Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Fabelhaft

 

Eine durch und durch beglückende CD ausschließlich mit Arien aus MozartOpern hat Daniel Behle bei Sony aufgenommen und stellt den Betrachter des Covers vor das Rätsel, warum das Z im Namen des Komponisten durch Farbe und Größe hervorsticht. Dadurch entsteht das Wort Zart, das allein aber nicht von der Zielsetzung des Sängers künden dürfte, denn gleich mit den beiden ersten Tracks nach der Ouvertüre zu Don Giovanni versucht der Tenor mit Erfolg eine Rehabilitierung des Don Ottavio, in den letzten Jahren, ja Jahrzehnten auf der Bühne häufig ein rechter Schlappschwanz, der sich von Donna Anna, die eigentlich nicht nach seinen, sondern nach den Umarmungen des Don Giovanni lechzt, an der Nase herumgeführt wird. Der Don Ottavio Behles ist durchaus ein zart-zärtlicher, sensibler, aber zugleich ein durch und durch nobler, aristokratischer Opernheld, der bei „morte“ im „Dalla sua pace“ auch heldisch auftrumpfen kann, der variationsreich in den Wiederholungen ist und doch nie den Mozart-Stil verleugnet, nie die Gesangslinie verletzt, feinste Pianissimi ebenso wie heldisches Aufbegehren zum Ausdruck bringen kann. In der zweiten Arie des Don Ottavio gestaltet der Sänger hoch virtuos in den Koloraturen, die stets sinnerfüllt bleiben, schlägt ein angenehm zügiges Tempo an, kann entschlossen herrisch im „vendicar io vado“ werden wie auf dem Weg zum Zwischenfachtenor. Das alles mit gleichbleibend noblem Timbre und ohne die Spur eines Registerbruchs.

Gleich alle vier Arien des Belmonte sind auf der CD vertreten, alle vorbildlich textverständlich gesungen und dem Hörer suggerierend, er vernehme sie zum ersten Mal. Phantastisch ist im „Hier soll ich sie nun“ der Schwellton auf der Fermate („bringt“), wie der Ottavio offenbaren die Art des Singens und die Farbe der Stimme einen so sensiblen wie aristokratischen Charakter. Agogikreich wird „Konstanze, dich wiederzusehen“ interpretiert, mal wie innerlich bebend, mal in bruchloser Steigerung wie bei „es hebt sich die schwellende Brust“, ein zartes Tongespinst ist „Traum“ und „ängstlich“ wie „feurig“  sind hörbar nicht nur durch den Wortsinn, sondern auch die vokale Gestaltung. Mühelos wird in „Wenn der Freude“ mit den Verzierungen gespielt, und die gern gemiedene „Baumeisterarie“ erfreut durch eine großartige Phrasierung und durch Verzierungen, die mit Sinn erfüllt werden.

In der Bildnisarie des Tamino scheint die Stimme zu strahlen, entwickelt sich „die Liebe“ variationsreich in den Wiederholungen bis zum Jubelton, ist das „mein“ so viril wie zärtlich, bis es im Überschwang seine Krönung findet.

Von ätherisch schwebend bis zum Überschwang sich steigernd besingt Ferrando in der Cosi die „aura amorosa“, im selten aufgeführten „Io veggio“, „Tradito“  ist nicht auf der CD  vertreten, findet ein ausdrucksstarker Wettstreit zwischen einander widerstreitenden Gefühlen statt. Die Ouvertüre zur  Così wird vom L’Orfeo Barockorchester unter Michi Gaigg verspielt hurtig, die zu Don Giovanni duftig leicht im Presto, dramatisch wo angebracht gespielt.

Die leichte Emission der Stimme Behles, das noble Timbre imponieren in der Arie aus La Betulia liberata ebenso wie die Koloraturgeläufigkeit und das schlank bleibende Forte. Die beiden Herrscher Tito und Idomeneo zeigen die Stimme auf dem Weg in ein neues Fach, eine wunderbare Gralserzählung deutet sich an, aber durchaus auch ein heldisches „Heil König Heinrich“, und Fritz Wunderlich hätte nichts dagegen, dass ihn Daniel Behle zu seinem Vorbild gewählt hat. Schöner und erfüllter kann man Mozart nicht singen (Sony 19075964582). Ingrid Wanja

 

Oper und Film

 

Sympathische Bescheidenheit ziert das Buch Oper und Film, das ein gutes Jahr nach dem Symposium gleichen Namens an der Deutschen Oper erschienen ist und mit dem Untertitel Geschichten einer Beziehung andeuten will, dass nichts Allumfassendes und Endgültiges zum Thema gesagt werden sollte und konnte. Anlass war die höchst erfolgreiche Aufführung von Erich Korngolds Das Wunder der Heliane an der Deutschen Oper Berlin, eines Musikers, der zugleich Opern- und Filmkomponist war, oder besser gesagt nacheinander, dessen Opernmusik man die Nähe zu der des Films, dessen Filmmusik die zur Oper nachsagte.  Arne Stollberg, Stephan Ahrens, Jörg Königsdorf und Stefan Willer sind für das Buch verantwortlich und enthüllen im Vorwort, dass bei seinem Erscheinen auf der Bühne der Kultur der Film bezeichnenderweise als Bedrohung für die Oper empfunden wurde.

Es gibt zehn Artikel über unterschiedliche Facetten des Themas, wovon sechs sich mit Opernhaftem im Film und vier mit Kinohaftem in der Oper befassen. Der Video-Regisseur von „Das Wunder der Heliane“ äußert sich zudem über seine Arbeit, in einer abschließenden Diskussionsrunde sprechen Filmschaffende wie der Opern Verbundene zum Thema. Es fällt auf, dass die Beiträge desto konkreter, nachvollziehbarer und dem gemeinen Opernliebhaber zugänglicher werden, je mehr der Verfasser bzw. Diskussionsteilnehmer praktische Arbeit am Sujet, sei es Film oder sei es Oper, geleistet hat, während die rein theoretisch mit beiden Gattung Befassten eher schwer zugängliche, sehr im Abstrakten, Soziologischen, Gesellschaftswissenschaftlichen verhaftete Beiträge leisten und ihre Texte eher die Gefahr laufen,  recht unverdaulich zu bleiben.

Als Beispiel für einen sehr gelungenen, nachvollziehbaren Beitrag kann der von Volker Schlöndorff über seine Zusammenarbeit mit Hans Werner Henze, beginnend mit dessen Musik zu „Die Leiden des jungen Törleß“ oder besser Der junge Törleß gelten. Da bleiben die Ausführungen nicht nur ein dürres Knochengerüst des Abstrakten, sondern gewinnen durch die treffenden Beispiele Fleisch und Blut.

Es beginnt mit Janina Müllers Artikel „Das Opernhafte im Film- eine intermediale Spurensuche“, der die Autorin zur Erkenntnis führt, dass es drei Formen desselben gibt: die reproduzierende, die imitierende und die simulierende  Systemerwähnung. Zu allen werden Beispiele angeführt, so Cavalleria Rusticana in der Godfather Trilogie.

Volker Mertens schreibt über Puccini und sein Verhältnis zum Film, spürt Filmhaftes in Tosca oder Fanciulla auf, wobei natürlich zu bedenken ist, dass beide Opern auf literarischen Vorlagen aufbauen, über die sich eventuell bereits Gleiches sagen ließe.

Norbert Abels‘ „Die Fernsehoper“ betrachtet die nur etwa fünfzig Jahre überdauernde  Gattung vor allem mit dem Blick auf die USA, sieht einen wesentlichen Unterschied in der Nähe der Fernsehoper im Vergleich zur Distanz der im Opernhaus genossenen.

Uta Felten befasst sich mit Peter Sellars‘ Mozart-Inszenierungen, die er nicht wie Bondy für den Bildungsbürger, sondern für ein Fernsehpublikum gemacht haben dürfte. Immacolata Amodeo erklärt etwas zugespitzt, dass Fellini-Filme die italienischen Opern des zwanzigsten Jahrhunderts seien, melodrammatico, also opernhaft. „E la nave va“ wird als Beispiel angeführt, in dem das Opernhafte zum Strukturprinzip geworden sei. Sie wie auch einige der anderen Verfasser zitiert gern Adorno, der Artikel selbst aber liest sich weit besser als Texte des Angeführten.

Dirk Naguschewski geht es um afrikanische Carmen-Adaptionen, von denen es immerhin zwei, aus Senegal und Südafrika, innerhalb der insgesamt gut hundert gibt. Natürlich darf der Hinweis auf Nietzsche, der meinte, die Musik zu Carmen habe etwas Afrikanisches, nicht fehlen. Panja Mücke schreibt über den Film „Der Rosenkavalier“, für den Strauss selbst tätig wurde, der in ihm nicht eine Konkurrenz, sondern eher Werbung für seine Oper sah , auch wenn in ihm die Musik nur Illustration blieb. Der zweite Teil des Artikels ist Kurt Weill gewidmet, der seine einaktige Oper durch einen Film in zwei Hälften teilte.

Arne Stollberg widmet sich, und damit kommt das Buch zum Anlass für sein Entstehen, dem Komponisten Korngold, der nach 1945 als Opernkomponist nicht mehr für voll genommen wurde,  obwohl nach Meinung des Verfassers nicht „Die tote Stadt“ bereits Filmmusik war, sondern durch Korngold in die Kinosäle Opernmusik geführt wurde. Interessant ist, dass Humperdinck keinen Image-Schaden durch gleiches Tun erlitt. Auch Stephan Ahrens befasst sich mit Korngold, mit seiner Meinung, Filmmusik sei eine neue Kunstform, gleichwertig mit den bereits vorhandenen Gattungen, mit seiner Weigerung, wahrzunehmen, dass die Musik am weitesten entfernt ist von der Realität, der Film ihr am nächsten ist. Anhand von Beispielen wird klar, dass bei Korngold Bild und Ton gleichermaßen um Aufmerksamkeit kämpfen, Musik nicht nur illustriert oder unterstreicht.

David Roesner geht es in seinem Beitrag nicht um den weit verbreiteten Einsatz von Videos in Operninszenierungen, sondern, am Beispiel von Nonos „Al gran sole carico d’amore“  in der Regie von Katie Mitchell um den Film im Zentrum der Inszenierung, als integraler Bestandteil bereits bei der Entstehung. Es werden auch andere Beispiele dafür angeführt.

Götz Filenius betreute die Aufzeichnung der Berliner Produktion  und schildert im Gespräch mit Jörg Königsdorf so klar und verständlich wie sympathisch diese Arbeit.

In der abschließenden Podiumsdiskussion äußerte sich auch der Regisseur von „Wolfsschlucht“, jüngst uraufgeführt in der Tischlerei der Deutschen Oper  und irritiert mit dem Ausspruch: „Meine Wirklichkeit, das ist es, was ich erzählen kann“. Addio fantasia! Kurze Vitae der Autoren und ein Personenregister vervollständigen das Buch (255 Seiten, 2019  Verlag edition text + kritik; ISBN 978 3 86916 707 7; Abbildung oben Theaterzettel Wien 1927/ Theatermuseum Wien). Ingrid Wanja      

Elend des Klassik-Establishments

 

Mozarts Zauberflöte zählt zu den beliebtesten und meistaufgeführten Opern überhaupt – und auch auf Tonträger kam sie ungezählte Male. Nun ist eine weitere Aufnahme erschienen, bei der ehrwürdigen Deutschen Gammophon, die ja schon einige Aufnahmen dieser Oper vorweisen kann.

Der Musikkritiker ist ja jetzt mal wieder der Buhmann, wie die neuesten Bodyshaming-Skandale beweisen. Es scheint sich allgemein die Theorie durchzusetzen, dass Musikkritiker nur dann kompetente und brauchbare Menschen sind, wenn sie das Establishment loben und füllige Frauen nicht füllig nennen (Salzburg). Wenn sie etwas beanstanden oder die Dinge so sagen wie sie sie – buchstäblich – sehen, sind sie natürlich ahnungslose Dilettanten, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben.

Vielleicht ist dies einer der letzten Verrisse, den ich schreibe, bevor auch ich beschließe, aus Bequemlichkeit dazu überzugehen, nur noch „Empfehlungen“ auszusprechen, um dem Facebook-Shitstorm zu entgehen. Wir müssen ja, wie mir mal ernsthaft eine Opernsängerin schrieb, die Aufnahmen gar nicht besprechen, die uns nicht gefallen. Damit ersparen wir uns und den Machern jede Menge Ärger. Schöner Tipp.

Der Mensch lebt gern sicher und bequem. Und wer heute an Idole rührt, lebt gefährlich. Das Entsetzliche in unserer Schönen Neuen Welt ist, dass nunmehr fast nur noch das Fan-Urteil geduldet wird und keine echte Kritik. Der Fan weiß schon vor der Aufführung, dass es ihm gefallen wird. Der Kritiker weiß es erst hinterher.

Mein Endruck – ein grauenvoller Tamino: Klaus Florian Vogt ist schlicht und für mein Empfinden ein grauenvoller Tamino. Weil sich in dieser Interpreation rein gar nichts von der Sinnlichkeit der Musik überträgt. Die Stimme wirkt auf mich auf der neuen Aufnahme bei DG grau, flach, unlyrisch, dieses Unschuldsgefühl, das man bein Hören der frühen Vogt-Aufnahmen hatte und das bei Figuren wie Lohengrin oder Parsifal so verlockend und plastisch herausgearbeitet war, ist futsch. Das alles stellt sich hier für mich nicht ein, für mich ist das eine absolut langweiliger Interpretation (Ein Vogt-Fan schrieb auf meine Radiokritik hin: „Aber welcher Tamino klingt nicht langweilig?“ Kein Kommentar!!!) Geblieben ist der große Name des Tenors, aber nicht viel mehr.

Pure Clownerie: Rolando Villazón gibt den Papageno, und Regula Mühlemann muss ihn als Papagena begleiten. Selbst Karl Kraus wäre nicht in der Lage, das ganze Elend der Klassik-Estasblishments knackiger in einem einzigen Satz zusammenzufassen. Mehr müsste man dazu gar nicht sagen. Ich tu´s aber doch, selbstmörderisch wie ich bin.

In der schönen Produktion der Nozze di Figaro der Deutschen Grammophon von 2016 war Villazón noch bescheiden. Da beschränkte er sich mit der kleinen Rolle des Basilio, die er auch überzeugend ausfüllte. Nach der bewährten Märchenmethode vom Fischer und seiner Frau waren es in den folgenden Jahren Ottavio, Belmonte und Tito. Nun hat er sich die Bariton-Rolle des Papageno geschnappt – und sitzt wieder in der Hütte. Hier begibt sich Villazón auf die Spuren seines großen Vorbilds Plácido Domingo, der ja auch verstärkt Baritonrollen singt, doch was bei Domingo zumindest nicht gruselig klang, ist bei Villazón reine Clownerie. Ein Tenor, der augenzwinkernd so tut, als wäre er Bariton. Das kleine Duett mit Papagena macht auf tragische Weise den Abgrund deutlich, der zwischen ihm und einer echten Mozart-Sängerin (Mühlemann) aufklafft – was Villazón macht, hat überhaupt nichts mit Mozart zu tun, das ist bei aller Artistik Edelklassik-Klamauk. Was Regula Mühlemann macht, hat extrem viel mit Mozart zu tun, sie ist eine stilsichere Künstlerin.

Da zeigt sich die ganze Gönnerhaftigkeit und Arroganz einer elitären, Promi-Namensbefrachteten Klassik-Szene. Auf Youtube sind Nezet-Seguin und Rolando Villazón zu sehen, wie sich darüber freuen, dass Frau Mühlemann auf der Zauberflöte mit dabei ist. Dann wird darauf verwiesen, dass sie auch schon in der Figaro-Produktion mitgesungen hat. Hat sie. Als Barbarina. Toll. Da kann sie eine Minute lang singen. Und in der Zauberflöte darf sie schon zwei. Regula Mühlemann ist eine der aufregendsten Nachwuchs-Mozart-Sängerinnen schlechthin, sie steckt Vogt und Villazón locker in die Tasche, was Stilsicherheit bei Mozart angeht. Muss sich aber einrahmen lassen wie eine Debütantin.

Auch die Königin der Nacht überzeugt mich nicht ganz. Die russische Sängerin Albina Shagimiruratova ist sicher eine routinierte Sopranistin, aber zu einer zupackenden Königin gehört nun mal auch Textverständlichkeit. Eine passable Künstlerin, aber zu klein für (die Preise von) Baden Baden und das große Label der Deutschen Grammophon.

Wie Butter und Zucker: Viel Niederschmetterndes ist von dieser Zauberflöte gesagt worden – gibt’s auch was Positives zu vermelden? Natürlich. Nezet-Seguin ein großer Könner, ich mag den Drive und den Witz seiner Orchesterführung, seine Zusammenarbeit mit dem Chamber Orchestra of Europe ist wie immer ein Highlight dieser Mozart-Serie, die beiden passen zusammen wie Butter und Zucker. Eine eindeutige Steigerung ist in Baden Baden nach dem guten Vokalensemble Rastatt der exzellente RIAS Kammerchor. Die solistische Säule der Aufnahme ist Christiane Karg als Pamina, wie immer klar, hell, stilistisch blitzsauber, mitunter von dem mädchenhaften Charme beseelt, die Helen Donath in dieser Rolle einst hatte – eine Musterpamina. Fast möchte man sie anhimmeln, aber das liegt natürlich an einer akustischen Täuschung. Wie sagt Mark Twain so schön: Man ist geneigt, Schönheit zu überschätzen, wenn sie selten ist (Mozart: Die Zauberflöte;  mit Rolando Villazón, Klaus Florian Vogt, Christiane Karg, Albina Shagimuratova, Franz-Josef Selig, Regula Mühlemann;  RIAS Kammerchor; Chamber Orchestra of Europe, Dirigent: Yannick Nézet-Séguin; Deutsche Grammophon, 2 CD DG 4836400). Matthias Käther

 

Verdis „Trouvère“

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Die französische Version des Verdischen Trovatore als Le trouvère ist ebenso selten wie kaum gespielt anzutreffen. Umso gespannter war die Erwartung und gewisse Enttäuschung als Die Verdi-Festspiele in Parma 2018 diese Oper vorstellten (davon mehr im nachstehenden Bericht von Rolf Fath). Dynamic hat dies Ereignis akustisch festgehalten. Aber serlöser Weise war dies – außer der antiken Aufnahme von 1912 unter Francois Ruhlmann – nicht die erste Aufführung der französischen Ausgabe von 1865. Die gab es bereits 1998 in Martina Franca unter Marco Guadarini, ebenfalls bei Dynamik veröffentlicht, noch riskanter als die in Parma 2018 muss man sagen. Dennoch – der enthaltene Artikel von Vincenzo Raffaele Segreto allein lohnt die Anschaffung wegen seiner „Aufdröselung“ der Umstände zur Komposition und der Darlegung der Unterschiede zur italienischen Version . G. H. 

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Nun also Vincenzo Raffaele Segreto: «Gegen Ende 1854 lud mich die Leitung des Théâtre des Italiens während der Proben zu den Vespri an der Opéra ein, zu den Proben des Trovatore mit der Frezzolini, der Borghi-Mamo und dem Bariton Graziani zu kommen. Der Erfolg machte dem Direktor der Opéra Lust darauf, die Borghi-Mamo und Graziani für einen französisch gesungenen Trovatore zu verpflichten. Graziani konnte nicht engagiert werden, weil er anderswo Verpflichtungen hatte, aber die Borghi Mamo nahm an, nachdem sie ihre Aufführungen am Théâtre des Italiens beendet hatte, wo sie im Jahr darauf wieder Trovatore singen sollte. Die Vespri hatten – glaube ich – im Juni 1855 Premiere, und gleich darauf wandte man sich der Übersetzung des Trovatore zu. Damals tauchte Escudier mit der Pacini-Übersetzung auf. Ich fragte nicht nach dem Preis, machte kurzen Prozeß und sagte, ich würde Pacini 3000 fr. zahlen, wenn er sich neben der Übersetzung verpflichtete, die für die Opéra unvermeidlichen Ausbesserungen und Änderungen zu machen und mir seine Droits d’Auteur zu überlassen. Tags darauf oder ein paar Tage später sagte mir Escudier, Pacini nehme das Angebot an».

Giuseppe Verdi/ Wikipedia

Mit diesem von Verdi 1891 an Giulio Ricordi gerichteten Schreiben gibt uns der Komponist selbst die gedrängte Beschreibung der Grundlagen, auf welchen die Entstehung des Trouvère beruhte. Wie immer erläutern uns Verdis Ton eines Kriegsberichts, seine legendäre Knappheit sofort, welche Fragen der Angelegenheit für ihn grundlegend waren, nämlich die für die Oper verpflichteten Künstler und ein zuverlässiger Librettist. Verbindungsstelle zwischen dem Trovatore und dem Trouvère war also der italienische ‘Troubadour’ des Théâtre des Italiens. Die Oper hatte 1854 am Stephanitag Premiere. «Ich habe Ihnen nichts vom Trovatore hier geschrieben; Sie wissen ja, wie die Dinge liefen. Ich persönlich weiß nur, daß es zehn Vorstellungen hintereinander gab (was nie vorkommt) und das Theater vor allem an den letzten vier Abenden gedrängt voll war […]», wie Verdi an De Sanctis schrieb.

Die Verhandlungen mit der Opéra über die neue Oper (in dieser äußerst kurzen Zusammenfassung ist der Trovatore am Théâtre des Italiens für uns abgeschlossen) laufen inzwischen mit dem neuen Direktor Crosnier schon sehr gut. Diese Revision wird, zumindest vom Honorar her, einfach als neue Oper angesehen. Verdi schrieb denn auch, daß «der Trovatore als Grand’Opéra angesehen und den ganzen Abend abdecken muß. Zu diesem Zweck werde ich 15 bis 20 Minuten Ballettmusik oder anderes etc., etc. hinzufügen».

Aber Verdi kümmerte sich nicht nur um sein Geld, denn er verlangte von Crosnier, daß «Sie mir die 40 Vorstellungen innerhalb von sechs Monaten sowohl für den Trovatore, als auch für die neue Oper zusichern, ohne daß Sie während dieser 40 Vorstellungen die Künstler der Premiere auswechseln können. Während meiner Proben werden weder neue Opern noch Ballette geprobt, aber darüber werden wir uns im persönlichen Gespräch einigen”.

Adelaide Borghi-Mamo war die erste Leonore/LES ITALIENS À PARIS (16) – Verdi, Le Trouvère (1857)

Neben der Sorge um die Zahlungsbedingungen und -modalitäten sehen wir im Gleichschritt die Ansprüche an die Wahl der Besetzung. Dass Verdi auf die Besetzung seines Trovatore hielt und diese seine Unersättlichkeit vielleicht als Schild verwendete, um eventuell vor den dringlichen Anfragen der Opéra einen Fluchtweg zu haben, finden wir offensichtlich in seinem Brief vom 11. November 1855 an Ricordi dargelegt, als die Entscheidung und Machbarkeit des waren: «Ich würde die Übersetzung [des Trovatore] für die Provinzstädte machen, wenn sie das Werk spielen wollen. Die Opéra läßt keine Übersetzungen zu und erträgt sie nur, wenn es gar nicht anders geht: nun braucht sie eine […]. Andererseits wird der Trovatore an der Opéra immer unmöglich sein, weil ich ihn ohne zwei allererste Frauen, die man eigens verpflichten müsste, nicht erlaube. Der sicherste Beweis dafür, daß er nicht gegeben wird, ist, dass er in wenigen Tagen am Théâtre des Italiens gespielt wird».

Die Begebenheiten rund um diese Produktion gehen nun ihrem Ende entgegen. Im Herbst 1856 beginnen die Proben, die befriedigend ausfallen. Am 5. Januar des Jahres darauf erhält Verdi die 10.000 vereinbarten Francs, und am 12. fand dann die erfolgreiche Premiere statt. Die Hauptrollen sangen der Tenor Gueymard (Manrique), der Bariton Bonnehée (Comte de Luna), die Borghi Mamo (Azucena) und natürlich die Lauters (Léonore). Eine tags darauf in La France Musicale erschienene Rezension erzählt uns von der Vorstellung: «Die Partitur des Trouvère hat zahlreiche Änderungen erfahren. Der Maestro hat für die französische Oper fünf Stücke der Partitur neu instrumentiert, darunter das Duett im zweiten Akt zwischen M.me Borghi-Mamo und M. Gueynard [Azucena- Manrique], das gesamte Finale des zweiten Akts, die große Szene mit Chor von M.me Borghi-Mamo im ersten Bild des zweiten (sic!) Akts, den Soldatenchor im selben Akt. Außerdem fügte er eine reizende Melodie für M.me Borghi-Mamo im dritten Akt, ein Finale im vierten Akt und schließlich eine Ballettmusik von bewundernswerter Grazie und Zauber hinzu”. Ein knapper Bericht voller Komplimente, bei dem zum Ausgleich doch gesagt werden muß, daß die Zeitschrift das offizielle Sprachrohr von Verdis Pariser Verleger Escudier war.Projekts Trouvère in keiner Weise abgeschlossen

Louis Guemard warder erste Manrique/LES ITALIENS À PARIS (16) – Verdi, Le Trouvère (1857)

Für den Hörer kann eine kurze Übersicht mit dem Vergleich der wichtigsten Arien in den beiden Fassungen interessant sein: Ferrandos berühmte Erzählung Di due figli vivea padre beato wird zu De mon maître le père avait deux fils, während sich das melancholische Tacea la notte placida in La nuit calme et sereine verwandelt. Im zweiten Akt wird Azucenas Stride la vampa zu La flamme brille, während ihre Erzählung Condotta ell’era in ceppi zu C’est là qu’ils l’ont trainée wird, Il balen del suo sorriso beim “französischen” Comte de Luna zu Son regard, son doux sourire. Im dritten Akt verwandelt sich der Chor Squilli, echeggi in Que la trompette, das ekstatische Ah sì, ben mio Manricos in Oh toi! Mon seul espoir und das darauffolgende, berühmte Di quella pira zu Supplice infame. Der Vergleich der beiden Fassungen im schwindelerregenden vierten Akt ist unmöglich. Wie nennen nur Azucenas wehmütige, herzzerreißende Erinnerung Ai nostri monti, die nun O, ma patrie heißt, und ihren sprichwörtlicher Ausruf am Schluß: Mort! Il est mort? Eh! bien… C’était ton frère. Le ciel a vengé ma mère.

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Wie vielleicht viele bereits wissen, wurde gemäß der klassischen Tradition der Opéra im dritten Akt ein Ballett eingefügt. Le Trouvère macht darin keine Ausnahme. In seiner französischen Fassung des Werks läßt Verdi den Chor nach seinem berühmten Squilli, echeggi nicht abtreten. Die Soldaten bleiben auf der Bühne und sehen dem darauffolgenden Ballett zu, an dem sie teilweise auch teilnehmen. Es handelt sich um das dritte von Verdi für die Opéra geschriebene Ballett nach denen für die Vêpres und Jérusalem. Es besteht aus zwölf, in vier Suites unterteilten Abschnitten. Dieses Ballett ist zusammen mit dem neuen Finale, wie wir später sehen werden, sicherlich die bedeutendste Neuheit des neuen Trouvère.

MM. Guemard-Lauters war die erste Azucena (und die erste französische Eboli)/LES ITALIENS À PARIS (16) – Verdi, Le Trouvère (1857)

Viele der Änderungen betreffen vor allem Details in der Orchestrierung, die bei zerstreutem oder oberflächlichem Hören auch gar nicht bemerkt werden könnten. Diese Verbesserungen sind hingegen als Zeugnis dafür, wie ernst Verdi diese Überarbeitung genommen hat, besonders wichtig, wollte er doch vor allem seine Orchesterfarben raffinierter gestalten, weil er sich an ein Publikum wandte, dass an diese Details mehr gewöhnt war als das italienische. Sind einige so subtil, dass sie “fast” nicht merkbar sind, haben andere hingegen entschieden dramatischen und nicht nur musikalischen Wert, wie beispielsweise beim Finale des 2. Akts, wo das Orchester nun in den Dialog zwischen den Figuren (der Jubel Léonores, der Zorn Manriques und des Comte) mit einer Prägnanz eingreift, die es zu einer vierten Figur macht.

Aber die radikalste Änderung, die in dieser Überarbeitung unserer Ansicht nach wichtigste, ist sicherlich die hinsichtlich des neuen Finales. Was geschieht nun an diesem Schluss, der einer der sprichwörtlichsten der gesamten Opernliteratur ist? Die beiden Hauptthemen der Geschichte sind die Liebe zwischen Manrico und Leonora, die ewige unglückliche Liebe zwischen Sopran und Tenor (fast) aller Opernlibretti, und Azucenas Wunsch nach Rache, was hingegen für die damalige Operndramaturgie wirklich ein neues Element ist. Leonora ist soeben gestorben, und schon fällt das Beil des Henkers über Manrico nieder. Wie viele Kommentatoren richtig bemerken, liegt der Höhepunkt der Oper vom Musikalischen her für Verdi in Leonoras Tod. Ihre dramatische Auflösung, das heißt, Manricos Verurteilung, wird musikalisch nicht ebenso bedeutsam unterstrichen. Davon geht ihr knapper dramatisch- musikalischer Druck aus, der auf nichts achtet, um atemlos dem so dramatischen Ausruf Azucenas entgegenzueilen: Sei vendicata, o madre! Also kein “Fehler”, sondern eine überlegte Entscheidung. Im neuen Finale folgt Léonores Tod eine Wiederaufnahme des Acapella-Chors aus dem Miserere, das zu einem kurzen Duett auf Distanz zwischen Manrique und Azucena führt, welches musikalisch Themen folgt, die zuvor von Léonore und Manrique zu hören waren. Auf dem Höhepunkt eines Orchestercrescendos schleppt der Comte unter dem Wirbeln einer Militärtrommel Azucena buchstäblich zum Anblick der Hinrichtung des Troubadours.

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Fernand Marc-Bonnehee wat der erste Comte de Luna/LES ITALIENS À PARIS (16) – Verdi, Le Trouvère (1857)

Julian Buddens Urteil ist entschieden («ein musikalischer Flicken») und unterstellt sogar, daß dieser Schluß von jemandem anderen als Verdi sein könnte. Obwohl er ihm den Wert einer musikalischen und dramaturgischen Verbesserung abspricht, sagt Budden, daß «der Grund für die Hinzufügung dieser Koda ein zweifacher sein könnte: die Erreichung eines plausiblen Zeitraums für Manricos Enthauptung wie in Cammaranos ursprünglichem Libretto und eine stärkere Präsenz für die Azucena der Borghi-Mamo.

Zum Glück ist es diesem Finale nie gelungen, sich in die späteren Wiederauflagen der italienischen Fassung zu schmuggeln. Der Großteil des Publikums zieht weiterhin das uns bekannte Finale vor, und wenn es noch so überstürzt ist». Auch David Rosen stellt fest, daß wir «alles in allem schlußendlich Il Trovatore vor Le Trouvère den Vorzug geben müssen».

Aber alles in allem, und nachdem wir beide Fassungen gehört haben. Und darin und deshalb findet die Möglichkeit, heute diese französische Fassung in ihrer Gesamtheit zu hören, ihren Charakter der Neuheit, der Bedeutung und Faszination für Publikum und Wissenschaftler. Denn über die Fragen von Philologie und Musikkritik hinaus ist die Möglichkeit, dieses Meisterwerk in seiner französischen Fassung zu hören, zu interessant, um sich die Gelegenheit entgehen zu lassen, diesen Vergleich zu genießen, in der Sicherheit, daß die Unterschiede, die Verbesserungen und – warum nicht – eventuellen Verschlechterungen vor allem ein Mittel sind, um es besser kennen und schätzen zu lernen. Vincenzo Raffaele Segreto/Überserzung Daniela Pilartz

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Und nun Rolf Faths Einschätzung des Erlebten: Nach Peter Greenaway und Graham Vick darf Robert Wilson sich als dritter des in diesem Jahr anscheinend zum letzten Mal beim Verdi-Festival 2018 genutzten 400 Jahre alten, von Aleotti gestalteten Raums bemächtigen: Le Trouvère firmiert als Koproduktion mit Bologna, wo Wilson bereits 2013 Macbeth inszenierte, was die konventionelle Raumaufteilung erklärt. Wo seine Vorgänger den riesigen Turniersaal mit seinen in U-Form ansteigenden Sitzreihen, den Holzsäulen und stuckierten Dekorationen für besondere Raumsituationen nutzten, stellt Wilson eine kleine Kastenbühne zwischen die Portalsäulen, davor in das Arenaoval die Zuschauerreihen.

Und dann gibt es noch den „Trouvère“ von 1912 unter Francois Ruhlmann bei Marston Records

Zuerst ist das Licht. Im scharfen hell-dunkel Gegensatz schneidet er einmal mehr Figuren und Situationen an, bietet Gesten und Tableaux, die die Situationen zu konterkarieren scheinen, und offenbart im Vergleich zu seinen sparsamen Arbeiten früherer Jahre geradezu eine Fülle an Verweisen. Neben dem älteren Herrn treten eine junge Frau mit zwei kleinen Mädchen und eine Alte mit Kinderwagen auf, in Kostümen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wie auf der alten Fotografie, die Wilson während Fernands Erzählung auf wundersame Weise animiert. Später blinzeln Meeresfotografien des amerikanischen Fotografen Robert Rosenkran auf. Wilson bebildert nicht die verschlungene Handlung um die beiden Brüder, die eine Frau lieben, sowie den zwischen Mutter und Geliebter schwankenden Manrique, malt keine Geschichte aus uralten Zeiten, dennoch besitzt sein sein Trouvère mit den dunklen Toreros, den wie aus einem Andersen-Bilderbuch aufmarschierenden Soldaten, den langen Fräcken, Schulterpolstern und Zweispitzen, den Zöpfen für die Herren, einen Hauch von 1800. Selbstverständlich schwarz zeitlos, wie das minimalistische, chinesisch-japanischen Traditionen angeschaute ritualisierte Spiel, die abgestreckten Hände wie von mittelalterlichen Gemälden. Léonore schwebt wie eine auf Wasser gleitende Figur über die Bühne. Die zeitlupenhaften, streng gestanzten Bewegungen schmiegen sich diesem lyrischen, weniger dramatischen Trouvère anden Verdi auf Wunsch der Pariser Direktion zunächst widerstrebend als französische Oper mit dem Text des Émilien Pacini, dem Sohn von Antonio Pacini, einrichtete. Le trouvère erklang in dieser Form erstmals im Januar 1857 in der Salle Peletier. Parma stellte nun erstmals die kritische Edition von David Lawton vor. Auch wenn Verdis etwa zwei Dutzend Änderungen, bestehend aus einer Vielzahl von modifizierten Passagen, weggefallenen Takten und Übermalungen, marginal erscheinen, zeigt sich Le trouvère als französische Oper, weniger dringlich und leidenschaftlich, etwas länglich wegen des aus vielen mehr oder weniger spanischen Nummern – inklusive einer Zitat des „Ambosschores“ – bestehenden, rund 25minütigen Balletts im dritten Akt.

Diesem bei der Uraufführung von Lucien Petipa, dem Bruder des berühmteren Marius, choreographierte sinnfreiem Einschub mit tanzenden Zigeuner und Soldaten vor der Ergreifung Azucenas unterlegt Wilson einen ebenso sinnfreien Aufmarsch von Boxern, wie aus frühen Filmschnipseln, die im Quadrat laufen, gegeneinander kämpfen, sich verknoten, walzende Paare bilden. Verändert bzw. gekürzt sind Léonores Kadenzen bzw. die D’amor sull` ali rosee- Cabaletta, neu und wesentlich ist vor allem die Wiederholung des Miserere während Manrique zum Scheiterhaufen geführt wird. Seine letzten Worte gelten der Mutter.

Roberto Abbado unterstreicht den lyrisch sublimen Zug des umgearbeiteten Trouvère, gestaltet mit dem Orchestra del Teatro Comunale di Bologna zarte Situationen, die von den Sängern eine weichere, geschmeidigere Tongebung verlangen. Im Teatro Farnese waren die akustischen Bedingungen nicht die besten. Vor allem der albanische Tenor Giuseppe Gipali wirkte wie durch die verkehrte Seite eins Opernglases wahrgenommen, klanglich schmächtig, zwar hübsch im Tonansatz und im Aufbau der Phrasen, doch schnell gestresst und uneins mit dem Orchester, unbedeutend und fehl am Platz. Ausgezeichnet der gut sitzende, ebenmäßig timbrierte Bariton des nicht nur in „Son regard, son doux sourire“ mit fester Linie singenden Franco Vassallo, dessen Französisch zudem einigermaßen idiomatisch klang, auch die geschmackvoll rassige Königin der Nacht-Azucena der Georgierin Nino Surguladze mit enormer Höhe und stabiler Tiefe. Nicht ganz auf dem Niveau der klanglich zwar ausgewogene, schöne Sopran der jungen Roberta Mantegna, die als Léonore durch einige kaum erträglich schrille Verzierungen irritierte. Marco Spotti eröffnete als felsenfest sicherer, nicht unbedingt profund-dunkler Fernand den gespenstischen Bilder-Reigen (Dynamic DVD Bluray 37835). Rolf Fath/ Oktober 2018

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„Sung in French“: steht auf dem Cover der DVD. Vielleicht doch noch ein Wort zur rein akustischen Seite dieses Mitschnittes, wie sie die CD (Dynamic 2 CD CDS 7835.02) bietet. Vieles glättet ja die Optik, und das Auge korrigiert manches, dass das Ohr nicht verzeiht. So auch hier. Erstens kann ich einfach nicht dieses italienische Französisch ertragen, das mit venschanze und pendanze doch den Sprachkundigen und Liebhaber der französischen Oper hart auf die Probe stellt. Das mag bei alten RAI-Aufnahmen sicher noch als passabel gewesen sein, aber man kann von modernen Sängern verlangen, dass sie doch mehr in die fremde Idiomatik eintauchen, auch wenn Italiener und Latinos notorisch Schwierigkeiten mit der Artikulation von Fremdsprachen haben. Ich muss gestehen, dass ich von Nino Machaidze (keine Italienerin, gewiss) fast nichts verstanden habe, von ihrer überforderten Kollegin Roberta Mantegna aber auch nichts (mal abgesehen vom Organ selbst). Tonia Langella gab es auch noch, silence pour elle. Die Herren sind da etwas glücklicher dran, aber der für mich  ordinäre Bariton von Franco Vasallo (pardon cher Rolf) bölkt sich durch einen Crash-Kurs von Berlitz, singt – für meinen Geschmack – sehr allgemein und steht im dunklen Schlag-Schatten vieler Kollegen, die dies in seiner eigenen Heimat viel (!!!) besser gesungen haben. Da hat ja selbst Leo Nucci auf seine alten Tage mehr Kultur. Von Marco Spottis Französisch will ich nicht berichten, von seinem Fernand auch nicht … Aber auch der Tenor Giuseppe Gipali – sprachlich der Beste – könnte eine idiomatisch-verbale Auffrischung brauchen. Roberto Abbado dirigiert eine italienische Oper costumée á la francaise, dagegen ist ja im italienischen Parma auch nichts zu sagen. Nur ist eben Parma nicht Grosseto.

Habenswert ist diese für mich mehr als unbefriedigende Aufnahme wegen der Fassung! Es gibt auf CD den noch fragwürdigenden Mitschnitt aus Martina Franca 1998 (ein Koreaner, eine Georgierin, reichlich Osteuropa, aber zumindest mit Sylvie Brunet als fabelhafter Azucena groß besetzt bei ebenfalls Dynamic) und eben keine verbindliche Einspielung der französischen Version (außer der für moderne Ohren kaum hörbaren ersten Pathé-Einspielung von 1912 unter Ruhlman und einer rabiat gekürzten 120-Minuten-Radio-Fassung vom französischen Rundfunk/ INA 1954 mit Moizan und Scharley), während Parma das Ganze zwar mutig, aber mit ähnlichem Resultat schon einmal 1990 mit Giron-May, Longhi und anderen gab. Man hatte eben noch die Noten im Keller. Ach, Roberto (Alagna), warum haben Sie´s nicht zu goldenen EMI-Zeiten aufgenommen und stattdessen den üblichen Verdi gestemmt?

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Habenswert sind zudem der lesenswerte Beitrag im Booklet von Vincenzo Raffaele Segreto (aus der Martina-Franca-Aufnahme; den wir hier mit Dank übernommen haben) und das zweisprachige Libretto. Das sollte Dynamic ins Netz stellen. Dann kann man sich überlegen, ob man die CD-Ausgabe machen möchte. In unseren Zeiten, wo sich sogar Stadttheaterkräfte um die originalsprachige  Jenufa mühen müssen, hätte ich von einem Verdi-Festival dieses Ranges mehr sprachliche Sorgfalt (einer geeigneteren Besetzung) erwartet. Und ganz ehrlich – nicht alles muss veröffentlicht werden… G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

„Dis-mois, Vénus…”

 

Ums Image der Operettendiva steht‘s derzeit nicht gut. Abgesehen davon, dass es seit Margit Schramm wohl keine wirkliche hauptberufliche Operettendiva mehr gab, verwechseln die meisten Opernsängerinnen, die seither vorübergehend in den Rolle einer „OD“ geschlüpft sind, das Fach meist mit einer besonders dümmlichen Karnevalsveranstaltung. Egal ob Ingeborg Hallstein, Renée Fleming, Angela Denoke oder Anna Netrebko: Mit Federboa und Champagnerglas wirken sie als pseudo-laszive „Vamps“ im besten Fall lächerlich. Im schlimmsten Fall sind sie ein Verrat all dessen, wofür Operette als eigenständige Kunstform einmal stand. Denn vor 1933/38, den Jahren des Sündenfalls der Gattung und der grundsätzlichen Neudefinierung des Genres durch die Nationalsozialisten, operierte die typische Operettendiva in ganz anderen Dimensionen. Da sah man zum Beispiel Fritzi Massary im Berlin der 1920er Jahre als Werbeträgerin für Zigaretten und als Stil-Ikone für fashionable Frauen in Modemagazinen, die mit der Massary singend fragten, „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben?“. Da warb Elsie Altmann 1924 mit Nacktfotos aus dem Studio d’Ora in Wien für die Gräfin Mariza und den Shimmy „Komm mit nach Varasdin“.

Offenbach: Hortense Schneider im Kostüm der Grande-Duchesse de Gerolstein/ Wiki

Auch in den Generationen davor qualifizierten sich Operettendiven damit, dass sie mit Nacktheit und erotischer Ausstrahlung Großstadtpublikum anlockten – nicht mit Gesangs- oder Schauspielkünsten. Marie Geistinger (1833-1903) etwa, die Direktorin des Theaters an der Wien und Ur- bzw. Erstaufführungssängerin vieler Operetten von Jacques Offenbach, Franz von Suppé und Johann Strauss II – darunter die Rosalinde in Die Fledermaus (1874) – machte in Wien ursprünglich als Schöne Helena Furore, weil sie in „einer gewagten Entkleidungsszene ihre nur durch dünnes, straffes Trikot verhüllten körperlichen Reize nicht geizend zur Schau trug“, wie Biograf Emil Pirchan bemerkt (Emil Pirchan, Marie Geistinger: Die Königin der Operette, Wien 1947).  Die Wiener Zeitung nennt Geistinger als Helena eine „höchst rou­tinierte Schau­spielerin“ und „leidliche Sängerin“, die aber im­stande war, ein Stück zu „tragen“. An­sonsten wird an der Produktion hervor­ge­hoben, dass sich „einzelne Damen“ durch ihren „tadel­losen Körper­bau“ verdient gemacht hätten in einem Stück voller „derbe[r] Zwei­deu­tig­­keiten“, in dem „in verschiedenem Sinne flo­rieren­d[e] Nacktheit“ vor­käme, die das Publikum angeblich „gelangweilt“ habe (so Pircher). Auch wenn „hyperprüde Denunzianten“ im Zusammenhang mit der Produktion energisch das Verbot von „Prostitution auf der Bühne“ verlangten, lief das Stück in Wien weiter und weiter und war einer der größten Offenbach- und Geistinger-Erfolge überhaupt. In der Margaretenstraße machte sogar ein Kaffeehaus auf, das sich „Zur schönen Helena“ nannte: „Auf den Spiegelscheiben war ihre [Geistingers, Anm.] Figur in allen möglichen und unmöglichen Posen eingeätzt. Das lebensgroße Bildnis der Helena hing dort, auf der Rückseite hatte der Maler die Geistinger – nackt hingemalt. Ein wilder Verehrer der Künstlerin schoß deswegen zwei Pistolenkugeln gegen dieses schöne Ölgemälde“, berichtet Pirchan, auf dessen Biografie Geistinger als Helena in eben diesem Ölgemälde mit grünlich-blauer Tunika auf dem Umschlag zu sehen ist.

Die Ur-Diva der Ur-Operette: Rollenmodell für Geistinger und andere Operetten-Hauptrollen-Darstellerinnen war die Pariser Ur-Operettendiva schlechthin, Hortense Schneider (1833-1920). Was sie von allen Nachfolgerinnen unterscheidet ist die Tatsache, dass sie in einem Roman von Emile Zola verewigt wurde. Zwar schafften es Mizzi Günther [die erste Hanna Glawari] und die Massary auch, Teil von Romanen und huldigenden Buchveröffentlichungen zu werden, Günther als „Fräulein Mizzi Rittmann“ in Operettenkönige: Ein Wiener Theaterroman von Franz von Hohenegg, Massary in Oscar Bies Tagebuch eines jungen Mannes. Aber keiner dieser Titel hat die weltliterarische Bedeutung von Zolas Nana (1880).

Offenbach: Hortense Schneider en folie, portrait by Alexis Pérignon/ Wiki/ ORCA

Dank des Zola-Romans bekommt man noch heute einen detaillierten Einblick in die Ur-Operettenszene der 1860er Jahre in Paris sowie eine genaue Beschreibung dessen, worauf es bei den ursprünglichen Operettendarstellerinnen ankam – Qualitäten, die allen Sängerinnen dieses Fachs in der Jetztzeit fehlen, egal ob in der Wiener Volksoper, in Mörbisch oder Bad Ischl. Bei Zola spielt der die Handlung im Théâtre des Variétés, wo alle für Schneider geschriebenen „Offen­bachiaden“ uraufgeführt wurden, von La belle Hélène (1864) über Barbe-Bleue (1866) und La Grande-Duchesse [de Gérolstein] (1867) bis zu La Périchole (1868). Bei Zola wird dort die fiktive Operette „Die blonde Venus“ gegeben.

In seiner Ein­leitung zur Penguin-Classics-Ausgabe von Nana schreibt George Holden: „Zola had decided that Nana’s career should be closely associated with the theatre, and that the novel should open with a first night at the Variétés. He himself had come to know the world of the theatre at close quarters […] but he did not know enough as yet about theatrical life in general and the Variétés in particular; and for the information he wanted he turned to Ludovic Halévy, Offenbach’s brilliant librettist, who was an ardent admirer of L’Assommoir and had offered to help him to the best of his abilities. Halévy not only took him on 15 February 1878 to the Variétés, to see an operetta called Niniche by Alfred Hennequin and Albert Millaud. At the theatre he entertained Zola with the story of the marital and amorous life of the star, Anna Judic, whose husband, a sometime shop-assistant, had once fought her lover Millaud in the wings of the Bouffes, but now winked at the liaison and devoted his life to managing her affairs and caring for their two children. Zola avidly noted down the details […] and he looked and listened just as eagerly during the intervals, when Halévy took him backstage and showed him the dressing-room where in 1867 Hortense Schneider, dressed as the Grand Duchess of Gerolstein, had ceremoniously received the Prince of Wales.” (George Holden, Einleitung zu seiner Übersetzung von Émile Zolas Nana, London 1972)

Es ist interessant, dass der Direktor des Théâtre des Variétés, im Roman Bordenave genannt, von seinem Haus mehrfach als „Bordell“ spricht und Zola den Auftritt Nanas folgendermaßen in Worte fasst: „Ganz Paris war da, das Paris der Literatur, der Finanz und des Amüsements […] und mehr Halbwelt als anständige Frauen; es war eine eigen­artig gemischte Gesellschaft, aus allen Geistesschattierungen zusam­men­gesetzt und von allen Lastern verdorben. […] In diesem Augen­blick teilten sich die Wolken im Hintergrund, und Venus erschien. Nana, groß, sehr üppig für ihre achtzehn Jahre, trat in ihrer weißen Göttin­nen­tunika mit langem blondem Haar, das aufgelöst die Schultern umfloß, sicher und gelassen an die Rampe vor und lachte ins Publikum. Dann stimmte sie ihr großes Couplet an: ‚Geht Venus abends auf den Strich…’ Beim zweiten Vers sahen sich die Zuschauer an. […] Noch nie hatte man eine so falsche, so ungeschulte Stimme gehört! […] Als Nana die Heiterkeit der Zuschauer sah, fing sie ebenfalls an zu lachen. […] Beim Lachen entstand ein reizendes Grübchen in ihrem Kinn. Ganz ungeniert und ohne Scheu wartete sie und stellte sich gleich mit dem Publikum auf guten Fuß; dabei machte sie ein Gesicht, als wollte sie mit einem Augenzwinkern sogar selber sagen, daß sie für keinen Dreier Talent hätte, aber das mache nichts, sie hätte ja was ganz anderes zu bieten. Dann gab sie dem Kapellmeister einen Wink, der heißen sollte: ‚Hopp, alter Junge!’ und begann ihr zweites Couplet: ‚Um Mitternacht streicht Venus vorbei…’ Es war wieder dieselbe essigscharfe Stimme, aber jetzt kitzelte sie das Publikum an der richtigen Stelle und jagte ihm für Momente einen Schauer über den Rücken. […] Sie wiegte sich hin und her, denn sie wußte nicht, was sie sonst machen sollte. Aber das fand man jetzt keines­wegs mehr scheußlich, im Gegenteil; die Männer hoben ihre Operngläser ans Auge. Als ihr Couplet auf den Schluß zuging, blieb ihr vollkommen die Stimme weg, und sie begriff, daß sie nie zu Ende kommen würde. Da gab sie sich einfach in aller Ruhe einen Ruck mit den Hüften, wobei sich unter der dünnen Tunika alle Rundungen markierten, verneigte sich mit wogender Brust und breitete grüßend die Arme aus. Lauter Beifall brach los. Sofort wandte sie sich um und trat zurück; dabei zeigte sie ihre Hinterfront, auf die das rotblonde Haar wie die Mähne eines Tieres herabfiel. Und der Beifallssturm wurde rasend.“ (Émile Zola, Nana [dt. Übersetzung von Erich Marx], Leipzig 1979, S. 21ff.)

Monet: Olympia/ Musée d´orsay/ Wikipedia

Dieses Couplet gibt es tatsächlich in der Belle Hélène, und Offenbach komponiert im Refrain der „Anrufung der Venus“ (Nr. 10, Romanze) eine der anrüchigsten Passagen der gesamten Operettenliteratur, als Helena alias Hortense Schneider fragt: „Dis-moi Vénus. Quel plaisir trouves-tu, A faire ainsi cascader, cascader la vertu?“

In seiner Offenbach-Biografie schreibt Alexander Faris zu dieser Nummer: „The young men in the audience would shout ‚Cascade, Hortense, cascade!’“ (Alexander Faris, Jacques Offenbach, London/Boston 1980, S. 122.)

War die Anrufung der Venus zu Beginn des 2. Akts eines der erotischen High­lights der Hélène, so kam der pornografische Höhepunkt kurz darauf, als Helena/Hortense sich zu Bett legte, um auf Prinz Paris zu warten. Bei Zola liest sich diese Passage folgender­maßen: „Ein Schauer durchrieselte den Saal. Nana war nackt, nackt mit einer gelassenen Frechheit, der Allgewalt ihres Fleisches sicher. Nichts als ein Gazeschleier umhüllte sie; ihre vollen Schultern, ihr Amazonenbusen, dessen rosige Spitzen aufgerichtet und steif wie Lanzen standen, ihre breiten Hüften, die sich wollüstig hin und her wiegten, ihre strammen blonden Schenkel, kurz ihr ganzer Leib zeichneten sich ab und schim­mer­te durch das dünne Gewebe wie weißer Schaum. Das war Venus, die aus den Wogen steigt und keine andere Hül­le trägt als ihr Haar. Und als Nana die Arme hob, sah man im Rampen­licht die goldenen Haare in ihren Achselhöhlen flimmern. […] Die Gesichter der Männer spannten sich; schmal­nasig, mit zuckendem, ausgetrocknetem Mund starrten sie auf die Bühne. […] Nanas Geschlecht schlug die Männer mit Wahnsinn und riss unbekannte Abgründe der Gier vor ihnen auf. Sie lächel­te immerzu, jetzt aber mit dem geilen Lächeln des männer­fressenden Weibes.“ (Farris)

Die Beschreibung der nackten Darstellerin entspricht den tatsächlichen Bühnen­begeben­heiten, wie wir durch einen Eintrag in den Münchner Polizeiakten wissen. Da heißt es ver­gleichend: „Bei alledem verdient Anerkennung, daß die Direction des Theaters [in München, Anm.] sichtlich bestrebt war, das Stück möglichst dezent zu geben. Die Costüme enthüllten bei weitem nicht die Blöße so, wie in Paris am Vaudevilletheater oder in Wien am Carltheater der Fall ist. In Paris u. Wien ent­kleidete sich Helena in der Nachtszene des II. Actes fast vollständig auf der Bühne.“ Doch auch ohne vollständige Nacktheit konstatiert der alarmierte Münch­ner Sittenwächter: „Richtig ist […], daß schamlose Zwei­deutigkeiten bei der ursprünglicheren u. rohen Sinnlichkeit des Münchener Publikums einen größeren u. bedenklicheren Eindruck machen als dies bei den blasierten Parisern u. Wiener der Fall ist.“ (Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Frankfurt a.M. 1994 [1. Ausgabe Amsterdam 1937], S. 242.)

Es überrascht angesichts solcher Aufführungspraktiken nicht, dass der bei der Premiere anwesende Fürst Metternich beim Verlassen des Theaters zu seiner Ehe­frau gesagt haben soll: „Wir haben unrecht daran getan, der Premiere beizuwohnen. […] Unser Name wird in allen Zeitungen stehen, und es ist nicht angenehm für eine Frau, gewissermaßen offiziell in einem solchen Stück gewesen zu sein.“ (Krakauer)

 

Offenbach: “La loge de Madame Hortense Schneider” 1873. Painting by Edmond Morin/ Wiki

Die Theatergarderobe als „Prinzenpassage“: Wenn man um Schneiders spezielle erotische Beziehung zu ihrem Publikum weiß, dann bekommen auch die diversen langsamen, fast geflüsterten, chroma­tisch durchglühten Liebeserklärungen in der Großherzogin („Dites-lui“) und Périchole („Ô mon cher amant“) eine mehr als eindeutig pornografische Note. Man kann diese Lieder und die Art, wie Schneider sie vermutlich sang, vergleichen mit Marilyn Monroes gehauchten Geburtstagsständchen im hautengen Glitzer­kleid für J. F. Kennedy 1962. Leider wagt es heute niemand, Offenbachs Liebeslieder auch nur annähernd so aufzuführen, wie von Offenbach ursprünglich be­ab­sichtigt. Die entsprechenden „historisch informierten“ Offenbach-Aufführungen eines Nikolaus Harnoncourt, John Eliot Gardiner oder Marc Minkowski, jeweils mit Kritikerpreisen überhäuft, versuchen rein besetzungstechnisch die hier beschriebenen Aufführungspraxis erst gar nicht.

Wie intensiv die Beziehung von La Snédèr zu ihrem Publikum war, wird deutlich in der Anekdote rund um ihre Großherzogin-Auftritte. Sie empfing, ganz offiziell, in der Pause in ihrer Garderobe die adligen Häupter Europas. „Alle hohen Fürstlichkeiten, die Napoleon III 1867 empfängt, machen auch der ‚Groß­herzogin von Gerolstein’ ihre Aufwartung: manche ‚nur’ im Zu­schauer­saal, andere auch in ihrem Boudoir (wie der englische Thronfolger, der russische Zar oder der ägyptische Vizekönig). Die Kurtisane Esther Guimont nennt dieses Bou­doir gehässigerweise die ‚Prinzenpassage’. König Wilhelm von Preußen führt ihre Hunde spazieren. Alle Besucher haben natürlich ein ‚kleines Mit­bring­sel’ dabei, und das Vermögen der Hortense Schneider, in Diamanten aus­ge­drückt, mochte nun jene 800.000 [Francs], die es zur Zeit der Schönen Helena betragen hat, noch übertreffen.“

Dieser Besuch des Prince of Wales fand wie erwähnt Eingang in Zolas Nana, und liest man dort, wie sich die Operettendiva mit dem Prinzen unterhielt, dann weiß man auch, wie man sich ihren Bühnenauftritt vorzustellen hat: ‚Ich bitte um Verzeihung, meine Herren’, sagte Nana und zog den Vorhang aus­ein­ander, ‚aber ich bin überrascht worden…’ Alle wandten sich nach ihr um. Sie war ganz unvollständig bekleidet, bloß ein kleines Kor­sett aus Perkal hatte sie übergeknöpft, das ihre Brust nur halb bedeckte. […] Hinten ließ ihre Hose noch einen Hemdzipfel heraushängen. Mit nackten Armen und Schul­tern, die Spitzen ihrer Brüste steif emporragend, stand sie da, ein strahlendes Bild der Jugend, blond und üppig […]. Liebenswürdig hob der Prinz sein Glas hin und her. […] Dann trank er in einem Zug aus. Graf Muffat und Marquis de Chouard hatten das gleiche getan. Man trieb keinen Ulk mehr, man war bei Hofe. Die Theaterwelt spielte die wirkliche Welt als seriöse Posse im heißen Dunst des Gaslichts weiter. Nana ver­gaß ganz, daß sie in Hosen war mit heraushängenden Hemdzipfeln, und spielte die große Dame, die Königin Venus, die den Staatsmännern ihre intimen Gemächer öffnet.“

So legendär war der Besuch der Prinzen (und der übrigen Hoheiten), dass er in einem Aquarell von Edmond Morin verewigt wurde (1873), das heute im Musee du Second Empire in Compiegne hängt, der offiziellen Sommerresidenz Napoleons III.

 

Monet „Frühstück im Freien“/ Wikipedia

Offenbach in Arabien: Der Ruhm der Schneider war derart legendär, dass der besagte Vizekönig von Ägypten, Isma’il, in Kairo ein Theater nach dem Vorbild des Variété-Theaters in Paris bauen ließ, mit Haremsloge für den Hof und Drahtgittern zum Schutz vor neugierigen Blicken, wie Alexander Flores in seinem Aufsatz „Offenbach in Arabien“ berichtet (Alexander Flores, „Offenbach in Arabien“, in: Die Welt des Islams, Nr. 48 (2008), S. 131-169.) Dieses Theater wurde mit Belle Hélène am 4. Januar 1869 eingeweiht. Da Isma’il mehr noch als von Offenbach und dessen Helena von La Snédèr begeistert war, lud er sie nach Ägypten ein. Sie folgte der Einladung im Winter 1869/70. „Es ist wohl kein Zufall, dass in Ägypten drei Werke Offenbachs mit Vorliebe gespielt wurden, in denen Hortense Schneider brilliert hatte: La Belle Hélène, Barbe-Bleue und La Grande-Duchesse de Gérolstein. Das einzige andere in Ägypten gespielte Werk, von dem wir wissen, ist Orphée aux enfers.“

Es ist aus heutiger Sicht fast aberwitzig sich vorzustellen, dass die sexuell extrem befreiten Stücke, die Offenbach für Hortense Schneider schreib, in der streng muslimischen Welt Kairos des 19. Jahrhunderts gespielt wurden, Drahtgitter hin oder her.

La Snédèrs offizieller Lebenspartner war, bis zu seinem frühen Tod 1857, der Duc de Gramont-Caderousse, Anführer der jeunesse dorée der Zeit (allesamt Mitglieder des notorischen Jockey Clubs). Er war auch der Vater ihres Kindes. Als Caderousse starb, hinter­ließ er ihr 50.000 Francs und 1.000.000 für den gemeinsamen Sohn, wodurch die Schauspielerin zu einer vermögenden Dame wurde. Trotz dieses Vermögens handelte Schneider mit Theaterdirektoren in den 1860er Jahren immer wieder gigantische Gagen aus, die für Aufsehen sorgten und sie noch berühmter machten. Am Ende des Zweiten Kaiserreichs spielte sie in der Offenbach-Operette La Diva (1869) sogar mehr oder weniger sich selbst. Natürlich übernahm in Wien Marie Geistinger die Rolle. Mit Erfolg.

 

Offenbach: Die drei Helenen three famous Helenas in Vienna, in the 1860s, showing their legs to attract male audiences/ ORCA

Rückzug von der Bühne und Biografien: Nach dem Deutsch-Französischen-Krieg – der ein gravierender Einschnitt in Offenbachs Karriere und der ursprünglichen Spielart von Operette war – ließ sich Schneider für bemerkenswerte 300 Francs am Abend für die Uraufführung von Hervé’s La Veuve du Malabar (1873) engagieren und kehrte auch ins Variétés zurück, um in einer erweiterten Fassung von La Périchole mitzuwirken. Danach sollte sie Margot spielen, die Bäckersfrau in La Boulangère a des écus, dem Stück von Meilhac & Halévy, Textautoren ihrer größten Operettenerfolge. Aber Schneider verließ schon vor der Premiere die Produktion und gab die Rolle ab. Stattdessen übernahm sie die Poulette in Hervés La Belle Poule (1875), hatte damit aber nur mäßigen Erfolg. Vor allem erntete sie von ihren Widersacher(inne)n bösartige Kommentare bezüglich ihres Alters, das man unpassend für eine junge Bühnenfigur wie Poulette empfand. Allerdings hatte Schneider nicht die Absicht, fortan altersgerechte Rollen zu spielen. Kurt Gänzl schreibt in seiner Encyclopedia of the Musical Theatre: „Schneider had no intention of playing her age. She had been the reigning queen of the Paris stage for a good half-dozen years, and she had no intention of now being its queen mother.“

Die Diva hatte vorher mehrfach im Streit mit Direktoren gedroht, dem Theater den Rücken zuzukehren. Nun tat sie es tatsächlich. Mit La Belle Poule sank der Vorhang über einer der bemerkenswertesten Karrieren in der Geschichte des Musiktheaters. Hortense Schneider lebte noch 45 Jahre „a life of respectability at utter odds with the gay and gallivanting years of her theatrical heyday“, wie Gänzl schreibt. Damit unterscheidet sie sich deutlich von Zolas Titelheldin Nana, die elendig an Pocken zugrunde geht – als Metapher für den moralisch-politischen Untergang des Zweiten Kaiserreichs. Allerdings schildert Zola in Nana auch einen Landausflug, bei dem die diversen Halbwelttheaterdamen voller Bewunderung das Anwesen einer Kurtisane-im-Ruhestand betrachten, die den Absprung geschafft und ihr Vermögen so angelegt hat, dass sie einen aristokratischen Lebensabend genießen kann. Hortense Schneider wurde dieses Glück ebenfalls zuteil. Sie starb am 5. Mai 1920 in Paris.

In der ungarischen Biografie-Operette Offenbach (1920) treten neben Kaiserin Eugenie als Geliebter des Komponisten Offenbachs Ehefrau Herminie sowie Hortense Schneider als Charaktere auf. Die Rolle übernahm ursprünglich Juci Lábass, in Wien wurde sie von Olga Bartos-Trau gespielt, am Broadway von Odette Myrtil. 1949 trat dann Yvonne Printemps in dem Film Valse de Paris als Hortense Schneider auf, allerdings hat die dort gezeigte Figur wenig mit deren tatsächlicher Vita Schneiders gemein.

Offenbach: Poster depicting can-can dancers by Henri de Toulouse-Lautrec, 1895/ Wiki

Eine Biografie der Diva haben 1930 die Herren Rouff und Casewitz veröffentlicht, erst 1995 folgte Jean-Paul Bonami mit Hortense Schneider, la Grande-Duchesse du Second Empire, ein Buch das 2004 unter dem Titel La diva d’Offenbach. Hortense Schneider (1833–1920) neu herauskam. Es ist eine angesichts des bewegten Lebens der Schauspielerin eher dürftige Publikation, genau wie Peter Hawigs Hortense Schneider. Bedingungen und Stationen einer Erfolgsbiographie, ein Bad Emser Heft von 2006. Diese schlanken Veröffentlichungen sind in keiner Weise zu vergleichen mit Jean-Claude Yons monumentaler Offenbach-Biografie von 2000. Dort finden sich natürlich vielfach Passagen zu Schneider, u.a. ein Zitat aus Le Figaro über ihre Darstellung der Boulotte, der revolutionären Vorkämpferin für Frauenrechte in Barbe-bleue. Besser kann man die Stellung und Bedeutung der Diva kaum zusammenfassen: „Chanteuse et comédienne, mademoiselle Schneider est la Malibran de ces cocasseries musicales. Elle a la verve, la finesse et la grace.“

Autor und Operettenchampion Kevin Clarke/Foto ORCA

Bemerkenswerterweise weigert sich die deutschsprachige Offenbach-Forschung bis heute Zolas Nana als Quelle zur Operettengeschichte zur Kenntnis zu nehmen, vermutlich weil die darin enthaltenen Darstellungen nicht ihren Vorstellungen von der Respektabilität des Genres (und ihrer eigenen Existenz) entsprechen. Genauso wird in Operettengeschichten nirgends Hortense Schneider im Zusammenhang mit der Halbwelt des Zweiten Kaiserreichs diskutiert und werden nicht die entsprechenden interpretatorischen Konsequenzen fürs Verständnis der Operetten gezogen, die zumindest in ihrer Ur-Form weit subversiver und sexuell befreiter sind, als man aufgrund von heutigen Aufführungen denken könnte. In Meyers Konversations-Lexikon heißt es noch 1877 zu Offenbach: „[D]ie meisten [seiner Operetten] aber […] sind überdies noch so vom Geiste der Demi-monde durchsetzt, daß sie mit ihren schlüpfrigen Stoffen und sinnlichen […] Tonweisen eine entschieden entsittlichende Wirkung auf das größere Publikum ausüben müssen.“  Man könnte das auch als Kompliment lesen. An der entsittlichenden Wirkung hatte Hortense Schneider entscheidenden Anteil. Eine „entsittlichende Wirkung“ wird man berühmten Helenas der neueren Schallplatten- und Aufführungsgeschichte allerdings nicht zusprechen wollen. Oder hat irgend jemand nach Anneliese Rothenbergers, Jessye Normans oder Felicity Lotts Wiedergabe der „Anrufung der Venus“ lautstarke „Cascade, cascade“-Rufe vernommen? Da steht der historisch informierten Aufführungspraxis von Operette noch eine gewaltige Herausforderung für die Zukunft bevor. Sie würde die Mühe allerdings lohnen, um das Fach der Operettendiva neu zu definieren und das Genre wieder für ein modernes, kosmopolitisches, geistig junges Publikum so interessant zu machen, wie es einstmals war. Kevin Clarke/ Operetta Research Center Amsterdam

 

(Wir danken dem Autor, operalounge.de-Lesern absolut kein Unbekannter und Chefredakteur der website des Operetta Research Center Amsterdam, für seine freundliche Genehmigung, diesen vor einigen Jahren bereits publizierten Text zu übernehmen! Die hier fehlenden Fußnoten sind im originalen Text enthalten und können gerne angefordert werden. Danke Kevin! Foto oben Hortense Schneider/ Ipernity)

Interessant, aber warum bei OR?

 

Eigentlich ist Puccinis Opern-Erstling Le Villi  (uraufgeführt 1884 in Mailand als einaktige Fassung unter dem Titel Le Willis, im selben Jahr in Turin als Le Villi in zweiaktiger Version) keine Rarität auf dem Plattenmarkt. Referenzaufnahme ist immer noch die Einspielung unter Lorin Maazel mit Renata Scotto als Anna. Die letzte Ausgabe mit Melanie Diener unter Marco Guidarini bei naive stammt aus dem Jahre 2003. Aber all diese Dokumente bedienten die spätere Fassung, von ersterer existiert lediglich eine Ausgabe bei Fonit Cetra unter Arturo Basile von 1954 mit Elisabetta Fusco.

Die Neuveröffentlichung von Opera Rara wurde im November 2018 in London eingespielt und erweckt besonderes Interesse durch die Wahl der Urfassung und die verwendete neue Ricordi-Edition (ORC59). Im Anhang finden sich zwei Arien aus der späteren Fassung, darunter Annas Hit „Se come voi piccina io fossi“..

Mark Elder, Artistic Director von Opera Rara, dirigiert das London Philharmonic Orchestra und erfasst die Stimmung des Werkes sehr überzeugend. Schon das kurze Preludio ist eine atmosphärische Studie von zauberischen Klängen, die dann in den bewegten Chor „Evviva i fidanzati“ übergehen. Der Opera Rara Chorus (Pieter Schoeman) singt ihn mit vitalem Schwung. Ausgelassen wird Annas Verlobung mit Roberto gefeiert. Beide vereinen ihre Stimmen im Duett „Non esser, Anna mia“, in welchem er sie in ihrer Melancholie zu trösten sucht, muss er doch wegen einer Reise nach Mainz den Schwarzwald verlassen. Mit ihrem melancholisch umflorten Sopran ist Ermonela Jaho eine ausgezeichnete Wahl für die Partie. Der armenische Tenor Arsen Soghomonyan lässt als Roberto emphatische Tenöre hören, die sich leidenschaftlich aufschwingen

Brian Mulligan ist Guglielmo Gulf, Annas Vater, der mit der Preghiera „Angiol di Dio“ das Paar segnet. Sein Bariton klingt warmherzig und fürsorglich. Diese Szene beendet den ersten Teil als großes, rauschhaftes Ensemble der drei Solisten und des Chores. Danach folgt ein dramatisches Intermezzo sinfonico, von Elder mit spannender Steigerung geformt, welches die Geschehnisse in Mainz schildert, wo Roberto von einer Kurtisane verführt wurde und Anna vergessen hat. Aus Gram über seine Untreue stirbt sie und wird zu einer jener Willis, die des Nachts als zauberische Geister die Herzensbrecher zu Tode tanzen. (In der späteren Fassung übernimmt diese Beschreibung ein Erzähler.)

Der zweite Teil der Oper beginnt mit Guglielmos Klage über den Tod seiner Tochter und das Verlangen nach Rache. Die Stimme des Baritons klingt hier sehr tenoral, doch mit gebührend schmerzlichem Ausdruck. Roberto, von Reue geplagt, ist heimgekehrt. Anna aber ist nun zur Rächerin geworden. In der Schluss-Szene „Tu dell’ infanzia mia“ klingt sie anfangs noch einmal ganz zart und zerbrechlich, weil sie sich voller Trauer an den Beginn der Liebe zu Roberto erinnert. Dann aber überwiegen der Schmerz und das Leid wegen seines Betrugs. Sie zwingt ihn zu tanzen bis zum tödlichen Zusammenbruch – ihr „Sei mio!“ ist ein triumphaler Ausbruch, während Guglielmo Gottes Gerechtigkeit preist.

Im Anhang erfreut Jaho mit Annas Arie „Se come voi piccina io fossi“, fein gezeichnet und mit blühender Lyrik ausgestattet. Der Tenor kann in seiner großen Scena drammatica e RomanzaEcco la casa/Torna ai felici dì“ mit wehmütiger Empathie berühren, aber auch mit schwelgerischen Tönen und potenter Höhe prunken. Bernd Hoppe

 

(Aber man fragt sich als Opera-Rara-Fan angesichts der bisherigen Veröffentlichungen doch verwirrt, in wieweit diese der eigentlichen Belcanto-Strategie des Labels entspricht. OR hat sich einen Namen für Donizetti, Rossini und anderes mehr aus dere ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemacht. Doubletten dieser Art lösen ein gewisses Rätseln über die Ausrichtung der Firma aus… Wird da vielleicht ein potenter Sponsor bedient? Das wäre schade, aber der Verdacht drängte sich bereits bei ein  anderen „Ausreißern“ des Repertoires auf. Zumal diese Willis ja keine Plattenpremiere sind. G. H.)

Jan Buchwald

 

Am 28. Juli 2019 starb der Bariton Jan Buchwald.  1974 in Solingen geborene Künstler hatte schon als Schüler privaten Gesangsunterricht genommen. Nachdem ihm Martha Mödl bei einem Vorsingen Talent bescheinigte, nahm er ab 1995 ein reguläres  Studium auf, das er hauptsächlich bei Carl Heinz Müller in Hannover absolvierte. Zusätzlich besuchte er diverse Meisterkurse, bei denen sich eine engere Beziehung zu Dietrich Fischer-Dieskau entwickelte, mit dem er auch weiter arbeitete als er längst im Engagement war.

Im Jahr 2000 kam er als Anfänger an die Hamburgische Staatsoper, zunächst als Mitglied des Opernstudios, ab 2002 wurde er ins Ensemble übernommen. Zu Beginn in vielen kleinen Partien eingesetzt, stellte sich der erste große Erfolg 2004 mit der Titelpartie in Reinhard Keisers „Der lächerliche Prinz Jodelet“ ein; da war ein junger lyrischer Bariton mit schöner Stimme und genügend Volumen für das nicht einfach zu singende Hamburger Haus. Danach folgten über die Jahre eine Vielzahl meist mittlerer Partien, von Wagner Heerrufer, Kothner und Donner (den er unter Barenboim auch an der Scala, der Berliner Staatsoper und bei den Proms sang), von Strauss Faninal und Geisterbote, der Poet im „Turco in Italia“, der Paolo Albiani im „Simon Boccanegra“, mit dem Simone Young 2005 ihren Posten als GMD und Intendantin in Hamburg antrat. Vereinzelt kamen dann auch große Rollen, Graf Almaviva, Belcore, der Lortzing’sche Zar Peter und sogar Wolfram, aber es blieb zumeist bei einer Serie. Vielleicht hatte es mit den ab etwa 2009/10 einsetzenden gesundheitlichen Problemen zu tun, die ihm zwar nicht auf die Stimme gingen (ich habe noch Ende 2014 einen exzellenten Heerrufer gehört) aber die Planung in der Einsetzbarkeit erschwerten. 2015 traf ihn dann das Schicksal vieler Sänger beim Intendantenwechsel – der Vertrag wurde nicht  verlängert. Danach hat er nur noch vereinzelt Konzerte gegeben. Zu einem neuen Engagement kam es nicht mehr, da sich ab diesem Zeitpunkt die physische Kondition immer mehr verschlechtert zu haben scheint. Jetzt ist Jan Buchwald am 28. Juli 2019 (das bei Wikipedia angegebene Datum ist falsch) nach langer Krankheit – und trotzdem völlig überraschend – mit gerade einmal 45 Jahren in Hamburg verstorben. Hartmut Kühnel

Interessante Portraits

 

Der Titel weist in eine andere Richtung, als sie Stephen Costello derzeit anstrebt, da der 38jährige momentan seine Partien neu sortiert. „A te, o cara“ singt Stephen Costello tatsächlich auf seinem gleichnamigen CD-Debüt bei Delos (DE 3541). Allerdings keine verzierten hohen Rossini-Partien, wie sie zu erwarten wären, wenn ein Tenor Arturos Arie aus den Puritani als Aushängeschild wählt. Diese Partien überlässt er wohl lieber Kollegen wie Lawrence Brownlee, Javier Camarena. Gleichwohl gelingt Costello „A te, o cara“ ebenso wie das notorisch geliebt-gefürchtete „Ah mes amis“, bei dem Tonio neun hohe Cs verschenkt, um die Regimentstochter Marie zu gewinnen, ohne dass sein Tenor an Stimmqualität und Substanz verliert. Allerdings wirken solche Stücke bei Costello wie in die Luft geworfene Kunststücke in der Manege. Ein wenig scheint es als wolle der in Philadelphia geborene Tenor mit dieser von Kaunas City Symphony Orchestra und Constantine Obelian begleiteten CD Abschied nehmen von Partien, die ihm lieb und teuer waren, bevor er sich weiter mit Don José beschäftigt. Donizetti begleitete ihn seit seinen Anfängen, als er 2007 beim Met-Debüt den Arturo in Lucia und vielmals den Riccardo in Anna Bolena sang; einmal auch Edgardo. Edgardos „Tombe degli avi miei“ und Riccardos „Vivi tu, te ne scongiuro“ zeigen die Farben und die feine Lasur der Stimme, wobei man im Fall des Edgardo fürchten könnte, dass Costello etwas zu sehr auftrumpfen will und ihn die Partie in einem sehr großen Haus zum Forcieren zwingen dürfte. Da wird sein ansonsten schöner Tenor, wie auch in der extremen Höhe, generell etwas steif. Das machen andere besser. Mir gefiel in Ernestos „Sogno soave e castro“ sowie in der Arie aus Don Sebastiano („Deserto in terra“) die Wärme und der Ausdruck, im Fall von „Una furtiva lagrima“ auch die künstlerische Reife, der vibrierende Ton und der charmanter Klang, ein Eindruck der auch beim wiederholten Hören Bestand hat.

 

Ganz im Gegensatz zu Kristian Benedikt, der unter dem Titel Tenore di forza „favorite tenor arias“ (DE 3571) singt. Je häufiger man die Arien hört, desto weniger ist man von einzelnen Interpretationen überzeugt. Berühmt wurde der litauische Tenor als Otello. Dessen letzte Szene gestaltet er, sehr gut begleitet vom Lithuanian National Symphony Orchestra unter Modestas Pitrénas, mit seinem dunklen Tenor überzeugend. Da stimmen die Entwicklung, die Steigerung und die konzentrierte Entfaltung der Stimme, klingt Benedikt auch geschliffener als in den anderen Arien, wo die hemdsärmelige Herangehensweise, die unelegante Phrasierung, das Anbrechen von Gesangsphrasen verstört und auf mich doch sehr provinziell wirkt; in Chéniers „Un di all‘ azzuro spazio“ und  Calafs „Nessun dorma“ wird der Klang breiig oder greinend, der Canio stößt mich fast ein wenig ab, der Eleazar bleibt allgemein ungelenk; der Cid-Rodrigue dagegen ist schöner. Er ist richtig als Dick Johnson mit „O son sei mesi“, überzeugt am meisten als Hermann, der wie der Samson (mit den Szenen aus dem ersten und dritten Akt), zu seinen Lieblingspartien gehört. Zwei interessante Raritäten: der litauische Patriot Walter in Ponchiellis I Lituani von 1874 mit „Esultiamo nel nome del signor“ und, ebenfalls mit dem Chor der Litauischen Nationaloper, eine patriotische Szene des Helden Udrys in einem volksliedhaft hymnischen Tableau aus Vytautas Klovas Oper Pilénai von 1956. Rolf Fath

Mercadantes „Didone abbandonata“

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Eine Produktion der Innsbrucker Festwochen der Alten Musik vom Vorjahr veröffentlicht Naxos auf DVD (2.110630). Mit Saverio Mercadantes Dramma per musica Didone abbandonata widmet sich das Festival, sonst vor allem auf die Epoche des Barock konzentriert, erstmals dem Zeitalter des Belcanto. Mercadante stammt aus Altamura in Süditalien und studierte in Neapel Komposition bei Niccolò Antonio Zingarelli, der auch Bellini unterrichtet hatte. Zwischen 1819 und 1866 schuf er mehr als sechzig Opern, Didone abbandonata stammt aus seiner frühen Schaffensperiode.

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Unseren Lesern von operalounge-de ist der wegen seiner musikwissenschaftlichen Artikel renommierte Autor Michael Wittmann kein Unbekannter. Er hat jedoch starke Einwände gegen die Edition dieser Mercadante Oper (wie sie sich bei den Festwochen der Alten Musik in Innsbruck gegeben wurde und nun auf die Naxos-DVD gelangt ist). Diese Vorbehalte wollen  wir im Folgenden mit seiner freundlichen Erlaubnis hier wiederholen: Anmerkungen zur modernen Erstaufführung von Saverio Mercadantes Oper Didone abbandonata. 

Wieder einmal gilt es, die moderne Erstaufführung einer Oper Saverio Mercadantes zu würdigen. In diesem Fall diejenige der Didone abbandonata, die am 10. August 2018 im Rahmen der Festwochen der Alten Musik in Innsbruck stattgefunden hat. Grundsätzlich ist ein solches Ereignis natürlich zu begrüßen, auch wenn in diesem Fall das Werk in die Hände eines Ex-Opernintendanten fiel, der aus der Handlung ein beliebiges Stück Euro-Trash gemacht hat. (Wenn man die hundertste Aufführung der Zauberflöte verhunzt oder die tausendste Carmen ist das zwar immer noch ein Ärgernis, aber wenn man die Augen schließt, erträglich. Bei einer unbekannten Oper bleibt so etwas unverzeihlich.

Aber auch diese Edition der Oper ist fragwürdig. Jedenfalls hat man es versäumt, den aktuellen Forschungsstand in Sachen Mercadante zur Kenntnis zu nehmen. Wie anders wäre es zu erklären, daß als Librettist der Oper Andrea Leone Tottola genannt wird, was nun längst widerlegt ist und überdies die heutige Rezeption der Oper in völlig falsches Fahrwasser lenkt, (wie die inzwischen eingegangenen Zeitungskritiken anschaulich beweisen). Tatsächlich hat Mercadante die Oper de facto zweimal komponiert.

Die erste Version war für das Teatro Regio in Turin bestimmt, wo sie am 18. Januar 1823 erfolgreich ihre Premiere erlebte und andernorts mehrfach nachgespielt wurde: 1823: Torino, Lucca, Milano, Palermo 1824: Genova, Mantova, Palermo, Vicenza 1825: Cremona, Firenze, Palermo, Piacenza 1826: Ravenna, Milano, 1827: Lisboa, London, Milano, Venezia 1828: Genova, Verona, 1830: Firenze, 1832: Brescia, 1833: Ferrara. Die zweite Version war für das Teatro San Carlo Neapel bestimmt und erlebte dort seine Premiere am 31. Juli 1825. Die Chronik verzeichnet lediglich eine einzige Wiederholung, dann verschwand diese Version vollkommen von der Bühne. Trotzdem ist diese zweite Version musikhistorisch eigentlich bedeutsamer.

Mercadantes „Didone abbandonata“: „The Death of Dido“/ Jushua Reynolds (1668-1723)/ Wiki

Mercadante hatte 1819 mit L’apoteosi di Ercole an San Carlo in Neapel seinen Einstand als Opernkomponist gegeben. Rasch folgten Aufträge für Rom, Bologna, Mailand und Venedig. Als letztes der großen Opernhäuser trug ihm das Teatro Regio in Turin an, eine Oper für das Haus zu komponieren. Piedmont war in den 1820er Jahren ein Hort politischer Restauration, in der die Zensur strenger gehandhabt wurde, als in Neapel. Das schlug auch auf den Opernbetrieb durch. Das Teatro Regio brachte pro Saison zwei Neuinszenierungen: eine Turiner Erstaufführung und eine Uraufführung. Auf Wunsch des Königs musste dazu ein altes Libretto von Metastasio oder Zeno neu bearbeitet werden. Die Direktive war dabei, soviel Originaltext wie möglich zu erhalten. Das betrifft normalerweise die Rezitative. Nur die Arien mussten neu verfasst werden, da Metastasio ja vor allem Texte für Da-Capo-Arien geschrieben hatte. Es galt also die Textvorlage für Chöre, Duette und Ensembles zu schaffen, auf die man musikalisch nicht verzichten wollte. Das erzeugte von vornherein Libretti, die durch ihren hybriden  Charakter nicht unproblematisch waren. Meyerbeer vertonte so für Turin Metastasios Semiramide riconosciuta (1819), Mercadante Didone (1823), Nitocri (1824) und Ezio (1827). Bellini hingegen weigerte sich, einen solchen Auftrag anzunehmen, auch wenn man mir dafür das halbe Königreich geben würde. Die gedruckten Libretti nennen keinen Autor, jedoch war es wohlbekannt und wurde von Alberto Basso in seiner monumentalen Monographie zum Teatro Regio vielfach belegt, daß dafür der Grancamerlengo des Hofes, Conte Piosasco, zuständig war. Insofern stammt der Text der jetzt in Innsbruck aufgeführten Didone von diesem Autor/Bearbeiter. Andrea Leone Tottola kommt erst mit der zweiten Version der Oper ins Spiel, die 1825 in Neapel uraufgeführt wurde.

Mercadantes „Didone abbandonata“: „La Mort de Didon“ von Joseph Stallaert/ Franz. Wikipedia

Für die Fassung in Neapel wurden umfangreiche Änderungen vorgenommen. Das betrifft hauptsächlich die Musik, teilweise aber auch das Libretto. So insbesondere vier Nummern, die in Neapel komplett neu eingefügt wurden. Auch das gedruckte Libretto in Neapel nennt keinen Textautor. Die Zuschreibung zu Tottola ergibt sich ausschließlich durch einen Eintrag in die autographe Partitur der Oper mit der Signatur Nc. Rari 3-5-18/19, die die neapolitanische Fassung enthält. Der Eintrag weißt die charakteristischen Handschrift von Francesco Florimo, dem langjährigen Bibliothekar der Bibliothek, auf. Er verweist darauf, daß die vorliegende Partitur die Redaktion für Neapel mit der Tosi als Didone enthalte und erwähnt beiläufig auch Tottola als Textredaktor. Das kann man so missverstehen, daß Tottola den Text schon für Turin redigiert habe. Aber das ist, wie gesagt, durch die Forschungen von Bassi widerlegt. Glaubwürdig ist hingegen, daß er die Redaktion für Neapel übernommen hat, denn auch die Umarbeitung von Scipione in Cartagine zu Gli sciti und von Il podestá di Burgos zu Il Signore del Villaggio stammt aus seiner Feder. Vor allem aber war Tottola ein Librettist, der mit Rossini zusammengearbeitet hat und das gerade in dessen experimentellen neapolitanischen Opern. Und das war exakt das, was Mercadante 1825 benötigte.

Mercadantes „Didone abbandonata“: Enée avant Didon“  von Guerrin im Pariser Louvre/ Wikipedia

Wie schon geschrieben hat Mercadante binnen vierer Jahre (1819-1823) alle italienischen Opernbühnen von Rang im Sturm erobert. Barbaja berief ihn daher 1823 als Nachfolger Rossinis zum Hauskomponist am San Carlo in Neapel. In dieser Funktion machte Mercadante allerdings keine glückliche Figur. Besonders desaströs war sein mißglückter Wien-Aufenthalt im Sommer 1824. Barbaja hatte ihn werbeträchtig als Nachfolger Rossinis angekündigt. Auf die Funktion bezogen traf das ja auch zu, aber nicht auf die Komposition. Die Wiener Kritik stellte einhellig fest, dass Mercadante musikalisch im Grunde eine Kind der Scuola napoletana war, der sich an Cimarosa orientierte mit gelegentlichen Crescendo-Einschüben a´ là Rossini. Von einer echten Rezeption oder gar Erweiterung von Rossinis wegweisenden neapolitanischen Opern könne keine Rede sein. Ein Blick in Mercadantes frühe Partituren bestätigt dieses Urteil: überdies entsprach dies auch genau den Erwartungen, die sein Lehrer Zingarelli an seine Schüler stellte, da er Rossini eher für einen Ausrutscher, denn für einen Gewinn der Musikgeschichte ansah. Mercadante hat sich den Misserfolg in Wien sehr zu Herzen genommen, sich vom Einfluss seines Lehrers frei gemacht und versucht, sich ernsthaft und produktiv mit Rossinis Opernstil auseinanderzusetzen. Das erste Experiment in dieser Richtung war eben die Neubearbeitung der Didone für Neapel, der im selben Jahr 1825 noch Ipermestra I und Erode folgen sollten. Alle drei Opern, die wenig erfolgreich waren, sind Vorstudien für die Anfang 1826 in Venedig uraufgeführte Donna Caritea, die einen überwältigenden Erfolg erzielte und mit der Mercadante sich quasi neu erfunden hat. . In diesem Sinne lohnt es sich, beide Versionen einem genaueren Vergleich zu unterziehen.

Allein schon der Aufbau zeigt die vertiefte Auseinandersetzung Mercadantes mit Rossinis neapolitanischem Opernstil: Wichtiger als die textliche Bearbeitung und Erweiterung der Turiner Didone ist dabei freilich die Neubesetzung der Rollen. Aus dem Tenor Jarba in Turin wird in Neapel ein Baß, aus dem Musico/Alt Enea ein Tenor. Lediglich Didone bleibt ein Sopran. Mercadante entledigt sich dieser Aufgabe nicht allein mit den allfälligen Transpositionen, sondern nimmt die Aufgabe zum Anlass, das melodische Material auch in den hier als Übernahme klassifizierten Teilen nahezu Takt für Takt hinsichtlich Verzierung und Harmonik einer grundlegenden Revision zu unterziehen. Da die Hauptrolle von Adelaide Tosi übernommen wurde, die zwar auch Sopran, vor allem aber Primadonna war, hat Mercdante deren Partie gleich ganz neu komponiert. Bemerkenswert ist auch, dass er gegenüber Turin das Orchester wesentlich stärker besetzt hat. Zudem wurde der Männerchor in Turin in Neapel durch einen gemischten Chor ersetzt. Der wichtigste Unterschied zeigt sich aber in den Nummern, die komplett gestrichen wurden. In Turin ist die Oper so angelegt, daß die drei Hauptprotagonisten je eine Cavatine und eine Arie erhalten, die drei Nebenfiguren je eine kürzere Arie. In Neapel treten die Nebenfiguren nicht mehr solistisch in Erscheinung. Dafür gewinnen die zwei Hauptpersonen an Gewicht. Didone und Enea singen eine Cavatina und eine große Scena ed Aria, Jarba muss sich mit zwei Duetten begnügen. Insgesamt gibt es drei Duette, die die Kombinationsmöglichkeiten von S,T,B durchdeklinieren. Schließlich gibt es für alle drei Stimmen ein großes Terzett. D.h. die neapolitanische Didone ist ein Drei-Personen-Stück, bei dem Solonummern und Duett-/Terzett- Nummern im ausgewogenen Verhältnis stehen und in ihrem stringenten Aufbau das Libretto von Bellinis Il pirata (als Paradigma eines melodrama romantico) exakt vorwegnehmen.

Mercadantes „Didone abbandonata“: Saverio Mercadante/ Gemälde von Cefaly/ Wiki

Ein Wort auch noch zur einleitenden Sinfonia: In Turin besteht diese Einleitung aus drei Sätzen. Nr. 1 + 2 sind aus Mercadantes komischer Oper Il geloso ravveduto übernommen, Satz Nr. 3 aus seinem Scipione in Cartagine. Die Einleitung der neapolitanischen Didone besteht aus Adagio und Allegro. Die ersten 12Takte sind neu komponiert, dann münden diese in die Sinfonia von Nitocri (1824), die dann auch in Donna Caritea (1826) wiederverwendet wurde. Daß Mercadante in Neapel das Orchester sehr erweitert hat, wurde schon bemerkt. In den 1830er Jahren war er begierig, das Serpent durch die Ophicleide oder das Glycibarifono oder Cor basso zu ersetzten. Und als er 1840 selbst Direktor des Konservatoriums wurde, legte er großen Wert darauf, die Ausbildung der künftigen Orchestermusiker zu verbessern, damit diese den gestiegenen Anforderungen in den modernen Opernorchestern gerecht werden können. Insofern darf man vermuten, dass er selbst eine Ausführung seiner Musik mit historischen Instrumenten eher kritisch gesehen hätte. Michael Wittmann

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Bernd Hoppe bespricht die Aufnahme aus Innbruck: Da in Pietro Metastasios Libretto nur Rezitative und Arien wechseln, beauftragte Mercadante Andrea Leone Tottola, dieses neu zu formen, Duette, Terzette, Finali und Chöre einzubauen. In Didone handelt es sich um einen Männerchor, der Enea begleitet, die kriegerische Schar des Jarba darstellt und zudem das Geschehen kommentiert wie in der griechischen Tragödie.

Mercadantes „Didone abbandonata“ von den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik 2018 bei Naxos

Alessandro De Marchi, Dirigent der Aufnahme und Künstlerischer Leiter des Festivals, geht im Booklet auf die Herausforderung ein, eine Oper Mercadantes aufzuführen, und betont die Notwendigkeit, sie im Originalklang wiederzuentdecken. Mit seiner Academia Montis Regalis gelingt ihm dann auch ein federnder, transparenter Klangteppich, der den Sängern hilft, ihre fordernden Partien zu bewältigen. Das an Bellini erinnernde Melos der Sinfonia formt er kantabel aus, ebenso die lyrischen Soli der Sänger. Souverän hält er das Ensemble bei den Turbulenzen des Finale I zusammen.  Der Coro Maghini (Claudio Chiavazza) singt „Vieni, ed i numi“ zu Beginn des 2. Aktes  majestätisch und hat auch am dramatischen Finale gewichtigen Anteil.

Die Titelrolle hält der Dirigent für schwieriger als Bellinis Norma oder die Königinnen Donizettis. Der legendäre Gesangslehrer Manuel García bezeichnete das für die Partie benötigte Stimmfach als soprano assoluto, da sie sowohl lyrische als auch dramatische Fähigkeiten erfordert, Extremtöne bereithält und selbstverständlich virtuose Koloraturläufe. In Innsbruck stellte sich die litauische Sopranistin Viktorija Miskunaité dieser Herausforderung. Schon ihre Auftrittskavatine „Vedi, mio ben“, welche marschierende Soldaten in Khaki-Uniformen akustisch und optisch stören, ist ein Prüfstein wegen der vertrackten Koloraturen und Extremtöne. Das Timbre des Soprans ist nicht sonderlich individuell und sehr hell, aber die vokale Bewältigung der Partie nötigt Respekt ab. Ihre mehrteilige Scena e Rondò finale beschließt das Werk, den existentieller Schlussszenen einer Norma und Medea vergleichbar. „Dèi clementi“ ist ein ergreifendes Lamento, „Va crescendo“ ein tranceartiges Feuerwerk der Koloraturen hinauf bis in die Extremlage. Bevor sie sich das Leben nimmt, tötet sie auch Enea, um seine Flucht zu verhindern.

Dieser ist die zweite Hauptrolle des Werkes und wurde vom Komponisten als Travestierolle konzipiert, obwohl in seinen vorangegangenen Opern Andronico und Alfonso ed Elisa der berühmte Kastrat Giambattista Velluti die zentralen Partien übernommen hatte. (Bei den Salzburger Pfingstfestspielen vor drei Jahren hatte sich der argentinische Counter Franco Fagioli in einem Konzert dem legendären Sänger gewidmet.) Bei der Uraufführung der Didone in Turin 1823, im selben Jahr wie Rossinis Semiramide, sang die italienische Mezzosopranistin Fanny Eckerlin, die auch in vielen Opern Donizettis auftrat, den Enea. In Innsbruck war es die deutsche Mezzosopranistin Katrin Wundsam, die im ersten Auftritt, „Addio, felice sponde“, einen hohen Mezzo mit gut angebundener Tiefe hören lässt. Ihr Vortrag ist emphatisch, die Stimmführung agil. Bei der stabilen hohen Lage wirken einige Spitzentöne grell. Eneas Duett mit Didone im 2. Akt, „Ah, non lasciarmi“ erinnert an die berühmten Sopran/Mezzo-Duette Rossinis, ist wegen der reichen Ornamentierung von virtuosem Anspruch, was beide Sängerinnen Respekt gebietend erfüllen. Eneas nachfolgendes Rondò „Immagin del mio bene“ mit dem bravourösen Schlussteil „A trionfar mi chiama“ stellt die technischen Fähigkeiten der Interpretin aus.

Dritte Hauptrolle ist der Maurerfürst Jarba, der mit seinem Vertrauten Araspe eintrifft und Didone einen Heiratsantrag macht, den sie zurückweist. Der Innsbrucker Interpret ist der italienische Tenor Carlo Vincenzo Allemano, in Turin geboren und somit in einer Verbindungslinie zum in dieser Stadt uraufgeführten Werk. Auch Jarba führt sich mit einer Auftrittskavatine, „A Dido il re de’ Mori“, ein, gleichfalls gespickt mit Koloraturen und von schwärmerischer Linie. Die Partie wurde für einen baritenore komponiert, bewegt sich vorwiegend in mittlerer Lage. Allemanos Stimme ist passend baritonal getönt und von heroischem Charakter, was dem Cabaletta-artigen Schlussteil der Arie, „Superbo di me stesso“, gut ansteht. Der Sänger singt mit Emphase und Aplomb. Sein ausgedehntes, aus vier Teilen bestehendes Duett mit Didone, „Son regina, son amante“, ist ein schmachtendes Liebesgeständnis seinerseits, während sie auf ihrer Treue zu Enea beharrt. Die Nummer durchmisst von lyrischen Passagen bis zu bewegten Koloraturabschnitten eine weite vokale Spanne, wie auch das sich anschließende Duett mit Enea, „Quando saprai chi sono“. Allemano erweist sich konditionell diesen Anforderungen imponierend gewachsen. Gegen Ende des Werkes, vor dem Rondò finale der Titelsängerin, hat auch er noch ein Rondò zu absolvieren. Hier demonstriert er seine Macht, Karthago zu zerstören. Zur stimmlichen Vehemenz steht das alberne, vom Regisseur verordnete Gebaren des Sängers in krassem Widerspruch. Alle drei Protagonisten vereinen ihre Stimmen im dramatischen Terzett „So che gli affetti miei“, das Didone mit flammenden Spitzentönen dominiert.

Mercadantes „Didone abbadonata“ bei den Festwochen der Alten Musik Innsbruck 2018,/ Foto Festwochen der Alten Musik Innsbruck/ Rupert Larl

Ein zweiter Tenor ist Jarbas Vertrauter Araspe, den Diego Godoy wahrnimmt. Die Partie liegt deutlich höher, was sogleich in den Extremtönen seiner ersten Arie, „Tacerò, se tu lo brami“, zu vernehmen ist. Der Sänger stellt sich diesen furchtlos. Recht grob klingt der Bassbariton von Pietro Di Bianco als Osmida, Didones Vertrautem. Seine düstere Arie im 2. Akt, „Fosca nube“, leidet unter trüber Tongebung. Didones Schwester Selene singt Emilie Renard mit kultiviert-jugendlichem Mezzo.

Die geschmäcklerische Inszenierung im Tiroler Landestheater besorgte Jürgen Flimm in Zusammenarbeit mit der Bühnenbildnerin Magdalena Gut und der Kostümdesignerin Kristina Bell. Sie entwarf für die Titelheldin elegante Abendroben in Weiß und Rot von zeitloser Mode. Die Drehbühne mit Sesseln, Kühlschrank, Betonmischer und drapiertem rotem Vorhang über der Szene ist von kunstgewerblichem Anstrich. Bernd Hoppe

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Michael Wittmann, Musikwissenschaftler von Rang und Mercadante-Spezialist, schrieb seinen Artikel für uns; seine sehr akribische, durchnumerierte Untersuchung hat viele Fussnoten, die wir aus Platzgründen hier nicht bringen können die Red.

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.Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Nicht nur Flórez…

 

Festlich geschmückt präsentierte sich die Geburtsstadt des Komponisten an der Adria anlässlich der 150. Wiederkehr seines Todestages 2018. Der Eröffnungsabend am 11. 8. 2018 galt dem Dramma serio per musica Ricciardo e Zoraide, das es bei den Festspielen erstmals 1990 (mit Wiederaufnahme 1996) in einer Inszenierung von Luca Ronconi gegeben hatte und nun auf DVD bei C-Major vorliegt: 752704 Bluray).

Hier nimmt sich ein Debütant beim ROF, Marshall Pynkoski, dessen Karriere beim klassischen Ballett begann, des Werkes an. Seine Inszenierung könnte aus der Entstehungszeit der Oper, die 1818 im Teatro San Carlo di Napoli uraufgeführt wurde, stammen. Die altmodischen Posen, pathetischen Gesten und als Bilder arrangierte Szenen in Rechts/Links/Mitte-Optik muteten für heutige Sehgewohnheiten seltsam an.  Man könnte diese Ästhetik durchaus goutieren und sich an der prachtvollen Ausstattung erfreuen, machte der Regisseur nicht den fatalen Einfall gehabt, viele Szenen mit tänzerischen Einlagen zu garnieren. Seine Frau Jeannette Lajeunesse Zingg ist für die Choreografie zuständig und hat sich im Stil gewaltig verhoben. Die Tanzeinlagen (auf Spitze!) mit klassisch-romantischem Vokabular, also Arabesquen, Pirouetten und grand jétés, hätten auch aus GiselleCoppelia oder einem Tschaikowsky-Klassiker stammen können, zeigen in keinem Moment eine exotische oder zumindest fremde Atmosphäre.

Gerard Gauci entwarf für die Aufführung hinreißende Bühnenbilder, wie man sie in unseren Breiten nicht mehr zu sehen bekommt – ein osmanisches Zelt, eine Halle mit Empore, deren Ornamentik aus der Alhambra entlehnt sein könnte, ein düsteres Tonnengewölbe, dessen schmale Fensterluken spärliches Licht einwerfen, ein funkelnder Sternenhimmel zum lieto fine. Nicht weniger opulent fielen Michael Gianfrancesco Kostüme aus kostbaren Stoffen, mit reichem Schmuck und kunstvoller Stickerei aus.

In der Besetzung konzentriert sich das Interesse des Publikums vor allem auf Juan Diego Flórez, der in der männlichen Titelrolle debütierte. Seinen ersten Auftritt in einem Kahn zur Kavatine „S´ella mi è ognor fedele“ leiten Tänzer als Matrosen und  Fahnenschwenker effektvoll ein. Der Tenor scheint im Klang etwas dumpfer als erinnert, vor allem der Höhe fehlt es an Glanz. Im 2. Akt kann man im Duett mit Zoraide („Ricciardo!… che veggo…“) dann seinen bekannt schwärmerischen Tonfall vernehmen, aber die Stimme klingt zunehmend auch strapaziert.

In der zweiten Tenorpartie des Werkes, Agorante, erlebte man Sergey Romanovsky, der im Vorjahr als Néoclès im Siège reüssiert hatte und nun erneut seine heroische, baritonal timbrierte Stimme hören lässt. Von imposanter Statur und attraktiver Erscheinung im glänzenden Goldmantel besticht er in seiner Auftrittskavatine, „Minacci pur“,  mit trompetenhaften Spitzentönen und triumphierte in der mit acuti gespickten Cabaletta, „Or di regnar“ mit sieghaftem Aplomb. Im Vergleich zum Volumen und der Kraft seiner Stimme nimmt sich die von Flórez geradezu schmal aus.

In der weiblichen Titelrolle kehrte Pretty Yende nach ihrer Amira im Ciro 2016 zum Festival in Pesaro zurück. Sie kann  mit ihrem substanzreichem Sopran besonders in der Schluss-Szene („Salvami il padro almeno“/“Per poco ti calma“) mit zärtlichem Ton und virtuoser Bewältigung der vertrackten Verzierungen gefallen, neigt allerdings zu grellem Klang in der Extremhöhe. Als ihre Gegenspielerin Zomira behauptet sich die Russin Victoria Yarovaya beeindruckend mit klangvollem, dramatisch auffahrendem Mezzo, sorgt im Terzett mit Agorante und Zoraide („Oh amor tiranno!“) für den ersten akklamierten Moment der Premiere. Und mit ihrer Arie „Più non sente“ die sie in schöner Kantilene und mit innigem Ausdruck formte sowie mit feinen Trillern schmückte, macht sie sich zum heimlichen Star der Besetzung.

Als Ircano erinnert Nicola Uliveri mit autoritärem Auftritt in Helm und Rüstung sowie nachdrücklichem Gesang an seine große Zeit in Pesaro. Zuverlässig in den kleinen Rollen Xabier Anduaga als Ernesto mit kompetentem Tenor und Sofia Mchedlishvili als Zoraides Vertraute Fatime mit leistungsfähigem Sopran sowie der Coro del Teatro Ventidio Basso (Giovanni Farina).

Giacomo Sagripanti am Pult des Orchestra Sinfonica Nazionale della Rai sorgt nach dem elegischen Beginn der Sinfonia mit ihrem kantabel ausschwingenden Horn-Thema für einen straffen musikalischen Ablauf. Bei den  auf der Orchesterumrandung postierten Szenen sowie den beiden Finali brachte er mit fulminanten accelerando-Steigerungen echten Rossini-Drive in die Adriatic Arena. Bernd Hoppe

Von Sintis und/oder Romas…

 

Als wenn die Belastung mit einem ganz und gar political non correct name, der Sinti wie Roma diskriminiert, nicht schon schlimm genug wäre, StraußDer Zigeunerbaron bietet dem erschrockenen Zuschauer und –hörer auch noch wüste Szenen der Kriegsverherrlichung und zumindest einige Prisen Rassismus. Da kann nur Trost spenden und zur Verteidigung einer Aufführung ins Feld geführt werden, dass ausgerechnet ein Mitglied der bewussten Minderheit sich als edelste Personalie herausstellt: die alte Czypra, die nicht nur ihrem Herrn die Treue hält, sondern auch das Geheimnis um ihre vermeidliche Tochter Saffi uneigennützig enthüllt. Man darf also den Zigeunerbaron weiterhin spielen, wenn man sich wie die Macher der CD mit der NDR Radiophilharmonie unter Lawrence Foster gewissenhaft Gedanken über das alles macht, sie im Booklet darlegt, auch bekennt, dass man sein gutes Gewissen der Tatsache verdankt, dass man bei der Aufführung von 2016 die revidierte Fassung von Michael Rat aus dem Jahre 2004 benutzt.

Wie die zwei Jahre später aufgenommene Fledermaus verfügt die Aufnahme vom Zigeunerbaron über ein hochkarätiges Sängerensemble, das teilweise sogar identisch mit der des Flattertiers ist. Nikolai Schukoff, gestandener Opernsänger des dramatischen italienischen Fachs, bringt tenorales Strahlen und unermüdlichen Überschwang auf die beiden CDs, hat ein Lächeln beim Duett „Wer uns getraut“ auf den Stimmbändern und dominiert die Ensembles. Ebenfalls kraftvoll und nicht zu stark karikierend, eher augenzwinkernd gibt Wagnersänger Jochen Schmeckenbacher den Zsupan. Zum Glück keine typische Operettenstimme alten Stils hat Claudia Barainsky, die intonationssicher und klar ein Gewinn für die Aufnahme ist, auch wenn die Höhen manchmal ertrotzt werden müssen. Ebenfalls von der Oper kommt Khatuna Mikaberidze, die eine gar nicht ältlich klingende Czypra singt, vielleicht etwas zu hell timbriert für die Partie ist. Ein typisches Operettensoubrettenstimmchen hat Jasmina Sakr für die Arsena, leidgeprüft klingt der Sopran von Renate Pitscheider für die Mirabella. Heinz Zednik bietet eine halb liebenswerte halb lächerliche Charakterstudie als Sittenwächter Carnero, Markus Brück von der Deutschen Oper Berlin singt den Homonay, bedenkt man dessen Funktion im Stück, fast schon zu schön. Paul Kaufmann, ebenfalls aus Berlin, setzt seinen angenehmen Tenor für Ottokar und Pali ein. Dirigent Lawrence Foster macht den Herold, sorgt aber natürlich vor allem für Schwung, Eleganz und Spannung, so wie der NDR Chor unter Eberhard Friedrich  mit Verve das Geschehen vorantreibt (Pentatone 2 CD  PTC 5186 482Ingrid Wanja   

Grandios

 

Entschieden auf die buffoneske Seite von Berlioz Benvenuto Cellini, als Buffa entworfen und für die Grand Opéra in eine ebensolche umgewandelt, schlug sich Terry Gilliam, als er das Werk nach Art des Hauses an der ENO in englischer Sprache inszenierte. Die original-französische Fassung aus Amsterdam gibt es nun als DVD bei Naxos, und man kommt aus dem Staunen über die komödiantische Phantasie des Regisseurs einfach nicht heraus. Da wird einiges an eindrucksvollem Personal erfunden wie die köstlichen Muhmen im Hause des Balducci mit umwerfend komischer Mimik und Gestik des Missfallens, die Akrobaten, das den Fasching feiernde Volk von Rom, die irren Kneipenszenen oder das Hin- und Hergerissensein des Ascanio, der die Braut Cellinis eigentlich behüten soll und doch der Versuchung, anzubändeln, nicht widerstehen kann. Subtil ist die Personenführung, Derbheit wird nie prollig und Erotisches nie obszön. Dazu kommt ein phantasievolles Bühnenbild, das der Regisseur gemeinsam mit Aaron Marsden entworfen hat, eine wunderbare Werkstatt für Cellini mit herrlichen Skulpturen, das Haus des Balducci wie aus der Renaissance stammend, während die Kostüme von Katrina Lindsay von der Entstehungszeit der Oper inspiriert sind.

Auch wer ein Feind inszenierter Ouvertüren ist, wird von dieser Realisierung voller Witz und Charme entzückt sein. Diese Aufführung zu erleben ist trostreiche Erholung und allerschönste Erbauung nach all dem intellektuell verbrämten Hinterfragen und Umdeuten, das zum täglichen kargen Brot des Opernbesuchers geworden ist.

Der genialen Inszenierung würdig sind die Sängersolisten, die sich mit sichtbarer Lust an der Sache in ihre Aufgaben stürzen. John Osborn singt ein perfektes Französisch, meistert die vertrackte Tessitura der Cellini-Partie scheinbar mühelos und weiß trotz Jux und Tollerei auch die ernsten Momente zur Geltung zu bringen, so mit einem ergreifenden Flehen zum Schluss des Werks. Außerdem ist nicht zu verachten, dass er die richtige Optik für den Künstler und Liebhaber hat. Zauberhaft ist die Teresa von Mariangela Sicilia, anmutig und spielgewandt, wahrhaft dolcissima in Aussehen und Gesang, mit mühelosen Koloraturen und mit feiner Ironie die vorgetäuschte Tugendhaftigkeit darstellend. Urkomisch ist der Fieramosca von Laurent Naouri, allein die Frisur ist ein abendfüllendes Vergnügen, dazu kommt ein geschmeidiger Bariton, besonders wirkungsvoll eingesetzt im „Ah, qui pourrait  me résister?“ Mit markantem Bass singt Maurizio Muraro den Balducci, verleiht ihm dazu eine komische Würde und altväterlichen, drolligen Charme. Ascanio, eine Niklasse ähnliche Partie, wird von Michéle Losier elegant im Couplet und anrührend im Gebet-Duett mit Teresa gesungen. Vorzüglich sind die Comprimari, so der Bernardino von Scott Connor. Raustimmig und eher wie Dschingis Khan als Papst Clemens VII. aussehend, ist Orlin Anasstassov beinahe eine Karikatur, weniger ernst zu nehmender Heilsbringer und betont so die komische Seite des durchaus tragische Momente zeigenden Werks. Dirigent Mark Elder spielt mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra so farbig, so tempo- und spannungsreich, wie es die zauberhafte Optik vorgibt (Naxos 2.110575-76). Ingrid Wanja         

Wahnsinns-Oper

 

Der Sigmunde, Könige von Polen, allerdings keine polnischen Könige, gibt es drei, doch sie alle taugten wohl nicht für das Libretto von Rossinis Sigismondo, der zwischen erfolgreichen Opern wie Tancredi, Italiana und Barbiere bereits bei der Uraufführung in Venedig zum Flop wurde. Es ist die altbekannte Geschichte von der einer Intrige zum Opfer fallenden reinen und treuen Gattin, die durch einen Glückszufall überlebt und auf den Thron und an die Seite des vor Kummer dem Wahnsinn verfallenen Gatten zurückkehrt, und selbst die Urheber des Unrechts können in den Schluss-, der zugleich ein Jubelchor ist, einstimmen. In Pesaro nahm man die vorübergehende Trübung des Geistes der Titelfigur zum Anlass, die Geschichte in einer Irrenanstalt spielen zu lassen. Dem Bayerischen Rundfunk ist die konzertante Aufführung von 2018 und die dabei entstandene CD zu verdanken.

Das Stück wurde, wohl auch wegen der unwilligen Aufnahme durch das Publikum, zum Steinbruch für spätere Opern des Komponisten, so findet sich der Beginn des zweiten Akts des wenig später entstandenen Barbiere wieder, aber auch sonst wird man auf der Suche nach Wiederverwertung fündig. Bemerkenswert ist auch, dass die Tenorpartie die eigentlich umfangreichste, bedeutendste und interessanteste ist, aber nicht die des Titelhelden, sondern, der Tradition entsprechend, die des Intriganten ist.

Der amerikanische Tenor Kenneth Tarver ist ein renommierter Rossinispezialist (der bereits einen Sigismondo aus Wildbad 2016 bei Naxos aufgenommen hat, ein weiterer erschien zudem als Ersteinspielung des Werkes bei Bongiovanni/ G. H.), und seine edel timbrierte Stimme lässt auch bei dieser Aufnahme eher an Almaviva als an einen Brunnenvergifter denken. So gefühlsintensiv wie virtuos meistert er mit gar nicht anämisch klingender Stimme sowohl den temperamentvollen Aplomb seiner Arien wie die verzierungsreichen Cabaletten.

Das Schwanken zwischen umnachteten und wachen Momenten macht Marianna Pizzolato, ohne dabei stilistisch zu stolpern, in der Titelpartie mit androgyn timbriertem, die Rezitative phantastisch ausdeutendem Mezzosopran deutlich. Sie beherrscht die Skala von sanftem Wahnsinn bis zum glutvoll Auffahrenden und krönt das große Duett mit der Gattin mit einer wundervollen Fermate.

Die verfolgte Gattin Aldimira wird von Hera Hyesang Park mit melancholischer Dolcezza, mit sicheren Acuti und leichter Emission der Stimme gesungen. Ein virtuoser Ausbruch und eine besonders schön gesungene A-capella-Stelle sind ihr am Schluss vergönnt.

Herb und unausgeglichen in der Stimmführung gibt Rachel Kelly die Rivalin Anagilda, überaus sonor klingt Il Hong als rächender Vater Ulderico, mehr Geschmeidigkeit wünscht man dem Zenobio von Guido Loconsolo, zuverlässig stützt Gavan Ring als Radoski.

Temperamentvoll stürzt sich der Chor des Bayerischen Rundfunks  besonders als frohes Jägervolk ins musikalische Geschehen, unter Keri-Lynn Wilson trägt das Münchner Rundfunkorchester viel zur Ehrenrettung der mit vielen musikalischen Perlen bestückten Oper des Schwans von Pesaro bei BR Klassik 900327, 2 CD). Ingrid Wanja       

 

Ernst Haefliger zum 100.

 

Im Rückblick erweist sich die Bindung von Ernst Haefliger an die Deutsche Grammophon, das älteste Klassiklabel der Welt, als Glücksfall. Diese Zusammenarbeit hat es ermöglicht, dass die Karriere des schweizerischen Tenors, der am 6. Juli 1919 in Davos zur Welt kam und dort am 17. März 2007 auch starb, in ihrem zentralen Zeitraum dokumentiert ist. Derselbe Geburts- und Sterbeort verheißt Verbundenheit und Verwurzelung. Insofern will es passen, dass er seine wichtigsten Aufnahmen bei nur einer Firma machte. Sie hat ihn anlässlich seines hundertsten Geburtstages mit einer Edition geehrt, die dieses Lebenswerk auf zwölf CDs zusammenzufassen versucht (483 7122). Ob es geglückt ist, wird jeder, der diese Ausgabe erwirbt, für sich entscheiden. Etwas fehlt bekanntlich immer. Anderes ist überflüssig, weil gleich in mehreren Alternativen vorhanden. Mein Eindruck ist durchwachsen.

Erstmals machte Haefliger 1949 auf einer internationalen Bühne auf sich aufmerksam. Bei der von Ferenc Fricsay betreuten Uraufführung von Carl Orffs Antigonae am 9. August in der Salzburger Felsenreitschule sang er den blinden Propheten Tiresias, wenige Tage zuvor, nämlich am 27. Juli an eben diesem Ort, den ersten Geharnischten in der Zauberflöte, die Wilhelm Furtwängler dirigierte. Beide Werke haben sich als Mitschnitte der Radioübertragungen erhalten. Fricsay war nachhaltig beeindruckt von Haefliger. Er hatte seinen Tenor gefunden. „Zwischen den beiden entwickelte sich eine enge künstlerische Partnerschaft“, bestätigt Michael Haefliger, der Sohn des Tenors im Booklet. Bis zu seinem frühen Tod 1963 betraute ihn der Dirigent mit zahlreichen Aufgaben. Auch Fricsay hatte sich an die Grammophon gebunden. 1952 gingen sie erstmals gemeinsam für die Produktion des Fliegenden Holländer in die zum Studio umfunktionierte Berliner Jesus-Christus-Kirche. Haefliger sang den Steuermann: „Mit Gewitter und Sturm aus fernem Meer…“ Das Lied, das zu Wagners populärsten Erfindungen gehört, wurde für die Edition aus der Gesamtaufnahme herausgelöst. Anfang und Ende sind gut abgetrennt, so dass es den Anschein hat, es handele sich um ein Einzelstück. Dieser Eindruck wird durch Haefligers Interpretation noch verstärkt. Er gestaltet die Szene tatsächlich wie ein Kunstlied, das für sich allein steht – ohne musikdramatischen Zusammenhang. Was er darüber hinaus zu singen hat in der Oper wirkt denn nach meiner Beobachtung auch etwas unbeholfen. In seiner Unverwechselbarkeit ist das Timbre bereits voll ausgeprägt. Daran würde Haefliger bis zum Ende seiner langen Karriere stets zweifelsfrei zu erkennen sein. Die Höhe ist offen und frei. Mitunter wirkt der Aufstieg in die oberen Lagen etwas angestrengt. Zwei Nummern aus Massenets Manon von 1962, die etwas unvermittelt auf den Holländer folgen, entfalten ihre betörende Wirkung denn auch eher in der Mittellage, während in der Arie des Chapelou aus Adams Postillion von Lonjumeau „Freunde, vernehmet die Geschichte“ als CD-Erstveröffentlichung die extremen Spitzentöne nur unter größten Anstrengungen hervorgebracht werden. Haefliger bringt den Mut auf, seine Grenzen öffentlich auszutesten. Beide Szenen waren zuerst auf einer von Ernst Märzendorfer geleitetet Arienplatte erschienen. Sie enthielt auch Fentons „Horch die Lerche singt im Hain“ aus Nicolais Lustigen Weibern von Windsor, für die Edition nebst dem Duett mit Anna „Fenton! Mein Mädchen!“ (Catarina Alda) aber aus einem Querschnitt durch die Oper entliehen, den Hans Löwlein dirigierte.

Es hätte sich angeboten, einzelne Platten, die meist nur noch antiquarisch zu finden sind, in ihrer Gesamtheit in die Edition aufzunehmen. Das gilt auch für die lediglich teilweise berücksichtigte von Karl Richter betreute LP mit Arien von Bach und Händel. Dadurch wäre der Anreiz, sich diese Neuerscheinung zuzulegen, womöglich noch größer. Sammler wissen dokumentarische Akribie zu schätzen. In solche Einzelheiten geht das Booklet nicht. Es finden sie zwar alle relevanten Daten zu den einzelnen Werken und Stücken, es werden Produzenten und Tonmeister genannt, was hoch zu schätzen ist. Schließlich haben diese Herren, die meist im Hintergrund blieben, erheblichen Anteil am Gelingen von Einspielungen. Ihr Beruf war zumindest damals eine strenge Männerdomäne. Sind einzelne Arien oder Szenen wie der Holländer-Steuermann Gesamteinspielungen entnommen, bleibt das Begleitheft diese Hintergrundinformation schuldig. Warum eigentlich? Wer sich für solche Zusammenhänge interessiert, muss durch die eigenen Bestände gehen, sein Gedächtnis befragen oder selbst recherchieren.

Überhaupt stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, sich bei den kompletten Operneinspielungen zu bedienen. Operngesamtaufnahmen, in denen Haefliger mitwirkte, sind oft aufgelegt worden, zuletzt kompakt in einer großen Edition für den ungarischen Dirigenten Ferenc Fricsay. Sie wären am ehesten verzichtbar gewesen. Dennoch gibt es eine ganze CD mit Auszügen aus ZauberflöteEntführung aus dem Serail und Don Giovanni. Für Ferrando aus Cosi fan tutte wurde auf die Einspielung unter Eugen Jochum zurückgegriffen. Introduktion und Arie des Florestan sowie das Duett „O namenlose Freude“ mit Leonore (Leonie Rysanek) aus Beethovens Fidelio werden ebenfalls ohne Verweis auf die berühmte Gesamtaufnahme mit Fricsay zwischen einzelne Arien geklemmt. Der Florestan ist ein Sonderfall für Haefliger. Er hat ihn nie auf einer Bühne gesungen. Offenbar kam es ihm und seinem Dirigenten darauf an, die Dramatik bei allem Verzicht auf äußere Effekte zu verinnerlichen und ganz nahe an die Hörer heranzuführen. Unter den Bedingungen einer Theateraufführung wären diese Feinheiten in der Gestaltung, dieser lyrische Grundduktus kaum zu realisieren. Diesmal finden sich die besonderen Umstände und die Einzigartigkeit der Produktion auch im Booklet erklärt. Autorin Susanne Stähr geht sogar so weit, Haefligers Rollenporträt als „die vielleicht überzeugendste Florestan-Interpretation“ zu nennen, die „es überhaupt gibt. Er deutet den ausgemergelten, desillustrierten Gefangenen, der am Ende seiner Kräfte ist und Hoffnung allenfalls noch im Fieberwahn schöpft, gerade deshalb so ergreifend , weil er auf heldisches Pathos und Stentortöne verzichtet“. Er habe es nicht „nötig, seine prächtiges Stimmmaterial vorzuführen – es stellte sich ganz uneitel in den Dienst des Dramas und der Figur“.

Nicht nur gewisse Opernszenen – zu nennen wären auch noch Arien aus deutsch gesungenen Querschnitten von Rossinis Barbier von Sevilla und Verdis La Traviata – führen in der Edition ein Dasein als Stückwerk. Besonders krass ist die Reduzierung von Mahlers Lied von der Erde mit dem Concertgebouworkest Amsterdam unter Eugen Jochum auf die dem Tenor vorbehaltenen drei Nummern. Händels Messias, 1964 von Karl Richter in deutscher Sprache eingespielt, besteht nur noch aus zwei Arien nebst Rezitativen. Eine vollständige Fricsay-Einspielung von Rossinis Stabat Mater wurde mit der berühmten Tenor-Arie „Cujus animam gementem“, die den Schmelz vermissen lässt, und dem etwas erdenschweren Quartett „Sancta mater, istud agas“, zu dem sich Maria Stader, Marianna Radev und Kim Borg einfinden, beliehen. Detektivischer Spürsinn und Geduld sind gefragt, um die auf einer CD versammelten fünfzehn Arien und Rezitative aus Werken von Bach ihren Quellen zuzuordnen. Auch sie führen zu diversen vollständigen Einspielungen sowie zur großen Kantatensammlung der Archivproduktion, die aus 26 CDs besteht. Lediglich die Kantate Ich armer Mensch, ich Sündenknecht kommt ungeschoren davon, weil sie mit Haefliger nur einen Solisten hat. Auch Bruckners Te Deum unter Jochum, das von Rafael Kubelik betreute Tagebuch eines Verschollenen sowie von Janácek und als einzige Liveaufnahme Zoltán Kodálys Psalmus hungaricus mit Fricsay als Dirigent von 1959 bleiben unangetastet. Sowohl der Tscheche Kubelik und als auch der Ungar Fricsay hatten sich aus gutem Grund dazu entschlossen, die Werke ihrer Landsmänner Janácek und Kodály, die ihnen besonders am Herzen gelegen haben dürften, in deutscher Fassung darzubieten. Sie sollten nämlich vom Publikum, für das sie eingespielt bzw. aufgeführt wurden, auch verstanden werden.

Mit insgesamt sieben CDs bilden Lieder die größte Abteilung der Edition. Sie wird mit Schuberts Schöner Müllerin, begleitet von Jacqueline Bonneau, aus dem Jahr 1959 eröffnet. Es folgt die Winterreise, die zehn Jahre später mit Michio Kobayashi am Klavier in Tokio für die Deutsche Grammophon eingespielt wurde. Daran schließt sich der erst nach Schuberts Tod postum zusammengestellte Schwanengesang an, für den 1965 Erik Werba als Begleiter zur Verfügung stand. Drei Jahre zuvor nahmen beide auch Schumanns Dichterliebe und Beethovens Ferne Geliebte auf. Mir wurde allenthalben deutlich, dass Ernst Haefliger seine sängerischen Stärken in Liedern am besten entfalten konnte. Insofern ist die Gewichtung der Edition zugunsten dieses Genres angebracht. Erscheint die Berliner Pianistin Hertha Klust (1907 – 1970) am Flügel, ist dies wie bei Dietrich Fischer-Dieskau zugleich ein Hinweis auf Aufnahmen aus den fünfziger Jahren. Von zunehmender Schwerhörigkeit geplagt, zog sie sich als Liedbegleiterin relativ früh zurück. 1956 spielten sie Schubert und Brahms, 1959 Schumann, Schoeck, Kodály und Wolf ein, in der Edition auf zwei CDs verteilt. Für mich sind sie die Schatzkammer der Edition. Haefliger klingt sehr sanft und in sich gekehrt. Er lässt die Töne schweben. Die Höhe ist gut eingebunden, der Atem so perfekt kontrolliert, dass die einzelnen Phrasen – getragen vom Klavier – nahtlos ineinander gehen. Bei Schuberts „Jüngling an der Quelle“ lassen die Tasten die Pappeln wallen und flüstern. Selten habe ich das Zusammenspiel von Sänger und Begleitung in solcher Vollendung wahrgenommen wie in der „Waldeinsamkeit“ von Brahms und in den Liedern von Wolf, darunter „Auf einer Wanderung“ und „In der Frühe“. Dass in Mono aufgenommen wurde, gerät zur Nebensache, weil die Kunst über die Technik triumphiert. Rüdiger Winter

Ganz ohne Countertenöre

Leonardo da Vinci ist ein Künstler, von dem fast jeder schon mal etwas gehört hat. Doch es gibt auch einen gleichnamigen Opernkomponisten, der im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts lebte. Leonardo Vincis Werke werden in letzter Zeit immer öfter aufgeführt – nun hat seine Oper Siroe CD Premiere bei Dynamic.

Vinci, einer der populärsten Opernkomponisten seiner Zeit, hatte eine sehr eingängige Musiksprache, ohne je platt zu werden. Der Musikwissenschaftler Reinhard Strohm nannte Vincis Satztechnik einmal verblüffend einfach und seine Melodien klar gegliedert. Wie viele Komponisten der Neapolitanischen Schule stand er auch auf gutem Fuß mit der komischen Oper und ließ die liedhaften, sinnlichen Elemente dieser Werke auch in seine ernsten Werke einfließen, und das mit unendlich größerem Erfolg als sein Kollege Pergolesi.

Speziell beim Siroe, einem Stoff, den auch Pergolesi und Händel vertont haben, zeigt sich aber auch Vincis Achillesferse. Seine Arien sind vielleicht süffiger, eingängiger als die der Konkurrenz, insgesamt erscheint mir aber die Abfolge der Arien selbst hier recht einförmig. Die Affekte selbst sind längst nicht so abwechslungsweich herausgearbeitet wie bei Händel oder Pergolesi. Man sucht hier vergeblich nach den großen kontrastreichen Gewittern, wo die Kaltfront einer lauten Hassarie auf die Hitze einer Liebesklage stößt. Dennoch bleiben Vincis subtiles Gespür für Rhythmik und originelle deklamatorische Phrasen atemberaubend, hartnäckig wiederholte Wortabschnitte in den Dacapo-Arien und originelle melodische Wendungen verweisen schon auf Pioniere der Vorklassik wie Nicolo Jommelli und Johann Christian Bach.

Ganz ohne Countertenöre: Dies ist eine Weltersteinspielung der Oper, doch beileibe nicht die erste Vinci-Oper auf dem Markt. Eine Artaserse von ihm erlangte 2012 eine (für mich) traurige Berühmtheit – diese Aufnahme wurde damals nämlich durchgehend von Countertenören besetzt. Eine Oper mit sechs Countertenören ist eine stilistische Monstrosität (man komme mir nicht mit dem Frauenverbot in Rom – Kastraten waren keine Countertenöre!) 2015 hat die Decca diesen Counter-Schrecken mit Vincis Catone in Utica wiederholt – und ich war völlig verzweifelt, weil ich mich jetzt darauf eingerichtet habe, jegliche Musik des liebenswürdigen Signore Vinci nur noch von hochstimmigen Männern präsentiert zu bekommen. Insofern ist dieser Mitschnitt aus Neapel vom November 2018 klingendes Schmerzensgeld für alle Counter-Muffel wie mich. Eine große opulente Vinci-Oper ganz ohne Counter! Die Hauptrolle des persischen Königs Siroe singt die Mezzosopranistin Cristina Alunno.

Kein Dauerbrenner: Dennoch hält sich die Freude in Grenzen. Zwar  steht mit Antonio Florio ein ausgezeichneter Kenner der alten Opera seria am Pult, aber er hat mit zwei Handicaps zu kämpfen. Erstens lenkt er eben keins dieser stromlinienförmigen Alte-Musik-Ensembles, die dem Werk einen aparten Reiz verleihen könnten, sondern einen schweren Sattelschlepper, das Orchester der Oper San Carlo in Neapel. Für ein konventionelles Opernorchester leistet das Ensemble hier Außerordentliches, die Solisten der obligaten Passagen agieren hervorragend. Nur sind unsere Ohren inzwischen Anderes, Subtileres von Klangkörpern gewohnt, die sich auf diese Art Musik spezialisiert haben.

Und dann hat Florio eine sehr unausgewogene Sängerriege – die reicht vom sehr mulschigen unterbesetzten Tenor Carlo Allemano bis herausragenden Sopranistin Leslie Visco als Medarse. Dazwischen: solide bis gute Sänger wie Roberta Invernizzi und Christina Alunno. Ja, das ist fast alles passabel – doch für Vinci muss es eigentlich mehr sein. Der funkelnde Glanz, das Sahnehäubchen Extravaganz, das man unbedingt braucht, damit die großen Da-Capo-Arien wirklich swingen – das liefert hier eigentlich  nur bei Leslie Vasco. Insofern ein erfreuliches und gut anhörbares Dokument zur musikalischen Weiterbildung, aber bestimmt keine CD, die als Dauerbrenner auf dem Player der Barockfans laufen wird  (Leonardo Vinci: Siroe mit Carlo Allemano | Christina Alunno | Leslie Visco | Roberta Invernizzi | Orchestra del Teatro di San Carlo | Antonio Florio; Dynamic 2 CD CDS 7838.03). Matthias Käther

 

Vincis „Siroe“: Pietro Metastasio/ Wikipedia

Und nun eine Eloge auf den schweigenden Helden in Metastasios und Vincis Siroe von Dinko Fabris: Verschiedene Umstände trugen zum außergewöhnlichen und langanhaltenden Erfolg von Siroe bei, einem Libretto von Metastasio, das von 1726 und bis nach 1800 unzählige Male von Komponisten wie Porpora, Vivaldi, Händel, Hasse, Latilla, Perez, Galuppi, Piccini, Traetta, Sarti und einigen mehr musikalisch aufgegriffen wurde.

Als er es schrieb, war Metastasio gerade 28 Jahre alt und hatte noch nicht den Ruhm erlangt, der ihn zum wichtigsten Librettisten seines Jahrhunderts und der gesamten Geschichte der europäischen Oper machen sollte; gleichwohl hallte das Echo des Erfolges seines ersten Titels Didone abbandonata, besonders in der in Rom aufgeführten Fassung, ein paar Monate vor Siroe, bereits weit. Seine Beziehung zur Sängerin Marianna Bulgarelli, geb. Benti und ihren Spitznamen „La Romanina“ der Stadt ihrer Herkunft verdankend, für die er 1724 in Neapel Didone geschrieben hatte, war noch immer in einer sehr positiven Phase, und dies trotz ihres Altersunterschiedes, mit zufriedenstellenden Aspekten auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Gleichwohl: Der Hauptgrund für den Erfolg der „Operation Siroe in Venedig 1726 war die Musik von Leonardo Vinci.

Vinci kam aus Kalabrien, doch wurde er in Neapel ausgebildet und hatte dasselbe Alter wie Metastasio. Während des vorhergehenden venezianischen Karnevals 1725 gelang ihm eine beispiellose Leistung, indem er nicht weniger als zwei Opern auf die Bühne brachte, die zu glänzenden Erfolgen des Theaters Grimani di San Giovanni Grisostomo wurden und die Lagunenstadt im Sturm eroberten, die nie zuvor neapolitanische Autoren willkommen geheißen hatte. Selbst der große Alessandro Scarlatti wurde dort gedemütigt und wurde zum Ziel von satirischen Versen. Die Präsenz von süditalienischer Komponisten war in Venedig sehr sporadisch, obwohl deren Werke in Italien und ganz Europa gespielt wurden. Die außerordentliche Heldentat von 1725 wurde von Reinhard Strohm 1995 meisterhaft rekonstruiert (und 2016 noch weitergehend erläutert): Im Dezember 1724 wurde Vinci – der in Neapel bereits bekannt war für seine Opernwerke und sich auch in Rom einen Namen gemacht hatte – nach Venedig geholt, um Ifigenia in Tauride am Grimani-Theater auf die Bühne zu bringen; dem Werk lag ein Libretto des Venezianers Benedetto Pasqualigo zugrunde.

Vincis „Siroe“: der Komponist Leonardi Vinci/ Wikipedia

(…) Man kann in allen Fällen Reinhard Strohm zustimmen, wenn er schreibt, dass „die Tatsache, dass es Vinci war, der unter den vielen neapolitanischen Komponisten ausgewählt wurde, seine eigene Stadt in Venedig zu vertreten, eine signifikante historische Bedeutung hat“, weil in den folgenden Jahren „Hasse und Pergolesi, um nur zwei Namen zu nennen, durch Vincis Stil inspiriert wurden, sicherlich aber nicht durch jenen Sarros“.

Siroe re di Persia erlebte seine Uraufführung 1726 in Venedigs Theater San Giovanni Grisostomo; die Impresarios betrieben ungemeine ökonomische Anstrengungen, indem sie die besten Sänger der vorigen Saison engagierten, die im Libretto aufgelistet sind: Nicola Grimaldi (Siroe)/ Marianna Benti Bulgarelli (Emira)/ Giovanni Paita (Cosroe)/ Lucia Facchinelli (Laodice)/ Giovanni Carestini (Medarse)/ Pellegrino Tomii (Arasse).

Von der ersten Aufführungen haben wir eine Fülle an Quellen, die es uns erlauben, dieses spektakuläre Ereignis nahezu vollständig zu rekonstruieren: Zunächst die musikalischen und textlichen Quellen, auf die wir noch zu sprechen kommen werden; dann eine Serie von Karikaturen von Marco Ricci, welche männliche Charaktere in persischer Aufmachung zeigen (Grimaldi, Cosroe und Medarse); zuletzt die wertvolle Aussage von Johann Joachim Quantz, welcher der venezianischen Premiere beiwohnte und über die drei Hauptsänger schrieb:

„… Die Präsenz in dieser Aufführung [von Siroe] von Cavalier Nicolino, einem Altisten, von La Romanina, einer dunklen Sopranistin, und des berühmten Tenors Giovanni Paita machte sie prestigeträchtig. Tatsächlich waren Nicolino, dessen wahrer Name Grimaldi war, und La Romanina, die Marianna Benti Bulgarelli hieß, nicht nur ausgezeichnete Sänger, sondern auch exzellente Schauspieler. Paitas Tenorstimme war nicht so mächtig, aber sehr ansprechend, und sie hatte wahrscheinlich nicht so wunderbar und natürlich geklungen, hätte er nicht um das Geheimnis gewusst, wie man Kopf- und Bruststimme nahtlos miteinander kombiniert […] Er verwendete nicht allzu viele passaggi, und sein Schauspiel war ziemlich gut.“

Vincis „Siroe“: Karikatur von Nicola Grimaldi (detto Nicolini) mit Lucia Facchinelli (detta «La Becheretta»), in Pergolesis Oper „La Salustia“, in Vincis Oper sang sie den Laodice/Wikipedia

Kurt Malkstrom zitiert eine ähnlich lobende Kritik von Grimaldis und Benti Bulgarellis Interpretationen, geschrieben von Owen Swiney, dem Agenten der Londoner Royal Academy of Music in Venedig. Reinhard Strohm zufolge ist „Siroe re di Persia ein komplexes Libretto und fraglos eines der besten von Metastasio“ (The Neapolitans in Venice, S. 264), und der Dichter selbst, der die Premiere in Venedig 1726 leitete, schreibt, dass dieses Libretto sogar erfolgreicher war als jenes von Didone („Mein Siroe ist brillant, mehr noch als Didone im letzten Jahr“, so Metastasio an seinen Bruder Leopoldo gleich nach der Uraufführung), und dies dank Vincis Musik. Metastasios Meinung wird durch Quantz bestätigt, der auch Porporas rivalisierender Oper beiwohnte, die in derselben Spielzeit in Venedig gegeben wurde, und erklärte, dass Vincis Siroe mehr Beifall erhalten habe als Porporas Siface. Wie wir sehen werden, benutzte Siroe einige Elemente der Handlung von Partenope, gleichsam als wäre es eine Fortsetzung in Persien.

Das Libretto der venezianischen Premiere von 1726 ist uns in elf Kopien überliefert, davon acht in italienischen Bibliotheken. Unser Referenzlibretto war die Kopie aus dem Deutschen Historischen Institut in Rom (Rar. Libr. Ven. 598).

Von Vincis Partitur sind vier Kopien bekannt, wovon sich drei in England befinden (Royal College of Music, Royal Accademy of Music und Fitzwilliam Museum in Cambridge) und eine in Deutschland (Santini-Kollektion in Münster). Antontio Florio verwendete für seine Edition davon zwei praktisch identische Londoner Manuskripte, die ich mit jenem aus Münster verglich. Auf diese Weise wurden alle bedeutenden Quellen analysiert. Nach Strohm und Markstrom unterscheidet sich das Cambridge-Manuskript, welches vom berühmten Sammler und Reisenden Viscount Fitzwilliam Ende des 18. Jahrhunderts erworben wurde (seine Titelseite ist datiert auf 1782), in musikalischer Hinsicht nicht von den beiden Londoner Partituren. Das Manuskript der Santini-Kollektion hat auf der letzten Seite indes verzeichnet: „Fine dell’Opera | del Vinci | di G. F. C. 1728 | X.bre“. Daher wissen wir, dass es im Dezember 1728 durch den Kopisten Francesco Cantoni in Rom entstand, der zahlreiche Partituren, die am Aliberto-Delle-Dame-Theater dieser Jahre gespielt wurden, zusammentrug. Vincis Partitur hat weniger Arien – nur 26 – als die übliche Opera seria dieser Tage, aber Hasses Fassung des Siroe von 1733 aus Bologna mit demselben Libretto hat sogar noch weniger: 24.

 Die fünf Hauptcharaktere (ohne Arasse, der im ersten Akt gleichwohl eine feine aria di paragone mit obligatorischer Oboe erhält, in der das Schwanken des menschlichen Herzens mit dem Meer und mit Ästen im Wind verglichen wird) haben dieselbe Anzahl an Arien, gleichmäßig verteilt (jeweils zwei in den ersten beiden Akten und je eine im dritten Akt), ausgenommen Medarse, der im Gegensatz dazu eine Arie im zweiten, dafür aber zwei im dritten Akt bekommt. Metastasio sah keine Duette oder Ensembleszenen vor, und weder Hasse noch Vinci waren der Ansicht, dass dergleichen eingefügt werden sollte, um die Struktur der Aufführung zu variieren.

Auf der anderen Seite nutzt Vincis üppiges Vokalmaterial die Qualitäten der fünf außergewöhnlichen Solisten, welche ihm zur Verfügung standen (der sechste, Pellegrino Tomii aus Vicenza in der Rolle des Arasse war vielleicht zu jung, hatte erst 1723 debütiert und war 1726 in seiner ersten Saison in Venedig; im darauffolgenden Jahr aber wurde er in die Rolle des Cosroe befördert, als Siroe in Reggio gespielt wurde). Wie wir sahen, erregten nur der erfahrenen Nicolino, Romanina und Paita die Aufmerksamkeit von Quantz im Jahre 1726. Gleichwohl wurde Medarse von einem der berühmtesten Kastraten der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Giovanni Carestini, einem Zeitgenossen und Rivalen Farinellis, interpretiert. Dieser männliche Sopran von schlanker und gebieterischer Figur war seit mindestens 1719 aktiv und hatte zunächst Wien und daraufhin die Gunst des Herzogs von Parma erobert, doch seine Weihe kam erst 1733, als er durch Händel nach London gerufen wurde, für dener prominente Rollen übernahm. Nicht zufällig hat sein Charakter Medarse einige der akrobatischsten Arien (zusätzlich zu den begleitenden Rezitativen im ersten Akt) und ist der einzige mit zwei Arien im dritten Akt, eine davon mit Trompete, was bedeutet, dass der Interpret nicht fürchtete, am Ende hin zu ermüdet zu sein.

Vincis „Siroe“/ die konzertante Aufführung in Neapel 2018/ Conessi all´Opera/Dynamic

Die andere vieldeutige Figur des Librettos, Laodice, wurde von der Venezianerin Lucia Facchinelli interpretiert, die am Anfang ihrer Karriere stand (sie hatte in derselben Stadt erst zwei Jahre zuvor debütiert), aber eindeutig von der städtischen Öffentlichkeit unterstützt wurde. Dies ist womöglich der Grund, warum sie dieselbe Anzahl an Arien erhielt wie ihre berühmteren Kollegen und im dritten Akt gar eine Arie mit Jagdhörnern (wie in der Partitur vermerkt). Im Text wird der König, der Siroe tot sehen will, mit einer Tigerin verglichen, die im Falle einer Bedrohung für ihr Jungtier, anders als er menschlich wird und es vor dem Jäger beschützt.

Von den venezianischen Stars der Besetzung war der Genueser Giovanni Battista Paita seinem Rückzug von der Bühne am nächsten. Seine bedeutende Karriere begann 1708 in Venedig und würde 1729 in der Lagunenstadt enden; er hat Norditalien fast nie verlassen. In einer Oper, die stark die höheren Register beansprucht und vier Sopranpartien enthält, war Paitas Tenorstimme ideal für die Rolle des Cosroe, des alten Königs, erschüttert ob des Verdachts, sein älterer Sohn habe ihn verraten, doch nach wie vor verwundbar durch den Charme der jungen Laodice; mit gutem Grund wurde dieser Charakter mit Shakespeares König Lear verglichen. (…)

Vincis „Siroe“: Marianna Benti Bulgarelli, detta la Romanina sang die Emira/ Wikicommons

Sicherlich auf Metastasios Anregung hin hat Vinci die Rolle der Emira auf die stimmlichen Mittel von Marianna Benti Bulgarelli zugeschnitten, die nicht nur knapp vierzig war (ein überaus fortgeschrittenes Alter für eine Sängerin jener Tage), sondern auch im Rufe stand, eher schauspielerische Fähigkeiten denn vokale Virtuosität zu besitzen. Sicher nicht zufällig hatte Metastasio nach Siroe nicht länger La Romanina im Kopf, als er die Prima-Donna-Partien seiner Libretti schrieb. (…)

Bezüglich des Titelcharakters, wurde Siroe vom Kastraten Nicolino Grimaldi gesungen, der auf eine exzeptionelle internationale Karriere zurückblicken konnte, die Ende des 17. Jahrhunderts begonnen hatte, als er gerade etwas über 25 war (ohne sein Debüt in Neapel 1685 in Provenzales Stellidaura vendicata im Alter von zwölf zu berücksichtigen). Den Zenit seiner Berühmtheit erreichte er 1711, als er die Titelrolle in Händels Rinaldo übernahm, der ersten englischen Produktion dieses Komponisten. Von da an strahlte sein Ruhm nach ganz Europa aus. 1718 kehrte er nach Italien zurück. In der Saison vor Siroe hatte er mit Benti Bulgarelli in Didone abbandonata zur Musik von Albinoni gesungen (1724 sangen die beiden auch in Sarros Version in Neapel). Obwohl Neapolitaner, war er fraglos einer der meist gefeierten Sänger in Venedig. Metastasios und Vincis Entscheidung für das Romanina-Nicolino-Paar für Siroe in Venedig war daher ein doppelter Gewinn. (…)

Wie wir zuvor erwähnten, offeriert Vincis Partitur keine concertati, nicht einmal ein Duett, und einzig im Finale tun sich die Solisten zusammen für ein allzu abruptes und oberflächliches Ensemble, das die Geschichte mit moralisierenden und voraussagenden Worten beendet.  (…)

Wie in einem Spiel mit dreieckigen Symmetrien überlagert das siegreiche Trio Metastasio-Romanina-Vinci das magische Dreieck der italienischen Oper des frühen 18. Jahrhunderts: Neapel-Rom-Venedig. Wir sahen, wie die neapolitanische Eroberung Venedigs 1725, angeführt durch Vinci, durch die Vorarbeit in Rom ermöglicht wurde. Die Operation wäre nicht geglückt ohne die Zusammenarbeit der drei, die alle davon profitierten: Metastasio erklommt mit Hilfe Mariannas die Leiter des internationalen Erfolges, die ihn wenige Jahre später nach Wien führen sollte; Vinci eroberte Venedig und dann auch London, dank Händels Hilfe; Benti Bulgarelli wollte freilich ihre letzten stimmlichen Karten in der bestmöglichen Weise ausspielen, dabei auf zwei Meister wettend, die ihr zumindest einen ehrenhaften Rückzug ermöglichten. Das Siroe-Projekt war eine Wiederholung und Ausweitung des Erfolges von Didone abbandonata und Partenope, das demonstrierte, dass das römisch-neapolitanische Team bereit war, sich selbst zum neuen Referenzpunkt der europäischen Oper zu erklären. Die vier intensiven nachfolgenden Jahre bewiesen, dass die beiden Meister ihre Versprechen einhielten; die Strukturen der italienischen Opera seria wurden völlig umgestürzt und überarbeitet. Gleichwohl, nach Metastasios Abreise nach Wien (nachdem er seine andächtige Romanina verlassen hatte) und nach Vincis plötzlichem Tod 1730, schlug die italienische Oper neue Richtungen ein. Ohne es zu wissen, hatte Leonardo Vinci durch seine Musik für Metastasios Libretti eine neue Methode eingeführt, die binnen kurzem zum ungezügelten „galanten Stil“ führen sollte. Was Metastasio betrifft, sollte dieser in Hasse – der Sachse, der in Neapel zur Zeit Scarlattis und Vincis geschult worden war – einen neuen musikalischen Partner finden für seine weiteren Opernproduktionen. Dinko Fabris

Den Artikel von Dinko Fabris (englische Übersetzung von Daniela Pilarz; Übersetzung ins Deutschs von Daniel Hauser entnahmen wir dem Booklet zur CD-Veröffentlichung bei Dynamic)