UND ewig Berlioz

 

Im Berlioz-Jubiläumsjahr sind nicht nur mehrere Inszenierungen über die Bretter gegangen und etliche CD-Produktionen erschienen, welche das Publikum zu einer frischen Bewertung dieses bedeutenden, aber von vielen nicht so richtig geliebten Komponisten aufgefordert haben (die OperaLounge hat mehrmals darüber berichtet). Auch publizistisch hat sich viel getan, und der Egomane Berlioz würde sich bestimmt über die ihm gewidmete Aufmerksamkeit freuen. In Frankreich etwa sind Biographien (erneut) auf den Markt gekommen wie jene des 2014 verstorbenen René Maubon (erste Auflage 2003, Editions de Paris 2019) oder die kurze Skizze von Patrick Favre-Tissot-Bonvoisin (Bleu Nuit 2019). Dank der Bemühungen des Palazzetto Bru Zane und anderer Verlage sind auch mehrere Schriften von Berlioz, der ein überaus fruchtbarer und gefürchteter Schreiber war, wieder zugänglich. Soeben ist eine neue, kommentierte Edition seiner immer noch sehr lesenswerten Mémoires erschienen (Vrin 2019). Es sollen dabei Einzelinitiativen nicht vergessen werden, die neues Licht auf verschiedene Aspekte von Leben und Wirken von Berlioz werfen.

Dazu gehört der vorliegende Sammelband, welcher die Beiträge einer Berlioz-Tagung in Arras versammelt, die schon vor einigen Jahren stattgefunden hat. Zuerst erinnert Anne Bongrain („Une introduction à Berlioz feuilletoniste“, S. 9-40) an die lange, oft kämpferisch geprägte literarische Tätigkeit des Komponisten, der im zarten Alter von 19 seinen ersten Artikel veröffentlichte, um Spontinis Vestale gegen Kritikaster zu verteidigen. Der Beitrag trug einen Titel, der Programm für sein ganzes Leben wurde: Polémique musicale. Der Literaturwissenschaftler Marc-Mathieu Münch bietet in „Berlioz, l’effet de vie et la Symphonie fantastique (version Charles Münch [sic])“, S. 41-66, eine sehr persönliche, den ihm eigenen ästhetischen Prinzipien folgende Deutung. Von besonderem Interesse für die Leser der OperaLounge sind die nächsten beiden Beiträge (Patrick Barbier, „Pauline Viardot, muse de Berlioz“, S. 67-86; Marie-Hélène Coudroy-Shagaï, „Berlioz et l’opéra-comique au prisme de ses écrits“, S. 87-102). Barbier stellt die bedeutende Sängerin (und Komponistin!) Viardot vor, welche bekanntlich die jüngste Tochter des berühmten Manuel García war, und geht insbesondere auf ihre aktive Rolle bei der Neueinrichtung von Glucks Orphée durch Berlioz im Jahr 1859, ein. Während der künstlerischen Zusammenarbeit erwachten bei Berlioz tiefere Gefühle für die Sängerin, welche Viardot jedoch nicht erwiderte (sie nahm auch nicht an seiner Beerdigung teil). Coudroy-Shagaïs Essay behandelt Berlioz‘ Berichterstattung über die Opéra-comique, welche der Komponist einmal beschrieb als „einen Gargantua, der die jungen Komponisten verschlingt, ohne es zu merken“. Seine Kritiken waren nicht selten ätzend: so meinte er 1836, Auber und Scribe hätten in Actéon die Rollen gewechselt, weil nur das erklären könne, warum der Text der Oper derart erbärmlich und die Musik derart banal ausgefallen sei. Hermann Hofer bietet einen gelehrten Artikel über den „Kontinenten Berlioz“ (S: 103-145 ). Er weist darauf hin, dass Berlioz, der sich oft über Missgunst und Zurücksetzung beschwerte, ein recht erfolgreicher Komponist war, der viele Musiker und Tonsetzer in Frankreich beeinflusste, von Lalo bis hin zu Chausson, Debussy und Dukas. Unerwarteterweise verehrten auch Jüngere Berlioz, so wie Darius Milhaud, der sich zu der Aussage versteigerte, er würde „ganz Wagner für eine Seite Berlioz hergeben“. Spuren der Bewunderung verfolgt Hofer bis ins 21. Jahrhundert, etwa bei Eric Tanguy und Guillaume Connesson. Katherine Kolb („Les ailes de l´âme. Vol et envol chez Berlioz“, S. 146-1719) berichtet über die Flügel- und Flug-Metaphern bei Berlioz als Ziffer seiner Poetik, aber auch über seine Bewunderung für Jules Verne, die in einer eigenen Erzählung Euphonia gipfelte, in denen Luftreisen mit kleinen, schnellen Ballons eine wichtige Rolle spielen. Nach einem Interview mit Jean-Claude Malgoire (S: 172-191), in dem der letztes Jahr verstorbene Dirigent die Sicht eines praktizierenden Musikers zum Besten gibt, schließt der Band mit einem Aufsatz zu Berlioz und der Kirchenmusik (Matthias Brzoska, „Berliioz, musicien d’église“, S. 192-209). Angesichts der Tatsache, dass die Autoren dankenswerterweise auf viele Zeitgenossen eingehen, vermisst man am Ende ein Namensregister. Für das nichtfranzösischsprechende Publikum wären darüber hinaus Zusammenfassungen auf Englisch nützlich gewesen. Der Band bietet neue Ideen und Interpretationen aus unterschiedlichen Blickwinkeln und wird somit dem vielfältigen Œuvre von Hector Berlioz gerecht (Berlioz, encore et pour toujours. Actes du Cycle Berlioz, Arras 2015, BoD (Books on Demand), www.bod.fr., 214 Seiten).  Michele C. Ferrari