Noch zu retten?

 

Die Umrandung des Covers mit einem kräftigen Grün, der Farbe der Hoffnung, widerspricht dem skeptischen Fragezeichen, das nach dem Titel Musiknation Deutschland steht, gefolgt von dem tatkräftigen „Ein Plädoyer für die Zukunft unserer Orchester“. Arnold Werner Jensen, geborener Österreicher, aber vor allem in Deutschland als Musikpädagoge und Musikwissenschaftler tätig, macht sich Sorgen um den Erhalt der reichen musikalischen Landschaft, die Deutschland mit seinen 129 „Kulturorchestern“, einmalig in der Welt,  immer noch darstellt.  1992 waren es immerhin 168, meistens führten Fusionen zur Verringerung der Anzahl.

Das Buch erläutert dem Leser, wie es zu der großen Anzahl von Orchestern und auch Opernhäusern kam, einer der wenigen Vorteile, den die deutsche Kleinstaaterei bot, denn jeder noch so unbedeutende Fürst wollte sich eine Kapelle leisten, ähnlich selbstbewusst, dazu aber auch kulturbeflissen war in späteren Zeiten das Bürgertum, so dass in Städten wie Hamburg oder Frankfurt von ihm getragene Institutionen entstanden. Da dürften höhere Ausgaben entstanden sein als die 0,2 % des Gesamtetats, den die Bundesrepublik nach Jensen für Kultur ausgibt. Was Länder und Kommunen beitragen, darf allerdings nicht unterschlagen werden, und am Schluss des Buches führt der Autor auch ein Gespräch mit einem Mäzen, Reinhold Würtz, der nicht nur einen Chor und eine Band, sondern auch ein Orchester finanziert, das sich sogar Anna Netrebko und Gatte als Begleiter bei ihrem gemeinsamen Konzert wünschten.

Im Mäzenatentum sieht Jensen allerdings nur eine weniger bedeutende Säule, auf der das musikalische Leben in Deutschland ruhen kann. Er nimmt den Staat in die Pflicht, der immerhin jeden Abend für jeden Sitz 257 Euro in der Berliner Staatsoper aufbringt, sieht ihn aber insofern als Gefahr für die Kulturlandschaft Deutschland an, als junge Musiker und junges Publikum nicht genügend stark durch einen regelmäßigen und dazu guten Musikunterricht vom Kindergarten bis zur Hochschulreife mit klassischer Musik in Kontakt gebracht werden. Da er selbst als Gymnasiallehrer gearbeitet hat, weiß er um den Unmut von Schülern, wenn sie sich mit einer Oper oder Sinfonie beschäftigen sollen, und schlägt deshalb einige Tricks vor, die helfen sollen, junge Menschen an klassische Musik heranzuführen. Daniel Barenboim sollte seiner Meinung nach ein Vorbild mit seinem Musikkindergarten sein.

Der Autor setzt sich ausführlich mit den Problemen auseinander, die bei der Wiedervereinigung Berlins durch die Vielzahl von Orchestern, die alle ihr Stammpublikum hatten, entstanden. Er zeichnet die Geschichte einiger Berliner Orchester, so des heutigen DSO,  nach, berichtet über das Orchesterranking, meint aber zugleich, es gäbe keine „Provinz“ im schlechten Sinne mehr, wenn sich Coburg Wagner-Opern und das Brandenburgische Staatsorchester Aufnahmen von Brahms-Sinfonien zutrauen.

Ein umfangreiches Kapitel beschäftigt sich mit den Orchestern zwischen Profilbildung und Globalisierung, die vor der klassischen Musik nicht Halt mache. Mit Christian Thielemann, der in einem umfangreichen Interview befragt wird, ist er der Meinung, dass nur noch die Dresdner Staatskapelle und die Wiener Philharmoniker, diese wegen ihrer Instrumente, ein unverkennbares Profil haben. Von Petrenko erhofft er sich, dass der den Berlinern dazu verhilft, wieder unverwechselbarer zu werden, verschweigt allerdings auch nicht, dass Qualitätssteigerung durch Verpflichtung der weltbesten Musiker die andere Seite der Medaille ist.

Das vielseitige Buch entwirft auch Berufsbilder, schildert Ausbildungsgänge, befasst sich mit der Rolle der Frauen als Orchestermitglieder, aber auch als Dirigentinnen, befragt Musiker darüber, ob viele Ausländer in einem Orchester fremde Elemente darstellten, ein anderes Musizieren bewirkten. Ein weiteres Kapitel ist den Spielstätten gewidmet, der Erörterung der Vorzüge und Nachteile von Weinberg- oder Schuhschachtel-Sälen.

Der zweite Teil des Buches befasst sich mit den deutschen Orchestern, d.h. der Bedeutung der DOV, der Frage, ob Unkündbarkeit gleich Qualitätsverlust sei, der Problematik von zwei Orchestern an einem Ort ( z.B. Dresden oder Wien) und der Orchestertypologie. Interessant zu erfahren ist, dass die Bamberger Symphoniker von böhmischen Musikern gegründet wurden, die Philharmonia Hungarica, inzwischen aufgelöst,  von 1956 geflüchteten Ungarn.

Aufschlussreich ist das Interview mit Christian Thielemann, der über die Funktion des Musikdirektors in Bayreuth spricht, übe  die besondere Akustik des Festspielhauses,  die Zusammensetzung des Orchesters, die Bedrohung der kleinen Theater durch die Möglichkeit für den Opernfreund, auch in der Provinz auf dem Fernsehschirm Anna Netrebko erleben zu können.  Der Dirigent strahlt Gelassenheit aus, wenn er meint, auch griechische, ägyptische und andere Kulturen seien einst untergegangen, und er lässt sich nicht aufs Glatteis führen, wenn er pauschal auf die Frage nach eventueller Veränderung des Orchesterklangs durch Frauen meint, sie seien das starke Geschlecht. Wertvoll ist sicherlich sein Ratschlag, jeder Dirigent soll an einem kleineren Theater die Lustige Witwe dirigieren und sich erst danach an die Meistersinger wagen.

Das Buch bietet eine Fülle von Informationen, wiederholt sich manchmal, gibt aber viele Anregungen und überzeugt durch Sachkenntnis und Engagement (210 Seiten, 2019 Henschel Verlag, ISBN 978 3 89487 809 2/ Abbildung oben Munari: Stillleben mit Instrumenten, galleria Palatina, Wikipedia). Ingrid Wanja