Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Facettenreich

 

Die französische Firma Aparte bringt zwei Recitals heraus, welche die Herzen von Barockfreunden und Raritäten-Sammlern höher schlagen lassen. Beide wurden Ende 2018 bzw. Anfang 2019 aufgenommen – das erste im September in Metz in Zusammenarbeit mit dem Centre de musique baroque de Versailles. Es trägt den Titel „L’opéra du roi soleil“ und wird gestaltet von der englischen Sopranistin Katherine Watson und dem Ensemble Les Ambassadeurs unter Leitung von Alexis Kossenko (AP 209). Das Programm umfasst Ausschnitte aus der französischen Oper des 17. und 18. Jahrhunderts, darunter seltene oder erstmals aufgenommene Titel, wie es das Anliegen des koproduzierenden CMBV ist. Gleich der Auftakt, die Arie der Eurydice, „Ah! que j’éprouve bien que lámoureuse flamme“, aus Louis de Lullys Orphée von 1690, ist eine Rarität. Es ist ein getragenes Lamento, das Eurydices Zweifel, ob Orphée sie noch liebt, eindrücklich wiedergibt. Die Sopranistin lässt einen schmerzlichen Tonfall hören, welcher der  existentiellen Situation perfekt entspricht.

Der folgende Komponist, Marin Marais, ist in der Barocklandschaft kein Unbekannter. Aus seiner Oper Alcyone, die in dieser Saison am Gran Teatre del Liceu von Barcelona gezeigt wird, erklingen die Ouverture sowie die rhythmisch reizvolle Marche pour les und das pompöse Deuxième Air des Matelots. Aus Ariane et Bacchus gibt es sogar vier Ausschnitte – die wehmütige Arie der Titelheldin, „Croirai-je“, die sehr delikat musizierte Symphonie du sommeil, das Air pour les flutes und das Rondeau. In diesen Instrumentalstücken imponiert das Orchester mit farbigem, akzentuiertem Spiel.

Auch von André Campra finden sich in der Programmfolge mehrere Titel. Aus seinem Idoménée  von 1712 bzw. der Version von 1732 gibt es die feierliche Chaconne, die Arie der Illione „Espoir des malheureux“ und die Arie der Vénus „Coulez, ruisseaux“. Auch die Arie der Zaide, „Mes yeux“, aus L’Europe galante von 1697 steht in ihrem Lamento-Charakter ganz in der Tradition der tragédie-lyrique. Vier Szenen aus Téléphe (1713) bringen die Sarabande und drei Arien von La Pythonisse, von denen besonders die letzte, „Quelle épaisse vapeur“, durch ihren majestätischen Charakter heraus ragt.

Natürlich darf in einer solchen Anthologie Jean-Baptiste Lully nicht fehlen. Es finden sich die Arie der Galatée, „Enfin, j’ai dissipé la crainte“, aus Acis et Galatée (1686), welche von Watson zunächst gefühlvoll, später sehr engagiert vorgetragen wird, die wehklagende Arie von Une Femme affligée, „Deh, pangete al pianto mio“, aus Psyché und die tänzerisch beschwingte Marche pour la cérémonie des Turcs aus Le Bourgeois gentilhomme.

Zu erwähnen sind noch Titel von weiteren unbekannten Komponisten – eine furiose und eine klagende Arie der Titelheldin aus Circé von Henri Desmarest sowie zwei Szenen aus Werken von Jean-Baptiste Stuck. Aus dessen Thétis et Pélée erklingt in pompöser Feierlichkeit und Koloraturjubel das Air ajouté „Non sempre guerriero“, aus Polydore die Arie der Ilione „C’en donc fait“, welche noch einmal den Sopran in seiner technischen Kompetenz und sensiblen Gestaltungsintensität zeigt. Benrd Hoppe

 

Nicht weniger originell ist das Recital mit der Sopranistin Sophie Karthäuser und dem Ensemble Le Concert de la Loge unter Julien Chauvin (AP 210). Es wurde im Oktober 2018 im Pariser Louvre bzw. im März 2019 im Conservatoire Jean-Baptiste Lully in Puteaux aufgenommen und trägt den Titel „Haydn – L’Impatiente“. Auch hier finden sich unbekannte Komponisten, wie die dreisätzige, dramatisch pulsierende Symphonie en ré mineur, op. 10 no 1 von Louis-Charles Ragué, welche die Anthologie beendet, oder die Arie der Titelheldin, „Il va venir“, aus Jean-Baptiste  Lemyones Phèdre. Dagegen nimmt sich der Auftakt der Programmfolge geradezu populär aus. Es ist Haydns Symphonie no 87 en la majeur, deren Untertitel „L’Impatiente“ der Sammlung den Titel gab. Das Orchester verleiht dem 1. Satz, Vivace, federnden Schwung, breitet das folgende Adagio mit starker Empfindung aus, setzt im Menuet – Trio übermütige Akzente und beschließt  die Komposition mit heiterem Elan. Auch die Arie der Eurydice, „Fortune ennemie“, aus Glucks Orphée et Eurydice ist ein sattsam bekannter Titel. Die Anthologie wird vervollständigt von weiteren Raritäten – der Arie der Titelheldin „C’ est votre bonté“ aus Antonio Sacchinis Chimène ou Le Cid, der Arie der Dircée „Age d’or“  aus Johann Christoph Vogels  Démophon und der Arie der Éliane „O sort“ aus André-Ernest-Modeste Grétrys Les Mariages samnites. Sophie Karthäuser lässt in den Gesangsnummern einen reizvoll timbrierten Sopran hören, der in den lyrischen Szenen mit reicher Empfindung berührt und in den dramatischen mit flammender Intensität imponiert. Bernd Hoppe

 

Ein originelles Konzept erdachte der katalanische Countertenor Xavier Sabata für sein im Januar 2018 aufgenommenes Recital bei APARTÉ (192). Unter dem Titel L’Alessandro amante stellt er elf Arien aus zehn Barockopern von acht verschiedenen Komponisten vor, die sich sämtlich mit der Person Alexander des Großen oder einer aus dessen Umfeld beschäftigen. In der Geschichte der Oper ist Alexander eine der am meisten in Musik gesetzten Figuren – Metastasios Libretto Alessandro nell’Indie von 1726 wurde über 65mal vertont. Die Spanne des Programms reicht chronologisch von Antonio Draghis La Vittoria della fortezza (Uraufführung 1687 in Wien) bis zu Leonardo Leos Alessandro in Persia (1741, London) und bietet die Möglichkeit, den vielschichtigen Charakter des berühmten Feldherren zu beleuchten – den Kämpfer und Liebhaber. Darunter finden sich viele Raritäten, so die beiden Titel von Giovanni Battista Bononcini, welche die Anthologie eröffnen – das straffe Preludio aus seinem Abdolomino (1711, Neapel) und die Arie von Alessandros treuem Begleiter Efestione „Da tuoi lumi“ aus L’Euleo festeggiante nel ritorno d’Alessandro Magno dall’Indie (1699, Wien). Später folgt aus dieser Serenade noch eine klagende Arie des Alessando, „Chiare faci“. Sabata nimmt vom ersten Ton an mit seiner weichen, sinnlichen Stimme für sich ein, die sanft und wohltönend erklingt, in den Koloraturläufen mit gebotener Virtuosität aufwartet. In zwei Arien der Titelhelden aus Opern Händels, welche die einzig bekannten der Sammlung markieren, kann der Counter besonders imponieren. Aus Poro, re dell’Indie (1731, London) singt er das getragene, emotionsstarke „Se possono tanto“, welches er im Da capo phantasievoll variiert, aus Alessandro (1726, London) „Vano amore“, wo er energisch auftrumpft und mit einem rasanten  Koloraturfeuerwerk brilliert.

Giovanni Battista Pescettis Vertonung von Metastasios Libretto wurde 1732 in Venedig uraufgeführt. Der Komponist war später der Lehrer von Josef Myslivecek und Antonio Salieri. Sabata stellt Alessandros Arie „Serbati a grandi  imprese“ vor, die in ihrem wiegenden  siciliano-Rhythmus die Schönheit und Sanftmut seiner Stimme besonders herausstellt. Aus dem frühesten Werk der Zusammenstellung, Draghis Einleitung zum Ballett La Vittoria della fortezza, erklingen zwei kurze Arietten Alessandros im Canzonetta-Charakter. Den neapolitanischen Stil vertritt Francesco Mancini mit Alessandro il Grande in Sidone, uraufgeführt 1706 in Neapel. Daraus ist die Arie des Eumene, „Spirti fieri“, zu hören, in welcher der Counter mit heroischer Verve aufwartet und einmal die Agilität seiner Stimme demonstriert. Auch Leonardo Vincis Version (1730, Rom) repräsentiert diesen Stil. Alessandros Arie „Serbati a grandi  imprese“ war vorher bereits in Pescettis Vertonung zu hören, hier klingt sie eher beschwingt, doch lässt sie mit ihren getupften staccati Sabatas Stimme gleichfalls zu schöner Wirkung kommen.

Leonardo Leo führt zum galanten Stil. Seine Oper nennt sich Alessandro in Persia (1741, London). Die Arie der Titelfigur, „Dirti, ben mio“, ist eine zärtliche Liebeserklärung, die Sabata mit schmeichelnden Tönen formuliert. Mit Nicola Porporas Poro (1731, Turin) endet das Recital höchst spektakulär, denn der Komponist widmete sie der Kastraten-Legende Farinelli. Poros Arie „Destrier ch’all’armi usato“ porträtiert den Feldherren Alexander mit Koloraturbravour und schmetterndem Klang der Trompeten und Hörner, die im Wettstreit mit dem Sänger auch mal in Bedrängnis geraten.

Sabata unterstreicht mit dieser CD eindrucksvoll seine prominente Position unter den derzeit führenden Vertretern seiner Gattung.

Das den Sänger begleitende Ensemble Vespres d’Arnadí unter Leitung von Dani Espasa kann sich schon im Eröffnungsstück imponierend profilieren, wie auch in den später folgenden Instrumentalnummern – der gewichtigen Sinfonia aus Agostino Steffanis Il Zelo di Leonato (1691, Hannover) und der tänzerischen aus Francesco Mancinis Alessandro il Grande in Sidone (1706, Neapel). In den Klangteppich des Orchesters ist die Stimme Sabatas harmonisch eingebettet, wirkt aber dennoch stets präsent. Bernd Hoppe

Les beaux moments

 

Im September 2018 hatte Glucks Orphée et Eurydice in der von Hector Berlioz bearbeiteten Fassung an der Pariser Opéra Comique begeistert gefeierte Premiere (an der man auf Arte teilhaben konnte). Ein Mitschnitte von zwei Vorstellungen ist jetzt bei Naxos als DVD erschienen, ein wahrer Glücksgriff! Bei dieser Aufnahme stimmt einfach alles, die Gestaltung auf der Bühne, Chor und Orchester des fabelhaften Ensembles Pygmalion sowie drei glänzende Gesangssolisten. Aber schön der Reihe nach: Als erstes möchte ich die Darstellerin des Orphée nennen, die junge, auf dem Weg zur Weltkarriere befindliche Marianne Crebassa. Ihre durch alle Lagen wunderbar ausgeglichene Stimme verfügt über eine faszinierende Vielfalt von Farben, die die französische Mezzosopranistin in allen Passagen gekonnt zur Entfaltung bringt, ob in den lyrisch verhaltenen Trauerphasen, bei den sehnsüchtigen Rufen nach der Geliebten oder in den dramatischen Ausbrüchen. Dazu kommt eine Gestaltung des verzweifelten Orphée, die von Beginn an anrührt. Mit kultiviert geführtem, charaktervollem Sopran gefällt Hélène Guilmette als Eurydice ebenso wie der flexible Mezzo von Lea Desandre in der kleinen Partie des Amour, hier als Frau dargestellt. Auch die szenische Verwirklichung überzeugt rundum; der Regisseur Aurélien Bory lässt auf der von ihm gemeinsam mit Pierre Dequivre gestalteten Bühne das mythologische Geschehen ohne jedes Mobiliar und ohne konkrete Ortsbestimmung ablaufen. Durch raffinierte Spiegelungen und immer wieder überraschende Lichteffekte (Arno Veyrat) entsteht eine diffuse Atmosphäre, die die Welt zwischen Diesseits und Totenreich charakterisiert. Eine wichtige Rolle spielen die Choristen sowie sechs Tänzerinnen und Tänzer, die die Gefühle der Protagonisten mitempfinden oder ihnen beim Eintritt in die Unterwelt entgegenstehen. Dabei ist der sehr homogene, exzellent ausgewogene Klang des Chores des Lausanner Ensembles Pygmalion auffällig, ganz gleich, ob die Choristen im Liegen oder sich teilweise sehr lebendig bewegend singen müssen. Dies ist auch dem Gründer des Ensembles Raphael Pichon zu verdanken, der souverän mit durchweg angemessenen Tempi für ein stets ansprechendes Musizieren des wie aus einem Guss spielenden Orchesters sorgt. Diese DVD kann man sich gut mehrmals ansehen (NAXOS 2.1106.38). Gerhard Eckels

Gute-Laune-Platte

 

Nach„Du bist die Welt für mich“ mit Berliner Liedern der 1920er und 30er Jahre und „Dolce Vita“ mit italienischen Canzonen begibt sich Jonas Kaufmann mit seiner neuen CD „Wien“ erneut auf abseitiges Terrain (Sony 19075950402). Doch mit seiner Reverenz an die österreichische Metropole reiht er sich ein in die illustre Schar von berühmten Vertretern seiner Stimmgattung, die neben ihren Auftritten auf der Opernbühne sich immer wieder dem Genre der leichteren Unterhaltung widmeten. Dass dieses durchaus hohe Ansprüche an die stimmlichen und technischen Fähigkeiten des Interpreten stellt, beweisen die Operetten von Johann Strauß II, Franz Lehár und Emmerich Kálmán. Von letzterem Komponisten offeriert Die Zirkusprinzessin gar die Operettenversion von Leoncavallos Pagliacci mit der Figur des Mister X, der mit seinem Monolog  „Wieder hinaus ins strahlende Licht“ an Canios „Recitar“ erinnert. Kaufmann überzeugt mit diesem Titel besonders, gestaltet ihn mit imponierender Steigerung und existentiellem Ausdruck.

Von Lehár findet sich ein Ausschnitt aus der Lustigen Witwe – das Duett Hanna/Danilo „Lippen schweigen“, in welchem die amerikanische Sopranistin Rachel Willis-Sørensen die Partnerin des Tenors ist. Sie war in der konzertanten Fledermaus in der Semperoper zu Silvester, wo er erstmals (und durchaus mit zwiespältigem Ergebnis) den Einsenstein sang, seine Rosalinde. Im cremigen Ton und sinnlichen Timbre ihres hohen Soprans erinnert sie an Renée Fleming.

Allein sechs Nummern sind dem Schaffen von Johann Strauß II gewidmet. Die erste ist das Duett Graf/Gräfin„Wiener Blut“ aus der gleichnamigen Operette mit Kaufmann und Willis-Sørensen, die zu perfekter Balance von Schmelz und Schmalz finden. Mit dem koketten Uhrenduett Eisenstein/Rosalinde aus der Fledermaus erinnern sie an ihren gemeinsamen Dresdner Auftritt. Mit drei Arien aus Eine Nacht in Venedig kann der Solist besonders brillieren – die Partien des Caramello und Herzogs fanden sich im Repertoire aller gefeierten Tenöre von Tauber und Schmidt bis Schock und Gedda. Bei „Sei mir gegrüßt“ und „Komm in die Gondel“, wo er jeweils mit Spitzentönen auftrumpft, hört man bei Jonas Kaufmann am ehesten den Opernsänger heraus. Zu den weniger bekannten Werken von Strauss II zählt Die Tänzerin Fanny Elssler, doch hat sich das Lied „Draußen in Sievering“ längst einen Platz in der Hit-Liste der Operette erobert. Kaufmann singt es bezaubernd mit Charme und Nostalgie.

Neben den Beiträgen aus der klassischen Wiener Operette mit üppiger  Orchestrierung, wo sich die Wiener Philharmoniker unter Ádám Fischer schwelgerisch ausbreiten, hat Kaufmann auch eine Reihe von Wienerliedern ausgewählt, die zum Teil in kleiner Besetzung wie mit einem Salonorchester erklingen. Da gibt es zwei Kompositionen von Robert Stolz – „Wien wird bei Nacht erst schön“ (dem stimmungsvollen Auftakt des Programms) und „Im Prater blühn wieder die Bäume“  – sowie zwei Ausschnitte aus dem Film „Heut ist der schönste Tag in meinem Leben“ von 1935 mit der Musik von Hans May, die Joseph Schmidt so unvergleichlich interpretierte. Neben dem auftrumpfenden Titelsong ist „Es wird im Leben dir mehr genommen als gegeben“ eher von resignierter Wirkung. Hatte Kaufmann bei der Berliner Platte seinem Gesang einen Kabarett-Ton beigemischt und damit den Vergleich mit Richard Tauber von vornherein vermieden, finden sich in der Interpretation der Wiener Titel Parallelen zu Michael Heltau.

Auch Rudolf Sieczynskis „Wien, du Stadt meiner Träume“, Ralph Benatzkys „Ich muss wieder einmal in Grinzing sein“ und Peter Kreuders „Sag beim Abschied leise Servus“ sind längst Klassiker der Sparte. Eine Rarität ist das Lied „Du wärst für mich die Frau gewesen“ aus Jaromir Weinbergers Frühlingsstürme, das mit wehmütigen Kopftönen schmerzliche Erinnerungen heraufbeschwört. Der Abschluss des Programms mit Georg Kreislers hintergründigem„Der Tod, das muss ein Wiener sein“ wirkt wie ein Bonus, den hier begleitet Michael Rot den Solisten am Flügel. Der Titel fällt auch in seiner Stimmung aus dem Gesamtkonzept der Platte heraus, die aber dennoch gute Laune garantiert. Berd Hoppe

Franco Zeffirelli

Er galt vielen als Synonym für den Opernregisseur schlechthin. Zumindest in Sachen der traditionellen, naturalistischen Inszenierung suchte Franco Zeffirelli in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinesgleichen. Dabei war der am 12. Februar 1923 in Florenz geborene Künstler weit mehr als bloßer Opernregisseur. Einer breiten Öffentlichkeit dürfte er gerade auch durch seine Filme in Erinnerung bleiben, welche ein ähnlicher Monumentalstil auszeichnet wie seine sonstigen Inszenierungen. Hier muss sicherlich als erstes die schlichtweg geniale Filmadaption von Shakespeares Romeo und Julia von 1968 genannt werden, die ihm eine Oscar-Nominierung für die beste Regie sowie den David di Donatello und den Nastro d’Argento als bestem Regisseur einbrachte. Die Besetzung mit den seinerzeit noch völlig unbekannten und blutjungen Schauspielern Olivia Hussey und Leonard Whiting erwies sich als goldrichtig. Bereits ein Jahr zuvor hatte er mit Der Widerspenstigen Zähmung einen Klassiker verfilmt, in welchem die Hassliebe zwischen Elizabeth Taylor und Richard Burton kongenial im Mittelpunkt stand. Ein Kind seiner Zeit im Zuge der Hippie-Bewegung dann 1973 der Film Bruder Sonne, Schwester Mond über den heiligen Franziskus von Assisi. Den Grundstein für diese und weitere Erfolge legte freilich trotzdem die Opernregie. Nach einem Studium der Kunst und Architektur in seiner Heimatstadt Florenz kam er in den Dunstkreis des Regisseurs Luchino Visconti, der ihn stark prägte und zu dem er zeitweilig auch eine Liebesbeziehung unterhielt. Obwohl persönlich konservativ und bekennender Katholik, machte Zeffirelli seit 1996 kein Geheimnis mehr um seine bereits zuvor kolportierte sexuelle Veranlagung. Ihm, der er selbst unter schwierigen Bedingungen aufwuchs (die Mutter starb, als er sechs war, der Vater anerkannte ihn erst im Alter von 16), gelang es, sich ab den 50er Jahren an den berühmten Opernbühnen der Welt einen Namen zu machen. Er inszenierte unter anderem an der Scala von Mailand, an der Wiener Staatsoper, an der New Yorker Met, an der Arena di Verona sowie an der Comédie-Française. Seine opulenten Produktionen, vielerorts noch im Repertoire, wurden rasch zu seinem Markenzeichen, was ihm die Anerkennung eines Großteils des Publikums einbrachte, bei Kritikern aber auch den Ruf des Verstaubten und Ewiggestrigen. Spätestens mit seinem politischen Engagement für die rechtsgerichtete Forza Italia Silvio Berlusconis, für die er zwischen 1994 und 2001 im italienischen Senat saß, verstimmte er auch manchen Anhänger. Die Widersprüchlichkeit machte Zeffirelli in der Tat aus. So hatte er trotz seines Bekenntnisses zur eigenen Homosexualität kein Problem mit der Sexualmoral der katholischen Kirche. Vielfach ausgezeichnet, erhielt er schon 1977 den Verdienstorden der Italienischen Republik und wurde 2004 als Knight Commander of the Order of the British Empire ehrenhalber zum Ritter Ihrer Majestät geschlagen. Umtriebig bis zuletzt, inszenierte er noch bis zum letzten Atemzug, so für geplanten Produktionen in Verona (Sommer 2019) und gar am Königlichen Opernhaus im Oman (Anfang 2020). Franco Zeffirelli starb hochbetagt, im 97. Lebensjahr stehend, am 15. Juni 2019 in Rom. Er hinterlässt zwei adoptierte erwachsene Söhne (Foto Wikipedia). Daniel Hauser

Noch zu retten?

 

Die Umrandung des Covers mit einem kräftigen Grün, der Farbe der Hoffnung, widerspricht dem skeptischen Fragezeichen, das nach dem Titel Musiknation Deutschland steht, gefolgt von dem tatkräftigen „Ein Plädoyer für die Zukunft unserer Orchester“. Arnold Werner Jensen, geborener Österreicher, aber vor allem in Deutschland als Musikpädagoge und Musikwissenschaftler tätig, macht sich Sorgen um den Erhalt der reichen musikalischen Landschaft, die Deutschland mit seinen 129 „Kulturorchestern“, einmalig in der Welt,  immer noch darstellt.  1992 waren es immerhin 168, meistens führten Fusionen zur Verringerung der Anzahl.

Das Buch erläutert dem Leser, wie es zu der großen Anzahl von Orchestern und auch Opernhäusern kam, einer der wenigen Vorteile, den die deutsche Kleinstaaterei bot, denn jeder noch so unbedeutende Fürst wollte sich eine Kapelle leisten, ähnlich selbstbewusst, dazu aber auch kulturbeflissen war in späteren Zeiten das Bürgertum, so dass in Städten wie Hamburg oder Frankfurt von ihm getragene Institutionen entstanden. Da dürften höhere Ausgaben entstanden sein als die 0,2 % des Gesamtetats, den die Bundesrepublik nach Jensen für Kultur ausgibt. Was Länder und Kommunen beitragen, darf allerdings nicht unterschlagen werden, und am Schluss des Buches führt der Autor auch ein Gespräch mit einem Mäzen, Reinhold Würtz, der nicht nur einen Chor und eine Band, sondern auch ein Orchester finanziert, das sich sogar Anna Netrebko und Gatte als Begleiter bei ihrem gemeinsamen Konzert wünschten.

Im Mäzenatentum sieht Jensen allerdings nur eine weniger bedeutende Säule, auf der das musikalische Leben in Deutschland ruhen kann. Er nimmt den Staat in die Pflicht, der immerhin jeden Abend für jeden Sitz 257 Euro in der Berliner Staatsoper aufbringt, sieht ihn aber insofern als Gefahr für die Kulturlandschaft Deutschland an, als junge Musiker und junges Publikum nicht genügend stark durch einen regelmäßigen und dazu guten Musikunterricht vom Kindergarten bis zur Hochschulreife mit klassischer Musik in Kontakt gebracht werden. Da er selbst als Gymnasiallehrer gearbeitet hat, weiß er um den Unmut von Schülern, wenn sie sich mit einer Oper oder Sinfonie beschäftigen sollen, und schlägt deshalb einige Tricks vor, die helfen sollen, junge Menschen an klassische Musik heranzuführen. Daniel Barenboim sollte seiner Meinung nach ein Vorbild mit seinem Musikkindergarten sein.

Der Autor setzt sich ausführlich mit den Problemen auseinander, die bei der Wiedervereinigung Berlins durch die Vielzahl von Orchestern, die alle ihr Stammpublikum hatten, entstanden. Er zeichnet die Geschichte einiger Berliner Orchester, so des heutigen DSO,  nach, berichtet über das Orchesterranking, meint aber zugleich, es gäbe keine „Provinz“ im schlechten Sinne mehr, wenn sich Coburg Wagner-Opern und das Brandenburgische Staatsorchester Aufnahmen von Brahms-Sinfonien zutrauen.

Ein umfangreiches Kapitel beschäftigt sich mit den Orchestern zwischen Profilbildung und Globalisierung, die vor der klassischen Musik nicht Halt mache. Mit Christian Thielemann, der in einem umfangreichen Interview befragt wird, ist er der Meinung, dass nur noch die Dresdner Staatskapelle und die Wiener Philharmoniker, diese wegen ihrer Instrumente, ein unverkennbares Profil haben. Von Petrenko erhofft er sich, dass der den Berlinern dazu verhilft, wieder unverwechselbarer zu werden, verschweigt allerdings auch nicht, dass Qualitätssteigerung durch Verpflichtung der weltbesten Musiker die andere Seite der Medaille ist.

Das vielseitige Buch entwirft auch Berufsbilder, schildert Ausbildungsgänge, befasst sich mit der Rolle der Frauen als Orchestermitglieder, aber auch als Dirigentinnen, befragt Musiker darüber, ob viele Ausländer in einem Orchester fremde Elemente darstellten, ein anderes Musizieren bewirkten. Ein weiteres Kapitel ist den Spielstätten gewidmet, der Erörterung der Vorzüge und Nachteile von Weinberg- oder Schuhschachtel-Sälen.

Der zweite Teil des Buches befasst sich mit den deutschen Orchestern, d.h. der Bedeutung der DOV, der Frage, ob Unkündbarkeit gleich Qualitätsverlust sei, der Problematik von zwei Orchestern an einem Ort ( z.B. Dresden oder Wien) und der Orchestertypologie. Interessant zu erfahren ist, dass die Bamberger Symphoniker von böhmischen Musikern gegründet wurden, die Philharmonia Hungarica, inzwischen aufgelöst,  von 1956 geflüchteten Ungarn.

Aufschlussreich ist das Interview mit Christian Thielemann, der über die Funktion des Musikdirektors in Bayreuth spricht, übe  die besondere Akustik des Festspielhauses,  die Zusammensetzung des Orchesters, die Bedrohung der kleinen Theater durch die Möglichkeit für den Opernfreund, auch in der Provinz auf dem Fernsehschirm Anna Netrebko erleben zu können.  Der Dirigent strahlt Gelassenheit aus, wenn er meint, auch griechische, ägyptische und andere Kulturen seien einst untergegangen, und er lässt sich nicht aufs Glatteis führen, wenn er pauschal auf die Frage nach eventueller Veränderung des Orchesterklangs durch Frauen meint, sie seien das starke Geschlecht. Wertvoll ist sicherlich sein Ratschlag, jeder Dirigent soll an einem kleineren Theater die Lustige Witwe dirigieren und sich erst danach an die Meistersinger wagen.

Das Buch bietet eine Fülle von Informationen, wiederholt sich manchmal, gibt aber viele Anregungen und überzeugt durch Sachkenntnis und Engagement (210 Seiten, 2019 Henschel Verlag, ISBN 978 3 89487 809 2/ Abbildung oben Munari: Stillleben mit Instrumenten, galleria Palatina, Wikipedia). Ingrid Wanja   

 

Rolando Panerai

 

Seine Ausbildung absolvierte Rolando Panerai, am 17. Oktober 1924 in Campi Bisenzio bei Florenz geboren, am Konservatorium der toskanischen Hauptstadt bei Vito Frazzi, später auch in Mailand bei Giacomo Armani und Giulia Tess. Sein Debüt erfolgte 1946 als Lord Ashton in Donizettis Lucia di Lammermoor. Von da an ging es steil bergauf. Er sang an den großen Bühnen der Welt, so an der Scala von Mailand, am Royal Opera House, Covent Garden, an der Met in New York, an der Wiener Staatsoper, am Liceu von Barcelona, an der Pariser Oper sowie bei den Festspielen von Salzburg, Edinburgh und Aix-en-Provence.

Sein Repertoire umfasste zuletzt mehr als 150 Opern, darunter besonders Verdi und Puccini. In komischen Rollen feierte er seine größten Erfolge, so als Ford in Verdis Falstaff, in beiden Figaro-Partien von Mozart und Rossini, ferner als Leporello, Guglielmo und Alfonso bei Mozart, als Belcore und Dulcamara in L’elisir d’amore von Donizetti sowie in der Titelrolle von dessen Don Pasquale. Den Gianni Schichi sang er noch 2011 im Alter von 87 Jahren. Aber auch neueren Opern gegenüber war Panerai aufgeschlossen, so etwa Hindemiths Mathis der Maler und Der feurige Engel von Prokofjew. Zu seinen Gesangspartnern zählten solche Größen wie Maria Callas, Renata Scotto, Beverly Sills, Giuseppe di Stefano, Carlo Bergonzi und Nicolai Gedda. Seine womöglich berühmtesten Einspielungen machte er unter Herbert von Karajan in dessen legendärer Bohème neben Pavarotti und Freni (1973) und später auch im Falstaff  (1980). Das Gros seiner Studioaufnahmen entstand indes bereits in den 1950er und 60er Jahren. Ja sogar Wagner hat er gesungen, wie eine italienischsprachige Aufnahme des Parsifal von 1950 beweist (neben der Callas und Boris Christoff). Selbst im greisenhaften Alter war er noch als Gesangslehrer tätig und versuchte sich daneben auch als Opernregisseur, so zuletzt noch im Vorjahr in Genua mit Gianni Schicchi. 1992 wurde er zum österreichischen Kammersänger ernannt. Am 23. Oktober 2019 ist Rolando Panerai kurz nach seinem 95. Geburtstag im florentinischen Settignano gestorben. Daniel Hauser

 

Üppiger Aufwand ohne Nachhaltigkeit

 

Zwei ganz unterschiedliche Inszenierungen von Henzes Bassariden an einem einzigen Tag kann sich der Berliner Opernfreund zu Gemüte führen, wenn er am Nachmittag die gerade bei Arthaus erschienene Blu-ray Disc aus dem Salzburg von 2018 und am Abend die Produktion der Komischen Oper live genießt. Fast möchte man meinen, es handle sich um zwei unterschiedliche Stücke, so grundverschieden ist die Herangehensweise der Regisseure Barrie Kosky in Berlin und Krzystof Warlikowski in Salzburg, stehen strenge Stilisierung und üppiges sich Austoben mit allem, was Phantasie und Technik  zuwege bringen, einander gegenüber, wobei, das sei schon vorausgeschickt, letzterer zwar zunächst überwältigt, ersterer aber den stärkeren, weil dauerhafteren Eindruck beim Zuschauer hinterlässt. Dabei spielt es keine Rolle, dass die Besetzung in drei Hauptpartien identisch ist.

Die Bühne der Felsenreitschule bietet Bühnenbildnerin Malgorzata Szczesniak die Möglichkeit, mit Hilfe der wechselnden Beleuchtung (Felice Ross) von einem Handlungsort zum nächsten überzublenden, der erste ist das Schlafzimmer der Agave, aus dessen Schrank heraus der verklemmt wirkende Sohn Pentheus die in ein Korsett der Marke „Triumph krönt die Figur“ gezwängte Mutter  heimlich beobachtet. Dies geschieht zur Musik des Prologs, den man hier ebenso wie das Intermezzo beibehalten hat.  Im Königssaal liegt die ja eigentlich zu Asche zerfallene Semele in einem Schneewittchensarg, aus dem sie am Schluss, ehe er die Burg von Theben mit einem sehr unzuverlässigen Feuerzeug in Brand steckt, ihr Sohn Dionysus befreit. Das einzige Requisit aus antiker Zeit sind Helm und Schwert des Pentheus, ansonsten herrschen moderne Zeiten in der Welt der Kostüme, geht es orgiastisch zu, dann herrscht Schiesser-Feinripp vor, wenn man nicht wie Solotänzerin und Choreographin Rosalba Torres Guerrero nach Ablegen eines übersparsamen Glitzerbikinis ganz nackt die Aufmerksamkeit auf sich zieht, sich in bewunderungswürdiger Weise tänzerich-akrobatisch verausgabt, aber doch zu sehr von Dionysus bzw. Pentheus ablenkt und im Zuschauer die Besorgnis aufkommen lässt, sie könne sich mit dem irren Kopfschütteln eine Gehirnerschütterung zuziehen. Insgesamt ist auch diese Orgie auf der Bühne wie die meisten nicht ohne eher komische als erotisch aufwühlende Elemente, so das übermäßig häufige auf den Popo Klopfen im Intermezzo, in dem die Königstöchter hechelnde Hundesklaven an der Leine führen. Sehr schön sind die Kostüme der Mänaden im letzten Teil, für die ebenfalls Malgorzata Szczesniak verantwortlich ist.

Sean Panikkar sieht nicht nur exotisch aus, sondern verleiht dem Dionysus auch eine süß sich einschmeichelnde Tenorstimme. Schneidend eindringlich klingt sein langgezogenes „No“. Eher viril-gestanden, nicht jünglingshaft, aber er ist ja auch ein Bariton, hört sich der Pentheus von Russell Braun an. Nicht nach steht ihm an baritonaler Autorität Karoly Szemeredy als Hauptmann. Mit kraftvollem Tenor singt Nikolai Schukoff den Tiresias, eindrucksvoll in der Urteilsverkündigung als Calliope, während Willard White als Cadmus nur optisch hinfällig im Rollstuhl, vokal aber potent sowohl im ergreifenden „Fall night“ wie in der Anrufung des Todes ist. Eine noch recht junge, elegante Amme gibt Maria Dur mit eindringlicher Bitte und schöner Klage, weich, rund und farbig ist der Mezzo von Tanja Ariane Baumgartner als Agave, während Vera-Lotte Böcker unangefochten in die höchsten Sopranhöhen steigt. Pure, rauschhafte Prachtentfaltung gibt es durch die Wiener unter Kent Nagano, der Wiener Staatsopernchor steht dem Orchester in nichts nach (Arthaus 109413). Ingrid Wanja 

 

Tee bei Wagners

 

Was ein rechter Wagnerianer ist, der findet sich in dieser Inszenierung sofort zurecht, kennt er sich doch im Gartensaal von Wahnfried so gut wie im eigenen Wohnzimmer aus. Auf diesem Wiedererkennungseffekt baut die aktuelle Bayreuther Inszenierung der Meistersinger (von 2017), in der Barrie Kosky zum Tee bei den Wagners lädt. Während der Meister noch die Hunde im Hofgarten ausführt, haben sich schon einige Freunde eingefunden, darunter Liszt und Levi. Es gibt unendlich viel zu sehen. Hier macht die DVD Sinn. Wie Wagner eine Batterie an Parfums auspackt und die Freunde einnebelt, diese mit ihren Teetassen klappern, Cosima bei seinem Getöse am Klavier die Fingerspitzen an die Schläfen hält und nach ihrer Medizin verlangt und die Miniaturwagners nacheinander dem Flügel entsteigen, das alles ergibt eine putzige Familienszene wie von einem Genremaler des 19. Jahrhunderts entworfen und wird von der Kamera dicht eingefangen, manchmal aus einem merkwürdigen Blickwinkel von schräg oben. Kosky macht aus diesem ersten Akt eine köstliche Gesellschafts-, Familien- und Sittenkomödie, bei der die Versammlung andächtig dem Choral aus der Nürnberger Katharinenkirche lauscht, Cosima, Richard und Liszt kniend, Levi erst nach heftigem Drängen Wagners ebenfalls auf die Knie sinkt, bis endlich eine der im Hause Wagner so beliebten Scharaden anfängt und der junge Wagner alias Walther von Stolzing Cosima, die sich für die Eva ein Tuch umwirft, den Hof macht. So geht es ständig hin und her zwischen Wagners Haushalt und seiner Schöpfung, von Kosky klug und gewitzt in geschäftige, teils intime und teils polternde Bilder gefasst, dass man mehr hinschaut als hinhört. Dabei sorgt Philippe Jordan für einen federleichten, quecksilbriges Parlandoton, als werfen sich Bühne und Graben ständig die Bälle zu. Im Lauf des kurzweilig langen Abends fehlen der Blick aufs Ganze, die erfüllte Ruhe für die kontemplativen Momente und das rechte Gewicht für die Festwiese.

Die bei ihrer Reprise im zweiten Festspieljahr eingehend auf operalounge.de beschriebene Aufführung ist auch auf  der DVD (DG 2 DVD 004400735450) aus dem Premierenjahr 2017 ein großes Vergnügen. Das liegt auch an Kosky, der nicht einfach ein Famiilienalbum aufschlägt oder einen Tag im Jahr 1875 nachbildet, bei dem die berühmten Porträts Richards und Cosimas präsentiert werden, sondern von Wahnfried und dem mittelalterlichen Nürnberg aus Wagners Phantasie in seinem inszenierten Exkurs über „Das Judentum in der Musik“ weiterschreitet ins 20. Jahrhundert mit den „Stürmer“-Fratzen im zweiten Akt und schließlich dem Saal der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse am Ende (Bühne Rebecca Ringst). Alles ist handwerklich souverän, geradezu operettenartig leicht und kühn umgesetzt. Die Aufführung, die Geschichte schreiben wird, erlebt man mit diesen DVDs nochmals mit Gewinn. Michael Volles farbenreich gestalteter, weiser, aber auch selbstgefälliger Sachs und der seraphimkeusche Stolzing Klaus Florian Vogts sind bereits klassische Interpretationen. Beckmesser war, allen Besetzungshöhen und -tiefen zum Trotz im Bayreuth stets gut besetzt. Der eminente Singdarsteller Johannes Martin Kränzle reiht sich nach Prey, Andreas Schmidt, Volle, Eröd würdig in die Beckmesser-Statistik ein, singt mit präziser Diktion und spielt alle Facetten dieser Figur aus. Günther Groissböck ist ein praller Pogner. Neu war Daniel Behle, der sich nicht lange mit dem Lehrbuben David aufhalten wird. Anne Schwanewilms war verständlicherweise nur im ersten Jahr der Inszenierung dabei, die Besetzung der Eva bereitet Schwierigkeiten.     Rolf Fath

Gemeinsame Mission

 

Normalerweise berichten wir in operalolunge.de – wie es unser Name ja vorgibt – über Stimmen und Opern und Chorwerke, gelegentlich über Lieder und Liedsänger. Ungewöhnlich ist deshalb – für uns – ein Interview mit einem Liedbegleiter, in diesem Fall der Pianist Daniel Beskow, der mit „seinem“ Sänger Johannes Held eine enge künstlerische Symbiose eingegangen ist. Stefan Pieper hat ihn anlässlich der neuen Winterreise bei Ars (Franz Schubert: Winterreise; Johannes Held: Bariton ; Daniel Beskow: Klavier ; ARS Produktion 2019) zu einem Gespräch getroffen: In Johannes Held fand Daniel Beskow seinen idealen Weggefährten für eine spannende Reise (die in operalounge.de besprochen wurde). G. H.

 

Daniel Beskow (r) und Johannes Held: „Die Winterreise“ bei Ars/ (c) Andrej Grilc/Ars

Es war im Fall von Johannes Held und Daniel Beskow eben nicht so, dass ein Sänger sich einen Pianisten als „Begleiter“ sucht. Im vorliegenden Fall waren der Pianist und der Sänger gleichermaßen auf der Suche nach einem Partner, um die für sie großen Werke des Liedgenres anzugehen. Als Beskow in Kopenhagen den Sänger Johannes Held hörte, hatten sich zwei gefunden. Die Zeit war für  einen gemeinsamen Weg richtig. In ihren ambitionierten Lieder-Programmen wollen die beiden seitdem ein kulturelles Erbe weiter geben. Dabei kommen auch unkonventionalle visuelle Darstellungsformen ergänzend zum Einsatz. Davon abgesehen fühlt sich Daniel Beskow gerade in solchen Lied-Besetzungen pianistisch zuhause. Denn auch für einen Pianisten sind nicht die Noten alles. Denn jedes Wort aus dem Liedertext findet im Klavierpart unmittelbare Abbildung.

 Neben Ihrer Karriere als Solist ist Ihre Rolle als Kammermusikpartner und eben auch Duopartner beim Liedgesang zum zentralen Aspekt geworden. Wie kam es dazu? Ich möchte mit meinem Spiel Sängerinnen und Sänger inspirieren und umgekehrt von diesen inspiriert werden. Der Gesang wurde zum Hauptaspekt. Ich habe bis ins Jahr 2012 meist solo und mit Orchester gespielt, ebenso im Trio mit Cellisten, Violinisten und dann immer mehr in Gesangsbesetzungen. Die Arbeit mit Gesang erweitert meinen Horizont ungemein. Immer mehr komme ich dabei zur Erkenntnis, dass das Piano genauso viel vom Text transportiert wie der Gesang. Alles, was ich im Piano spiele ist im Text enthalten, sämtliche Symbole kommen hier vor. Genau das fasziniert mich sehr.

 

Im Booklet zur CD-Ausgabe bei Ars schreibt Johannes Held, dass sie beide unabhängig voneinander schon lange mit Schuberts Winterreise befasst waren. Was war Ihr persönlicher Zugang?  Ich habe die Winterreise durch meinen Großvater kennen gelernt. Der hat diese Lieder zuhause gesungen und ich war sehr beeindruckt davon. Als ich Teenager war, haben wir den Text zusammen studiert. Ich habe die ganze Bedeutung erfasst und war infiziert. Es sind auch persönliche Erlebnisse aus der Vergangenheit mit eingeflossen, da haben Johannes und ich durchaus mal ähnliche Erfahrungen mit gebrochenen Herzen gehabt. Aber das ist lange her und rangiert unter Jugenderlebnissen. Heute leben wir beide in glücklichen Beziehungen. (lacht)

Als ich viel später dann meine Karriere vorantrieb und dafür auch in Kopenhagen studierte, aber damals hauptsächlich Solistenkonzerte gab, habe ich Johannes in der Opernakademie Kopenhagen getroffen. Wir tauschten uns aus und erkannten, dass Schuberts Winterreise auch für ihn eine tiefe persönliche Bedeutung hatte. Auch er war sehr tief darin involviert. Wir kamen immer mehr ins Gespräch und haben endlos darüber geredet. Letztlich brauchte es aber noch bis ins Jahr 2013, das die Zeit für ein gemeinsames Projekt reif war. Es kam aber erst nach unserem Examen zu einer Aufnahme der Winterreise.

 

Ihre Aufführungen markieren ja schon etwas Ungewöhnliches, wenn Sie optische darstellerische Elemente mit einbeziehen. Was war die Idee dahinter? Schon bald hatten wir den Impuls, etwas anderes und Neues aufzubauen. Johannes entwickelte das Konzept einer Bühnenversion, bei der die Musik um Bilder von Jörn Kaspuhl erweitert wird. Er ist ein deutscher Illustrator und arbeitet hauptsächlich für Printmedien. Im Konzert präsentieren wir Bilder, die 2 mal 3 Meter groß sind und als optische Erzählebene die Geschichte bereichern. Regisseur Ebbe Støvring Knudsen half uns bei der Umsetzung und durch ihn konnten wir auch eine erste, nicht-öffentliche Vorstellung in den Räumen der königlich-dänischen Oper in Kopenhagen machen. Mittlerweile haben wir die Winterreise – sowohl szenisch, als auch konzertant circa 60 mal in Skandinavien, Deutschland und Österreich aufgeführt. Unser Anliegen ist es, ein jüngeres, breiteres Publikum ansprechen und mehr Leute in Skandinavien neugierig machen. Die Bilder helfen einmal mehr, in die erzählte Geschichte hineinzuziehen, auch bei Menschen, die des Deutschen vielleicht nicht so mächtig sind.

 

Daniel Beskow (r) und Johannes Held: „Die Winterreise“ bei Ars/ (c) Andrej Grilc/Ars

Welche elementaren psychologischen Inhalte der Winterreise sind für die Menschen in heutiger Zeit von Bedeutung? Je mehr wir uns eingearbeitet haben, desto vieldeutiger erschien uns dieser Stoff. Schuberts Winterreise ist viel universeller, als dass man sie nur auf die Leidensgeschichte eines Verlassenen reduzieren mag. Die geschilderte Einsamkeit könnte auch auf jemand bezogen sein, den die Gesellschaft ausstößt – oder ist es die Empfindungswelt eines Flüchtlings? Es steckt sehr viel drin, was auf die Welt von heute passt. Außerdem sind da diese rätselhaften, mystischen Aspekte: Im letzten Lied taucht dieser merkwürdige Leiermann auf. Keiner weiß, wer diese obskure Gestalt wirklich ist. Die meisten sagen, es ist der Tod, aber das ist keineswegs eindeutig fest geschrieben. Überhaupt passieren viele Dinge nur in der Imagination. Auch das ist psychologisch sehr interessant.

 

Gibt es eine Botschaft, die Sie Ihrem Publikum vermitteln wollen?  Wir suchen nach zeitgemäßen Wegen, den Reichtum dieser Lieder auf lebendige, spannende Weise zu vermitteln. Da ist so viel Inhalt und Ausdruck enthalten, der jeden unmittelbar berührt. Egal ob Die schöne Müllerin oder die Winterreise. Die größten Meisterwerke ihrer Zeit haben für heute noch so viel zu sagen. Leider sind die Wege der Vermittlung im Konzert etwas trocken und steif, einfach zu konservativ.

 

Daniel Beskow (links) und Johannes Held: „Die Winterreise“ bei Ars/ (c) Andrej Grilc/Ars

Das Foto im Booklet von Ihnen beiden drückt sehr viel aus: Sie beide wandern durch eine Winterlandschaft. Ihr Gesichtsausdruck spricht eine tiefe, ernste Verbundenheit. Widerspiegelt Sie Ihr gemeinsames Anliegen? Die Fotos entstanden in Österreich aufgenommen, als wir morgens laufen waren. Ja, es widerspiegelt eine sehr konzentrierte Stimmung in den Tagen der Aufnahme. Wir wollen ehrlich mit dem Text umgehen. Aber auch eine persönliche Freiheit, darin zu leben und alles mit unserem Leben zu füllen. In diesen Liedern ist so viel drin und wir sind auf einer tiefen Ebene damit verbunden. Die gemeinsame Wellenlänge ist hier alles: Wir bewundern uns gegenseitig und hatten von Kleinauf diese tiefe Verbindung. Die Zusammenarbeit kam erst später. Wir haben viel Zeit zusammen verbracht, nicht zuletzt auf unseren Reisen. Wir ergänzen uns, gehen einen gemeinsamen Weg voran. Und es ist wichtig, an so einem Prozess Spaß zu haben. Wir haben uns schon in verschiedenen Zyklen bewährt, einschließlich der Schönen Müllerin, Heine-Lieder von Schubert und Schumann, Beethovens An die ferne Geliebte, und zuletzt Lieder von Finzi nach Texten von William Shakespeare. Die Winterreise steht aber über allem. Sie war unser Debüt und ist immer noch unser zentrales Projekt.

 

Gibt es Reibungen und Differenzen? Wir ticken schon etwas unterschiedlich: Ich bin sehr zielorientiert und habe ein konkretes Bild im Kopf. Johannes ist eher darauf aus, alles sehr offen zu empfinden. Der Weg ist gewissermaßen das Ziel. Gerade aus dieser Spannung erwächst eine produktive Symbiose.

 

Daniel Beskow und Johannes Held: „Die Winterreise“ bei Ars/ (c) Andrej Grilc/Ars

Welche Bedeutung hat Schuberts Winterreise in Skandinavien? Die Winterreise ist auch in Skandinavien ein sehr berühmter Liederzyklus – auch, wenn sie natürlich hier nicht so ganz zentraler Bestandteil der Kultur ist wie in Deutschland und Österreich. In Skandinavien ist auf jeden Fall noch viel Luft nach oben, um diesen Zyklus bekannter zu machen.

 

Was sind Ihre Zukunftspläne? Und wie denken Sie über das heutige Konzertpublikum? Das Durchschnittsalter wächst nach oben. Zugleich gibt es immer mehr junge Musiker wie Sie, die hungrig danach sind, sich auf der Bühne auszudrücken. möchten diese großen Meisterwerke aufführen und noch mehr CDs zusammen aufnehmen. Es ist eine große Freude, zum Teil dieser großen Stücke zu werden und an diesen zu arbeiten und durch diesen Prozess durchzugehen. Wir sind auf einem guten Weg und es gibt noch viel zu tun. Eigentlich sind wir erst am Anfang.

Ich sehe diesen Zwiespalt zwischen alterndem Publikum und jungen Musikern genauso – vor allem wenn man den Kern der Winterreise betrachtet: Diese Musik und die Texte von Wilhelm Müller handeln von einem Menschen in einem jungen Lebensabschnitt. Es geht um tiefe, innerliche Gefühle. Um Romantik. In der Winterreise ist dies alles enthalten. Ich bin zuversichtlich, dass diese Emotionalität wiederkommt. Trotz so vieler Ablenkungen durch Internet, Soziale Medien etc. geht der Hunger danach nicht verloren – uns geht es darum, hier Fenster zu öffnen. Ich sehe also eine Chance für neues Publikum. Dieses zu begeistern, ist ein ganz wichtiger Teil unserer Mission.

 

Ein schöner Mann

 

Auf weißem Grund prangen wie gemeißelt großformatige goldene Buchstaben, der Name Jonas Kaufmanns, dessen Abbild relativ kleinformatig in Schwarz-Weiß-Druck wie verlegen über den Aufwand eines dickleibigen Bildbands zu seinen Ehren die Arme verschränkt und lachend den Blick senkt. Drei Texte gehen den zahlreichen Abbildungen voraus und sind typisch für den Umgang in deutschsprachigen Landen mit dem Starruhm welcher Art auch immer, besonders aber in der Klassik.

Nikolaus Bachler, Intendant in München, wo der Tenor viel singt, rühmt an ihm, dass er die Sehnsucht der Menschen in der heutigen heroenlosen Zeit nach dem wahren Helden stillt, womit er nur bedingt recht hat, denn Kaufmann brillierte gerade auch mit der Darstellung des allzu sensiblen Antihelden wie Werther oder Don Carlo. Er schätzt an ihm das unermüdliche Ringen „um das Wesen seiner Kunst“ und meint, dass dies auch seine Beliebtheit beim Publikum bedinge. Aber würde das Publikum einen 450seitigen Bildband kaufen, wenn der Gefeierte zwar eine ebenso schöne Stimme und künstlerischen Ernst zeige, aber glatzköpfig, dicklich und bebrillt wäre?

Christine Cerletti, die nicht mehr in die Oper geht, weil die moderne Regie sie abschreckt, stieß über die „Wintereise“ und die in ihr eingesetzte Tenorstimme auf das Phänomen Kaufmann und entschloss sich wegen der Stimme, nicht nur Mäzenin, sondern auch Mitarbeiterin am vorliegenden Werk zu werden.

Thomas Voigt, Biograph Kaufmanns, lobt die Wandlungsfähigkeit seines Künstlers, der nie in Routine erstarre.

Nicht einer der Drei erwähnt, dass Jonas Kaufmann ein ungewöhnlich schöner, charmanter, Sexappeal ausstrahlender Mann ist, dass zunächst einmal aus diesem Grund Hunderte von Fotos für den Betrachter sehenswert sind und danach, je nach Betrachter mehr oder weniger, die sich in ihnen demonstrierende Wandlungsfähigkeit. In Italien geht man mit la bellezza unbefangener um, überbetont ihre Bedeutung vielleicht, verschweigt sie aber nicht, wie es hier in allen drei Beiträgen geschieht. Wer sich auf Youtube  „Parla più piano“ aus der Mailänder Scala ansieht, wird verstehen, woraus auch sich der Ruhm des deutschen Tenors nährt, was keine Schande ist und deshalb auch nicht verschwiegen werden sollte.

Die Artikel und Bildunterschriften gibt es in Deutsch und Englisch, Eine Bilderreise oder A Picture Journey lautet der Untertitel und nimmt den Leser, dem allerdings nur ein englisches Inhaltsverzeichnis geboten wird, mit durch einen Band wunderschöner Fotos, mal nach Komponisten geordnet (Mozart, Verdi, Puccini, Verismo, Wagner, französisches Repertoire, deutsches Repertoire), mal nach Situationen (Proben, Aufnahmen, Tourneen), mal nach Gattungen (Lied). Auf den Fotos findet sich bestätigt, was von Thomas Voigt behauptet wurde: die enorme Wandlungs- und Ausdrucksfähigkeit des Sängers, der auch nicht davor zurückschreckt, dem intensiven Ausdruck die Schönheit zu opfern. Am bewegensten sind die Abbilder des nachdenklichen, versonnenen, in die Musik versunken erscheinenden Jonas Kaufmann, aber jeder glückliche Besitzer des Buchs wird sich seine Lieblingsbilder aus dem unermesslich gehaltvollen Schatz zusammenstellen (Verlag für moderne Kunst 2019; 450 Seiten, ISBN 978 3 903269 75 0  ). Ingrid Wanja

Laser und Nebel

 

Jean-Philippe Rameaus Tragédie en cinq actes Hippolyte et Aricie stand im Zentrum der Barocktage Unter den Linden 2018 und wurde nun von EuroArts auf zwei DVDs veröffentlicht (2064318). Der dänisch-isländische Künstler Ólafur Elíasson hatte für die  Produktion eine gigantische Laser-Show erdacht, welche vor allem junge Zuschauer beeindruckte. Auf der von ihm gestalteten dunklen Bühne kreuzen sich in diffusem Nebel Lichtstrahlen, kreisen Scheinwerferverfolger, tanzen grüne Lichtpunkte, werden flackernde Lichtsignale auch in den Zuschauerraum geschickt. Eine riesige Diskokugel über dem Orchesterraben sorgt für zusätzliche Reflexe. Wie ins Universum verlegt, vollzieht sich das Geschehen oft vor einer riesigen Wand, in der sich das Publikum im Saal und das Orchester im Graben spiegeln.

In diesem Ambiente hat die Regisseurin Aletta Collins das Geschehen statuarisch arrangiert und zeichnet auch für die Choreografie verantwortlich. Da auf der Bühne vornehmlich Dunkelheit herrscht, sind die zwölf Tänzerinnen und Tänzer in ihren schwarzen Ganzkörpertrikots kaum auszumachen. Gelegentlich sieht man sie wie Insekten auf dem Boden herumkrabbeln, bemerkt ihre bizarre Körperhaltung, die an Verkrüppelte erinnert. Bis auf angedeutete Kampfszenen und Posen griechischer Recken hat die Choreografie keine erkennbare Aussage, kombiniert zeitgenössischen Duktus mit neoklassischen Elementen. Gleichwohl gibt es einige bemerkenswerte Einfälle – wenn die Tänzer in einer Linie an der Rampe mit wogenden Bewegungen Wellen imitieren oder in einem Nebelmeer aus rot/grün/blauen Farbflächen wie Ertrinkende nur halb herausragen. Am Ende wechseln sie spannungsvoll zwischen Annäherung und Aggression. Einer bleibt allein zurück, was eher eine nachdenkliche Stimmung erzeugt und das glückliche Ende zwischen Hippolyte und Aricie kontrapunktiert.

In ihrem Aktionsradius werden die Sänger durch Elíassons monströse Kostüme behindert. Wie in Goldpaper eingewickelt, können sie sich kaum bewegen, vor allem nicht die Titelheldin, die wie ein funkelnder Weihnachtsengel erscheint. Anna Prohaska singt sie mit monochromem Sopran, der vor allem in der Tiefe matt bleibt. Einzig in der Schluss-Szene, der lieblichen Nachtigallen- Arie („Rossignols amoureux“), kann sie gefallen. Als ihr Geliebter Hippolyte lässt Reinoud Van Mechelen einen wohllautenden Tenor hören, bleibt aber blass in der Ausstrahlung. Die Krone des Abends gebührt  Magdalena Kozená, die als Phèdre in glitzernder Silberrobe die Leidenschaft für ihren Stiefsohn mit charaktervollem, glühendem Mezzo und flammender Expressivität ausdrückt. Ihre Stimme ist stets präsent und blutvoll, so dass sie den einzig lebendigen Charakter auf die Bühne bringt. Vokal wechselte sie zwischen vehementen Ausbrüchen, zärtlich lockenden Tönen und unvermitteltem, harschem Sprechgesang in der unteren Lage. Einmal mehr imponierte das Ensemblemitglied Gyula Orendt mit seinem dunklen Bariton von grimmigem Ausdruck, der als Thésée in der Unterwelt seinen Freund Perithoos wieder zu finden hofft. Von der Furie Tisiphone (solide: Roman Trekel) wird er vor den Schrecken des Hades gewarnt. Beide – wie auch der in der Tiefe matte Pluton von Peter Rose –  tragen ein skugelartiges Geflecht aus bunten Neonröhren auf dem Kopf.  Die drei Parzen (Linard Vrielink/Arttu Kataja/Jan Martinik) sind in drapierte weiße Tüllbahnen eingewickelt, leuchten bei der Verkündung von Hippolytes Schicksal grün auf.  Solch visuelle Effekte sind auch den zuverlässigen Sängern des Staatsopernchores (Einstudierung: Martin Wright) zugeteilt, die in schwarzen Gewändern mit Spiegelscheiben als Kopfputz auf der Bühne und im Graben postiert sind. Gemeinsam mit den Tänzern fassen sie sich am Ende an den Händen und bilden einen Kreis um das Liebespaar.

Weit mehr überzeugt die musikalische Seite der Aufführung. Mit dem Freiburger Barockorchester erweckt Simon Rattle Rameaus farbige Musik der Version von 1757 (mit Ergänzungen aus der Fassung von 1733) zum Leben, fächert sie in ihrer Vielfalt beeindruckend auf. Die Zwischenmusiken klingen delikat, die Tänze haben Rhythmus und Drive. Phèdres Szenen sind dramatisch aufgepeitscht, die Aricies lieblich und zart. Bernd Hoppe

Und noch einer …

 

Es muss schon treffliche Gründe geben, wenn man der Fülle an Aufnahmen, auch auf DVD, einen neuen Barbiere di Siviglia hinzufügt  Naxos schien entweder von Jérémie Rhorer überzeugt oder von Laurent Pelly (Naxos DVD 2.1105992). Oder von beiden. Wie dem auch sei, das Ergebnis kann sich sehen und hören lassen. Rhorer kennt das Théatre du Champs-Elysées, wo dieser Barbiere im Dezember 2017 aufgenommen wurde, schließlich startete der Christie- und Minkowski–Assistent mit einem 2011 begonnenen, bislang fünfteiligen und u.a. von Stéphane Braunschweig und James Gray inszenierten Mozart-Zyklus von hier aus seine Opernkarriere. Es ist also ein Heimspiel. Mit seinem 2005 gegründeten Orchester Le Cercle de l’Harmonie widmet er sich der Musik ab dem späten 18. Jahrhundert. Gemeinsam spielten sie J.C. Bach, Grétry und Spontini, darunter die. 2016 von Palazzetto Bru Zane veröffentlichte Olimpie. Außerdem gingt Rhorer mit Dialogues des Carmélites, La traviata oder Ariadne auf Naxos auch eigene Wege. Der von Rhorer quick, präzise und mit Sinn für Details dirigierte Barbiere ist quasi der erste Belcanto-Ausflug. Die Inszenierung von Laurent Pelly leisten sich Bordeaux, Marseille, Luxembourg und Klagenfurt. Sie ist wunderhübsch, und so ganz anders als die Commedia dell’arte-Verschnitte, ob alt oder modern, die um Klamauk oder Komik bemühten Aktualisierungen.

Es ist bei Pelly vielmehr, als beginne die Musik auf der Bühne zu tanzen, als entwickelten die Figuren aus der Musik heraus Eigenleben. Fiorello und die Herren, die Graf Almaviva für sein Ständchen engagiert hat, erscheinen allesamt im Frack, um die hoch in einem Ausschnitt des bühnenfüllenden Notenblatts kokettierende Rosina zu bezirzen – alles stammt aus einer Hand: Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme. Almaviva ist etwas legerer gekleidet, trägt statt Fliege, Hemd und Frackweste ein schlichtes T-Shirt zum schwarzen Anzug, der auf einem Stuhl über dem Notenblatt heruntergelassene Figaro ist mit schwarzem Achselshirt und Tattoo dezent prollig, Rosina trägt schwarze Hosen und schwarz-weiß quergestreiftes Oberteil, später ein schwarzes Prinzessinnenkleid, doch alle scheinen sie selbständig gewordene schwarze Notenköpfe. Das ist kein Konzept, doch Pelly hantiert virtuos, entwickelt sein Spiel aus der Musik und lässt auf der wandelbaren Notenblatt-Bühne, bei der während der Sturmszene beispielsweise alle Notenköpfe auf den Boden regnen, kaum Langeweile aufkommen.

Die Sänger waren mir nicht bekannt. Was nicht für mich spricht. Sie allein würden den Abend wohl kaum tragen, doch Rhorer lässt sie verzieren und malen, als haben sie die Musik in der Hand. Das ergibt eine durch Tanzschritte unterlegte wippende Leichtigkeit und hüpfende Lebendigkeit, ist immer spielerisch und oftmals  neu: Der Amerikaner Michele Angelini singt den Almaviva mit gelegentlich kehlig belegter Sinnlichkeit und in der Höhe mit dem Ton des Belcanto-Draufgängers, nur dem Schlussrondo „Cessa di più resistere“ fehlt es an auftrumpfender Bravour, der Franzose Florian Sempey (kürzlich Hamlet in Berlin/ G. H.) ist als Figaro auf nicht unangenehme Weise etwas allgemein, die Italienerin Catherine Trottmann probiert als Rosina, zu deren Auftritt sich das Notenblatt rund aufgerollt hat, allerhand aus, der Ungar Peter Kálmán ist ein bollerig konventioneller Bartolo, der outriert gesungen und gespielte Basilio des in anderen Partien vermutlich vorteilhafteren kanadischen Bassbaritons Robert Gleadow ist gewöhnungsbedürftig; mir gefiel der nette, kleine Spielbariton von Guillaume Andrieux als Fiorillo. Annuniata Vestri ist eine trockene Berta. Die Chorherren von Unikant sind ausgesprochen komisch, wenn sie im ersten Finale mit erhobenen Notenständern als Soldaten einmarschieren. Alles in allem: netter als erwartet. Rolf Fath

„Aus leuchtender Romantik“

 

„Aus leuchtender Romantik in dunkle Zeit“: So ein Titel lässt die Handschrift von Peter P. Pachl vermuten. Genauso ist es. Diesmal tritt der vielseitige Musikwissenschaftler, Regisseur und Autor aber nicht aktiv in Erscheinung. Er besorgt im Hintergrund die Musikregie. Das neue Album in Zusammenarbeit mit dem pianopianissimo-musiktheater, dessen künstlerischer Leiter Pachl ist, erschien wieder bei Thorofon (CTH26562). Wie auf dem Titel ausdrücklich vermerkt wird, enthält es ausschließlich CD-Erstveröffentlichungen. Bei der erlesenen Programmauswahl ist das auch nicht verwunderlich. Eingespielt wurden Liederzyklen und Kammermusik von Arnold Winternitz, Ludwig Ferdinand von Bayern und Casimir von Pászthory.

Wer waren die doch schnell? Selbst mancher Kenner der Szene wird erstmal nachschlagen müssen. Für Winternitz, (1874-1928) hält selbst die allwissende Wikipedia keinen Artikel bereit. Dafür gibt sich das Booklet sehr auskunftsfreudig. Winternitz stammt aus Linz, gehörte zum Kreis um Arnold Schönberg. Als Dirigent wirkte er in Chicago, später dann im Hamburg, wo seine Oper Meister Grobian und seine musikalische Komödie Der Brautschatz uraufgeführt wurden. Daraus sind in Klavierfassungen mit Rainer Maria Klaas einmal ein eingängiges tänzerisches Zwischenspiel und zum anderen das knappe und pointierte Vorspiel zu hören, während die Sopranistin Rebecca Broberg die Liedersammlung „Japanischer Frühling“ nach Hans Bethge, der auch die Texte für Mahlers „Lied von der Erde“ lieferte, einfühlsam vorträgt. In gut sortierten Sammlungen findet sich vielleicht noch die bei Colosseum erschienene LP mit dem musikalischen Märchen „Die Nachtigall“, auf der Maria Schell als Sprecherin von den Nürnberger Symphonikern begleitet wird.

Der 1886 in Budapest geborene Österreicher Casimir von Pászthory ist noch am ehesten durch seine 1942 entstandene aber erst 1959 in Basel uraufgeführte Oper Tilmann Riemenschneider in Erinnerung geblieben. 2004 habe es einen Wiederbelebungsversuch in Würzburg, wo der Bildschnitzer und Bildhauer wirkte und starb. Das am meisten gespielte Werk Pászthorys, das Melodram nach Rilkes „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ hatte Pachl bereits in seine ebenfalls von Thorofon veröffentlichte Sammlung „Flügel musst du jetzt mir geben“ aufgenommen. Nun gibt neu „Sieben Lieder nach Gedichten von Rainer Maria Rilke“ und „Sieben Lieder nach Gedichten von Hermann Hesse“, wortverständlich gesungen vom Tenor Hans-Georg Priese. Darunter ist das wohl berühmteste Hesse-Gedicht „Stufen“ aus seinem Roman „Das Glasperlenspiel“. Nur im ersten Zyklus tritt auch Rebecca Broberg mit „Pietà“ in Erscheinung. Bei der Sonate für Violoncello und Klavier op. 13 ist neben dem Pianisten Klaas auch Bernhard Schwarz als Solist zu hören.

Neben seiner Tätigkeit als Militärarzt und General der Kavallerie betätigte sich der Bayernprinz Ludwig Ferdinand (1859-1949) als Komponist. Er war ein Cousin des Königs Ludwig II., dem er bis zu seinem Tod sehr nahe stand. Unter seien Werken sind die „Fünf Schilflieder“ nach Lenau, die auch Mendelssohn, Schönberg und Schock vertont hatten. „Der Spätromantiker Ludwig Ferdinand von Bayern bracht diesen Vergleich nicht zu scheuen“, heißt es im Booklet. Sein „Tonfall“ schmiege sich aufs Engste der bitteren Melancholie Lenas an. Diesem Ansatz versucht auch Rebecca Broberg in ihrer Interpretation der Lieder zu folgen. Rüdiger Winter

 

„… in trunken-schönem Tanz!“: Wie der Titel bereits andeutet, steht der Tanz im Mittelpunkt dieser Veröffentlichung von Thorofon (CTH2644), welche Nachträge zu den bereits vorliegenden pppmt-Editionen Erich J. Wolff (Nr. 8), Ludwig Thuille (Nr. 3), Anton Urspruch (Nr. 2) sowie Siegfried Wagner liefert. Konkret enthalten sind zum einen Vier Lieder op. 3 von Wolff (mit der Sopranistin Rebecca Broberg) sowie sein sogenannter Zlatorog, eine Schlussszene für Klavier und vierstimmigen Frauengesang (ausgeführt von den Vokalistinnen des pianopianissimos-musiktheaters). Was Thuille angeht, hat man das Melodram Die Tanzhexe für Deklamation und Klavier inkludiert; als Sprecher hört man Peter P. Pachl, der diesen Part auch im Bales-Tänzchen von Siegfried Wagner übernimmt, das zudem für Sopran (wiederum Broberg) und Tenor (Thorsten Scharnke) komponiert ist. Am Klavier begleitet, wie in allen auf der CD enthaltenen Stücken, Rainer Maria Klaas. Der noch immer im Schatten des Übervaters stehende Wagner-Sohn ist zudem mit der Herzog Wildfang-Fantasie (nach gleichnamiger Oper) in der Klavierbearbeitung von Eduard Reuss berücksichtigt worden. Drei Klavieradaptionen von Opern Urspruchs beschließen diese Nachträge, nämlich die Ouvertüre und das Vorspiel zum zweiten Akt von Der Sturm nach Shakespeare sowie ein Potpourri seines Werkes Das Unmöglichste von Allem, einer komischen Oper nach Lope de Vegas.

Ohne das nachhaltige Engagement Pachls wäre es wohl kaum zur anhaltenden diskographischen Beschäftigung mit diesen vergleichsweise wenig bekannten Komponisten gekommen. Auch wenn sich die vorliegende Ausgabe vornehmlich als Nachtrag versteht, mindert dies ihren Wert nicht im Geringsten. Dies liegt im Grunde genommen an allen Beteiligten und beginnt bei Pachl selbst, der als Rezitator fungiert und als Meister des kunstgerechten Vortrages mit dem notwendigen und hier angebrachten Pathos agiert. Überhaupt erscheint gerade Die Tanzhexe von Ludwig Thuille als Mittelpunkt der Platte – und wurde passenderweise auch als sechster der elf Tracks ins Zentrum gerückt. Der Tenor Thorsten Scharnke brilliert in seinem kurzen Auftritt im Bales-Tänzchen, wo auch die Sopranistin Rebecca Broberg erscheint; ihren wichtigsten Auftritt hat diese freilich in den einleitenden, erst kürzlich aufgefundenen und bis dato fehlenden Liedern des Wolff’schen Liederzyklus, wo sie ausdrucksstark für sich einnimmt. Die vier Vokalistinnen  des pianopianissimo-musiktheaters haben nur einen kurzen Auftritt in der Schlussszene der Ballettpantomime Zlatorog. Heimlicher Star der Aufnahmen ist der Pianist Rainer Maria Klaas, der sich sowohl als kongenialer Begleiter als auch als virtuoser Solist erweist und den Geist des Fin de siècle herüberbringt.

Die Einspielungen – bis auf eine Ausnahme (Wolffs Irmelin Rose) Ersteinspielungen – entstanden zwischen dem 6. und 10. November beziehungsweise zwischen dem 6. und 7. Dezember 2017 im Schüttbau Rügheim. Verwendung fand ein Flügel von Steinway. Die Musikregie wurde von Peter P. Pachl übernommen; Tonmeister war Bernhard Schwarz. Den informativen und ausführlichen Begleittext steuerte wiederum Pachl bei (Aufnahme: 2017; Erscheinungsdatum: 2018). Daniel Hauser

 

Mit einem Wagner-Zyklus der etwas anderen Art überrascht das Label Thorofon. Doch der Komponist ist nicht jener Wagner, an den zuerst denken wird, wer das Album in Händen hält (CTH2644). Dieser Zyklus stammt von Robert Stolz, dem letzten Meister der Wiener Operette, dessen Lieder so populär geworden sind, dass darüber manchmal ihr Schöpfer vergessen wird. Die Textvorlage lieferte der österreichische Theaterdirektor Kurt Robitschek, wie Stolz jüdischer Herkunft. Beiden ist also keine böse Absicht zu unterstellen, wenn sie mit einer gewissen Bissigkeit die Geschichte des jüdischen Händlers Klein erzählen, der zum christlichen Glauben konvertiert ist, seine Kinder Tristan und Isolde nennt, sich selbst Wotan und seinem Haus den Namen Walhall gibt. Wie so oft beim echten Richard Wagner geht auch diese Geschichte nicht gut aus und endet mit einer Götterdämmerung. Stolz hantiert mit Zitaten aus Lohengrin und dem Ring des Nibelungen, erweist sich so als Kenner der Materie und zieht doch gleichzeitig ironisch darüber her. Man fühlt sich irgendwie an Thomas Manns Novelle „Wälsungenblut“ erinnert.

Der Wagner-Zyklus war als Opus 106 der herausragende Beitrag im Sammelband „Brettel-Lieder“ von Stolz. „Im Erscheinungsjahr 1916 dieser Publikation hatte sich die Brettl-Kultur, die 1901 mit der Gründung des Kabaretts ,Überbrettl‘ in Berlin ihren Anfang genommen hatte, im deutschen Sprachraum rapide verbreitet“, schreibt Peter P. Pachl im Booklet. Vorbild war das Pariser Kabarett „Le Chat Noir“, das – wie weiter zu erfahren ist – von 1881 bis 1897 auf dem Montmatre existierte. „Mit der Namensgebung des am 18. Januar 1901 in Berlin eröffneten Kabaretts“ habe Ernst von Wolzogen, der spätere Librettist der Richard-Strauss-Oper Feuersnot die Assoziation zu Nietzsches „Übermensch“ geschaffen. Den Unterschied zum französischen Vorbild lässt Pachl Wolzogen selbst erklären: „Aus meinen Pariser Erfahrungen und meinem eigenen Empfinden heraus gestaltete sich nunmehr mein Überbrettl folgendermaßen: kein Bier- und Weinausschank und Tabaksqualm, sondern regelrechtes Theater. Eine Rampe und ein gehöriger Orchesterraum zwischen mir und dem Publikum, eine Kleinbühne für anmutige Kleinkunst aller Art, keine Zimperlichkeit im Erotischen…“ Derlei Freizügigkeit, die – so Pachl – „im Gegensatz zu den Moralnormen der Zeit stand“, zog zahlreiche junge Komponisten, Dichter und bildende Künstler an. Pachl ist auch der Interpret des Albums und wird von Rainer Maria Klaas, der mit „Mademoiselle Aschenbrödel“ ein eigenes Werk beisteuert, am Klavier begleitet. Er trat als Regisseur, Hochschullehrer und Musikschriftsteller hervor, setzt sich leidenschaftlich für den Komponisten Siegfried Wagner ein und steht jetzt als Intendant den Berliner Symphonikern vor. Seinem vielseitigen und umtriebigen Wirken hatte er schon mit den Aufsehen erregenden Sammlungen von Melodramen, die ebenfalls bei Thorofon erschienen waren, eine weitere Facette hinzugefügt.

Pachl gilt als Entdecker. Er holt einst weit verbreitete und beliebte Genres in die Gegenwart zurück. Sozusagen als Angebot und Bereicherung der aktuellen Spielpläne. Und nicht aus nostalgischen Gründen. Er hat selbst Spaß an seinen neuen Ausgrabungen, diesen frechen Stücken. Spaß, der sich auf seine Zuhören überträgt. Das Letzte, was er dabei anstrebt, ist Schöngesang. Oft klingt er grell, übertreibt ganz bewusst und ist gerade dadurch authentisch. Es ist zwar schade, dass die Texte offenkundig aus Platzgründen im Booklet nicht abgedruckt werden konnten. Durch den klaren Vortagsstil wird dieses Manko aber ausgeglichen. Die meisten Titel – vierzig an der Zahl – erscheinen erstmal auf Tonträgern. Mit seinem Wagner-Zyklus ist Stolz nur einmal im Album vertreten, das – wie es der Untertitel verheißt – noch „andere erotische und animalische Extremi- und Perversitäten“ bereithält. Das Gros stammt von Oscar Straus. Dazwischen tauchen Arnold Schönberg, Ludwig Thuille, Alexander Zemlinsky und sogar der tüchtige Conradin Kreutzer auf, der durch seine Oper Das Nachtlager von Granada in Erinnerung geblieben ist. Als großer Vorzug der aus zwei CDs bestehenden Sammlung erweist es sich, dass im Booklet mit biographischen Daten, historischen Hintergründen und erhellenden Schilderungen von Zusammenhängen nicht gespart wird. Rüdiger Winter

Hans Zender

 

Denkt man an Hans Zender, geboren am 22. November 1936 in Wiesbaden, so wird man stets seine Doppelrolle als Komponist und als Dirigent berücksichtigen müssen. Auf beiden Feldern hat er sich einen Namen gemacht. Dies deutete sich bereits in seiner Ausbildung an, wo er sich der Komposition, dem Klavierspiel und eben dem Dirigat widmete. Als Tonschöpfer war er Anfang der 1960er Jahre der avantgardistischen Linie nahestehend und wandte sich in den 1970ern von den abendländischen Traditionen ab, um sich dem fernöstlichen Denken anzunähern. In seiner neuen Harmonielehre bezog er auch die „Schwesterkünste“ sowie die Philosophie mit ein und betrachtete sich als geschichtsbewussten Künstler. Die sogenannte „komponierte Interpretation“, gleichsam die Verwandlung und Neudeutung wichtiger Musik vergangener Tage, geht auf ihn zurück und zeigte sich in Rekreationen wie Schuberts „Winterreise“ oder der Schumann-Phantasie. 2005/06 war er folgerichtig Composer-in-residence des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin.

Als Dirigent zeichnete er sich durch die enorme Breite seines Repertoires aus, welches vom Barock bis in die Gegenwart reichte. Besonders im Fokus standen für Zender die Komponisten Schubert, Mendelssohn und Mahler, Reger, Hindemith und Messiaen, aber gerade auch Bernd Alois Zimmermann, zu dessen wichtigsten Interpreten er gezählt werden muss. Bereits im Alter von gerade 27 Jahren übernahm er seinen ersten Chefdirigentenposten an der Oper Bonn (1964-1968). In rascher Abfolge amtierte er als Generalmusikdirektor in Kiel (1969-19729, als Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Saarbrücken (1972-1984) sowie als Hamburgischer Generalmusikdirektor (1984-1987). Internationalität bewies Zender durch seine späteren Engagements beim Radio Kamer Orkest des Niederländischen Rundfunks sowie als Erster Gastdirigent der Opéra National in Brüssel. Als ständiger Gastdirigent des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg knüpfte er ab 1999 gleichsam an Michael Gielen an. Nach der Niederlegung dieses Postens im Jahre 2010 scheint er keine festen Dirigentenpositionen mehr angenommen zu haben.

Aus seiner recht reichhaltigen Diskographie sind unbedingt hervorzuheben der Zyklus der Sinfonien von Schubert aus Baden-Baden (Hänssler), seine Mahler-Interpretationen aus Saarbrücken (cpo) sowie seine Beschäftigung mit der Musik Bernd Alois Zimmermanns von ebendort (cpo). Zenders Lesart von Zimmermanns Photoptosis darf ohne Wenn und Aber als die Referenzeinspielung gelten.

Genau einen Monat vor Vollendung des 83. Lebensjahres starb Hans Zender am 22. Oktober 2019 an seinem Wohnort Meersburg am Bodensee (das Foto oben ist ein  Ausschnott aus dem Cover der Hans-Zender-Edition des SR mit dem Orchester des Saarländischen Rundfunks). Daniel Hauser

Zukunftspläne mit 80

 

Das Cover zeigt Brigitte Fassbaender als Octavian, der Titel,Komm‘ aus dem Staunen nicht heraus, ist ein Ausruf des Ochs von Lerchenau, beide aus Richard Strauss‘ „Der Rosenkavalier“, eine Oper, die zunächst die Sängerin und danach die Regisseurin vor dankbare Aufgaben gestellt hat. Zwei recht rätselhafte Zitate der der Dekadenz verdächtigen Poeten Rilke und Hofmannstahl werden dem Buch als Motti voranstellt, zunächst ein Rätsel gibt die Widmung für J.S. auf, ehe man dem Text entnimmt, dass es sich um die langjährige Lebensgefährtin und „Managerin“  der Fassbaender handelt, deren vollständiger Name auf den folgenden fast 400 Seiten wohl nur ein einziges Mal genannt wird.

Als „Versuch“ bezeichnet die Autorin ihre Autobiographie, für die sie keinen Ghostwriter wollte und zu der sie schon seit langem von Freunden und Kollegen gedrängt wurde. Mit 80 Jahren hat man viel zu berichten, denn das Leben verlief in sehr unterschiedlichen Zeitabschnitten, begann mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, an den die Erinnerungen nur verschwommen sein können, so dass ein Irrtum wie der, man könne Phosphor mit Wasser bekämpfen, so beim Angriff auf Dresden, verständlich wird. Auch scheint bei dem Kind Brigitte der Eindruck entstanden zu sein, die Alliierten ( bzw. deren „johlende Horden“) hätten gleichzeitig im Mai 45 Berlin erobert. Mit vielen Altersgenossen teilt sie wohl die Erfahrung, dass sie die Verbrechen der Nazis betroffener machen als die Eltern, die schnell vergessen, sich ein neues, unbelastetes Leben aufbauen wollen.  Sehr präzise und interessant dargestellt ist die Geschichte der Vorfahren, die Entstehung des Namens Domgraf-Fassbaender, den der Vater sich zulegte, um nicht mit einem Sänger-Kollegen verwechselt zu werden, dazu noch sehr berührend die Entdeckung der eigenen, ganz besonderen Stimme, ein Geheimnis, das die Heranwachsende zunächst eifersüchtig hütet, ehe die Eltern sie entdecken und der Vater beginnt, sie zu unterrichten.

Im Wesentlichen ist der erste Teil des Buches chronologisch aufgebaut, immer wieder unterbrochen durch allgemeine Betrachtungen, so über das Singen als Hochleistungssport, über die Eigenheiten von Korrepetitoren, den Unsinn von Nasenscheidewandbegradigungen oder Diäten und die Verführung durch den Alkohol. Das Buch erweckt den Eindruck, dass es der Autorin nicht um eine Selbstdarstellung geht, obwohl das durchaus legitimiert wäre, sondern eine Vermittlung der Hochachtung, ja Liebe für bestimmte Kunstformen oder Künstler, während positive Kritiken, deren es bei einer solchen Karriere sicherlich viele gab, gar nicht erwähnt, geschweige denn zitiert  werden. Stattdessen erfährt man viel Zutreffendes über künstlerische Wegbegleiter wie Fischer-Dieskau, Carlos Kleiber, das Dreigestirn italienischer Dirigenten Giulini, Abbado, Muti. Bereits vor den Beschuldigungen gegenüber Domingo wurde der Abschnitt über dessen Nachstellungen als Werther gegenüber Charlotte geschrieben, Solti war schlimmer, der Klapps, den Birigit Nilsson der jungen Kollegin aufmunternd auf die Rückseite gab, ist nicht in der Kategorie sexueller Übergriff zu verorten.

Das Besondere an der Darstellung insbesondere der Zeitgenossen ist, dass die Fassbaender keine Urteile fällt, sondern lediglich beschreibt und es dem Leser überlässt, sich ein Urteil zu bilden. Nur Salzburg mit seinem kunstfernen Rummel  macht da eine Ausnahme. Ansonsten zeichnen sich ihre Schilderungen durch Wahrhaftigkeit wie Dezenz (Tod des Vaters), schonungslose Redlichkeit ( Eingeständnis des Nachlassens der Kräfte durch das Klimakterium) und feines Sprachempfinden ( „hebt an“ für den Beginn des Rosenkavalier-Terzetts) aus.

Brigitte Fassbaender hat den Mut, sich auch zu Glaubensdingen zu äußern, man würde ihr gern folgen, wenn sie Kunstausübung als Religion, den schöpferischen Menschen als „Gefäß Gottes“ bezeichnet und an ein Leben nach dem Tod glaubt.

Das Buch offenbart auch die große Liebe zum Lied, insbesondere dem Schuberts, an den sie einen Brief schreibt, an dessen „Wintereise“ sie sich „ausgeliefert“ hat. Neben dem Erhabenen findet aber immer auch das Lächerliche seinen Platz, so in der Beschreibung des Verhaltens des Wiener Publikums, der unverzichtbaren Wasserflaschen bei konzertanten Aufführungen oder dem nur Durchblickenlassen von Derbheit, wenn sie über die Liebedienerei in Innsbruck in feiner Abwandlung von Drastischerem schreibt: „Man kroch gewaltig“. „Und immer musste man auf der Hut sein“, ist ein Resümee der Intendantenzeit in Innsbruck, nachdem sie diese Funktion bereits in Braunschweig ausgeübt hatte.

Feine, von Menschenkenntnis geprägte Kurzportraits sind u.a. die von Keilberth, Rothenberger, Martha Mödl und vielen, vielen anderen.  Anekdoten hingegen finden sich wenige, viel aufschlussreicher sind auch Kurzportraits der Regisseure, mit denen sie gern zusammen arbeitete, wozu Rennert, Friedrich, Kupfer, Schenk, Ponnelle, Horres gehörten.

Bis zur Seite 195 ist das Buch chronologisch gegliedert, danach thematisch in die Kapitel „Menschenreichtum“, „Seitenwechsel“– ein Tagebuch der Einstudierung von Brittens „A Midsummer Night’s Dream“ in den Niederlanden, schließlich „Regiegedanken“. Dabei handelt es sich um Überlegungen in der Art von Paraphrasen zu dreizehn bereits von der Fassbaender inszenierten Opern, darunter Fidelio, Frau ohne Schatten, Tristan, Falstaff oder Trojaner.

Einen Ausblick  in die Zukunft gibt es auch: Die Fortführung des Lied-Festivals im Südtiroler Eppan, einige Neu-Inszenierungen, von denen, man vermutet es, eine der Ring sein könnte. Man kann gespannt sein!

Der Anhang umfasst Danksagung, Zeittafel, Verzeichnisse von Auszeichnungen, Tonträgern, Übersetzungen und Musical-Libretti, Inszenierungen, Bildnachweis (über 50 Fotos) und Personenregister (382 Seiten C. H. Beck Verlag; ISBN 978 3 406 74115 9). Ingrid Wanja