Etienne-Nicolas Méhul (1763-1817) gehört zu den von den Intendanten und Plattenproduzenten sträflich vernachlässigten großen Komponisten von europäischer Bedeutung aus der Zeit um 1800, und man freut sich jedes Mal über die seltene Gelegenheit, Neues von ihm auf Video- oder Tonträger kennenzulernen. Höchstes Lob gebührt deswegen dem Ensemble Les Monts du Reuil, die in Zusammenarbeit mit der Opéra de Reims einen Einakter des Komponisten ausgegraben haben – aber, das sei sofort hinzugefügt, wirklich nur für die Ausgrabung Le jeune sage et le vieux fou ist ein Opéra-comique, das heißt ein Singspiel, das als viertes Bühnenwerk Méhuls in aufgewühlten Zeiten die Uraufführung erlebte. Die Premiere fand nämlich am 28. März 1793 statt, zwei Monate, nachdem die Revolutionäre den König geköpft hatten. Es ist die zweite Oper, die Méhul auf einen Text von François-Benoît Hoffmann (1760-1828) schrieb. Mit ihm ging er eine künstlerisch sehr erfolgreiche Partnerschaft ein, durchaus vergleichbar mit den Kooperationen Mozart/da Ponte und Strauss/Hofmannsthal, welcher der Maler Louis-Léopold Boilly schon 1798 ein Denkmal setzte. Das Werk wurde gut aufgenommen. Die Chronique de Paris meinte etwa ein paar Tage nach der Uraufführung, das klinge „jeweils originell, geistreich und romantisch“. Méhul scheint sich über das Lob nicht besonders gefreut zu haben, denn er schrieb einer Zeitung und monierte in einem bizarren Anflug von öffentlicher Selbstkasteiung, das gespendete Lob sei „übertrieben“ Wie so viele Erzeugnisse dieser Zeit hielt sich das Werk nicht lange auf den Brettern der Opéra Comique, weil das Publikum immer neue Stücke verlangte (Berlioz charakterisierte noch vierzig Jahre später das Haus treffend als „einen Gargantua, der die jungen Komponisten verschlingt, ohne es zu merken“). Die düstere Epoche der Entstehung merkt man dem Werk nicht an. Ganz im Gegenteil: es ist eine duftige, kleine hübsche Komödie mit kurzen Arietten und viel Dialog, in der ein alter Narr dargestellt wird, der sich in eine junge Frau verliebt, aber am Ende dank des „jungen Weisen“ zur Räson zurückkehrt. Berlioz brachte viel später der etwas oberflächliche Glanz der Partitur zwar auf die Palme, aber zu Unrecht.
Lebendig und tänzelnd klingt klingt die vorliegende Interpretation comme il faut, sie leidet aber unter zwei schwerwiegenden Entscheidungen. Die Partitur wurde erstens bearbeitet und für einige wenige Instrumente eingerichtet (fünf Streicher, vier Bläser und ein Hammerklavier), was trotz des anerkennenswerten Engagements der Musiker nur erahnen lässt, wie das Original klingt. Ferner: wieviel Originaldialog ist dabei? Was hat man gekürzt? Immerhin wird nicht einmal die wunderschöne Ouverture vollständig dargeboten. Zweitens kommen junge Sänger-Darsteller zum Einsatz, die sich gut auf der Bühne bewegen, klar und verständlich sprechen, jedoch den vokalen Ansprüchen nur knapp gerecht werden. Am besten zieht sich die Kanadierin Anne-Marie Beaudette aus der Affäre. Bei Regisseur Juan Kruz Dias De Garajo Esnaola ist der Name länger als die Liste der inszenatorischen Ideen. Haupteinfall ist es, das Instrumentalensemble einzubeziehen und die handelnden Personen und Instrumentisten immer wieder auf der Bühne neu zu formieren, was mehr oder weniger gut gelingt. Insgesamt gemahnt die mise en scène fatal an eine mittelprächtige studentische Aufführung. Auch der Verlag Les Editions Buissonnières, welcher den Vertrieb der offenbar von dem Ensemble Les Monts du Reuil verantworteten Produktionen gewährleistet, hat sich keine Mühe gegeben. Der Käufer muss sich mit der nackten Wiedergabe der Oper begnügen, ohne Booklet oder Extras. Méhul-Bewunderer werden jedoch nicht weise handeln können, sondern wie verliebte alte Narren die DVD erstehen, weil sie sonst keine Möglichkeit haben, Le jeune sage et le vieux fou kennenzulernen. Den anderen sei empfohlen, auf eine bessere Publikation zu warten. Michele C. Ferrari
E.N. Méhul, Le jeune sage et le vieux fou: H. Tunc (Cliton), D. Mignien (Merval), A.M. Beaudette (Rose), A. Bacquet (Elise), P. Bonnefoy (Frontin), Bläser der Opéra de Reims, Les Monts du Reuil, dir. Pauline Warnier und Hélène Clerc-Murgier, 1 DVD ohne jegliche Ausstattung, Les Editions Buissonnières (https://www.editions-buissonnieres.fr), Derselbe Verlag veröffentlicht die Partitur des Werkes (ISBN 978 2 84926 333 4).