser Stimmung die Leistung von Frau Piau vielleicht nicht ganz objektiv einschätze…

Natürlich gibt es nichts an der Diktion zu meckern, als Französin hat sie Heimvorteil, sie weiß in jeder Nuance, was sie singt, kennt auch doppelbödige Sprechspiele, das schwingt hier natürlich mit, zudem ist sie eine sehr neugierige, aufgeschlossene Sängerin, die sich mit Begeisterung in solche Projekte stürzt. Aber da ist seit Kurzem auch etwas Saures in der Stimme, eine gewisse Larmoyanz, die bei zwei Liedern noch nicht durchschlägt, beim fünften aber vernehmlich wird. Und das ist schade.

Portionsweiser Genuss: Mark Twain empfahl einst, seine Erzählungen nur pralinenartig zu verspeisen, jeden Tag ein oder zwei, nie eine Schachtel pro Tag. Ich empfehle maximal drei Lieder hintereinander. Denn diesmal bilden auch die eingefügten Orchesterstücke Massenets „Valse très lente“ keinen Kontrast, sie bewegen sich auf derselben melancholischen Ebene (Sandrine Piau: „Si J’ai aimé“ – Französische Orchesterlieder | Le concert de la Loge | Julien Chauvin; Alpha classics LC 00516). Matthias Käther

ÜBERZEUGENDES CHIAROSCURO

 

Spätestens seitdem es 2018 einen Gramophone Classical Music Award in der Kategorie „Recital“ für die Zusammenarbeit des Barockensembles Accademia Bizantina und Delphine Galou anlässlich der CD Agitata gab, gilt die Französin als eine der renommiertesten Altistin der Szene. Seit einigen Jahren singt sie schon in der Vivaldi-Edition des Labels Naïve, 2018 bspw. die Titelrolle in der maßgeblichen Aufnahme von Antonio Vivaldis Il Giustino (CD-Erscheinung Nr. 58 der Edition), ebenfalls mit der Accademia Bizantina unter der musikalischen Leitung Ottavio Dantone. Nun sind zwei weitere Einspielungen mit Werken von Antonio Vivaldi dieses erfolgreichen Teams verfügbar, die sich als ein emotionales Chiraoscuro aus Vivaldis Werk gekonnt kontrastieren und ergänzen. Rund 50 Werke geistlicher Musik von Vivaldi sind erhalten, Musica Sacra Per Alto (Nr. 59 der Vivaldi-Edition) vereinigt zwei Introdutione al Miserere (einer anscheinend von Vivaldi erschaffenen Variante der Solo-Motette) für Kontraalt („Filiae maestae“ RV 638 und „Non in pratis“ RV 641), eine Vesperhymne („Deus tuorum militum“ RV 612), bei der Galou durch den Tenor Alessandro Giangrande ergänzt wird, das fünfsätzige „Salve Regina“ RV 618 und ein „Regina coeli“ RV 615, das von Giangrande koloratursicher interpretiert wird. Als spannender Bonus ist das für die Feier von Mariä Himmelfahrt entstandene Violinkonzert RV 582 enthalten, das Konzertmeister Alessandro Tampieri mit Verve und Leidenschaft spielt.

Die zweite Neuerscheinung Arie E Cantate Per Contralto (Nr. 60 der Vivaldi-Edition) umfasst drei arkadische Kantaten über Liebe und Leid „Cessate, omai cessate“ (RV 684),  „O mie porpore piú belle“ (RV 685) und „Qual in pioggia dorata“ (RV 686). Da sich damit keine CD füllen lässt, ergänzte man mit Opernarien aus Tito Manlio, Il Giustino, La verità in cimento, Tieteberga und La Candace o siano Li veri amici. Das Ergebnis ist ein gut gelauntes Vivaldi-Recital. Die charaktervolle, flexible und stets angenehme Stimme Delphine Galous ist in der sakralen und profanen Sphäre sehr gut aufgehoben, auch hier widmet sie sich innig und ausgeglichen ihrer Aufgabe. Beim Zuhören stellt sich ein typischer Vivaldi-Zustand ein: irgendwie vertraut und schon mal gehört und doch wieder spannend und erstklassig interpretiert. Die Accademia Bizantina musiziert Vivaldi auf der Höhe der Zeit, dynamisch vorwärtsstrebend, die einzelnen Schönheiten stets auskostend und aufnahmetechnisch ausbalanciert. Die beiden Aufnahmen entstanden hintereinander innerhalb eines Monats und bieten als doppelter Querschnitt viel Hörfreude für Vivaldi-Fans  (Musica Sacra Per Alto, Naïve 30569. Arie E Cantate Per Contralto, 1 CD, Naïve 30584). Marcus Budwitius

Müdes Peru

 

Die Erwartungen waren groß und werden nicht erfüllt. Marc Minkowski hätte man eine rasante Périchole zugetraut, nach seinem Orphée und der Belle Hélène hätte man spritzige Parlandi und lustvolle Ensembles erwartet. Nichts wirklich davon hier. Unentschlossen im musikalischen Drive zieht sich die Geschichte bühnenrumpelnd um die moralischen Verwicklungen der  spanischen Straßensängerin dahin, nicht sonderlich interessant vorgetragen. Und man denkt, einen netten Theaterabend in Nimes zu erleben (nichts gegen Nimes). Nein, durchaus nicht: Wir sind in der Opéra nationale de Marseille, wo Minkowski  musikalischer Chef ist (wie lange?) und wo mir das das interessante Art-Decó-Haus noch von der Salammbô Reyers in angenehm in Erinnerung ist.

Immer noch unvergleichlich: Regine Crespin als Perichole…

Vielleicht ist diese freche Geschichte zu frivol für das ehrwürdige Carpo-Theater. Denn auch die Besetzung klingt eher nach Nimes als nach Marseille. Vor allem die Verkörperung der Titelpartie, die mir als Vénus im französischen Tannhäuser mit ihrem Schrei bei Rückzug in ihr habitat in Erinnerung geblieben ist, Aude Extrémo („I am not making this up“ würde Anna Russell jetzt sagen) bleibt langweilig, schwerblütig und viel zu mütterlich, eher die Patriarchin einer Zigeunerfamilie als die Tambour-schwingende gosse, die sich vor Hunger an die Männer verkaufen will. Hier hungert niemand. Und mit Frau Extrémo steht bzw. fällt nun die ganze Pikanterie, denn eine Perichole im Slow-Motion-Gang einer matronalen Carmen geht eben nicht.

Man denke an Teresa Berganza bei jüngst wieder Warner/EMI, die war auch ein Flop. Mit mehr Stimme. Und zudem eine echte Spanierin (was der Figur nichts nützte). Nein – es sind auf CD die rasante, durchaus nicht mehr junge Régine Crespin, die bei Erato/EMI ihre Zeilen unvergleichlich serviert (gestützt von einem ebenfalls in die Jahre gekommenen Alain Vanzo). Und es ist die tolle Suzanne Lafaye auf der alten EMI-Aufnahme, die genau diesen nötigen Falcon-Ton in der Stimme hat, nicht Mezzo und nicht Sopran und voller, fast wie wie zufälliger Rollengestaltung.

Und ein Muss: Suzanne Lafaye als Perichole unter Igor Markhevitch ...

Die Übrigen auf der neuen Aufnahme sind nicht unrecht. Den attraktiven Stalislas de Babeyrac hätte man gerne optisch erlebt, und sein Pequillo ist hübsch (hat aber nicht die Präsenz eines Vanzo), die übrigen sind angenehm (Alexandre Duhamel, der verdiente Eric Huchet, Marc Mauillon und viele mehr. Die Kräfte des Chéf-eigenen Orchesters Les Musiciens du Louvre bleiben unauffällig ohne den Schwung eines Markhevitch-geleiteten Ad-hoc-Orchesters im Umkreis von Aix-en-Provence. Aber ehrlich gesagt höre ich da dann lieber die alte Erato/EMI-Aufnahme unter dem Genannten, auf der uns eben diese urfranzösischen Sänger/Schauspieler wie Suzanne Lafaye, Raymond Amade  oder Christoph Benoit eine Zauberwelt an Illusion eröffnen. Wo wir ihnen glauben, was sie uns vorspielen. „Je T’adore, Si Je Suis Folle“ – singt er, wie kann sie da widerstehen? Ich auch nicht.

Pardon Maestro Minkowski, ich hab ihn immer verehrt, aber niemand kann alles. Dies hier jedenfalls nicht. Und wie mein verehrter Kollege Lührs vom rbb so richtig anmerkt: Haben wir eine Périchole wirklich im Offenbach-Jahr gebraucht? Nicht eher eine Madame Favart, eine Créole, einen Roi Carotte? Dommage, eine vertane Chance (2 CD im üblichen Buch-Format mit französisch-englischen Aufsätzen und dto. Libretto beim Palazetto Bru Zane, BZ 1036). Geerd Heinsen

Deutsch-französische Aspekte

 

Konnte man bisher in puncto CD-Würdigung den Eindruck gewinnen, der zweite große Jubilar des Jahres 2019, Jacques Offenbach (200. Geburtstag), sei im Vergleich zu Hector Berlioz (150. Todestag) ein wenig in den Hintergrund gedrängt worden, so berichtigt Warner Classics dies nun umso mehr durch eine wahrhaft monumentale, nicht weniger als 30 CDs umfassende Box Offenbach – The Operas & Operettas Collection (Warner 0190295499570).

Bereits auf den ersten Blick steht bei dieser Veröffentlichung der deutsch-französische Aspekt im Vordergrund, der sich bei Offenbach natürlich auch biographisch niederschlägt. Enthalten sind nicht nur französischsprachige Aufnahmen der Opern und Operetten, sondern auch viele deutschsprachige Produktionen von Orpheus in der Unterwelt, Die schöne Helena, Pariser Leben (alle geleitet von Willy Mattes), Die Großherzogin von Gerolstein (unter Pinchas Steinberg) sowie Hoffmanns Erzählungen (unter Heinz Wallberg). Gemein ist ihnen, dass es sich fast ausschließlich um Einspielungen aus den 1970er und 80er Jahren handelt – meist WDR-Electrola-Ware, über die man sich durchaus streiten kann, haftet ihr doch eine gewisse Muffigkeit und Biederkeit an. Offenbach in Deutsch verliert meist seinen Witz und seinen gôut. Und weder Anneliese Rothenberger noch Grit van Jüten sind Nachfolgerinnen der großen Hortense Schneider.

Die ältesten und lohnenderen Aufnahmen sind Ba-ta-clan und Les Bavards von 1966 bzw. 1967 aus Strasbourg unter dem Dirigat von Marcel Couraud aus dem Repertoire der Erato – köstlich und spritzig. Michel Plasson zeichnet verantwortlich für originalsprachigen Versionen von Orphée aux Enfers, La Belle Hélène, La Vie parisienne sowie La Périchole. Les Contes d’Hoffmann werden von Sylvain Cambreling, Les Brigands von John Eliot Gardiner und Pomme d’Api, Monsieur Coufleuri sowie Mesdames de la Halle von Manuel Rosenthal verantwortet; letzterer steuert auch sein berühmtes Arrangement Gaîté Parisienne bei.

Die berühmteste Grande-Duchesse auf CD: Regine Crespin auf Sony, leider vergriffen; aber die alte Leibowitz-Aufnahme mit Eugenia Zareska gehört ebenfalls zu meinen Lieblingen (Preiser und als MP3-Doiwnload bei Naxos)/ G. H.

Hinzu gesellen sich Auszüge aus La Fille du tambour-major (Dirigent: Félix Nuvolone) und La Gande-duchesse de Gérolstein (Dirigent : Jean-Pierre Marty). Abgerundet wird die Kollektion durch diverse Operettenarien mit Janes Rhodes (ah, was für ein Charme und welche finesse des Servierens) unter dem einstigen Wunderkind-Dirigenten Roberto Benzi. Als Zugaben sind zudem Auszüge aus Gaîté Parisienne in einem Arrangement für drei Klaviere (Giorgia Tomassi, Carlo Maria Griguoli, Alessandro Stella) sowie die Fables de La Fontaine für Bariton (François Le Roux) und Klavier (Jeff Cohen) inkludiert. Hierbei handelt es sich auch um die neuesten Produktionen (2013 und 1990). Leider liegt die berühmteste Grande-Duchesse der Neuzeit, die mit der Crespin, bei der CBS/Sony, dommage. Und leider wird die Périchole von der humorlosen Teresa Berganza nebst ungeeignetem José Carréras niedergemacht. Da wäre die schöne alte mit Suzanne Lafaye von der EMI netter gewesen. Und über das Vie Parisienne mit der unvergleichlichen Suzy Delair (im Soundtrack eines Films) geht eh´ nichts (Musidisc, vergriffen).

Bloß auf den ersten Blick erwarten den Hörer bei der Warner-Kompilation Dopplungen, unterscheiden sich die deutschen von den französischen Fassungen der Werke doch teilweise ganz frappierend, was durchaus auf des Komponisten eigenem Zutun beruht. Während sich der deutschsprachige Orpheus der Urfassung bedient, liegt seinem französischen Pendant die ungleich umfangreichere Zweitfassung zu Grunde. Bei der Schönen Helena verhält es sich insofern umgekehrt, als hier die deutsche Fassung erweitert wurde. Die französischsprachige Aufnahme leidet zudem an opernartiger Überhöhung, was durch die Mitwirkung von Jessye Norman, die für solch ein Repertoire nicht unbedingt berühmt war, freilich begünstigt wird.

Die Idiomatik überwiegt vornehmlich in den älteren französischen Produktionen, was sich durch die mitwirkenden Sängerinnen und Sänger wie Régine Crespin, Huguette Boulangeot, Mady Masplé, René Terrasson und Michel Sénéchal ausdrückt. Die deutschsprachigen Varianten haben fraglos für manche deutsche Hörer ihren Reiz (sicherlich nicht für Franzosen), begegnet man doch den zwar legendären, aber für Offenbach wenig geeigneten Namen wie Anneliese Rothenberger, Nicolai Gedda, Benno Kusche, Adolf Dallapozza und sogar Theo Lingen (als Hans Styx im Orpheus). In manchem Falle erfreulich ist, dass einige vergriffene Aufnahmen mittels dieser Edition nun wieder greifbar werden, so die älteren Einakter und die solide Fille du Tambour-major mit der idiomatischen Eliane Lublin. Auch Les Brigands profitieren von einer nationalsprachigen Crew mit der bezaubernden Colette Alliot-Lugas, Michel Trempont und dem höhensicheren Tibère Raffali – da sieht man, wie Offenbach mit idiomatischen Stimmen zum Leben erweckt wird, und man bedauert einmal mehr die Politik der EMI, die internationalen Stars in dieses empfindliche Genre gepresst zu haben. Keine gute Idee schon damals.

Zu begrüßen sind die ansprechend gestalteten CD-Hüllen mit dem jeweiligen ursprünglichen Cover. Dafür ist das Beiheft kaum der Rede wert, Libretti sucht man vergebens. Immerhin werden die kompletten Besetzungen, Aufnahmedaten und -orte verzeichnet, was mittlerweile auch nicht mehr unbedingt die Regel ist. Klanglich genügen diese sämtlich in Stereo eingespielten Produktionen auch heutigen Ansprüchen. Daniel Hauser/ Geerd Heinsen

Il vecchio cor

 

Im Alter von 76 Jahren bestieg Leo Nucci am 23. und 25. November 2018 im Münchner Prinzregententheater und zwei Tage darauf im Müpa in Budapest das Konzertpodium, um nochmals das „Vecchio cor“ des greisen Dogen Francesco Foscari schlagen zu lassen. Nicht zum ersten Mal, wovon man sich auf DVDs mit Aufführungen aus Neapel (2000) und Parma (2011) überzeugen kann. Vermutlich wird er den 65. Dogen von Venedig, den Lord Byron in seinem Verstragödie The Two Foscari und Verdi in seiner Oper I due Foscari verewigten, auch nicht zum letzten Mal verkörpert haben, nähert er sich doch erst jetzt dem wahren Lebensalter des Francesco Foscari an (1373-1453). Der in München und Budapest entstandene Mitschnitt des Bayerischen Rundfunks (2 CD 900328) baut vor allem auf die Präsenz des Baritons, dessen Ton in der erwähnten Romanza („O vecchio cor, che batti“) etwas nasal, trocken und eng klingt, der aber auf seine gute Technik bauen kann und in dem vorausgehenden Szene immer noch von bedeutender Autorität ist und die Gebrochenheit des alten Dogen vermittelt, der das Urteil unterschreiben muss, welches seinen Sohn Jacopo, der in eine Mordintrige verwickelt ist, zu lebenslangem Exil verbannt. Während Jacopo eher in die Linie der leidensfähigen, sanft aufbegehrenden Verdi-Helden gehört, was Ivan Magri vor allem in der Preghiera des zweiten Aktes ausdrucksstark und mit sicherer Emphase vermittelt, ist Francescos Schwiegertochter Lucrezia eine geradezu wild aufbegehrende junge Frau, die sich leidenschaftlich für ihren Mann einsetzt. Für die 1844 in Rom von Marianna Barbieri-Nini kreierte Partie, die drei Jahre später auch die erste Lady Macbeth war, ist Guanqun Yu zu handzahm und wenig leidenschaftlich. Für die Lucrezia braucht es eine im Kern dramatische Stimme. Sehr gut sind Miklós Sebestyén als der unversöhnliche Loredano vom Rat der Zehn, der Vater und Sohn Foscari stürzen will, und István Horváth als Senator Barbarigo, der Mitleid mit Lucrezia und ihren Söhnen zeigt. Der kroatische Chefdirigent des Münchner Rundfunkorchesters Ivan Repušić, der bereits im Jahr zuvor eine Luisa Miller mit Marina Rebeka aufführte und aufnahm, hat offenbar ein fabelhaftes Gespür für den frühen Verdi, dessen Cabaletten er mit zündender Kraft voranpeitscht. Die Szenen sind mit drängendem Elan verblendet, die Atmosphäre, was Verdi mit „tinta“ umschrieb, in den düsteren Gemächern des Palastes in den dunklen Bratschen- und Celloklängen zwingend eingefangen und der Chor des Bayerischen Rundfunks grandios inszeniert.   Rolf Fath

Singen als Daseinsakt

 

Wer will schon die Frage nach dem größten Sänger neuerer Zeit entscheiden? Toscanini, weil er totaler Willensmensch war! Callas, die er in ihrer Frühzeit hörte? “Eine große, häßliche Stimme!“; Caruso, dem er feurig eine Weltkarriere vorhersagte? Als sie 1901 zutraf, war das Feuer aus. “Yes, you make much money, but no, n o , NO !“ Zum größten ihm je begegneten Vokalisten erklärte Toscanini ausgerechnet sein nacktes Negativ, einen Sünder wider alles, was er sein Lebtag der Opernwelt oktroyiert hatte: Fjodor Schaljapin, der weder vom Taktstock noch von den Noten zu fesseln war, weniger ein Sänger als ein kochender Lavastrom.

Fjodor Iwanowitsch Schaljapin mit Maxim Gorki, Ende 19. Jh./ Wikipedia

Sein Portraitist, Maxim Gorki, beschreibt das Publikum eines Recitals als minutenlang stumm und unbeweglich, “als habe man eine zähe, feste, schwere Flüssigkeit über sie gegossen !“ Die Darbietung bescherte kein Behagen, nur “bleiche, angstverzerrte Gesichter.“ Angst wovor ? Mag sein vor dem Jammer des Daseins, der Flüchtigkeit des Glücks, dem Schrecken Boris Godunows, wenn die Orchesterglocken ihm die Stunde schlagen und er der Niederträchtigkeit seiner Existenz gewahr wird: “Können meine Gebete meine Sünden löschen ? Prestitie, prestitie“, Erbarmen “o, smert.“ Oh Tod. Unmöglich, diese Zeile von Schaljapins Stimme zu trennen ! Erbarmen mit der bête humaine, der Sterblichkeit von Freud und Leid, umschreibt wohl am besten die innere Quelle, aus der der Unsterbliche schöpfte. Was unsterblich bleibt ist indes nur ein Schemen, ein Untoter, der aus 248 in Schellack geritzten Musiknummern schallt.

Was haben diese armseligen Fragmente von der unschönen Wahrhaftigkeit schaljapinscher Kunst der Nachwelt mitzuteilen ? Sie ist noch fürchterlicher geworden, das regt sie aber nicht mehr auf. Abgebrüht wie man ist, reagiert unsereins auf die Barden der “Oh Mensch“ Ära eher allergisch. Nun ist dem Melomanen das spröde, knurrige Timbre dieses Basso profondo durchaus ins Ohr gewachsen, nebst einigen anderen seines Fachs. Man denke an das sanft vernebelte Schmachten Ezio Pinzas, an den blausamtenen Umhang Alexander Kipnis’, den nobel gekörnten seduttore Cesare Siepi, den gruftigen Yi-Kwei Sze, die Orgel Mark Reizens, den mitternächtlichen Ol’ man river Paul Robeson; eine pelzige Wohltat nach der anderen. Unser Mann verhält sich anders, man wird nicht gewärmt von seinem schneidenden Organ, es geht unter die Haut, ist kreuzungemütlich wie ein Kirchenvater, kündet Verdammnis. So gehört er in den Klangkosmos der Schallplattengeschichte, kolossal vorhanden, auf Anhieb erkennbar wie all’ diese Altheiligen.

Zar Fjodor/ Wikipedia

Die Erschaffung der Schallplatte als künstlerisches Medium wird gewöhnlich auf den 11.4.1902 datiert, als ein 29jähriger Gott aus den Sielen Neapels im Mailänder Grand Hotel vier Matrizenseiten besang. Disc 1 der Schaljapin Gesamtedition des Restaurators Ward Marston korrigiert den Mythos Caruso, indem man einen ebenfalls 1873 Geborenen am 23.01.1902 im Continental Hotel Moskau vernimmt, der mit gleicher Pranke eine vokale Physiognomie in Wachs preßte, die noch vier Generationen danach so gegenwärtig scheint als sei hier die Vergänglichkeit unterbrochen. Nebst ihm und Caruso existiert kein weiterer so zeitloser Sänger unter den Männern.

Doch anders als das in Carrara Marmor gemeißelte Melodram des Napolitaners, schön wie der junge Morgen, ist Schaljapins Vortrag blutig, wächst aus der Erde, trägt ein Schicksal, eine schwarze Kruste, aus der die Freude als temporäre Erlösung von dem Übel heraussprudelt wie eine Fontäne. Die Stimmfarben sind  überreich, doch nie auf Farbeffekte angelegt wie bei dem eitlen Battistini. Und ob das Organ prunkvoll klingt oder mager, groß ist, ausgeglichen oder brüchig, ist ganz unbeachtlich. Dieser Mensch treibt Gesang um sein Herz aufzureißen, deklamiert nicht, sondern bohrt in den Abgründen als gäbe Dostojewski das Schreiben auf und heulte Lieder. Man kann gar nicht krass genug den Abstand betonen, zu dem was gemeinhin Stimmkunst ist, will und kann. Obwohl die seinige nach allen Regeln fabulös ist, hält man sie nicht dafür, weil das Artifizielle klassischen Singens spurlos verdunstet und er wie unbeschwert davon “im Wald und auf der Vogelweid’“ spaziert. Die Kunst fällt nirgends als Kunststück auf und ein Liebeslied besteht nicht aus Schmelz, sondern ist von Zärtlichkeit durchtränkt zum Steinerweichen.

Silbermünze zu Ehren Schaljapins/ wega

Seltsamerweise verträgt sich diese Magie mit Stücken, die man außerhalb ihrer Sphäre wähnt, Brahms’ Saphische Ode, Beethovens Tomba oscura, Griegs Intimitäten, Mozarts Registerarie. Bellini und Donizetti baden in lupenreinstem Legato; wenn er will, macht er es den Salbadern vor, und ohne Luftholen ! Man mag als die Vollendung aller Gaben die in der Marston Edition versammelten russischen Volkslieder aus der Aufnahmezeit 1902 – 1910 ansehen. Die Schlachtrösser des Repertoires – Boris, Mephisto, Philipp – wohnen bereits unkündbar in der Erinnerung, direkt aus seinem Munde oder auch transportiert von seinem großen Imitator Christoff. Der mag allerdings nicht von seinem Prachtorgan absehen. Die anspringende Lebendigkeit, das Mutterlaut Syndrom der schaljapinschen Vortragsart berührt jedoch am tiefsten in den unbegleiteten und wunderschönen Gesängen vom Versinken der Sonne, der Landstraße und dem Dahinfließen der ewigen Ströme. Hier ist Singen keine Darbietung mehr, sondern ein Daseinsakt wie Atmen, Gehen, Ruhen, Fühlen, das, was nicht anders geht !

 

Portrait of Fjodor Schaljapin – Boris Michailowitsch Kustodijew 1922/ Wiki engl.

Und nun sei die Großtat Ward Marstons gerühmt, der die Sisyphosarbeit des Besorgens und Reproduzierens dieses von 1902 – 1936 entstandenen Erbes von Schellacktürmen geleistet hat. Niemand außer einer Handvoll Gralshüter hätte je die Moskau- Petersburger Sitzungen 1902 – 1908 registriert; sie sind aber unerläßlich. Die damaligen Grenzen des Trichteraufnahmeverfahrens vergißt man anbetrachts der prallen Manneskraft des Dreißigjährigen, die darin halbwegs passabel aufbewahrt ist. Die nach Einsatz von Mikrophonen ab 1925 festgehaltene Stimme des Mittfünfzigers ist gravitätischer, schründiger, aber vollkommen intakt; gelegentlich verblüfft der Realismus der phonographischen Abbildung, verglichen mit dem heutigen Klangmatsch. Die letzten Aufnahmen 1933 – 1936 erreichen nachgerade High Fidelity. Wie kann man die vier Ausschnitte aus Don Quichotte, dem Ritter von der traurigen Gestalt, anders als mit gefalteten Händen hören ? Hier endet jede Vergleichbarkeit. Zwei Jahre vor seinem Tod schließt sich der Kreis mit dem Lied der Wolgaschiffer: “Ay-da, da ay, Ay-da, da ay. Pesni solnyshko poyom.“ – wir singen Lieder an die Sonne. Wahrlich !

Um wieder auf das Parisurteil Toscaninis zurückzukommen: Si, si; es ist begründet ! Der einzige Mißerfolg, einem Witz Schaljapins zufolge war, dass Nikolai ihm 1917 den Zarenthron nicht übergeben hat. Dann wäre die Russische Revolution nicht passiert. So kehrte er denn erst 56 Jahre nach seinem Tod in Paris heim, als Asche. Ward Marstons Edition zeigt aber an, dass die Glut in dem Rest nicht erlischt.

(Die Marston-Box enthält  13 CDs, 51301-2 (auf allen dieselbe),  veröffentlicht 2018. Es gibt ein reich illustriertes Beibuch mit allen Texten sowie Aufsätzen von Michael Scott, Michael Aspinall und Ward Marston, dazu persönliche Erinnerungen von Gerald Moore und Ivor Newton, English only, Texte jeweils in Originalsprache u. engl. Übersetzung.) Jörg Friedrich

Zum zweiten Mal auf CD

 

Vieles an Rossinis Eduardo e Cristina ist ungewöhnlich. Schon der Ort, das Königliche Schloss in Stockholm, will so gar nicht in die Reihe von Rossinis sonstigen Opernschauplätzen passen. Vielleicht versetzten die Librettisten Andrea Leone Tottola, der kurz zuvor für Ermione verantwortlich war, und Gherardo Bevilacqua-Aldobrandini die Story (nach Giovanni Schmidt Odoardo e Cristina) auch an einen Ort, der Rossini als das nördliche Ende der  Welt vorkommen musste, um zu verschleiern, dass die im April 1819 am Teatro San Benedetto in Venedig uraufgeführte zweiaktige Seria aus bestehendem Material zusammengeflickt war: aus Adelaide di Borgogna (Rom 1817), Ricciardo e Zoraide (Neapel 1818) und der kurz zuvor erfolglos uraufgeführten Ermione (Neapel 1819)Dazu ein paar rasch geschriebene Nummern und Rezitative, alles passend, um der Tochter des Impresarios ein glänzendes Debüt zu bereiten. Auch das Libretto war im Grunde solch ein Fleckerlteppich: das heimlich verheiratete Ehepaar Cristina und Eduardo, sie die Tochter des Königs, er General der schwedischen Armee, entstammt dem Typ des bürgerlichen Trauerspiels, der heroische Teil der Geschichte, Eduardos erfolgreicher Kampf gegen die Russen, der den schwedischen König Carlo dazu bewegt, dem Paar zu vergeben, entspricht der Tradition der Heldenoper à la Tancredi; auch in Eduardo und Cristina sind der Krieger Eduardo mit einem Kontraalt, der Vater mit einem Tenor besetzt.

Vorläufer war diese: „Eduardo e Cristina“, ebenfalls aus Wildbad 1997, bei Bongiovanni

Zwei Jahrzehnte feierte das Publikum Eduardo e Cristina. Dann wurde Eduardo e Cristina zu  „Rossinis forgotten opera“. Charles Jenigan, der im Beiheft zur Neuaufnahme auf die Praxis des Pasticcios eingeht – er verwendet weitgehend den Begriff centone – bemerkt richtig, Eduardo e Cristina „is perhaps the last centone by a major composer, written just before Romanticism made a work like it impossible“Eduardo e Cristina sei die letzte der Opern Rossinis, die in neuerer Zeit wieder auf die Bühne gelangte (1997 Bad Wildbad) und selbst das Rossini Opera Festival in Pesaro hat bislang einen Bogen darum gemacht. „Rossini in Wildbad“ stellt das heldische Pasticcio im Juli 2017 neuerlich konzertant vor; der Mitschnitt von 1997 unter Francesco Corti erschien bei Bongiovanni.

Mit der Neuaufnahme aus der Trinkhalle in Bad Wildbad fügt Naxos (2 CDs 8.660466-67) seinem Rossini-Katalog einen weiteren Baustein zu. Gianluigi Gelmetti leitet eine einerseits breit würdevolle, dennoch sehr vitale Aufführung, formt das „Best of“ geradezu lustvoll aus und treibt Chor, Orchester (die Virtuosi Bruenensis und den Camerata Bach Chor aus Posen) und Solisten zu einer spannend und dichten Aufführung an. Unkundige werden zunächst mit dem anfangs dünn wirkenden Klang des Orchesters, der vom Chor holzschnittartig intonierten Introduzione und der nicht ausgewogenen Balance fremdeln. Doch rasch packt Gelmettis Elan. Die gesanglichen Leistungen sind befriedigend. Man ist immer wieder überrascht, wie kompetent die Wildbader Primadonna Silvia Dalla Benetta sich die entlegensten Partien aneignet und ihnen ein Gesicht verlieht. Ihr Ton ist streng, ein bisschen fordernd, das Timbre keinesfalls verführerisch, sie singt aber stil- und gestaltungssicher, vor allem dramatisch. Als schwedischer General muss sich Laura Polverelli kräftig ins Zeug legen, ihr Eduardo wirkt wie Cristinas kleiner Bruder, wobei sie auf der CD vorteilhafter als live klingt. Immer geschmackvoll und mit schönem Timbre singt Kenneth Tarver den König Carlo, währen Baurzhan Anderzhanov leer ausgeht und als schottischer Prinz Giacomo weder die Hand der Prinzessin noch eine Arie bekam. Es gibt keine bessere Alternative!  Rolf Fath

Banales Märchenspiel

 

Der erste Entwurf des Bayreuther Lohengrin 2018 von Neo Rauch und Rosa Loy habe ihm Brabant als ein untergegangenes Land gezeigt, erzählt Yuval Sharon, „ohne Elektrizität, ein Land, das die Energie verloren und das Verlorene zum Göttlichen überhöht hat“. Entsprechend dunkel ist, es als der Heerrufer die Grafen, Edle und Freie von Brabant unter der Gerichtseiche zusammenruft, wo der König Heinrich mit hängenden Insektenflügeln auf einem Isolator kauert. Blaugrauer und schilfig dunkler als im Festspielhaus muten die Szenen auf den beiden DVDs der vorjährigen Bayreuther Aufführungen an (2 DVD DG 004400735616), wie ein alter Film, aus dem man bestimmte Farben herausgefiltert hat, ein Gemälde aus alten Zeiten, aus dem die Figuren in ihren historischem Wämsern, Radkragen und Kniebundhosen aus dem Transformatorenhäuschen in den Lichtkreis treten. Rauchs Kulissen und Sharons übersichtliche Arrangements setzen bewusst auf die Anmutung ausgestanzter Märchenbilder und niedlicher Szenen zwischen Bilderbuch und „Toteninsel“, van Dyck und böser Königin. Würden die Mannen keine Bärte tragen, könnte man sie ohne weiteres für die sieben Zwerge und ihre possierlichen Freunde halten. Dass diese Scharade nicht ins Banale und Lächerliche oder unfreiwillig Komische abrutscht, davor bewahrt sie Christian Thielemann, der die Musik so aufrichtig, ernsthaft und anrührend mit der Aura des Märchenhaften und Übersinnlichen entfaltet. Die Bildregie rückt den Betrachter nah ans Geschehen heran, meidet die Totale weitgehend oder unterstreicht beim Blick von schräg unten oder oben den Charakter des Figurentheaters oder märchenhaft Entrückten, wodurch sich der Eindruck von der Live-Aufführung etwas korrigiert, wirkt bei den Lichtblitzen, die das Papphäuschen beim Erscheinen des Superelektrikers Lohengrin durchzucken und der Luftnummer beim Zweikampf Lohengrins mit Telramund aber auch ein bisschen wie Augsburger Puppenkiste. Dadurch gerät die stets präsente und immer böse um die Ecke guckende Waltraud Meier ins Hintertreffen. Inmitten dieser flämischen und puppenspielhaften Veduten wirkt Lohengrin in seinem Piloten- oder Elektrikeroverall tatsächlich wie der Ritter aus einer fremden Welt. Piotr Beczala singt diesen zupackenden Handwerker mit der Zuversicht eines Sängers, der keine Uniform scheut und nie lächerlich wirkt, mit aufrichtigem Ton, der ganz zart und lyrisch bleibt, aber über ausreichend Durchsetzungsvermögen verfügt, um die Gesangsbögen zu formen und sie mit Nachdruck und Bedeutung zu unterlegen. Beczala spielt den Schwanenritter mit einer ätherischen Entrücktheit und Unschuld, zu schön, um wahr zu sein. Alle klingen, scheint mir, vorteilhafter als in der von mir im Vorjahr besuchten Aufführung. Auch Anja Harteros singt mit konzentrierterem Ton, wenngleich ohne den Dornröschenglanz, ist in „Euch Lüften“ vom einigem reifem Liebreiz, doch letztlich keine ideale Elsa. Mustergültig Georg Zeppenfeld als Heinrich mit schlankem, schön zentriertem und auf Linie bedachtem Bass, der auf den DVD nicht so leicht und hell wie im Haus klingt, voll dunkler Würde in seinem Gebet. Seinem Heerrufer, einen eifernden politischen Steifbügelhalter, gibt Egils Silins wütende Attacke und ironische Zwischentöne, Tomas Konieczny dem Telramund berstende Wucht. Szenisch ist seine Begegnung mit der wilden Seherin auf der DVD womöglich noch uninteressanter als live. Auch wenn Waltraud Meier als kluge, weniger intrigante als raffinierte Ortrud – Sharon bezeichnet sie als „Überlebenskünstlerin“, die „beabsichtigt, Elsa vor der giftigen Gesellschaft zu retten, um sie in eine Freidenkende zu verwandeln“ –  nach dreißig Jahren in ihrem letzten Bayreuther Festspielsommer mit sorgfältiger Diktion und stimmgestalterischer Autorität die Summe ihre Erfahrung zieht und in den „Entweihten Göttern“ geschickt ihre Grenzen ausreizt.

Auf DVD habe ich dieses drollig unvollkommene, platt papierene Märchenspiel von der Emanzipation der Elsa, die anfangs demütig zu ihrem Retter aufblickt, sich im orangefarbenen Schlafgemach und schließlich im ebenso schrill orangefarbenen Kleid als Ausreißerin erweist, ihr Ränzel packt und mit dem grünen Männchen davon geht – Sharon ist alles andere als ein Meister der Personenführung –  eher genossen als im Festspielhaus Rolf Fath

Olè

 

Die spanische Sopranistin Nuria Rial macht bei ihrer Stammfirma deutsche harmonia mundi/Sony immer wieder mit ausgefallenen Programmen auf sich aufmerksam. Jetzt hat sie unter dem Titel Muera Cupido spanische Bühnenmusik um 1700 herausgebracht, die 2018 in Sevilla aufgenommen wurde (19075868472). Die Auswahl umfasst Kompositionen von Francisco Guerau, Sebastián Durón, Giovanni Bononcini und José de Nebra. Letzterer dürfte der bekannteste Tonschöpfer der Anthlogie sein, nicht selten wurde er gar als der beste spanische Komponist des 18. Jahrhunderts betrachtet. Er schrieb Zarzuelas und Opern, verband darin Elemente des italienischen Stils mit volkstümlichen spanischen Rhythmen, wie Fandango und Seguidilla, was ihn zum prominentesten Vertreter der Madrider Bühnenmusik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts machte. Aus der Zarzuela Viento es la dicha de Amor stammt die Arie „Selva Florida“. Die Sopranistin stattet dieses Liebeslied mit zärtlich-weichen Tönen und fein getupften staccati aus. Aus einer weiteren Zarzuela, Vendado es amor, no es ciego, erklingt der rhythmisch reizvolle Fandango „Tempestad grande, amigo“, in welchem die Sängerin mit südländischem Temperament für sich einnimmt. Die Arie „Adiós, prenda de mi amor“ aus der Oper Amor aumenta el valo beschließt die Sammlung  eher nachdenklich.

Begonnen hatte sie mit einem Instrumentalstück von Guerau, einer Pavane, arrangiert vom Dirigenten der Aufnahme, wie später auch die Xácara desselben Komponisten. Die ersten Vokalbeiträge stammen von Durón aus dessen Zarzuelas El imposible mayor en amor le vence Amor und Las nuevas armas de Amor. Die Aria „Yo  hermosísima Ninfa“  aus ersterer Komposition stellt den Sopran mit kristallklarem wie lieblichem Ton ins beste Licht. Auch die Arietta ytaliana „Quantos teméis al rigor“ aus der zweiten entzückt mit reizenden Klängen von kokettem Ausdruck. Später hört man mit „Sosieguen, descansen“ noch ein kapriziöses Solo humano aus seiner Zarzuela Salir el Amor del Mundo. Bononcinis Kantate „Pastorella che tra le selve“ gehört zum Bestand der Spanischen Nationalbibliothek. Deren heiter-pastoralen Charakter kann die Sopranistin mit munterem Gesang bestens vermitteln. In einer anonymen Komposition, der Cantada „All’assalto de pensieri“, ist vor allem Virtuosität gefragt, welcher die Interpretin mühelos gerecht wird. Von der Accademia del Piacere unter Leitung von Fahmi Alqhai wird sie inspirierend und sehr Affekt betont begleitet. Bernd Hoppe

Berlioz: „Les Troyens“ (Version 1858)

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Das Berlioz-Jahr 2019 bringt nicht nur einige Neuaufnahmen und mehr oder weniger zusammengefasste Gesamtausgaben der bisher aufgenommenen Werke (so bei Warner mit ihren Ex-EMI-Einspielungen,  einigem anderen aus ihren eigenen Beständen sowie die neuen Troyens aus Strassburg), sonder hält uns dazu an – mehr noch als sonst vielleicht – einen näheren Blick auf sein Ouevre zu werfen, namentlich auf sein opus summum, Les Troyens, die zuletzt in Paris, Wien und Dresden wiederbelebt wurden. Die Dokumentation der Strassburger Aufführungen von 2018 in der Warner-.Ausgabe unter John Nelson ist bislang (März 2019) die jüngste CD-Aufnahme und nimmt für sich in Anspruch, die vollständige zu sein (was angesichts der barbarisch gestrichenen Serie an der Pariser Bastille 2019 den Berlioz-Fan wieder ins Gleichgewicht bringt).

Hector Berlioz/ Photographie von Nadar/ Wiki

Aber gemach, gemach – ein Kommentar zur neuen Warner-Version bei Amazon brachte uns (i. e. unseren Leser Eberhard Mattes) auf die Spur des wenig Bekannten: The promotional “Editorial Reviews” blurb is incorrect, describing this recording of  LES TROYENS as being “absolutely complete” and “uncut.” It is not. At the end of his  note on page 33 of the libretto booklet, conductor John Nelson writes that he dropped  a scene in Act One and chose the “compressed ending of Act Five over the lengthy and  superfluous Epilogue that Berlioz originally conceived”.

Und da fing die Suche an. So vollständig wie erklärt ist der Mittschnitt unter John Nelson also auch wieder nicht. Zum einen gibt er im Vorwort zu, die noch bei Charles Dutoit in seiner mehr als konkurrenzfähigen Decca-Ausgabe enthaltene Szene des trojanischen Spions Sinon im ersten Akt gestrichen zu haben, und er verwendet vor allem  das nachkomponierte zweite kurze Finale der Oper ohne Apotheose und Nebenfiguren, das das Werk  zwar moderner, konziser enden lässt, aber es auch aus einem bestimmten gluckianischen und zeitverhafteten Kontext herausnimmt. Eben dieses Kennenlernen des Unbekannten wäre ja  in einem Konzert wie in Strassburg möglich gewesen, schon weil fast alle anderen Dokumente eben das zuerst intendierte Finale von 1858 nicht bieten („fast“ heisst, dass sich rudimentäre Reste eben dieses ersten Finales auf der Chatelet-DVD-Aufnahmne von John Gardiner von 2004/Erscheinungsdatum bei opus arte finden, zwar eben stark verstümmelt, aber doch mit erweitertem Chor und evozierender Bühnenmusik). Im Grunde sind dies zwei ganz unterschiedliche Welten, die sich bei Berlioz auftun, der selber diese epische Ausuferung erkannte,  sein Finale bearbeitete und auf die heute übliche Fassung kürzte. In einem assoziativen Quergedanken erinnert mich die nachstehende Beschreibung der szenischen Ereignisse während der letzten Momente der Troyens, wie sie Berlioz im Detail darlegt, an Richard Wagners Vorgaben für seinen  Venusberg im Tannhäuser(„C´est la reine d´amour“…)

Berlioz: „Les Troyens“ am Nationaltheater Mannheim 2003/ Szene/ Foto Jörg Michel/ in der Inszenierung von Sebastian Baumgarten und unter der Leitung von Axel Kober sangen in den Hauptrollen Susan Maclean, Kathleen Broderick, Michail Agafonov, Thomas Berau, Tomasz Konieczny, Ceri Williams und andere

Meines Wissens ist bis heute die hochdiskutierte Aufführung der Troyens 2003 in Mannheim die einzige, die den langen, ersten Schluss und die Sinon-Szene bot; und zu dieser Produktion schrieb der Berlioz-Fachmann Hugh McDonald im Programmheft für das Staatstheater Mannheim einen Beitrag über das erste Finale der Oper, den wir mit sehr liebenswürdiger Genehmigung des Autors und des Staatstheaters hier wiedergeben. Wir danken beiden und sind stolz, eine Korrektur/ Bereicherung zur Wahrnehmung der wunderbaren Trojaner von Hector Berlioz in seinem Jubiläumsjahr 2019 bieten zu können. G. H.

Hugh McDonald schreibt: Hector Berlioz begann im April 1856 mit der Arbeit an der Oper Les Troyens und vollendete das Werk zwei Jahre später, im April 1858. Natürlich hatte er sich bereits lange vor dieser Zeit gedanklich mit dem Sujet beschäftigt und überarbeitete seine Komposition auch später noch. Die grundlegende Arbeit war jedoch nach diesen 24 Monaten abgeschlossen, in denen er sehr konzentriert arbeitete, nur sehr sporadisch Konzerte dirigierte und so wenige Zeitungsartikel wie möglich schrieb.

Die erste Beschäftigung mit dem Sujet geht bis in Berlioz‘ Kindertage zurück, als sein Vater ihm die Leidenschaft für den römischen Dichter Vergil vermittelte. Louis Berlioz lehrte seinen Sohn Latein und ließ ihn viele Passagen Vergils auswendig lernen. Die Szene aus Berlioz‘ Memoiren, in der er berichtet, wie ihn die Geschichte von Didos Schmerz und Tod zu Tränen rührte, ist hinreichend bekannt.

Berlioz: „Les Troyens“/ Finale der Oper 1863 an der Oéra-Comique in der Zeitschriften-Illustration von Tinayre nach den Bühnenbildern von Gérardin/ BNF Galllica

Nach der Fertigstellung des Tedeum von 1849 hatte Berlioz das Komponieren fast ganz aufgegeben, entmutigt von dem geringen Interesse,das das Pariser Publikum seiner Musik entgegenbrachte, und von der Schwierigkeit, auch nur eines seiner größeren Werke zur Aufführung zu bringen. 1850 schrieb er zwar noch La fuite en Egypte, dabei handelte es sich jedoch um ein überschaubares Werk, das zudem nicht als Teil einer größeren Arbeit gedacht war. Drei Jahre lang komponierte Berlioz also praktisch gar nicht, eine interessante Parallele zu Richard Wagners gleichzeitigem kompositorischen Rückzug. 1853 trat eine Wende ein – ebenso wie bei Wagner -, als Berlioz auf Drängen seiner Freunde in Leipzig beschloss, La fuite en Egypte zu einem größeren Werk zu erweitern, woraus schließlich eine Trilogie, das Oratorium L‚enfance du Christ werden sollte.

Der unerwartete Erfolg dieses Werks bei der Pariser Uraufführung im Dezember 1854 ließ in Berlioz erneut den Wunsch aufkeimen, eine große Oper nach Vergil zu schreiben. Einen Wunsch, den er bisher ganz bewusst unterdrückt hatte – aus Angst vor der unglaublichen Anstrengung, den Kosten und der Frustration, die damit verbunden sein würden. Als er im Februar 1855 Weimar besuchte, vertraute er der Fürstin Carolyne Sayn­ Wittgenstein, der Lebensgefährtin Franz Liszts, seine Gedanken über eine große Oper an. Sie antwortete ihm ohne Umschweife, dass er dieses Werk einfach komponieren müsse; das sei er sich und seiner lebenslangen Leidenschaft für Vergil schuldig.

Ein Jahr lang zögerte Berlioz und versuchte, dem inneren Drang zu widerstehen, wieder als Komponist tätig zu werden. Aber während seines zweiten Besuchs in Weimar im Februar 1856 ließ er sich von der Prinzessin überzeugen: Er kehrte nach Paris zurück und begann bald darauf mit der Arbeit an seiner Oper.

Berlioz: „Les Troyens“ Stéphane Fafarge und Nina Bonnefoy als Enée und Ascanio in Paris 1892/ Foto Nadar/ BNF Gallica

Die letzte Seite des Autographs von Les Troyens ist auf den 12. April 1858 datiert und mit einem Zitat von Vergil versehen: .,Quidquid erit, su­ peranda omnis fortuna ferendo est“ (,,Was immer auch sein wird, jedwedes Geschick gilt es dadurch zu überwinden, dass man es erträgt“). Diese Zeile spiegelt Berlioz‘ bittere Befürchtung, dass die Schwierigkeiten, die mit einer Aufführung seiner Oper verbunden wären, ihm nichts als Enttäuschung und Ärger bringen würden, was sich in der Realität auch tatsächlich bewahrheiten sollte. Berlioz starb 1869, ohne sein Werk jemals vollständig auf der Bühne erlebt zu haben. Zu seinen Lebzeiten sah er nur die letzten drei Akte seines Werkes, die 1863 unter dem Titel Les Troyens  á  Carthage mit erheblichen Strichen uraufgeführt wurden, nicht in der großen Pariser Opera, für die das Werk eigentlich konzipiert worden war, sondern nur im bescheideneren Pariser Theätre-Lyrique.

Zu den wichtigsten Änderungen, die Berlioz nach 1858 vornahm, zählen die Streichung der Sinon-Szene und die Komposition eines neuen Finales für den letzten Akt. Die Sinon-Szene führte im ersten Akt die Person des Sinon ein, einen griechischen Spion. Er überzeugt die Trojaner davon, dass das hölzerne Pferd ein Geschenk für Pallas Athene sei und daher in die Stadt gebracht werden sollte. Diese Szene wurde in zahlreichen Aufführungen der letzten Jahre wieder aufgenommen (und findet sich auch in der Aufnahme bei Decca unter Charles Dutoit, hingegen nicht in der neuen Warner-Einspielung unter Nelson/ G. H.).

Das ursprüngliche Finale hingegen wurde bisher noch nie vollständig aufgeführt (und eben 2003 dann in Mannheim/ G. H.). Seine Betonung des Visionären und Epischen entspricht Berlioz‘ Leidenschaft für Vergil und der Vorstellung des Schicksalsgedankens, der eine Linie von den Trojanern zu den Römern zieht. Mit seiner großen Versdichtung Aeneis beabsichtigte Vergil, das Rom des Kaisers Augustus als wahren Erben einer großen Dynastie zu zeigen, die bis in das antike Troja zurückreicht. Er weitete Homers Erzählung vom Trojanischen Krieg aus, um die Geschichte von Aeneas‘ Reisen weiter auszuführen, die schicksalhafte Begegnung mit Dido in Karthago einzuflechten und die Macht des Schicksals zu verdeutlichen, die Aeneas nach Italien treibt, wo er dazu bestimmt war, die Stadt und das Kaiserreich Rom zu gründen. Er wusste, dass Didos Geschichte ein Anachronismus war, da ihr Reich bekanntermaßen erst Jahrhunderte nach dem Fall Trojas erblühte, aber die dramatische Kraft dieser Erzählung sowie ihre ausdrucksstarke poetische Phantasie verliehen der Aeneis eine Faszination, der Berlioz wie Tausende anderer Leser mit leidenschaftlicher Begeisterung erlagen.

Berlioz: „Les Troyens“/ Plakat für die Aufführungen in Paris 1892 mit Marie Delna/ Wikipedia

Zu einem frühen Zeitpunkt der Komposition dachte Berlioz daran, die sterbende Dido eine Bemerkung zur französischen Herrschaft in Nordafrika aussprechen zu lassen, eine Bemerkung, die Kaiser Napoleon III. geschmeichelt haben könnte. Die ,,Anspielung der sterbenden Dido auf die spätere Herrschaft Frankreichs in Afrika“ schien ihm aber später doch, wie er schrieb „nichts als kindlicher Chauvinismus“ zu sein. Es wäre viel „würdiger und größer(…), bei der Idee zu bleiben, die Vergil selbst andeutet. Da­ her lasse ich die Königin, was mir überdies viel logischer erscheint, folgen­ de Worte sprechen.“ {An Carolyne Sayn-Wittgenstein , 25. Dezember 1856) Dann zitiert er aus seiner neuen Fassung, in der Hannibals Name genannt wird. Didos Beschwörung Hannibals, den verletzten Stolz der Karthager sowie ihren Selbstmord zu rächen, bildeten vermutlich den allerersten Entwurf des Finales der Troyens.

Doch zwei Jahre später schrieb er an Hans von Bülow: ,,Ich habe jetzt dem Drama einen Abschluss gegeben, der grandioser und folgerichtiger ist als der, mit dem ich mich bisher begnügt hatte. Der Zuschauer wird den glücklichen Ausgang des von Aeneas begonnenen Unternehmens erfahren. Clio ruft in der letzten Szene , während in der Feme das Kapitol von Rom im Strahlenkranze am Horizonte erscheint: ,Fuit Troja! Stat Roma!“‚ (20. Januar 1858)

Diese letzte Szene entwickelt sich wie folgt: Dido beschwört den Namen Hannibals, bevor sie sich ersticht. Als sie sterbend in den Armen ihrer Schwester Anna liegt, beginnt ein Regenbogen über dem Scheiterhaufen sichtbar zu werden und ein siebenfarbiges Strahlenspektrum fällt auf ihren Körper. Die Göttin Iris erscheint am Himmel, schwebt über den Scheiterhaufen und streut Mohnblumen über die sterbende Königin, während Plutos Hohepriester verkündet, dass die Götter Mitleid haben und Iris aussandten, um Didos Leid zu beenden. Der Regenbogen verschwindet mit der Göttin, das Farbspektrum bleibt. Dann tritt der Hohepriester hervor und stimmt einen Totengesang an, der von den Karthagern wiederholt wird: ,,Ame souffrante exhale-toi / Au nom des dieux de ton corps delivree.“ (,,Leidende Seele, steig hinauf / Befreit vom Leibe im Namen der Götter.“) Das Farbspektrum verschwindet. Dido stirbt. Die karthagische Flagge wird über ihren Körper gelegt. Alle erheben sich, schreiten vorwärts und stoßen mit erhobenen Armen einen Fluch auf das Geschlecht des Aeneas aus (Allegro con fuoco, D-Dur).

Berlioz: „Les Troyens“/ Bühnenbild von Chaperon zum vierten Akt für Paris 1863/ BNF Galica

Dieser Szene folgt ein längerer Epilog. Ein Vorhang fällt, der die „Zeit“ darstellt, gefolgt von einer Prozession der „Stunden“, von denen zwölf in weiße und rosafarbene Tuniken sowie zwölf in schwarze Tuniken mit Sternen gekleidet sind. ,,Man hört ein geheimnisvolles Raunen des Orchesters, durchbrochen von majestätischen Klänge .“ Dieses geheimnisvolle Raunen besteht aus einer Folge von fünf Takten, die vier Mal wiederhol t werden. Sie bewegt sich schrittweise von B über C, D und E nach Fis und mit einem Bogen zurück nach B. Die „Jahrhunderte“ sind symbolisch vorbeigezogen und der Vorhang hebt sich nun zum Ruhm des römischen Kaiserreiches. Das Kapitol zeigt sich in seinem Glanz. Auf der einen Seite ist Clio zu sehen, die Muse der Geschichte, mit Fama, der Allegorie des Ruhmes. Der trojanische Marsch ist zu hören, nun transformiert in einen römischen Marsch, und eine Prozession passiert das Kapitol: zunächst ein Krieger in einer strahlende n Rüstung an der Spitze der römischen Legionen. Clio ruft aus ,,Scipioni africano gloria!“ An zweiter Stelle erscheint ein weiterer, mit Lorbeeren bekrönter Krieger, eben falls gefolgt von Legionen: ,Julio Caesari gloria!“ Als drittes tritt ein Herrscher mit einem Gefolge von Poeten und Künstlern auf: ,,lmperatori Augusto et divo Virgilio gloria! Gloria! Fuit Troja… Stat Roma!“, beantwortet von einem entfernten Echo „Stat Roma!“ Die letzten Klänge des trojanischen bzw. römischen Marsches hallen nach.

Dieses großartige, idealistische Plateau rückt den Blick des Zuschauers von der Geschichte Didos und Aeneas‘ etwas ab und bezieht die gesamte Geschichte der Antike mit ein. Keine Oper hat jemals einen derartig weit gefassten Blick gewagt (obwohl La mort d’Adam von Berlioz‘ Lehrer Jean ­Franois Le Sueur gleichermaßen apokalyptisch war). Die Erhabenheit dieses Schlusses ist dem Poeten, dem diese Oper gewidmet ist, zweifellos würdig: ,,Diva Virgilio“, dem „göttlichen Vergil“.

Berlioz: „Les Troyens – die Garcia Tochter und Lehrerin/Schülerin Pauline Viardot inspirierte Berlioz zu Änderungen und war sein Orphée in der von ihm eingerichteten Fassung/OBA

Dieses Finale blieb nahezu zwei Jahre unberührt. Im Winter 1859/ 60 arbeitete Berlioz eng mit Pauline Viardot, die mit ihm befreundete Sängerin, an einer Wiederbelebung von Willibald Glucks Oper Orphee am Theätre-Lyrique Paris und zeigte ihr im Zuge dessen auch die Partitur von Les Troyens mit der Bitte um eine kritische Stellungnahme. Am 25. Januar 1860 schrieb er der Freundin: „Gestern habe ich hart gearbeitet. Ich musste mit Feuer und Kriegsbeil das Finale angehen, das dich so kalt gelassen hat. Ich denke, dass es jetzt sehr gut ist. Wie muss ich dir danken, dass Du mich auf so viele schwere Fehler aufmerksam gemacht hast!“

Der neue Schluss, den Berlioz nun als definitiv ansah, als er im folgenden Jahr die Partitur drucken ließ, versucht Anfang und Ende des originalen Schlusses miteinander zu verschmelzen und in einem einzigen kurzen Satz zu bündeln. Sicherlich hat er gespürt, dass die frühere Version zu lang war. Indem er jedoch das Finale derartig verkürzt hatte, verwässerte er die Klarheit seiner Aussage und opferte damit auch die vollständige Erhabenheit seiner epischen Vision.

In der neuen Fassung treten weder Iris, noch Clio, Scipio oder Caesar auf. Ebenso entfernte Berlioz den Gesang des Hohepriesters im Epilog. Wenn Dido stirbt, hat sie, trotz ihrer gerade verklungenen Anrufung Hannibals, eine Vision von Roms ewigem Ruhm. Das römische Kapitol erscheint, mit den Legionen und einem „Imperator“ mit seinem Gefolge von Poeten und Künstlern, die zu den Klängen des Marsches vorüberziehen. Zur gleichen Zeit stößt das karthagische Volk  einen Fluch aus, den Schrei des Ersten Punischen Krieges, der in seiner Wut einen Kontrast zur Feierlichkeit des Triumphmarsches bildet.“

Die Problematik der letztgültigen Fassung liegt darin, dass Berlioz versuchte, zwei unterschiedliche, dramatische Bilder in einem darzustellen, was allerdings nicht zu stören schien. Für einen Augenblick wird mit einem großen Bühnenspektakel der Triumph des römischen Imperiums sowie ein Abbild Roms heraufbeschworen. Während der Marsch als eine musikalische Darstellung der Wandlung von Trojanern in Römer gehört werden kann, repräsentiert der Chor immer noch die Karthager und ihren Fluch „Haine eternel/e a la race d’Enee“, der gegen die Marschmelodie gesungen wird, als ob der Sieg verleugnet werden sollte. Um dies musikalisch zu erreichen, setzt der Chor auf einem As im Fortissimo gegen das vorherrschende B-Dur des Marsches ein. Die sich daraus ergebende Dissonanz reicht jedoch nicht aus, die bittere Botschaft des ewigen Hasses der Karthager auf Rom wiederzugeben.

Die ursprüngliche Fassung der Oper mit dem Finale von 1858 ist zwar etwas länger als die spätere Version.  Allerdings findet sie dadurch auch eine entsprechende Form, um Vielfalt und Größe der Antike zu vermitteln. Das erste Finale zieht Götter und Göttinnen hinzu, die eine große Rolle im Schicksal der Menschen gespielt haben, und eröffnet einen Einblick in das Epos – im Sinne eines Vergil oder sogar Homer. Zweifellos versinnbildlichen die Schlussworte der Oper in der originalen Version, ,,Fuit Troja, stat Roma! „, diese Vision stärker als der hasserfüllte Ausruf der Karthager, der keinen wirklichen Widerspruch zum römischen Marsch eröffnet.

Berlioz: „Les Troyens – Stéphane Lafarge sang den Enée in Paris 1892/ Foto Nadar/ OBA

Dazu als Einschub die Regieanweisungen des Finales von 1858Über den Scheiterhaufen spannt sich ein Regenbogen, und auf Didos Leichnam fällt ein in sieben Grundfarben zerlegte Sonnenstrahl. ris erscheint in der Luft, schwebt über den Scheiterhaufen hinweg und streut Mohnblumen über die sterbende Königin. Alle werfen sich vor Iris‘ göttlicher Erscheinung nieder. Der Strahl verschwindet. Dido stirbt. Anna fällt neben ihr ohnmächtig zu Boden. Die karthagische Fahne wird auf dem Scheiterhaufen aufgepflanzt, so dass ihre Falten Didos Leichnam bedecken. Männer des Volkes gruppieren sich um den Scheiterhaufen und auf ihm. Der gesamte Chor geht zwei Schritte in Richtung Vorderbühne und streckt dabei den rechten Arm aus. Ein Vorderbühnenprospekt geht herunter, der die Zeit mit dem Gefolge der Stunde darstellt. Zwölf tragen Gewänder in Weiß und Rosa und zwölf tragen schwarze Gewänder mit goldenen Sternen. Man hört ein geheimnisvolles Raunen des Orchesters, durchbrochen von majestätischen Klängen…. Der Vorderbühnenprospekt geht wieder hoch, man sieht in einer Gloriole das römische Kapitol. Die Bühne ist leer. Auf einer Seite steht lediglich Clio, die Muse der Geschichte, begleitet von Fama. Es ertönt die Triumphversion des Trojanermarsches, der von der Tradition weitergetragen und zum Triumphgesang der Römer geworden ist) … Man sieht einen Krieger vor dem Kapitol vorüberziehen. Er trägt eine stählerne Rüstung und führt römische Legionen… Man sieht einen anderen Krieger vorüberziehen. Er ist lorbeergekrönt und führt andere Legionen. Man sieht einen Kaiser vorüberziehen, umgeben von einem Hofstaat von Dichtern und Künstlern. Imperatori Augusto et Divo Virgilio Gloria! Gloria! Fuit Troja, Stat Roma! SOPRAN (aus dem Hintergrund) Stat Roma! EIN TENOR (noch weiter entfernt) Stat Roma! (aus dem Programmheft des Staatstheaters Mannheim 2003; die Übersetzung des Librettos folgt in weiten Teilen der wörtlichen Übertragung von Krista Thiele, mit Dank.)

Hector Berlioz: „Les troyens“/ der Autor und  Musikwissenschaftler Hugh McDonald/ Hector Berlioz website

Als sich im Februar/ März 1858 die Fertigstellung seines Werkes abzeichnete, schrieb Berlioz über seine Komposition mit heroischen Worten an Adolphe Samuel: ,,Es ist fast gleichgültig, was mit dem Werk passiert, ob es jemals aufgeführt wird oder nicht. Meine Begeisterung für die Musik und Virgil wird erfreuen und ich werde zumindest gezeigt haben, was meiner Meinung nach mit einem klassischen Thema großen Umfangs zu tun möglich ist.“ (26. Februar 1858) Und in einem Brief an seine Schwester Adele, den er kurz danach verfasste: ,,Ich versichere dir, liebe kleine Schwester, dass die Musik von Les Troyens etwas Prächtiges und Großes hat,‘ darüber hinaus besitzt sie eine ergreifende Wahrhaftigkeit, und sie enthält Erfindungen, die, wenn ich mich nicht fürchterlich täusche, den Musikern in ganz Europa die Ohren durchblasen und vielleicht ihre Haare zu Berge stehen lassen werden. Ich glaube, wenn Gluck auf die Erde zurückkäme und diese Musik hörte, würde er zu mir sagen: ,Wahrhaftig, dies ist mein Sohn.‘ Das ist nicht besonders bescheiden von mir, oder? Aber schließlich habe ich die Bescheidenheit zuzugeben, dass ein Mangel an Bescheidenheit zu meinen Fehlern gehört.“ (11. März 1858) Hugh Macdonald (mit Dank!)

 

Noch ein kurzes Wort aus Wikipedia zu den originalen Besetzungen: Zunächst wurde am 4. November 1863 in Paris am Théâtre Lyrique nur der zweite Teil, Les Troyens à Carthage, gespielt. Die musikalische Leitung hatten Adolphe Deloffre und der Komponist. Regie führte Léon Carvalho. Es sangen Jules-Sébastien Monjauze (Énée), Estagel (Ascagne), Péront (Panthée) Anne-Arsène Charton-Demeur (Didon), M. Dubois (Anna), Jules-Émile „Giulio“ Petit (Narbal), De Quercy [Dequercy] (Iopas) und Édouard [Cabel] Dreulette (Hylas). Die Uraufführung des ersten Teils La prise de Troie erfolgte erst 1879, also zehn Jahre nach Berlioz’ Tod. Erst 1890 erreichten Les Troyens die Pariser Oper mit Maria Delna und Jean Laforge in den Haupotrollen

Berlioz: „Les Troyens“ – Marie Delna sang die Didon in Paris 1892/ Foto Nadar/ Wiki

Und weiter bei der englischen Wikipedia: After the premiere of the second part at the Théâtre Lyrique, portions of the opera were next presented in concert form. Two performances of La prise de Troie were given in Paris on the same day, 7 December 1879: one by the Concerts Pasdeloup at the Cirque d’Hiver with Anne Charton-Demeur as Cassandra, Stéphani as Aeneas, conducted by Ernest Reyer; and another by the Concerts Colonne at the Théâtre du Châtelet with Leslino as Cassandra, Piroia as Aeneas, conducted by Edouard Colonne. (…)

The first staged performance of the whole opera only took place in 1890, 21 years after Berlioz’s death. The first and second parts, in Berlioz’s revised versions of three and five acts, were sung on two successive evenings, 6 and 7 December, in German at Karlsruhe (Die deutsche Übersetzung des Texts stammte von Otto Neitzel. In den drei Hauptrollen sangen Alfred Oberländer (Aeneas), Elise Harlacher-Rupp (Ascanius) und Carl Nebe (Pantheus). Hinzu kamen Luise Reuss-Belce (Kassandra), Marcel Cordes (Chorebus), Pauline Mailhac (Hekuba und Dido), Hermann Rosenberg (Helenus und Iopas), Annetta Heller (Polyxene), Christine Friedlein (Anna), Fritz Plank (Narbal) und Wilhelm Guggenbühler (Hylas).  This production was frequently revived over the succeeding eleven years and was sometimes given on a single day. The conductor, Felix Mottl, took his production to Mannheim in 1899 and conducted another production in Munich in 1908, which was revived in 1909. He rearranged some of the music for the Munich production, placing the „Royal Hunt and Storm“ after the love duet, a change that „was to prove sadly influential.“ A production of both parts, with cuts, was mounted in Nice in 1891.

On 9 June 1892 the Paris Opéra-Comique staged Les Troyens à Carthage (in the same theatre as its premiere) and witnessed a triumphant début for the 17-year-old Marie Delna as Didon (Foto oben Marie Delna als Didon 1892/ Foto Nadar/Wikipedia), with Stéphane Lafarge as Enée, conducted by Jules Danbé; these staged performances of Part 2 continued into the next year. In December 1906 the Théâtre de la Monnaie in Brussels commenced a run of performances with the two halves on successive nights.

Berlioz: „Les Troyens“ – Finale der Oper in der Zeitschriften-Illustration 1863/ BNF Gallica

The Opéra in Paris presented a production of La prise de Troie in 1899, and in 1919 mounted a production of Les Troyens à Carthage in Nîmes. Both parts were staged at the Opéra in one evening on 10 June 1921, with mise-en-scène by Merle-Forest, sets by René Piot and costumes by Dethomas. The cast included Marguerite Gonzategui (Didon), Lucy Isnardon (Cassandre), Jeanne Laval (Anna), Paul Franz (Énée), Édouard Rouard (Chorèbe), and Armand Narçon (Narbal), with Philippe Gaubert conducting. Marisa Ferrer, who later sang the part under Sir Thomas Beecham in London, sang Didon in the 1929 revival, with Germaine Lubin as Cassandre and Franz again as Énée. Georges Thill sang Énée in 1930. Lucienne Anduran was Didon in 1939, with Ferrer as Cassandre this time, José de Trévi as Énée, and Martial Singher as Chorèbe. Gaubert conducted all performances in Paris before the Second World War.

The Paris Opéra gave a new production of a condensed version of Les Troyens on March 17, 1961, directed by Margherita Wallmann, with sets and costumes by Piero Zuffi. Pierre Dervaux was the conductor, with Régine Crespin as Didon, Geneviève Serrès as Cassandre, Jacqueline Broudeur as Anna, Guy Chauvet as Énée, Robert Massard as Chorèbe and Georges Vaillant as Narbal; performances by this cast were broadcast on French radio. Several of these artists, in particular Crespin and Chauvet, participated in a set of extended highlights commercially recorded by EMI in 1965, Georges Prêtre conducting. 1989 eröffnete die Pariser Bastille mit Les Troyens, in den Hauptrollen Grace Bumbry , Shirley Verrett und Georges Gray unter Myung Whun Chung in Pizzis problematischer, kalter Produktion (dazu den amüsanten Bericht in der New York Times). Redaktion G. H. (Foto oben: Berlioz: „Les Troyens“/ Giovanni_Battista_Tiepolo „Aeneas
Introducing Cupid Dressed as Ascanius to Dido/ Wikipedia  WGA22337)

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Salieris Beaumarchais-Oper „Tarare“

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Eine der wichtigsten Opern im Umfeld der nahenden französischen Revolution ist Salieris Tarare, die einen veritablen und die aufgeheizte Zeit widerspiegelnden  Königs(selbst)mord auf der Bühne zeigt, der soeben bei dem Label Aparté unter Christophe Rousset mit seinem Ensemble Les Talens Lyriques in einer üppigen Ausgabe herausgekommen ist. Marcus Budwitius bespricht im Folgenden die neue Aufnahme. Und John Rice betont in seinem Aufsatz (aus dem Booklet zur neuen Ausgabe) die anspruchsvolle Zusammenarbeit von Antonio Salieri und Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais, dessen Vorstellung vom Primat des durchaus revolutionären Wortes der Komponist seine reiche, sinnenfrohe und unglaublich üppig orchestrierte Musik entgegensetzt. G. H…

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„Tarare“: Der Komponist Antonio Salieri/OBAUnd nun der Aufsatz von John Rice: 

Und nun der Artikel von John Rice: Nachdem Antonio Salieri 1784 mit Les Danaides, seiner ersten Pariser Oper, die Anerkennung des französischen Publikums errungen hatte, trugen ihm die Direktoren der Academie royale de Musique (fortan l’Opera, d. h. die Pariser Oper, Anm. d. Ü.) die Komposition zweier weiterer Opernwerke an: Les Horaces und Tarare. Letzteres, auf ein Libretto von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais, enthält vieles, was man mit der tragedie lyrique und der Opéra, deren Heimstatt seit Lully, verbindet, nämlich einen allegori­schen Prolog, fünf Akte, den verstärkten Einsatz von Chor und Ballett sowie eine durchgängige Orchesterbegleitung. Doch Beaumarchais und Salieri bezeichneten Tarare nicht als tragedie lyrique, sondern einfach als opéra, eine Oper. Diese vermischt Tragödie und Komödie, Exotik und Romantik, verbunden mit einer Tendenz zur politischen Allegorie, welche das vorrevolutionäre Pariser Publikum stark ansprach. Mit all diesen „Zutaten“ sowie Beaumarchais‘ Talent, die Werbe­trommel zu rühren, konnte Salieri die begründete Zuversicht hegen, dass ihm mit Tarare ein weiterer musikalischer Volltreffer zur Verfügung stünde.Warten auf Tarare: Für eine Oper aus dem 18. Jahrhundert durchlief Tarare eine ungewöhnlich lange Entstehungszeit. Ein Zensor genehmigte das Libretto bereits im März 1786, vierzehn Monate, bevor die Oper auf die Bühne kam. Kurz vor Ende Juli 1786 kehrte Salieri nach Paris zurück, wobei er der Komposition und Inszenierung von Les Horaces den Vorrang einräumte. Aber Beaumarchais, ein geschickter und unermüdlicher Werber in eigener Sache, sorgte dafür, dass Tarare in Paris bereits in aller Munde war. Ein nur unter dem Namen Hivart bekannter, im Orchester der Pariser Oper wirkender Cellist hatte Salieris Ankunft vermerkt. (Dieser Hivart diente dem russischen Grafen Nikolai Scheremetew als musikalischer Agent und schickte ihm Partituren, Libretti und anderes Material, das mit dem Pariser Musikleben und dem Theater zu tun hatte; seine in Sankt Petersburg aufbewahrten Briefe enthalten etliche wertvolle Informationen über die Oper in Paris in den 1780er Jahren.) Am 6. August 1786 schrieb Hivart an Scheremetew und erwähnte beide Opern, aber sein Interesse galt eindeutig eher Tarare: „Salieri ist gerade mit zwei neuen Opern, nämlich Tarare und Les Horaces, hier einget­roffen. Ersterer liegt ein morgenländisches Thema zugrunde, das von Monsieur de Beaumarchais auf eine ganz neue Weise für dieses Schauspiel behandelt wird. Tarare ist ein Soldat, der mit seinem Verstand und Können die Königswürde im Reich der Türken erlangt; sicherlich muss es viel Bewegung in diesem Stück geben, damit dieser Soldat vom ersten bis zum fünften Akt solch einen Aufstieg erleben kann. Langeweile wird man dieser Oper gewiss nicht zum Vorwurf machen können!“

Nachdem Antonio Salieri 1784 mit Les Danaides, seiner ersten Pariser Oper, die Anerkennung des französischen Publikums errungen hatte, trugen ihm die Direktoren der Academie royale de Musique (fortan l’Opera, d. h. die Pariser Oper, Anm. d. Ü.) die Komposition zweier weiterer Opernwerke an: Les Horaces und Tarare. Letzteres, auf ein Libretto von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais, enthält vieles, was man mit der tragedie lyrique und der Opéra, deren Heimstatt seit Lully, verbindet, nämlich einen allegori­schen Prolog, fünf Akte, den verstärkten Einsatz von Chor und Ballett sowie eine durchgängige Orchesterbegleitung. Doch Beaumarchais und Salieri bezeichneten Tarare nicht als tragedie lyrique, sondern einfach als opéra, eine Oper. Diese vermischt Tragödie und Komödie, Exotik und Romantik, verbunden mit einer Tendenz zur politischen Allegorie, welche das vorrevolutionäre Pariser Publikum stark ansprach. Mit all diesen „Zutaten“ sowie Beaumarchais‘ Talent, die Werbe­trommel zu rühren, konnte Salieri die begründete Zuversicht hegen, dass ihm mit Tarare ein weiterer musikalischer Volltreffer zur Verfügung stünde. 

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„Tararae“: Adolphe Nourrit in der Titelrolle 1823/ Wikipedia

Beaumarchais als Opernreformer: Beaumarchais hatte stets einen Hang zu Kontro­versen und nutzte Tarare, um zu den Debatten über das Wesen und den Zweck der Oper beizutragen, die im gesamten 18. Jahrhundert Teil des französischen Geisteslebens waren. In seinem langen, kämpferischen Vorwort zu dem Textbuch, mit dem Titel „Aux abonnes de l’Opera qui voudraient aimer l’opera“ (An die Opernabon­nenten, die die Oper lieben möchten) etablierte er sich als Reformer, der wie so viele vor ihm die Größe und dramatische Kraft der griechischen Tragödie in die Oper einbringen wollte.

Warum, fragte Beaumarchais, spricht die Oper das Publikum nicht so stark an, wie man das erwarten könnte? Denn die Musik, welche sich auf ihre nützliche Funktion als „Verschönerung des Textes“ („d’embellir la parole“) beschränken solle, werde von Komponisten missbraucht: „Es gibt zu viel Musik in der Musik für das Theater, sie ist immer überladen; und um den naiven Ausdruck eines bekannten Mannes, des berühmten Ritters Gluck, zu verwenden, ,unsere Oper stinkt vor Musik‘: puzza di musica.“

Beaumarchais‘ Glaube an den Vorrang des Wortes über die Musik geht auch ohne jegliche Rechtfertigung aus Folgendem hervor: „Erstens das Stück oder die Erfindung der Fabel2, welche das meiste Interesse umfasst und enthält; nächst dieser dann die Schönheit der Worte oder die leichte Art, die Geschichte zu erzählen; dann der Reiz der Musik, der nur ein neuer Ausdruck ist, der dem Reiz der Verse hinzugefügt wird; schließlich die Ausschmückung des Tanzes, dessen Fröhlichkeit und Freundli­chkeit einige kühle Situationen verschönert. In der Reihenfolge des Vergnügens ist dies die Rangordnung, die für all diese Künste vorgesehen ist.“

Bezüglich der Problematik der in Opern aufgegrif­fenen Themen wandte sich Beaumarchais gegen die Verwendung von Geschichte und Mythologie als Quellen für die Handlung von Opern und lehnte damit die meisten der Themen ab, die zuvor von Librettisten ernsthafter, sowohl italie­nischer als auch französischer, Opern behandelt wurden: so „dass sehr verfeinerte Manieren zu methodisch seien, um theatralisch zu wirken. Die mannigfacheren und weniger vertrauten morgenländischen Sitten lassen dem [kreativen] Geist mehr Raum und scheinen mir höchst geeignet zu sein, diesen Zweck zu erfüllen.“

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„Tarare“: Emile Bayard als Calpigi 1876/ Wikipeedia

Beaumarchais und Salieri;: Um seine Ansichten über die Oper in die Tat umzusetzen, war Beaumarchais auf die Mitarbeit von Sängern und Orchester angewiesen, welche er in seiner Vorrede wortgewandt ansprach (…) Nicht alle Komponisten waren so willig wie Salieri, die Anforderungen des Schauspiels, wie sie vom Librettisten dargelegt wurden, über die der Musik zu stellen. Der dankbare Dichter widmete das gedruckte Textbuch dem Kompo­nisten und drückte dabei seine aufrichtige Achtung und Zuneigung aus (aber trachtete wie stets gleichzeitig danach, damit auch auf sich selbst aufmerksam zu machen).

Tarare – Quelle: Beaumarchais entnahm die Handlung zu Tarare der Erzählung „Sadak und Kalasrade“ aus einer Märchensammlung mit dem Titel The Tales of the Genii, die erstmals 1764 in englischer Sprache erschienen war und bald darauf in französischer Übersetzung herauskam (Les Contes des Genies)3. Obwohl auf den Titelseiten der ersten Ausgaben „aus dem persischen Manuskript getreulich übersetzt“ angegeben wurde, stammen The Tales of the Genii in Wirklichkeit von dem Engländer James Ridley, nach dem Vorbild der Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Der Name des Helden, Tarare (gleichbedeutend mit „Unsinn“), stammtaus einem anderen pseudo-orientalischen Märchen des Engländers Anthony Hamilton, L’Histoire de Fleur d’epine, welches erstmals 1730 erschien. (…) Eine dreibändige Übersetzung ins Deutsche durch Johann Joachim Schwabe erschien 1765-1766 bei Weidmann & Reich in Leipzig unter dem Titel Horams, des Sohnes Asmars, anmuthige Unterweisungen in den Erzählungen der Schutzgeister, aus dem persischen Manuscripte getreulich übersetzet.

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Salieris farbige Orchestrierung trägt viel zum Prolog bei. Posaunen leisten bei der Verdeutli­chung des feierlichen Mysteriums der Schöpfung Unterstützung. Salieri sparte die Klarinetten für den Moment auf, in dem menschliche Geister lebendige Gestalt annehmen. Die Neuheit des Klarinettenklangs spiegelt die Worte „Quel charme inconnu nous attire“ wider. Eine einsätzige Ouvertüre im italienischen Stil – Salieri nannte sie „Nouvelle Ouverture d’un genre absolument different de la premiere“ – folgt dem Prolog und kündigt den Beginn des Dramas per se an. (…)

Bevor Tarare die Armee gegen die Christen führen kann, muss er Altarmort unschädlich machen. Zu Beginn des dritten Aktes berichtet Urson in einem großen Rezitativ von Tarares Sieg über seinen Rivalen. In diesem Akt veran­staltet Calpigi ein Fest für Astasie, eine „Fete europeenne“: Festlichfarbenfroh gekleidete Schäfer und Schäferinnen sowie Bauern mit ihren landwirtschaftlichen Werkzeugen führen eine Reihe von Tänzen und Chören auf, die den größten Teil dieses langen Divertissements ausmachen. Calpigi trägt mit einer strophischen Romance, deren 6/8-Takt die folkloristische Wirkung verstärkt, zu den Festlichkeiten bei; in dieser erzählt er seine Lebensgeschichte: „Je suis ne natifde Ferrare“. Salieri nannte die Melodie eine „Barcarolle“ – ein Gondellied. Pizzicati bei den Streichern symbolisieren die Mandoline, auf der sich Calpigi selbst begleitet. Dieser singt die letzte Zeile jeder Strophe in seiner Muttersprache: „Ahi! povero Calpigi!“. Das Divertissement endet chaotisch, als Calpigi mitten in seiner Erzählung Tarare erwähnt. Wütend zieht Atar seinen Dolch hervor und die Menge zerstreut sich. In der Zwischenzeit findet Tarare den Zugang zum Harem und Calpigi verkleidet ihn als stummen Afrikaner.

„Tarare“: Costume design (1823), by Auguste Garneray (1785-1824) for Spinette/ Pinterest

Der vierte Akt beginnt mit einem kunst­vollen dramatischen Rezitativ, in dem Astasie ihre Verzweiflung zum Ausdruck bringt und nach dem Tod verlangt, um ihrem Kummer ein Ende zu setzen. Als sie vernimmt, dass Atar sie zwingen will, einen seiner Sklaven zu heiraten, überredet sie Spinette, die Kleidung mit ihr zu tauschen, um von dieser Schande verschont zu werden. Atars Soldaten nehmen Tarare gefangen, bevor er Astasie finden kann. Calpigi verurteilt wütend den Machtmissbrauch des Königs in der Arie „Vas ! I’abus du pouvoir supreme.“

Der letzte Akt beginnt mit Atar, der sich hämisch überTarares bevorstehende Hinrichtung freut („Fantöme vain! Idole populaire„). Die Sklaven singen einen traurigen „chceur funebre“ in g-Moll, bei dem ein Marsch mit Holz- und Blechbläsern (einschließlich Posaunen), durchgehendem Paukenwirbel und Tremolos bei den tiefen Strei­chern zum Trauereffekt beitragen. Tarare und Astasie sind endlich wieder vereint und fallen einander in die Arme. Ein Trio mit Astasie, Tarare und Atar, „Le trepas nous attend“, wird von um Hilfe rufenden Sklaven unterbrochen. Calpigi trifft dann mit einer zur Verteidigung Tarares bereiten Armee ein, welchem sie Treue schwören. Atar erdolcht sich selbst. Tarare lehnt zunächst die Königswürde ab, aber die Soldaten überreden ihn schließlich, diese doch anzunehmen. Arthenee krönt Tarare, während das Volk mit dem Chor „Quel plaisir de nos cceurs s’empare!“ feiert.„Le succes de Tarare est complet“.

Der Misserfolg von Salieris Oper Les Horaces, die am 2. Dezember 1786 in Versailles uraufgeführt worden war, verstimmte dessen Gönner, Kaiser Joseph II. Er hoffte jedoch nicht vergebens. Als Tarare am 8. Juni 1787 schließlich auf die Bühne der Pariser Oper gelangte, wurde das Werk mit sofortigem, sich wiederholendem Beifall aufgenommen. So geschickt hatte Beaumar­chais im Vorfeld der Premiere Flugschriften und Debatten eingesetzt, dass die Oper ein großes Publikum anzog, ohne aber die Gemüter so weit zu erhitzen, dass die Behörden Veranlassung dazu gehabt hätten, das Theater zu schließen.

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„Tarare“: Der Autor John Rice – John A. Rice, a freelance writer and teacher devoted to the exploration of music in eighteenth- and early nineteenth-century Europe, was born in Ithaca, New York in 1956. After studying music history under Daniel Heartz at the University of California, Berkeley (PhD, 1987) he taught at the University of Washington (1987–88), Colby College (1988–90), the University of Houston (1990–97), and the University of Texas at Austin (1999). More recently he has been a visiting professor at the University of Pittsburgh (2010–11) and the University of Michigan (2012–13). He has received grants from the Alexander-von-Humboldt Stiftung, the National Endowment for the Humanities, and the American Philosophical Society. He has written many articles, reviews of books and musical editions, entries in musical encyclopedias and dictionaries, and six books, one of which, Antonio Salieri and Viennese Opera, received the Kinkeldey Award from the American Musicological Society. He has lectured widely in both the United States and Europe. He has served as president of the Mozart Society of America and of the Southwest Chapter of the AMS and as a director-at-large of the AMS. He is an elected member of the Akademie für Mozart-Forschung in Salzburg/ google biography

Tarare kehrte mitten in der Französischen Revolution auf die Bühne zurück und wurde einer Überarbeitung unterzogen, welche eine neue Szene am Ende der Oper beinhaltete – ein politisch aufgeladenes Divertissement mit dem Titel „Le Couronnement de Tarare“. Beaumarchais nutzte die Gelegenheit, um die Rolle zu betonen (wohl als Übertreibung), die Tarare bei dem Entfachen der Revolution gespielt hatte. In seinem Vorwort zur auf den ersten Jahrestag des Sturms auf die Bastille datierten Libretto-Fassung von 1790 erinnerte er an die revolutionären Opernbesucher der ursprünglichen Version von Tarare: „Oh Bürger! Seid eingedenk derZeit, als Eure besorgten Denker, die gezwungen waren, ihre Ideen zu verschleiern, sich in Allegorien hüllten und mühsam der Revolution das Feld bereiteten. Nach ein paar weiteren Versuchen versenkte ich auf eigene Gefahr in der Erde diesen Keim einer Bürgereiche auf dem verbrannten Boden des Opernhauses. […] Das Werk erhielt seine Vollendung in Le Couronnement de Tarare, im ersten Jahr der Freiheit; wir offerieren es Euch zu deren Jahrestag, am 14. Juli 1790.“

 Aber Beaumarchais hat sich selbst hier zu großen Verdienst zugeschrieben. Die politischen Implikationen von Tarare waren für eine überra­schend breite Palette politischer Regimes [sic!] hinnehmbar. Das Werk überstand die Franzö­sische Revolution, Napoleon Bonaparte sowie die Wiederherstellung der Bourbonenmonarchie. Mit insgesamt 131 Vorstellungen an der Pariser Oper (die letzte fand 1826 statt) kam Tarare der Oper Les Danaides an Popularität und „Ausdauerver­mögen“ gleich.

Salieri hingegen kehrte kurz nach der Urauf­führung von Tarare nach Wien zurück. Er wäre wahrscheinlich weiter zwischen Wien und Paris hin- und hergependelt und hätte Opern für beide Hauptstädte geschrieben, wenn die Französische Revolution es für einen loyalen Untertanen der Habsburger Monarchie nicht unmöglich gemacht hätte, Opern für das bedeutendste französische Opernhaus zu schreiben. Als französische Bürger Marie-Antoinette, die Schwester der Kaiser Joseph und Leopold sowie Salieris wichtigste Pariser Gönnerin, gefangen nahmen und später hinrich­teten, beendeten sie so auch seine kurze Karriere als Komponist französischer Opern. John Rice/Übersetzung: Hilla Maria Heintz

 

Salieris „Tarare“ neu bei Aparté unter Christoph Rousset

Bemerkendwert und spannend. Mit den von der Pariser Oper in Auftrag gegebenen Les Danaïdes feierte Antonio Salieri 1784 einen großen Erfolg und galt als legitimer Gluck-Nachfolger. Rückblickend ist Salieri zwischen Gluck und Mozart stecken geblieben – ein Fortführer, doch kein Visionär. Kaum ein Opernhaus spielt heute Salieris Opern. Obwohl sein Name einen hohen Bekanntheitsgrad hat und andere Größen der Epoche wie bspw. Jommelli, Traetta oder Martin y Soler weit überragt, hat die erneute Blüte der Musiktheaterwerke aus Barock und Rokoko kaum zu einer Wiederbelebung des Italieners geführt. Löbliche Ausnahme waren u.a. in den letzten Jahren Christophe Rousset und sein Ensemble Les Talens Lyriques, die sich den drei Pariser Auftragswerken Salieris widmeten und nach den Danaiden und Les Horaces (1786) nun den 1787 in Paris uraufgeführten Tarare vorlegen, dessen Libretto von Beaumarchais stammt, dem Autor der als Libretto berühmt gewordenen Theaterkomödien Le mariage de Figaro und Le barbier de Séville. 1788 wurde Tarare in Wien aufgeführt, nun in Italienisch und mit neuem Titel: Axur, Re d’Ormus.

Es hatte sich noch mehr geändert, der Übersetzter Lorenzo Daponte baute die Handlung um und veränderte den Prolog, auch um einer Zensur vorzubeugen, denn Tarare hat – wie auch Le Nozze di Figaro – herrschaftskritische Ansätze in Form politischer und sozialer Thesen. Die Oper spielt im Morgenland, es gibt Religionskriege und politische Machtkämpfe, der absolutistische Despot Atar stürzt sich durch Willkür und seine Eifersucht auf den Anführer seiner Leibgarde Tarare ins Verderben. Neuer Herrscher (aus Verdienst, nicht durch Gottesgnade) wird der beliebte, aufrichtige und monogam glückliche Soldat Tarare, der die Sklaverei ablehnt und letztendlich vom Militär zur Machtübernahme gedrängt wird, nachdem Atar dessen Frau Astasie entführen und in seinen Serail bringen ließ. Die Oper endet mit einem bemerkenswerten Aufruf des Chors: „Sterblicher, wer du auch sein magst, Prinz, Priester oder Soldat; Mensch! Deine Größe auf Erden hat nichts mit deinem Stand zu tun, sie beruht ganz auf deinem Charakter“. Manches wirkt inhaltlich und musikalisch vertraut, es gibt eine exotische Tradition in den Opern zwischen Lully und Rossini, von Le Bourgeois gentilhomme bis L‚Italiana in Algeri findet man wiederkehrende arabisch-türkische Motive, bspw. den Serail als Handlungsort bei Rameau (Les Indes galantes, 1735), Mozart (Zaide (1779/80) und die Entführung aus dem Serail (1782)), gute Despoten (bspw. Orosman, Osman, Saladin, Soliman, Selim), fanatische Despoten (bspw. Huascar, Atar, Osmin), Großzügigkeit und Fanatismus, gelegentlich freimaurerische Einflüsse und christliche Ritter. Mozarts Blonde bspw. heißt hier Spinette und ist der komischste Charakter.

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Salieris „Tarare“ in der stilistisch sehr anfechtbaren, aber pionierhaften Aufführung in Schwetzingen 1988 unter Jean-Claude Malgoire/ Arthaus

Tarare war in Paris erfolgreich, bis 1826 gab es dort 131 Vorstellungen. Eine erste Wiederbelebung fand 1988 als Koproduktion der Karlsruher und der Pariser Oper bei den Schwetzinger Festspielen statt, Regisseur Jean-Louis Martinoty historisierte das Geschehen augenzwinkernd, Jean-Claude Malgoire dirigierte das Orchester der Karlsruher Händel-Festspiele (diese Produktion wurde als DVD bei Arthaus  veröffentlicht). 1989 folgte Strasburg mit Gérard Garino und René  Massis unter Fréderic Chaslin in einer wesentlich überzeugenderen  Produktion, dazu idomatischer gesungen natürlich.

Ganz anders wirkt die nun vorliegende Aufnahme als Resultat einer Aufführungstournee, Dirigent Christophe Rousset dramatisiert die Handlung und hält die Oper unter Hochspannung, beim Zuhören ist diese Spannung so greifbar, dass es nur eine Frage der Zeit sein sollte, bis sich ein Opernhaus an die erneute szenische Umsetzung wagen wird. Man hört ein Plädoyer für ein Werk, und das ist das große Verdienst dieser Produktion. Musikalisch wirkt Tarare wie ein Tragédie Lyrique, zu Beginn ein dramatisch erregter Orchestereinstieg, der die Natur und die entfesselten Winde darstellt, gefolgt von einem Prolog (quasi eine Verbeugung vor Lully), in dem die Natur und der Genius des Feuers die Elemente beschwichtigen und schöpferisch tätig werden. Was folgt ist musikalisch kein Meisterwerk – dazu fehlen die zündenden Melodien und die außergewöhnlichen Momente -, aber abwechslungsreich und farbig orchestriert, bspw. mit Posaunen, Klarinetten und Fagotte haben ihre besonderen Momente, es gibt u.a. eine kurze Gebetsszene und einen Trauermarsch, Divertissements in Form von Tänzen und Chören, pastorale Schäfer, exotische Märsche und Anklänge an Mozarts Entführung aus dem Serail (1782) sind hörbar. Die handlungsreiche Oper ist durch Rezitative und kurze arienhafte Abschnitte geprägt, der Text hatte bei Beaumarchais Vorrang vor der Musik – auch deshalb ist die szenische Aufführung naheliegender als das konzertante Anhören.

Für die Sänger gibt es wenige Bravourszenen, Tonhöhe und Rhythmus sind sekundär, gefordert sind primär Deklamation und Ausdruck, und diese Herausforderung meistern alle Beteiligten – alte Bekannte aus der Musikszene des 18. und frühen 19. Jahrhunderts  – bravourös, insbesondere Cyrille Dubois als Titelfigur und Karine Deshayes als dessen entführte Gattin Astasie, JeanSébastien Bou als Tyrann Atar, Judith van Wanroij in der Doppelrolle als Natur und Spinette, Tassis Christoyannis als Genie des Feuers und Hohepriester Arthenée, Enguerrand de Hys als Eunuche Calpigi sowie Les Chantres du Centre Musique baroque de Versailles als Chor (3 CDs, Aparté, AP 208). Marcus Budwitius

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 (Wir bedanken uns außerordentlich bei dem Label Aparté und bei André Soarez von harmonia mundi france/ Pias für die Genehmigung zur  Übernahme des Textes von John Rice aus dem Booklet zur neuen Aufnahme von Salieris Tarare/ Aparté AP 208 3 CD; Foto oben Christophe Rousset/ Booklet/ Les Talens Lyriques.) G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Magische Umsetzung

 

Seit ich 1988 in Bielefeld die hinreißende Ingeborg Schneider als Heliane in Korngolds Oper in der sinnenöffnenden Produktion  von John Drew (Bühne Gottfried Pilz) erlebte, wartete ich auf eine Aufführung dieser Oper, die gleiche Begeisterung bei mir wieder auslösen könnte, weder Dortmund noch Gent oder Freiburg erüllten für mich diese Erwartungen, bis die Deutsche Oper Berlin 2018 die lichtmagische Umsetzung (Olaf Winter) dieser üppigen spätromantischen Geschichte von Christof Loy in den zauberhaften Bildern von Johannes Leiacker (Kostüme Barbara Drosihn) 2018 auf die Bühne brachte: in der hinreißenden  Titelsängerin neben einem leuchtstrahlenden Tenor und einem wirklich überzeugenden Cast unter Marc Albrecht taten sich da optische und musikalische Wunder auf. Ich neige sonst nicht zu diesen enthusiastischen Ausbrüchen und bin eher für meine scharfe Zunge bekannt. Aber dieses Wunder der Heliane begeisterte viele, viele Besucher und auch mich.

Was für ein Glück, dass die Deutschen Oper Berlin im Verbund mit Naxos diese prachtvolle Inszenierung nun als DVD festgehalten und zum Nach-Sehen herausgebracht hat (2 DVD 2.110584-85). Und auch dies ist ein kleines Wunder, denn die visuelle Umsetzung von Jörg Flisenius hält eben wirklich diesen vorgenannten Eindruck fest – das Bild zieht den Betrachter wieder hinein in dieses wirklich magische Bühnenerleben. Das gibt es selten, und das soll gewürdigt werden.

Nachstehend noch einmal die Hymne des Kollegen Bernd Hoppe auf die Aufführung selbst und ein langer Artikel aus dem Naxos Booklet von dem Korngold-Spezialisten Brendan G. Carroll. Dank an alle, DOB wie Naxos wie auch die gesamte künstlerische Crew. Stefan Lauter

 

Und nun die Aufführungsbesprechung: 1992 erschien Erich Wolfgang Korngolds Oper Das Wunder der Heliane bei Decca in deren Reihe „Entartete Musik“, denn das Werk des jüdischen Komponisten wurde 1938 von den Nationalsozialisten als „entartet“ deklariert und verboten. Nur wenige szenische Produktionen der 1927 in Hamburg uraufgeführten Oper sind bekannt (2010 gab es eine in Kaiserslautern, vor allem aber die wichtige Produktion von John Dew In Bielefeld mit der bedeutenden Soporanistin Ingeborg Schneider 1988) – umso höher ist das Engagement der Deutschen Oper Berlin zu bewerten, das Stück in einer Inszenierung von Christof Loy vorzustellen. Der Regisseur gilt als Spezialist für Werke des frühen 20. Jahrhunderts im Umfeld der Psychoanalyse und bestätigte seinen Ruf auch bei dieser Arbeit. Im Einheitsbühnenbild von Johannes Leiacker, einem Holz getäfelten Raum von nüchterner Atmosphäre mit sparsamem Mobiliar, inszeniert er schlüssig und mit wachsender Spannung. Zeitlos und vorwiegend schwarz sind die Kostüme von Barbara Drosihn, nur der Fremde trägt einen grauen Anzug. Auf Geheiß des Herrschers, in dessen Land die Liebe verboten ist, soll er sterben, hat er doch das Recht der Menschen auf Glück, Licht und Freude proklamiert. Heliane, die Gattin des Herrschers, erscheint anfangs im strahlend weißen Brautkleid und wird damit zur Lichtgestalt der Handlung. Sie will dem Fremden in der Nacht vor seinem Tod beistehen, gewährt ihm seine letzten Wünsche – ihr Haar und ihre Füße zu berühren, schließlich gar den Anblick ihres entblößten Körpers.

Korngolds „Wunder der Heliane“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene/ Foto wie auch oben: Monika Rittershaus

Sara Jakubiak ist mit blonden Haarflechten, eleganter Erscheinung und attraktiver Körperlichkeit optisch eine ideale Verkörperung der Titelheldin und kann die heikle Nacktszene ohne jede Peinlichkeit absolvieren. Ihr Sopran ist sinnlich und farbig in der Mittellage, sicher in der exponierten Region. Sie meistert die große Arie „Ich ging zu ihm“ mit ihren fordernden Aufschwüngen und der hymnischen Steigerung imponierend mit gleißendem, gelegentlich auch etwas herbem Klang. Von verzehrender Intensität und rauschhafter Ekstase sind ihre Duette mit dem Fremden, dessen Aura und Sensibilität sie sich nicht entziehen kann. Brian Jagde singt ihn mit in der Mitte dunkel timbriertem, doch in der Höhe strahlendem und ungemein leistungsfähigem Tenor. Emphatisch ist sein Gesang, von trunkenem Klang die Stimme. Helianes Gatten, den Herrscher, stattet Josef Wagner mit wuchtigen Tönen seines heldischen Bassbaritons aus, dessen schier unerschöpfliche Kraft von überwältigender Wirkung ist. Der österreichische Sänger von imposanter Statur weiß auch die Zweifel und Ängste der Figur zu vermitteln, findet für deren Sehnsucht nach Liebe und Zuwendung berührenden Ausdruck.

Glänzend besetzt sind die Nebenrollen mit Okka von der Damerau, die der Botin ihren robusten Mezzo mit giftig-tückischen Akzenten leiht, Derek Welton, der den kurzen Auftritt des Pförtners mit seinem markanten Bassbariton aufwertet, Burkhard Ulrich, der dem blinden Schwertrichter mit seinem Charaktertenor greisenhafte Töne verleiht, und Gideon Poppe, der als Junger Mann mit zuverlässigem Tenor aufwartet.

Grandios sind der Chor und Extrachor der Deutschen Oper Berlin (Einstudierung: Jeremy Bines), der  im 2. und 3. Akt zentrale Szenen der  Handlung zu absolvieren hat. Da gibt es die tumultöse Szene der aufbegehrenden Menge, die den Fremden als den „Boten der Freude“ wiederhaben will, oder zu Beginn des letzten Aktes das in Trauer erstarrte Volk, das gleichermaßen auf Helianes Wunderkräfte hofft wie an ihnen zweifelt. Für die gewaltigen Tableaus mit deren unterschiedlichen Stimmungen von Hysterie und Trance bis zur Verklärung bietet der Chor eine enorme gesangliche Bandbreite auf, gipfelnd im finalen Hymnus über Freude, Leben, Freiheit und Glück. Heliane und der Fremde, der sich den Tod gegeben hatte und von ihr zu neuem Leben erweckt wurde, verlassen den Raum und gehen in eine andere Welt.

Am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin zaubert Marc Albrecht rauschhafte Klangbilder von faszinierender Sinnlichkeit. Das Schillern, Flirren und Aufblühen der Musik steht im großen Kontrast zu ihren aufgepeitschten, massiv aufgetürmten Blöcken und dissonanten Bläsersätzen. Aber immer wieder setzen sich schwelgerische Lyrismen und sinnliches Melos durch und erzeugen einen geradezu narkotischen, süchtig machenden Sog.

Der Jubel des Publikums nach der 2. Aufführung am 22. 3. 2018 signalisierte, dass diese exemplarische Produktion der Deutschen Oper bereits jetzt als ein Höhepunkt der laufenden Saison gelten darf. Bernd Hoppe

 

Korngolds „Wunder der Heliane“ mit Lotte Lehmann und Jan Kiepura 1927 in Wien/ forbiddenmusic.org

Dazu der Aufsatz von Brendan G. Carroll: Von all den großen Opern der 1920er Jahre – darunter Puccinis Turandot, Bergs Wozzeck, Strauss‘ Intermezzo, Hindemiths Cardillac und Zemlinskys Der Zwerg – wurde keine mit solch fieberhafter Spannung erwartet wie Erich Wolfgang Korngolds Oper Das Wunder der Heliane.

Grund hierfür war vor allem ein Skandal, den der Vater des Komponisten Julius Korngold, der jähzornige, extrem konservative und vielgefürchtete Chefkritiker der führenden Wiener Tageszeitung, der Neuen Freien Presse, rund um die Premiere anzettelte und in schöner Öffentlichkeit vorantrieb.

Monatelang führte er eine Kampagne gegen den Komponisten Ernst Krenek und dessen sogenannte »Jazz-Oper« Jonny spielt auf, die nach ihrem sensationellen Leipziger Einstand vom 10. Februar 1927 nur wenige Wochen nach Heliane auch in Wien herauskommen sollte.

Julius Korngold, der das Werk verachtete, wollte dies um jeden Preis verhindern. Vergeblich machte er seinen Einfluss auf den damaligen Wiener Operndirektor Franz Schalk, einen alten Freund der Familie, geltend. Die Opernleitung war in akuten Geldnöten, man brauchte einen erfolgreichen Kassenschlager, und Schalk wurde überstimmt. Jonny spielt auf triumphierte. Schalk meinte dazu typisch wienerisch: »Der Vorverkauf übersteigt meine schlimmsten Erwartungen«. Vater Korngold seinerseits setzte unverdrossen seine journalistische Hetzkampagne gegen Krenek fort.

Das Resultat war eine komplette Spaltung der öffentlichen Meinung. Verschiedene Fraktionen bekriegten sich untereinander für und gegen Korngold oder Krenek, eine außergewöhnliche Situation, die das Opernpublikum genauso in den Bann zog wie alle führenden Zeitungskarikaturisten und Cartoonisten der Zeit. Die Österreichische Tabakregie (die spätere Austria Tabak GmbH) beispielsweise brachte zwei „rivalisierende“ Zigarettenmarken heraus: die Jonny (billig und ungefiltert) und die Heliane, eine teure Luxuszigarette mit helllila Papier, exotischem, rosenblütengeformtem Filter in eleganter Golddosenspezialverpackung.

Korngolds „Wunder der Heliane“ mit Lotte Lehmann und Jan Kiepura sowie ;Lothar Wallerstein bei Proben 1927 in Wien/ forbiddenmusic.org

Sechs Jahre arbeitete Erich Wolfgang Korngold an seiner Heliane. Die vollendete Partitur sollte er zeitlebens als sein größtes Werk betrachten. Die Oper, basierend auf dem obskuren Mysterienspiel Die Heilige des wenig bekannten rumänisch­österreichischen Dramatikers und Dichters Hans Kaltneker (1895-1919), einem Bewunderer von Korngolds Musik, ist vermutlich das extravaganteste und dramatischste Bühnenwerk des Komponisten.

Die Partitur sieht nicht bloß eine sehr große Chor- und eine ebensolche Orchesterbesetzung vor, bestehend aus drei Flöten, Piccolo, Englischhorn, drei Klarinetten, Bassklarinetten, zwei Fagotten, Kontrafagott, vier Hörnern in F, drei Trompeten in C, drei Posaunen, Tuba, drei Paukengruppen, einen enormen Schlagwerkapparat inklusive einem kompletten Glockensatz sowie zwei Harfen, volle Streicherbesetzung und Gitarre, sondern auch einen Frauenchor hinter der Bühne (als seraphische Stimmen aus der Höhe, die das Geschehen kommentieren) und, ebenfalls aus dem Off, drei weitere C-Trompeten, drei Posaunen und sechs Fanfarentrompeten – alles in allem mehr als hundert Musiker. Die Solistenbesetzung umfasst sechs Haupt- und sieben Nebenrollen.

Das gewaltige Ensemble ist meisterhaft eingesetzt und vereint musikalisch alle Wesensmerkmale von Korngolds reichem, romantischem Stil. Die ausgefallene, hochkomplexe Orchestration wird von nicht weniger als fünf verschiedenen Tasteninstrumenten verstärkt: Klavier, Orgel, Celesta, Harmonium und das selten verwendete Glockenspiel, ähnlich der Celesta, aber eine Oktave tiefer gestimmt. All dies untermauert die elaborierte Post-Strauss’sche Harmonie und sorgt für den typisch Korngold’schen Klangrausch. Diese Partitur behandelt jeden einzelnen Orchestermusiker als Virtuosen.

Die Intensität der Musik mit ihren berauschenden gestaffelten Glissandi- und Arpeggio-Effekten, ihren vorwärtsdrängenden Rhythmen, oftmals unnachgiebigen Tempi und plötzlichen Taktwechseln macht Heliane zu einer der größtmöglichen Herausforderungen für Dirigenten und Ausführende gleichermaßen. Von Akt zu Akt türmen sich die Spannungsbögen und auch für die Zuschauer wird die Oper zu einer musikalischen Überwältigungserfahrung.

 

Erich Wolfgang Korngold gibt dem Wagner-Darsteller Alan Badel Dirigierunterricht.für den Film „Frauen um Wagner“/ Wiki

Nach der erfolgreichen Uraufführung in Hamburg am 7. Oktober 1927 steigerten sich auch die Wiener Vorbereitungen. Zwei Star-Ensembles waren für zwei Premieren an aufeinanderfolgenden Abenden engagiert.

Die Rolle der Heliane hätte ursprünglich die legendäre Diva Maria Jeritza singen sollen – die erste Wiener Turandot, die bereits mit der Doppelrolle der Marie/Marietta in Korngolds Sensationserfolg Die tote Stadt und in der Titelpartie der Violanta, der zweiten Oper des gerade einmal siebzehnjährigen Komponisten, große Erfolge gefeiert hatte.

Doch das Wiener Premierendatum am 29. Oktober war zu spät angesetzt – die Jeritza war bereits einen Monat zuvor nach New York abgereist, wo sie einen Vertrag mit der Metropolitan Opera hatte. Die Heliane sollte sie auch später niemals singen. Statt ihrer glänzte in der Premiere ihre Erzrivalin, Wiens zweite große Diva Lotte Lehmann, an ihrer Seite ein spektakulär gutaussehender neuer Startenor, Jan Kiepura, in der Rolle des jungen, zum Tode verurteilten Fremden.

In der zweiten Premiere hätte Alfred Piccaver, der zweite führende lyrische Tenor Wiens, den Fremden übernehmen sollen. Doch er hatte die schwere Partie nicht rechtzeitig einstudieren können und sagte einige Tage vor dem anberaumten Termin ab. Die geplante Aufführung fiel aus, es entstand das haltlose, bis heute verbreitete Gerücht vom Misserfolg der Oper (tatsächlich kam das Stück in seiner ersten Spielzeit auf 27 Vorstellungen in Wien und 25 in Hamburg).

Ursprünglich hatten achtzehn Theater verkündet, das Werk auf die Bühne bringen zu wollen. Neun von ihnen blieben dabei – darunter Lübeck, Breslau, München, Plauen, Danzig, Schwerin, Chemnitz und Nürnberg.

„Das Wunder der Heliane“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene/ Foto wie auch oben Monika Rittershaus/ Dank an die DOB

Im April 1928 erreichte die Oper Berlin in einer für die frühen Jahre maßstabsetzenden Produktion. Bruno Walter dirigierte eine Starbesetzung mit Grete Stückgold, Hans Fidesser, Emil Schipper und Alexander Kipnis. Die bizarre, surrealistische Inszenierung entwarf Oskar Strnad, einer der größten Bühnenbildner derzeit.

Doch die deutschen Kritiker rächten sich an Korngold Sohn für die Hetzkampagne des Vaters gegen Krenek. Verärgert über dessen Versuche, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, verrissen sie das Werk – und das umso mehr, als der Tenor Fidesser, wie Korngolds Frau in ihren Memoiren schreibt, nach einem Generalprobenkrach mit Bruno Walter seine Partie am ersten Abend absichtlich sotto voce sang und so der Aufführung viel von ihrer Vitalität und Wirkung nahm.

Vielleicht waren die eigentlichen Gründe der Kritikerschelte aber auch Hans Müller-Einigens unglaubwürdiges Libretto und die Tatsache, dass Heliane so gar nicht der neuen herrschenden Mode der »Zeitoper« entsprach – ein Schicksal, das auch Die ägyptische Helena von Richard Strauss ereilen sollte, die später im selben Jahr Premiere feierte.

Das Opernpublikum hatte kein Interesse mehr an Märchen für Erwachsene oder an berauschenden, metaphysischen Liebesgeschichten. Der Trend der »Neuen Sachlichkeit« verlangte nach zeitgenössischen Themen, großzügig versehen mit Jazzinstrumentation. Neuartige Effekte und moderne Menschen, die Radio hörten, schnelle Autos fuhren, auf der Bühne telefonierten und sich in Exzessen aller Arten ergingen, waren der letzte Schrei. Korngolds Oper fiel aus der Zeit.

„Das Wunder der Heliane“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene/ Foto Monika Rittershaus/ Dank an die DOB

Bis 1931 war Das Wunder der Heliane fast völlig aus dem Repertoire verschwunden und nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Jahre 1933 wurde Korngolds Musik insgesamt von den deutschen Spielplänen entfernt. Das Wunder der Heliane fiel in Vergessenheit bis die Koninklijke Vlaamse Opera 1970 eine Wiederbelebung beschloss. Doch der Erfolg blieb aus – die große Korngold-Renaissance stand noch bevor und so schleppte sich das Werk weiter voran, bis Bielefeld sich 1988 an eine Inszenierung wagte. Auch hier gab es Probleme mit der Besetzung (der Tenor kapitulierte in der Generalprobe), und die Tatsache, dass das Theater viel zu klein war, um der Oper gerecht zu werden, tat ein Übriges, einen dauerhaften Erfolg zu verhindern.

Verbreitung: 1993 entstand unter der Leitung des Produzenten Michael Haas die wegweisende Ersteinspielung der Heliane, mit der die Decca ihre großangelegte Reihe »Entartete Musik« einleitete (der Titel ist eine Reminiszenz an die berüchtigte Nazi-Ausstellung in Düsseldorf 1938). Der Aufnahme stellte man eine CD von Kreneks Jonny spielt auf, dem ehemaligen Opernrivalen, zur Seite. Die Veröffentlichung wurde ein internationaler Erfolg. Ganz allmählich kehrte die Oper ins Repertoire zurück.

(Dem gingen Aufführungen andernorts wie Gent 1970 voraus, namentlich die erwähnte Aufführung in Bielefeld 1988 setzte neue Maßsstäbe. S. L.) Es folgten konzertante Aufführungen im Amsterdamer Concertgebouw (1995) und der Londoner Royal Festival Hall (2007). Einer Koproduktion des Pfalztheaters Kaiserslautern mit Brünn von 2010 bis 2012 war schließlich größerer Erfolg beschieden und im Januar 2017 brachte eine erfolgreiche konzertante Aufführung Heliane nach 90 Jahren erstmals zurück nach Wien, bevor man das Werk im selben Jahr konzertant in Freiburg und szenisch in Gent aufführte. Im März 2018 schließlich kehrte Heliane nach Berlin zurück. Christof Loys Produktion wurde ein spektakulärer Erfolg.

„Das Wunder der Heliane“ an der Deutschen Oper Berlin/ Szene/ Foto Monika Rittershaus/ Dank an die DOB

In deutlicher Anspielung auf Billy Wilders berühmten Film Zeugin der Anklage wurden die unglaubwürdigeren Aspekte der Handlung hier gestrichen oder gemildert, indem man die Handlung in einen nüchternen, mit Eichenholz verkleideten Gerichtssaal verlegte. Der deutliche Schwerpunkt auf die menschliche Tragödie macht Korngolds hyperromantische Musik noch eindringlicher. Kleidung und Frisur der Heliane erinnern an Marlene Dietrich, den Star in Wilders Film. Ihr Ehemann, der boshafte Herrscher dagegen, wird als jämmerlicher, impotenter Mann entlarvt, der sich verzweifelt nach der Liebe seiner Frau sehnt. Jede seiner Handlungen ist von diesem Verlangen bestimmt, und doch bleibt seine sterile Ehe zum Nichtvollzug verdammt. Seine grausamen Taten erhalten auf diese Weise einen effektiven Subtext, der das zentrale Drama sehr viel glaubwürdiger erscheinen lässt.

Der junge Fremde – bei Kaltneker und Müller-Einigen eine seltsame, christusartige Messiasgestalt – erscheint als attraktiver Befreier der unterdrückten Sexualität. Christof Loy hat verstanden, dass es in dieser Oper tatsächlich überall um Sex geht, und zwar speziell um die verwandelnde Kraft der Geschlechtsliebe, die der Unterdrückung und Verdrängung im freudlosen Reich des Herrschers ein Ende macht – ein Aspekt, auf den das originale Libretto nur leise anspielt. Dass der junge Korngold Heliane im ersten Jahr seiner glücklichen Ehe mit Luise Sonnenthal (einen Großteil sogar noch während der Flitterwochen) schrieb, ist in jedem leidenschaftlich erotischen Takt der Partitur zu hören. So hat der Komponist das Werk denn auch nicht von ungefähr seiner jungen Frau gewidmet.

„Das Wunder der Heliane“/ Theaterzettel Wien 1927/ Theatermuseum Wien

In dieser Oper gibt es nicht nur ein großes Liebesduett, sondern gleich drei, eines pro Akt, und die Arie „Ich ging zu ihm“ (1928 denkwürdig von Lotte Lehmann eingespielt), die Heliane in der Gerichtsszene des zweiten Aktes singt, ist vielleicht Korngolds schönste überhaupt – eine intensive, erotische Liebeserklärung der Titelheldin, deren Worte das Geständnis zugleich leugnen. In der chromatisch aufsteigenden Musik spiegeln sich sexuelle Befriedigung und Erschlaffung auf dieselbe wirkungsvolle Weise wie im berühmten Liebestod in Wagners Tristan und Isolde.

Das eigentliche Thema der Heliane dürfte freilich der Glaube an eine menschliche Liebe sein, deren Kraft den Tod transzendiert und überdauert. Korngold war zutiefst eingenommen von diesem Glauben an eine Liebe über den Tod hinaus: Sein Zyklus der Abschiedslieder und seine Oper Die tote Stadt erkunden ähnliche Themen.

„Das Wunder der Heliane“/ der Autor des Artikels aus dem Booklet zur DVD-Ausgabe bei Naxos, Brendon G. Carroll/ youtube

In Hollywood, seinem unfreiwilligen Exil, wandte sich der Komponist 1944 erneut diesem Thema zu. In seiner Filmmusik zu Zwischen den Welten, die er persönlich vor alle seine Filmmusiken stellen sollte, wird der Weg verschiedener Menschen ins Jenseits beschrieben. Zentrum der überarbeiteten Version von Sutton Vanes Schauspiel Outward Bound ist dabei ein junges Paar, das sich das Leben genommen hat, weil es die Trennung nicht ertragen konnte. Die Liebenden erhalten schließlich eine zweite Lebenschance. Bezeichnenderweise zitiert Korngolds äußerst romantische Filmmusik ganz bewusste Stellen aus Heliane – nicht zuletzt die schöne Arie des Pförtners aus dem dritten Akt.

Nach beinahe hundert Jahren in der Versenkung berührt Das Wunder der Heliane das Publikum heutzutage wieder mit seiner überwältigenden emotionalen Durchschlagskraft und seinem grenzenlosen, bitonalen Lyrismus. Vielleicht rührten hierher auch die beispiellosen zwanzig Minuten Ovationen bei der Premiere der neuen Berliner Produktion.

Dank der vorliegenden Aufnahme ist die einzigartige Wirkung der Heliane nun überall und für jedermann nachvollziehbar und die Zukunft des Werkes auf der Bühne scheint endlich gesichert. Brendan G. Carroll, 2018/ Deutsche Übersetzung: Katharina Duda

 

Der Korngold-Spezialist und Musikwissenschaftler Brendan G. Carroll ist der Autordes Buches The Last Prodigy, das als die definitive Korngold-Biographie gilt (Amadeus Press 1997); die deutsche Übersetzung der revidierten Fassung ist unter dem Titel Erich Wolfgang Korngold: Das letzte Wunderkind erschienen (Böhlau-Verlag, Wien 2012). Wir bedanken uns bei der Firma Naxos und vor allem beim Autor Brendon G. Carroll für die sehr freundliche Genehmigung zur Übernahme des Artikels aus der kürzlich erschienenen DVD-Ausgabe bei Naxos, die eine Aufführung an der Deutschen Oper 2019 wiedergibt.

 

 

Zu Recht wieder aufgelegt

 

Wieder auf den Markt gebracht haben Warner Classics in der Reihe The home of opera Cileas L’Arlesiana, die 1992 aufgenommen wurde und eines der seltenen Zeugnisse des Wirkens des ungarischen Tenors Péter Kelen ist, der eine Vorliebe für selten aufgeführte Verismo-Opern gehabt zu haben scheint, denn es gibt mit ihm auch eine CD mit Mascagnis Lodoletta. Diese Liebe hat offensichtlich  der amerikanische Sopran Maria Spacagna geteilt (zu kurze Karriere leider) , denn auch die Sängerin ist auf beiden Einspielungen vertreten, ebenso wie der Dirigent Charles Rosekrans.

Immerhin ist ein Track, das Lamento des Federico, bis heute populär geblieben, besonders als Zugabe bei Tenor-Recitals. Dafür und für den Rest der Partie setzt Kelen einen angenehmen, recht hell timbrierten Tenor ein, singt sehr geschmackvoll und ohne der Versuchung zu erliegen, einen Schmachtfetzen aus dem gefühlvollen Stück zu machen. Einen beachtenswerten squillo zeigt er auf „Amo“, herzerweichend klingt „soffro“, das Piano ist klangvoll, das Forte stählern, selten, so in „perchè state laggiù“, nimmt die Stimme Charaktertenorqualitäten an. Das große Duett mit dem Sopran lässt zudem den Tenor eher gequält als melancholisch klingen.

Viel vokalen Charme entfaltet Maria Spacagna als verschmähte Vivetta, wirkt akustisch jung, frisch und lässt die Spitzentöne leuchten. Über weite Strecken wird sie dank der Qualität der Stimme zur Protagonistin, die auch, wenn es dramatisch wird, mächtig aufdrehen kann.

Eine alte Bekannte ist Elena Zilio als Mamma Rosa, die inzwischen immer noch, wenn auch nun die Großmütter, singt. Seit den frühen Sechzigern steht sie auf der Bühne und hat für die geplagte Mutter eine intensiv darstellende Stimme, facettenreich und von schmerzlicher Intensität im Gebet. In der Forte-Höhe ist der Mezzo für manchen Geschmack  vielleicht zu sopranlastig, aber eindrucksvoll in jeder Note.

Der Bariton Barry Anderson singt mit viriler, dunkler Stimme zwar einen abgeklärten, aber gar nicht hinfällig, wie er behauptet, wirkenden Baldassare. Die restliche Besetzung, aus der Katalin Halmai als L’Innocente mit hellem Unschuldssopran hervorragt, ist ungarischen Ursprungs wie der Tenor.

Charles Rosekrans, ein amerikanischer Dirigent, der auch viel in Ungarn und Russland wirkte und tragisch endete, indem er sich aus dem 8. Stockwerk eines Houstoner Krankenhauses stürzte, betont gleichermaßen die Idylle (und wird dabei durch den oft aus der Ferne wirkenden Hungarian State Chorus unterstützt) wie auch die veristische Dramatik, fängt mit dem Hungarian State Orchestra die Stimmung des Intermezzo vor dem dritten Akt besonders wirkungsvoll ein (Warner Classics 0190295461294). Ingrid Wanja

Abgebissen

 

Mit einer veritablen Rarität wartet das Label passacaille auf und veröffentlicht auf zwei CDs das  Oratorio a 4 voci Adamo ed Eva von Josef Myslivecek (1053). Der böhmische Komponist, der auch in Italien studierte und dort Il Boemo genannt wurde, schrieb eine Vielzahl von Opern, Oratorien und Kantaten. Adamo ed Eva ist sein drittes von insgesamt acht Oratorien, komponiert für Florenz und dort 1771 uraufgeführt. Das Libretto wurde von dem Genueser Jesuiten Giovanni Granelli verfasst und erstmals 1747 von Baldassare Galuppi vertont. Darin finden sich der Engel der Gerechtigkeit (Angelo di Giustizia), der den Menschen aus dem Paradies vertreibt, und der Engel der Barmherzigkeit (Angelo di Misericordia), der den Gläubigen nach dem Tod das ewige Leben schenkt. Ersteren singt die renommierte Barockspezialistin Roberta Mameli, die beispielsweise an der Berliner Staatsoper als Monteverdis Poppea und bei den Musikfestspielen Potsdam Sanssouci gefeiert wurde, mit leuchtendem, persönlichkeitsstarkem Sopran, kann sogleich in ihrer ersten Arie, „Quell’affanno“, auftrumpfend brillieren. In ihrem zweiten Solo, „Colla mano omnipossente“, und dem letzten Auftritt, „Toglierò le spnde al Mare“, vermag sie diesen Eindruck mit bravourösen Koloraturrouladen sogar noch zu steigern. Die andere Rolle nimmt die Sopranistin Alice Rossi wahr, klingt leichter, aber gleichfalls gelenkig und absolviert ihre erste Arie „Chi sa“ mit beherztem Zugriff. „Cara speranza“ im zweiten Teil wird getragen von lieblichen Ornamenten und souverän geboten. Bei „Renderò le sponde al Mare“ am Ende wird sie noch einmal zu virtuoser Höchstleistung gefordert. Die beiden Angeli finden sich klangvoll und bravourös vereint im Duett „Non è crudel rigore“.

Die Titelrollen sind mit dem Tenor Valerio Contaldo und der Mezzosopranistin Luciana Mancini besetzt. Adamo fällt die erste Arie des Oratoriums zu, „Sente quest’alma oppressa“, die der italienische Sänger entschlossen angeht, die Koloraturen zupackend formuliert und insgesamt mit männlicher Verve überzeugt. Eva folgt mit der lieblich wiegenden Arie „Non ti chieggo amor“, von der Sängerin mit leicht herbem Timbre sehr kultiviert geboten. Danach vereinen sich die Titelhelden im aufgewühlten Duett „Ah, formidabil suono“. Die beiden Stimmen mischen sich harmonisch und  haben mit den Koloraturläufen keine Mühe. Bei Adamos zweiter Arie, „Nó, che vano“, fällt die stilistische Nähe zum Titelhelden von Mozarts Tito auf, die der Interpret souverän wahrnimmt. Sein letztes Solo, „Amare lagrime“, ist in seinem schmerzlichen Melos besonders anrührend. Evas zweite Arie, „Non so se il mio peccato“, ist ein schwermütiges Stück, während „Se al Ciel miro!“ von Hoffnung getragen wird. Alle Solisten vereinen sich zum Schluss im Chor „Se la serena fronte“.

Das auf historische Aufführungspraxis spezialisierte Barock-Ensemble Il Giardellino leitet Peter Van Heyghen, der sich speziell der Musik zwischen 1500 und 1800 widmet. In der dreisätzigen Ouvertur gelingt ihm ein bemerkenswerter Einstieg, weiß er doch zwischen dem stürmischen Allegro con brio, dem bedächtigen Andante und dem energisch drängenden  Presto spannungsvoll zu variieren. Auch später hört man immer wieder Momente von feinfühliger Begleitung und inspiriertem Musizieren. Bernd Hoppe

Reifes Regiewerk

 

Wohl nicht so recht wusste die rechte Regiehand, die für den Chor, was die linke, die für die Solisten, wollte bei der Inszenierung von Hans Neuenfels für Tschaikowskis Pique Dame in Salzburg 2018. Während den Solo-Sängern eine psychologisch fundierte, bis ins Detail schlüssige und, wenn ungewohnte, dann doch nachvollziehbare Führung zuteil wurde, musste der Chor die vom Regisseur in früheren Zeiten gewohnten Mätzchen erdulden. Dazu gehören in Käfigen auf die Bühne geschobene Kinder, die von den Gouvernanten an Strippen dirigiert werden, während die übervollbusigen Njanjas sich aus dem trüben Geschehen heraushalten. Der Chor der Erwachsenen erscheint, obwohl nur das erste Frühlingslüftchen über die Newa weht, in Badekleidung und mit Schwimmbewegungen, und auch in den Folgeakten sind Einheitskleidung und entstellende Kopfbedeckungen Pflicht. Für diese war Reinhard von der Thannen verantwortlich, aber auch für die Klischeebedienung, was die Solisten anging, die in dicken Pelzen, mit Wallehaar und ebensolchen Bärten und die Wodkaflache in der Hand die Szene bevölkern. Nur Hermann trägt eine knallrote Husarenuniform, die Jacke durchgehend offen und die behaarte Brust zeigend. Das Geschehen spielt sich vor einer grauen Wand ab, vor die mal ein kleines Krankenzimmerchen für die Gräfin geschoben oder auf die für die Liebesszene ein Sternenhimmel projiziert wird (Szene Christian Schmidt). Natürlich dürfen in einer Neuenfels-Inszenierung Tiere nicht fehlen, und so treten hier, nach den Fröschen in Rigoletto oder den Bienen in Nabucco in Berlin, drei wirklich schafsmäßig dümmlich dreinblickende Paarhufer auf und lassen die Schäferszene, bei der Kinder spielen und die Sänger sich konzertant verhalten, besonders farbig werden. Wenn am Schluss des Akts die Zarin als riesiges Gerippe auf der Bühne erscheint, denkt man doch gleich an die Orgie mit einer Vielzahl solcher trüben Gestalten im Rigoletto. Fast nicht weniger ungewöhnlich als die Zarin ist die Gräfin anzuschauen, die eine rote Perücke, ein giftgrünes Kleidchen, rote Schuhe und Handschuhe trägt, gar nicht hinfällig wirkt und in einer der stärksten Szenen Hermann zu verführen versucht, sich, nachdem ihr das nicht gelingt, sich wenigstens den Pistolenlauf (Phallussymbol!) in den Mund steckt. Das ist eine wirklich großartig und den Zuschauer berührend gespielte Szene, die von der fast 75jährigen Hanna Schwarz, auch sehr fein und sehr verinnerlicht im Couplet, gesungen wird.

Bewundern muss man auch den Sänger des Hermann, den amerikanischen Tenor Brandon Jovanovich, der die kraftraubende Partie nicht nur sehr anständig und in allen Lagen gleich präsent, wenn auch nicht mit Ausnahmetimbre singt, sondern atemberaubend gut spielt, sie von Anfang an als vom Wahn Besessener auffasst, den auch die Liebe Lisas nicht kurieren kann.  Diese besitzt in durchgehend Schwarz-Weiß gekleidet eine kühle Ausstrahlung und Evgenia Muravevas  gesunden, kraftvollen und leuchtenden Sopran. Polina ist in Hot Pants Oksana Volkova mit dunkel loderndem Mezzosopran. Mit balsamischem Bariton singt Igor Golovatenko seine schöne Liebeserklärung an Lisa, die jedoch offensichtlich die Vision von mittäglichem Familientisch mit gleich vier Sprösslingen an der Tafel von seiner Seite treibt. Dämonisch bis sarkastisch singt der dunkel gefärbte Bariton Vladislav Sulimskys seine beiden Bravourstücke als Tomsky.  Auch seine Kameraden sind rollendeckend und damit gut besetzt.

Wie immer bei Neuenfels gibt es keine Über- oder Untertitel, umso sprechender sind die Philharmoniker unter Mariss Jansons und schwelgen in Schwermut, Melos und Dämonie (Blu-ray Unitel 801504). Ingrid Wanja