Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Lehrreich und unterhaltsam

 

Fünf Jahre nach dem Richard Strauss gewidmeten Jubiläumsjahr 2014 erscheint dem Leser das bereits 2013 erschienene Buch von Christoph Wagner-Trenkwitz wie eine Art Vorspeise, leicht und Appetit auf mehr machend, und mehr kam dann ja auch mit einer Flut von Strauss-Büchern, einige davon sich der fragwürdigen Aufgabe widmend, Charakter und Verhalten des Komponisten insbesondere in der Nazizeit von der Warthe des wissenden Nachgeborenen her scharf zu verurteilen. Das Buch Sie kannten Richard StraussEin Genie in Nahaufnahme hingegen ist eher ein Liebesbekenntnis als eine Abrechnung, eher eine Plauderei als eine wissenschaftliche Untersuchung und nicht zuletzt deswegen auch heute noch ein höchst angenehmer, Genuss bereitender Lesestoff, den man am liebsten gar nicht aus der Hand legen möchte.

Der Verfasser betont, dass er wohl kaum Neues an Tatsachen über den Komponisten bieten kann, wohl aber sehr Persönliches, wofür einer der Enkel von Strauss einer der Garanten ist, Opernfanatiker Marcel Prawy Freunden und Kollegen Interessantes entlockt, Literaten wie natürlich Hofmannsthal oder Bahr kein Blatt vor den Mund nehmen und das Zeugnis Stefan Zweigs, der sich im Exil das Leben nahm, ein ganz besonders berührendes ist. Wie unterschiedlich man eine Äußerung auslegen kann, je nachdem, wie übel oder wohl man dem Zitierten will, zeigt die berühmte Formulierung, mit der in einem Brief  Zweig „jüdischer Starrsinn“ vorgeworfen wird, was Eiferer als antisemitischen Ausfall interpretieren möchten, während sich der Leser dieses Buches selbst ein Bild machen kann und eher zu dem Schluss kommen wird, dass Strauss, was die Politik angeht, doch recht naiv war.  Um beim „Bild“ zu bleiben, das Buch ist wertvoll auch durch die zahlreichen Fotos teils aus Privatbesitz und bisher unveröffentlicht.

Ein umfangreiches Kapitel widmet das Buch der Strauss-Gattin Pauline, berüchtigt als hysterischer Zanketeufel und durch den Briefwechsel und Aussagen von Strauss und seinen Weggenossen zweifellos rehabilitiert und durchaus  als Muse des Komponisten anerkannt, wenn auch streng auf Regeln zum Erhalt seiner Gesundheit achtend. Ganz nebenbei kommt der Leser zu der Einsicht, dass der Kultur des Briefeschreibens ein hoher Wert beizumessen ist, vergleicht man mit dem schriftlichen Umgang zwischen heutigen Zeitgenossen.

Belustigend ist „die Affäre Mieze Mücke“, die keine war, berührend sind die Erinnerungen der Enkel, so daran, wie Strauss den Untergang Dresdens beweinte, wie sich Klaus Mann als angeblicher Amerikaner in Garmisch aufführte,  wie der Großvater für den Enkel und dessen Geige eine Daphne-Etüde komponierte. Der Geschichte, die Baldur von Schirach betrifft, und der Tatsache, dass er Pauline Strauss  („wenn der braune Spuk vorbei ist“) vor Unannehmlichkeiten bewahrte, hätte man wohl den Hinweis darauf, dass dieser Mann die deutsche Jugend mit auf dem Gewissen hatte, hinzufügen sollen. Ein Geburtstagsbrief 1944 an einen der Enkel  ist ebenso aufschlussreich wie der Bericht über die Entstehung der Vier letzten Lieder.

Zahlreiche Zeugnisse von Künstlerfreunden sind ebenso interessant wie Anmerkungen über die Generalprobe zur Liebe der Danae, bevor auch Salzburg alle kulturellen Aktivitäten einstellen musste.

Die Gesprächsrunde mit Prawy, zu der Hans Hotter, Karl Böhm und Viorica Ursuleac gehörten, räumt endlich auch mit dem Vorurteil auf, Strauss sei beim Skat ein schlechter Verlierer gewesen. Man liest das Buch gern und erfährt einiges, was man noch nicht wusste. Was will man mehr?

Und der Anhang ist streng wissenschaftlich mit Zeittafel, Literaturauswahl, Anmerkungen und Namensregister (225 Seiten,  2013 Amalthea Verlag Wien ISBB 978 3 85002 746 5  / Foto oben: Richard Strauus, Portrait von Liebermann/ Wikipedia.nl). Ingrid Wanja

 

Marcello Giordani

 

Die Wiener Staatsoper (und die Welt der Oper)  trauert um den italienischen Tenor Marcello Giordani, der am 5. Oktober 2019 zuhause in Augusta (Provinz Syrakus, Sizilien) im Alter von 56 Jahren einem Herzinfarkt erlegen ist. (…) Der 1963 in Augusta geborene Marcello Giordani gewann 1986 den Gesangswettbewerb in Spoleto und debütierte im selben Jahr ebendort als Rigoletto-Herzog. Er avancierte bald zu einem der international gefragtesten Tenöre seines Fachs mit Auftritten an den bedeutendsten Häusern der Welt, so an der Mailänder Scala, der New Yorker Met, dem Royal Opera House Covent Garden in London, an der Pariser Oper, in San Francisco, Chicago, Barcelona, an der Dresdner Semperoper, der Arena di Verona u. v. a. m. An der Wiener Staatsoper gab er bereits 1992 sein Debüt als Sänger im Rosenkavalier, es folgten Hauptpartien u. a. in I puritani, Rigoletto, La traviata, La Bohème, Roméo et Juliette, La forza del destino oder Aida. 2016 gab er seine Staatsopern-Rollendebüts als Calaf in Turandot und als Des Grieux an der Seite Anna Netrebkos in Manon Lescaut. Insgesamt gestaltete Marcello Giordani 14 verschiedene Partien in 72 Vorstellungen im Haus am Ring. Sein letzter Auftritt auf dieser Bühne war Radames (Aida) am 2. Oktober 2016.
Marcello Giordani war auch sehr um den Sängernachwuchs bemüht: 2010 gründete er die „Marcello Giordani Foundation“ mit dem Ziel, junge Sängerinnen und Sänger zu Beginn ihrer professionellen Karriere zu unterstützen; 2011 fand der erste Marcello Giordani Gesangswettbewerb auf Sizilien statt (Foto Wiener Staatsoper). Quelle Wiener Staatsoper

 

Eve Queler, die berühmte Dirigentin aus New York, die am Pult des legendären Opera Orchestra of New York so unendlich viele Aufführungen aus dem Repertoire des Belcanto und der nachfolgenden Perioden geleitet und ermöglicht hat, schreibt tief betroffen zum Tode von Marcello Giordani: I am so very sad to hear of the passing of Marcello Giordani. From the year 2000, Marcello made it possible for me to do the operas which were particularly difficult for the tenor, in particular Les Huguenots and William Tell where the tenor sings above high C but also needs to be sizeable and dramatic.Marcello’s voice rang out beautifully in the most exposed passages. Most important, he was so nice and cooperative and enthusiastic about my concerts. Operas he sang with me with Opera Orchestra of New York: Lucrezia Borgia, Les Huguenots, Adriana Lecouvreur, La Gioconda, Guillaume Tell, Edgar, L’Africaine. He also sang at a Gala celebrating the 100th performance at Carnegie Hall of my orchestra The Opera Orchestra of New York..

Sie schreibt in ihrem Buch über ihre Arbeit mit Marcello Giordani: Lucrezia Borgia 2000 would be the last complete opera Renée Fleming would sing at the OONY. (…) It would be , however, my first time working with Marcello Giordani (…) It was my pleasure to resurrect Guillaume Tell for Marcello in 2005. Although the title character of the opera is a baritone, the most spectacular vocal writing is for the tenor. The high C sharp, which occurs in the second act in the middle of a trio for three men, was executed with ease. A far more grueling and exposed section for the tenor arrives in his  Act 4 aria. This aria is in C major, which means the climactic note will be a high C. But in this aria, there are eight  of them if you do  all ofthe repeats. They are particularly difficult to sing because they were written with a slow ascent up to the C, requiring huge stamina, somewhat more difficult than the high C in La Boheme. Clearly, Rossini had a tenor who could sing this or he would not have written it this way. When I do operas that were written for a particular person, this is  my  challenge:  to  find a  voice with  a  similar color (…)After the aria, our performance was literally stopped by a prolonged ovation. I knew it would be a few minutes and stepped offthe podium to sit for a moment in one of the chairs in front of me which had been set for the singers. After acknowledging his ovation, Marcello came over to me and pulled me off the chair, saying, „We are going to do it again!“ I said, “Are you crazy?“ thinking that we might go into overtime. He said, –“ Only the cabaletta,“ the second part of the aria which is the fast section. As we began, I suddenly thought to myself, I wish Marcello would move to the other side of the stage so that the audience on that side would get a closer look  at him. Unbelievably he seemed to  read my mind, and darted across the stage, shook his fist at the chorus who were urging him on to the fight, and turned to finish the aria. There followed another prolonged ovation…. (A View from the Podium, xlibris 2018)

And this from Italo Marchini, my choral director. “ Always friendly, a wonderful colleague-….He brought such joy and light into our lives“. E. Q.

 

Dazu auch das englische Wikipedia: Marcello Giordani was born in 1963 in the small Sicilian town of Augusta. His father, a former prison guard, was the owner of a major gasoline station in the town, and his mother was a housewife. He showed a talent for singing at an early age and took private lessons in Augusta as well as singing in his church choir. When he was nineteen, he quit his job in a bank and moved to Milan where he studied voice with Nino Carta. Giordani made his professional operatic debut in 1986 as the Duke in Rigoletto at the Festival dei Due Mondi in Spoleto. His debut at La Scala came two years later when he sang Rodolfo in La bohème. He went on to sing throughout Italy and Europe, and in 1988, he made his American debut singing Nadir in Les pêcheurs de perles with Portland Opera, a company with which he frequently appeared early in his career. Engagements with several other American opera companies followed, including San Francisco OperaSeattle OperaLos Angeles Opera and the Opera Company of Philadelphia. Giordani made his Metropolitan Opera debut in 1993 as Nemorino in a Parks performance of L’elisir d’amore opposite Maria Spacagna as Adina. His first performance on the actual stage at the Metropolitan Opera House was on December 11, 1995 as Rodolfo to Hei-Kyung Hong’s Mimì with Carlo Rizzi conducting.

In 1994, vocal problems that begun to surface in the previous years became more acute. He began to retrain his voice with Bill Schuman in New York but did not cancel his engagements. In 1995 he sang Alfredo in La traviata at Covent Garden under Sir Georg Solti, whose guidance he credits as a great help in the rebuilding of his career. In 1997, Giordani again sang at Covent Garden under Solti (as Gabriele Adorno in Simon Boccanegra), in what turned out to be the final opera performances that Solti would ever conduct. His career at the Met, which had initially been sporadic, began to flourish. By the end of 2008, he had sung over 170 performances with the company, including the leading tenor roles in the Metropolitan Opera premieres of Benvenuto Cellini and Il pirata. He also sang in the Met’s season opening performances in both 2006 (Pinkerton in Madama Butterfly) and 2007 (Edgardo in Lucia di Lammermoor), and on 18 September 2008, he was the tenor soloist in the Met’s performance of Verdi’s Requiem in memory of Luciano Pavarotti.

Amongst the other opera houses and festivals where Giordani performed during his career were the Opernhaus ZürichVienna State OperaOpéra National de ParisGran Teatre del Liceu in Barcelona, Deutsche Oper BerlinHouston Grand OperaMaggio Musicale FiorentinoTeatro dell’Opera di RomaTeatro Regio di ParmaTeatro Regio di TorinoTeatro Massimo Bellini di CataniaArena di Verona, the Verbier Festival, and the Festival Puccini in Torre del Lago. In August 2008, Giordani appeared in concert with Salvatore Licitra and Ramón Vargas in Beijing’s Great Hall of the People during the first week of the 2008 Olympic Games.2008 also saw his appointment as Artistic Director for Musical Events at Città della Notte, a new arts center near Augusta. In December 2008 he gave his first master classes there.

In 2010, Giordani created the Marcello Giordani Foundation to help young opera singers at the beginning of their careers. The first annual Marcello Giordani Vocal Competition was held in Sicily in 2011. Giordani met his wife, Wilma, when he was singing in Lucerne in 1988. They married two years later. The couple and their two sons lived in New York and Sicily. Giordani died of a heart attack on 5 October 2019 at the age of 56.

Erika Wien

 

Erika Wien (* 2. September 1928 in Wien; † 10. Oktober 2019 in Zürich war eine österreichische Sängerin (Mezzosopran) und Schauspielerin. Erika Wien wurde am 2. September 1928 in Wien geboren und absolvierte ein Gesangsstudium an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Zu ihren Lehrern zählten Hans DuhanJosef WittWolfgang Steinbrück oder Erik Werba. Ihre ersten Engagements nach beendetem Studium hatte sie in den Jahren 1952 bis 1953 an der Wiener Volksoper und war danach von 1953 bis 1959 am Theater Bremen aktiv. In den Jahren 1959 bis 1964 trat sie an der Deutschen Oper am Rhein in Erscheinung, gefolgt von einem von 1964 bis 1980 andauernden Engagement am Opernhaus Zürich. Als dramatische Altistin gehörte sie vor allem in der Direktionsära von Hermann Juch zu den profiliertesten Ensemblemitgliedern des Opernhauses Zürich.

Gastauftritte hatte Wien unter anderem an der Deutschen Oper Berlin, der Staatsoper Berlin, den Staatsopern von WienMünchenHamburg und Stuttgart, sowie den Opernhäusern von Frankfurt am MainHannoverKölnNürnbergWiesbaden und Wuppertal. Des Weiteren hatte sie auch Gastengagements am Holland Festival, dem Maggio Musicale Fiorentino, in Brüssel und Bordeaux, in Lyon und Marseille, am Teatro Colón in Buenos Aires, in der Grand Opéra Paris, den Opernhäusern von Los AngelesSan Diego und San Francisco, in Nantes und Toulouse, sowie in Turin und Genua.

Zu ihrem Repertoire zählten unter anderem die Titelrolle in CarmenMarcellina in Le nozze di FigaroMaddalena in RigolettoAzucena in Il trovatoreAmneris in AidaEboli in Verdis Don CarlosUlrica in Un ballo in mascheraMrs. Quickly in Verdis FalstaffFenena in NabuccoMary in Der fliegende HolländerOrtrud in LohengrinErda und Fricka in Der Ring des NibelungenBrangaene in Tristan und IsoldeVenus in Tannhäuser und der Sängerkrieg auf WartburgOrfeo in Orfeo ed EuridiceMarina Mnischek in Boris Godunow, die Gräfin in Pique DameMilada in Dalibor, die Hexe Ježibaba in RusalkaKlytaimnestra in Strauss’ ElektraMarie in Bergs WozzeckKontschakowna in Fürst Igor, die Künstlerin in Jenůfa, die Oberpriesterin in PenthesileaAdelaide in Strauss’ Arabella oder Leokadja Begbick in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny.

Im Opernhaus Zürich war sie an den Premieren von Madame Bovary unter dem Kompanisten Heinrich Sutermeister, dem Regisseur Michael Hampe und dem musikalischen Leiter Reinhard Peters (26. Mai 1967) und im Juni 1977 in Ein Engel kommt nach Babylon des Komponisten Rudolf Kelterborn beteiligt.

Erika Wien hatte auch großen Erfolg als Konzert- und Oratoriumssolistin, wo sie vor allem in Werken von Johann Sebastian BachLudwig van Beethoven oder Johannes Brahms überzeugen konnte. Außerdem trat sie bei Liederabenden in Erscheinung und war Konzertsängerin in Deutschland, der Schweiz, sowie in Wien, MadridGranada und Paris. Erika Wien starb in der Nacht vom 9. auf den 10. Oktober 2019 in Zürich. Quelle Wikipedia

Antônio Gomes: „Lo schiavo“

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Schnell hatte sich die Kunde von der italienischen Erstaufführung (!!!) des Schiavo von Carlos Gomez am Teatro Lirico von Cagliari im letzten Februar/März (2019) auch bei zisalpinen Opernfreunden herumgesprochen, und ungeduldig wartete man auf den versprochenen Mitschnitt auf Bluray (37845) und CD (2 CD CDS 784502) bei Dynamic, der nun dieser Tage eintraf und John Neschlings Championship in Sachen Gomes einmal mehr bestätigt. Wie nur wenige Dirigenten setzt er sich seit Jahren für seinen Landsmann ein und hatte bereits 1994 in Bonn die Herzog-Fitzcaraldo-Inszenierung des Guarany mit Plácido Domingo (Sony) dirigiert – musikalisch wie auch optisch damals ein Regenwald-Fest. Optisch gilt dies auch für die Aufführung in Cagliari, die sich stimmungs- und farbenvoll auf der DVD bietet (davon im Atikel von Ingrid Wanja nachstehend mehr).

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Danilo Prefumo, italienischer Musikwissenschaftler von Rang, schreibt im Beiheft zur neuen CD/ DVD-Ausgabe bei Dynamic: Zunächst müssen wir einen kurzen Überblick geben hinsichtlich der politischen und ökonomischen Situation Brasiliens in den Jahren, in denen Lo schiavo komponiert wurde. Seit dem 16. Jahrhundert eine portugiesische Kolonie, wurde der gewaltige lateinamerikanische Staat erst 1822 unabhängig. Es war ein spärlich besiedeltes Land (heutzutage mit über 200 Millionen Einwohnern der Staat mit der fünfthöchsten Bevölkerung auf Erden) und extrem arm. 1860 jedoch führte die Errichtung von Kaffeeplantagen zu einem plötzlichen Wirtschaftsboom, was die Einwanderung vieler Europäer zur Folge hatte. Brasilien war eine konstitutionelle Monarchie, in der die Sklaverei immer existiert hatte. Nachdem der Amerikanische Bürgerkrieg in den USA zwischen 1861 und 1865 mit der Niederlage der südlichen Sklavenstaaten geendet hatte, wurden die Stimmen gegen die Sklaverei und für eine wichtigere institutionelle Demokratisierung immer lauter; die republikanischen Parteien gewannen mehr und mehr an Macht.

Gomes „Lo Schiavo“/ Bühnenbild zur Uraufführung von Luigi Bartezago/ Ricordi

Wie bereits erwähnt, beabsichtigte Gomes Lo schiavo während eines Aufenthaltes in Brasilien im Jahre 1880 in Musik zu setzen. Der Librettoentwurf war das Werk eines seiner Freunde, des Vicomte de Taunay, eines glühenden Anhängers der Abschaffung der Sklaverei. Die Oper sollte daher einen aktiven Part spielen bei der Unterstützung der abolitionistischen Bestrebungen. Gleichwohl brachte Rodolfo Paravicini, derjenige, der das Werk ins Italienische übersetzen und den Entwuf des Vicomte in ein wirkliches Libretto umsetzen sollte, einige Bedenken vor. Am Ende wurde die Handlungszeit, die ursprünglich auf 1801 gelegt war, zurück ins Jahr 1567 versetzt, wodurch die schwarzen Sklaven, die auf den Plantagen im 16. Jahrhundert nicht eingesetzt wurden, durch Ureinwohner ersetzt werden konnten. Eine Reihe rechtlicher Fragen vereitelte sodann einen Erfolg der Oper. Die europäischen Opernhäuser zeigten kein Interesse daran, sie auf die Bühne zu bringen. Die für 1887 in Bologna angesetzte Premiere wurde wegen einer Verstimmung zwischen dem Komponisten, der für seinen schlechten Charakter bekannt war, und dem Librettisten abgeblasen. Lo schiavo kam schließlich am 27. September 1889 im Teatro Real von Rio de Janeiro zur Uraufführung. Für Gomes unvorteilhaft, war die Sklaverei in Brasilien indes im Vorjahr abgeschafft worden, was die Oper ihres Charakters einer Vorreiterrolle im Ringen um eine noble Sache beraubte. Weniger als zwei Monate nach der Premiere setzte ein unblutiger Staatsstreich der Monarchie unter dem letzten Kaiser von Brasilien, Pedro II., ein Ende; die Republik wurde ausgerufen.

Gomes „Lo Schiavo“ deutsche und europäische Erstaufführung am Stadtheater Gießen/ Foto Stadttheater Gießen

In Brasilien erlangte die Oper einen triumphalen Erfolg, doch anderswo war sie keineswegs populär. Bald schon geriet sie in Vergessenheit; einzig die Tenorarie des zweiten Aktes Quando nascesti tu hielt sich im Repertoire. 1911 wurde diese von Caruso eingespielt und 18 Jahre danach von Giacomo Lauri-Volpi. Wagner war der letzte Schrei und die traditionelle italienische Oper, abgesehen von Verdis spätem Meisterwerk Otello (Mailand, Teatro alla Scala, 5. Februar 1887), wurde weltweit nicht geschätzt, nicht einmal in Italien.

Nach vielen Jahren in der Versenkung erfuhr Lo schiavo 1999 eine moderne Wiederaufnahme am Belém-Theater in Brasilien, gefolgt von einer Reihe von Aufführungen in Europa. Die Produktion des Teatro Lirico di Cagliari, die wir im Audio- und Videoformat herausgeben, dokumentiert die erste Aufführung dieser Oper in Italien und ist nur eines der erfolgreichen repêchages, welche das sardinische Opernhaus in den letzten Jahren offerierte. Lo schiavo ist tatsächlich eine der besten Opern von Gomes und entfaltet trotz einiger Einwände eine auffallende Fülle an melodischer Kreativität, einen klugen Aufbau und eine handwerkliche Meisterschaft der theatralischen Mechanismen, die sich stets auf hohem Niveau befinden.

Diese Elemente können die Mittelmäßigkeit des Librettos mit Paravicinis sperrigen Versen nicht ausradieren, aber helfen dabei, Gomes‘ Leistung in der richtigen historischen Perspektive zu beurteilen, nämlich zu einer Zeit, als sich die italienische Oper des Post-Risorgimento in einer Krise befand. Das Theater, wie wir es kennen, hat seine Exzentrizitäten und seine erworbenen Gewohnheiten, von denen eine Abkehr mittlerweile unmöglich erscheint. Aber womöglich könnte sich das italienische Opernrepertoire auf einige andere Werke neben Ponchiellis Gioconda ausweiten, (nicht von Verdi) komponiert zwischen 1861 (dem Jahre der Errichtung des Königreiches Italien) und, sagen wir 1890 (dem Jahre von Mascagnis Cavalleria rusticana). Ohne dass wir um jeden Preis das wieder zu entdeckende Meisterwerk finden wollen, das vermutlich nicht existiert, könnte eine größere Neugier die Spielpläne erneuern und dem Publikum ab und an etwas Neues bieten. Danilo Prefumo (englische Übersetzung von Daniela Pilarz; Übertragung ins Deutsche von Daniel Hauser)

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Rein akustisch (davon hier) hat die Aufnahme ihre Flecken, leider. Und es schmerzt mich, der so ambitionierten Dynamic mal wieder ein paar sehr kritische Worte zu ihren Mitschnitten sagen zu müssen, schätze ich die Firma doch wegen der unglaublichen Vielfalt ihrer Live-Titel, die sie wie keine andere im Programm hat und mit denen sie viele europäische Theater vorstellt. Aber Live-Mitschnitte haben ihre Tücken.

John Neschling ist nun am Pult des Orchesters und Chor vom Teatro Lirico in Cagliari, das sich in der Vergangenheit  immer wieder durch seltenes Repertoire hervorgetan hat. So auch hier. Der Schiavo  von 1889 (am Teatro Imperial in Rio de Janeiro) ist im Zuge des amerikanischen Bürgerkriegs und der Abolitionsten-Bewegung Gomes´ später Aufschrei gegen die Sklaverei in seiner Heimat. Der  erscholl leider zu einem Zeitpunkt, als diese gerade auch in Brasilien abgeschafft worden war. Pech für Gomes, dessen Oper in der Folge kaum (und dann nur im Heimatland) wieder gespielt und nach kurzem Auftauchen 1959 in Rio, dann 1999 in  Belem und schließlich in Rio erst 2016 in einer bedeutenden Produktion unter Roberto Duarte wiedererweckt wurde. Cagliari nun ist die erste italienische Bühne, den Schiavo aufgeführt zu haben. 

Es bleibt eine unbegreifliche Tatsache, dass Italien einen seiner größten Gast-Komponisten, der zudem durchweg in italienischer Sprache schrieb, kaum zur Kenntnis nahm und nimmt, so wie es in Deutschland – außer kurzen Lebenszeichen in Bonn (Il Guarany) oder Braunschweig (Salvator Rosa/ Oehms) kaum etwas von ihm zu hören gab/ gibt. Allerdings gebührt die Palme der europäischen Erstaufführung wieder einmal dem Stadttheater Gießen, wo es den Schiavo 2013 unter Carlos Spierer in der Inszenierung von Joachim Rathke gab (später dann am selben Haus erstmals auch die Fosca 2017, chapeau!)

Zeitgenössische Karikatur von Gomes/HeiB

Bei aller Freude über diesen seltenen Titel bei Dynamic und bei aller Wertschätzung der kraftvollen, männlich-robusten Leitung John Neschlings mit  dem Orchester und Chor des Theaters in Cagliari (in einer Co-Produktion mit dem Festival Amazonas de Opéra von Manaus) wird der Musikfreund mit dieser Neu-Aufnahme bei Dynamic nicht warm. Und das liegt an der nicht überzeugenden Besetzung ebenso wie (auf der CD als Soundtrack des Videos) an der rummeligen, unruhigen Live-Akustik, die das musikalische Erleben mit vielen unangenehmen Bühnengeräuschen und merkwürdiger Akustik „bereichert“. Soundtracks sind eben nicht wirklich günstig. Neschlings sorgfältige Hand vor allem auch in den lyrischen Passagen, an denen diese schwungvolle Oper so reich ist – ihre zahlreichen Arien und Ensembles geben reichlich Gelegenheit dazu – kann die provinziellen Stimmen nicht „aufhübschen“, die in den Hauptpartien nur selten ein überregionales Niveau für eine Traviata oder des Trovatore erreichen oder deren Anforderungen standhalten würden. Der Vergleich ist angemessen, denn Gomes war ja ein erbitterter Rivale des übergroßen Maestro, in dessen Schlagschatten alle Zeitgenossen standen und sich mühten, da heraus zu treten. Die berühmten compositori minori eben.

Gomes „Lo Schiavo“/ die legendäre und lange Zeit einzige offizielle (Live-)Aufnahme der Oper im Mitschnitt aus Rio 1959

In Cagliari erschrickt man sich über den Zustand der Stimme von Svetla Vassileva, noch vor nicht langer Zeit eine glanzvolle Francesca/Zandonai zu  Alagnas Paolo an der Pariser Oper war. Was ist nur mit der Stimme passiert? Hier als Ilara klingt sie einer Azucena nicht unähnlich, aufgeraut, ausgesungen, tremolierend, zu brustig in der Tiefe – in der Rolle der jungen Sklavin zwischen zwei Männern (Gutsbesitzer und Mit-Sklave) eher wie eine Stammesmutter denn begehrtes Liebesobjekt. Ich weiß, ich bin ungalant, und optisch macht Frau Vassileva auf der DVD vieles wett, das das Ohr auf der CD verstärkt wahrnimmt. Schade wirklich. Ich habe sie mal so bewundert. Und ihre Kollegin  Adriane Queiroz auf dem TV/CD-Dokument aus Rio 2016 bei youtube (und als Kauf-CD/Video nur in Brasilien erhältlich), ist da wesentlich liebenswürdiger und hörbarer

Massimiliano Pisapia klingt als feudaler Liebhaber Americo eher schmalbrüstig, rafft sich gelegentlich zu etwas Feuer auf, ist aber nicht wirklich der stramme Gutmensch in einer düsteren Sklavenhalter-Umgebung. Auch da hat Roldolfo Giuliani 2016 die Nase vorn und zeigt Latino-Temperament und Leidenschaft (nebst passenden Schluchzern, wie sich das gehört). Im Vergleich ist sein Gegenpart, der Titelverteidiger Ibara, mit Andrea Borghini noch am besten besetzt. Dessen körniger Bariton hat Charakter, nicht so sehr Schmelz, aber Präsenz – auch optisch – und stimmlichen Aplomb, der die Stimmung und die geforderte Kraft gut bewältigt. Aber auch hier scheint mir Fernando Portari  in Rio 2016 von schönerem Timbre und festerer Verdi-Stimme. (Zudem gibt es bei youtube noch weitere Mitschnitte, so 1979 unter David Machado in Sao Paulo, 2018 unter Victor Hugo Torres in Campinas).

In kleineren Rollen bleibt es auf diesem mittleren Niveau. Elisa Balbo/Contessa, Daniele Terenzi/ Giantéra (der Bösewicht, der Sklaven quält), Dongho Kim/ Conte Rodrigo/ Gotaca sowie Marco Puggioni, Francesco Musinu und Michelangelo Romero sind nicht unrecht und stützen funktional. Chor und Orchester des Hauses in Cagliari tun sicher ihr Bestes und geben eine soliden Rahmen für diese spannende Oper, die sich wie kaum eine andere dem düsteren Problem der Sklaverei kümmert. Schon dafür gebührt Gomes (und Neschling in Cagliari) unsere Anerkennung.

Habenswert ist die Aufnahme auch wieder (wie beim Trouvère Verdis jüngst) wegen des ausgezeichneten Booklets zur CD mit einem informativen Artikel von Danilo Prefumo, aus dem wir einen Passus zur Oper selbst in unserer Übersetzung entnehmen. Dazu gibt es – höchst lobenswert – das Libretto mit englischer Übersetzung, auch dies erstmals und hochwillkommen. G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Einakter und Kurzopern

 

Die Überschrift ist nicht ganz korrekt, handelt es sich doch bei Carl Maria von Webers Peter Schmoll und seine Nachbarn um einen veritablem Zweiakter, wobei der komischen Oper ihre Sprechtexte abhanden kamen, wodurch die 20 Nummern, die im Januar 2019 im Theater an der Wien eingespielt wurden, kommoderweise auf eine CD passen (Capriccio C5376). Eine schöne Repertoireergänzung nach der Marco Polo-Aufnahme aus Münster von 1993 mit den neuen Texten von Willy Werner Göttig. Wie Lortzing kam der Sohn einer Sängerin und eines Kapellmeisters früh mit der Bühne in Kontakt. Nach ersten Versuchen, darunter das 1800 im sächsischen Freiberg uraufgeführte Waldmädchen des 15jährigen, das eine gewisse Verbreitung fand, gelangte Peter Scholl und seine Nachbarn vermutlich im März 1803 in Augsburg auf die Bühne. Der auf einem Roman von Carl Gottlob Cramer basierende Text von Joseph Türk, dessen verlorengegangene Dialoge bei späteren Aufführungen im frühen 20. Jahrhundert anhand der Romanvorlage neu gedichtet wurden, behandelt ein damals aktuelles Kapitel deutscher Geschichte, darin Schuberts Der vierjährige Posten nicht unähnlich. Schmoll und die Seinen sind Flüchtlinge. In den Wirren der Französischen Revolution hat Schmoll sein Vermögen verloren, lebt aber immer noch ganz anständig. Alles andere ist Komödienschablone. Scholl hat ein Auge auf seine bedeutend jüngere Nichte Minette geworfen. Doch diese denkt nur an ihren Karl, der ebenso wie Peter Schmolls Bruder Martin in den Kriegswirren verlorenging. Beide erscheinen rechtzeitig. Webers Oper ist kein realistisches Revolutionsdrama, sondern ein artiges Singspiel im Stil des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit sentimentalen, moralisierenden Wendungen, schlichten Liedern, unter denen Minettes Romanze „Ein Mädchenherz, das wahrhaft liebt“, das Terzett „Spiele, alter Esel du“, wo die derbe zupackende Sprache wiederum an Lortzings oft sprichwörtlich gewordene Zeilen erinnert, das von einem Klarinettensolo eingeleitete Rezitativ und Arie des Karl „Ich bin an meiner Wünsche Ziel“, das Finaletto I  sowie das Schlussquartett „Schert euch zum Satan“ hervorstechen. Das plätschert munter dahin, ist mit den solistisch eingesetzten Flöten, Hörnern und Fagott vielfach kunstvoll instrumentiert, was das ORF Vienna Radio Symphony Orchestra – was für ein gewaltiger Name – unter Roberto Paternostro so liebevoll zu erkennen geben als liege ihnen dieses Singspiel aus der Wiener Schule à la Dittersdorf noch im Blut.  In der einen oder anderen Wendung lassen sich Vorbilder späterer Figuren erkennen. Am ehesten kann man in der von Ilona Revolskaya soubrettenrein gesungenen Minette eine Vorstudie zum Ännchen sehen oder im mit Duett mit Sebastian Kohlhepps engtenoralem Karl „Geliebter Mann“ die romantisch-bedrohliche Atmosphäre des Freischütz erahnen; Kohlhepp beweist in der zuvor erwähnten Arie dann auch Koloraturgewandtheit. Die beiden Brüder Peter und Martin Schmoll sind sich nicht nur einig „Es ist wie ich sprach: Der Klüg’re gibt nach“, sondern klingen bei Paul Adam Edelmann und Thorsten Grümbel auch sehr verwandt. Die fehlenden Sprechtexte werden nicht vermisst.

 

Die Situationen in Stanislaw Moniuszkos ein gutes halbes Jahrhundert später 1861 an dem von ihm seit 1858 geleiteten Teatr Wielki in Warschau uraufgeführten Einakter Verbum nobile (Das Ehrenwort) sind denen bei Weber oder allen Singspielen oder komischen Opern des frühen 19. Jahrhunderts ähnlich. Zuzia, Tochter des Edelmanns Serwacy Lagoda, heiratet schlussendlich Stanislaw und löst damit auch das von ihrem Vater gegebene Ehrenwort ein, den Sohn des befreundeten Marcin zu heiraten, denn Stanislaw ist kein anderer als Marcins Sohn Michal, der sich unter anderem Namen auf dem Landsitz einführte. So einfach ist das. Das Libretto stammt von Jan Checinski, der in dem im 18. Jahrhundert spielenden Stück die später im Gespensterschloss kultivierte Rückbesinnung auf nationale Tugenden und Identität beschwört und eine warmherzige polnische Idylle mit einem in Einklang mit seinen Bauern lebenden Landadel suggeriert, die Moniuszko in seiner Musik aufgreift, die nationale Motive  mit westlichen Singspieltraditionen verbindet. Im Zuge der Unruhen und Demonstrationen gegen die russische Fremdherrschaft und einem nationalen Trauermonat nach dem Tod von fünf Patrioten ging Verbum nobile nach der erfolgreichen Uraufführung unter. Die DUX-Aufnahme aus dem Schloss in Szczecin von 2010 ist nach der Posener Aufnahme von 1969 unter Robert Satanowski die zweite des Werkes. Der Klang der von Warcislaw Kunc mit Chor und Orchester der Schloßoper mit Gefühl für die nostalgischen Eintrübungen der elf abgerundeten Nummern geleiteten Aufnahme ist etwas wattig und fern als käme er aus den Schlossverliesen. Gerne würde man dem Stück, das man heute ironisch filtern würde, auf der Bühne begegnen. Die Anforderungen an die Sänger halten sich in Grenzen, wobei ihre Arien, in den immer wieder italienischer Parlandowitz aufblitzt, kleine Kabinettstückchen sind. Herausragend die Dumka elegia der von Aleksandra Buczek mit flachem Sopran gesungenen Zuzia. Ihr Liebhaber ist der neutrale Michal Partyka als Stanislaw/Michal. Aleksander Teliga und Leszek Skrla verkörpern mit grob gefurchten Bässen als Serwacy Lagoda und Marcin den Typ des aufrechten Edelmanns, wie ihn Moniuszko gerne pflegte.

 

Ebenfalls aus Polen kommt Bizets Djamileh, die im Rahmen des 21. Beethoven Festivals im April 2017 im Konzertsaal der Posener Philharmonie aufgenommen wurde. Die Zusammenarbeit mit dem Voice and Opera Department at Yale School of Music erklärt die Besetzung mit amerikanischen Solisten, die Bizets exotischem Standfoto aus einem Kairoer Harem bei seiner polnischen Erstaufführung Leben einhauchen sollen. Bei der Dux-Ausgabe (1412, in wertiger, zweisprachig englisch-polnischer Ausstattung) dürfte es sich um die dritte Studio-Einspielung nach der Orfeo-Aufnahme von 1983 mit Lucia Popp und einer französischen Aufnahme mit Marie-Ange Todorovitch handeln. Über die von Mahler und Strauss hochgeschätzte Djamileh von 1872 hat sich der Schleier des Vergessens gesenkt, gleich der Titelfigur, die sich Haroun verschleiert nähert, um noch einmal seine Liebe zu erringen. Denn eigentlich tauscht Haroun jeden Monat seine Gespielinnen aus und lässt Splendiano auf dem Sklavinnenmarkt für Nachschub sorgen. Mit Hilfe Spendianos, dem sie sich als Preis versprochen hat, falls die List misslingt, lässt sich Djamileh nochmals bei Haroun einschmuggeln. Der Betrug rührt Haroun derart, dass er sich blitzartig in Djamileh verliebt. Das auf Alfed de Mussets Namouna –Dichtung basierende Libretto von Louis Gallet ist dürftig, die Handlung undramatisch, die Figuren ohne Tiefe. Die Musik jedoch atmet den Duft des Orients, spiegelt die Faszination der französischen Kunst und Musik für ägyptisch-nordafrikanische Welten wieder, wie man sie durch Ingres, Flaubert oder die Musik von David über Massenet bis Delibes kennt und für die die Dux-Ausgabe mit der kostbaren Schmuckstückmalerei einer Haremsdame des katalanischen Malers Francesc Masriera ein schönes Titelbild fand. Lukasz Borowicz führt den Poznan Chamber Choir und das Poznan Philharmonic Orchestra mit großer Delikatesse, aber ansprechender bildhafter Schaulust in die Gemächer des jungen Haroun und kreiert mit den summenden Nilschilffern und den einfallenden Frauenstimmen, mit den vielfältigen Begleitfiguren und instrumentalen Ausmalungen ein kostbares orientalisches Gewirk aus tröpfelnden Klängen und Naturschilderungen;  die Sprechtexte sind mir allerdings manchmal zu aufdringlich. Die Nummern – darunter Couplets, Mélodrame, Chanson, Lamento – nehmen den Gestus der opéra comique auf und besitzen eine Gounodsche Eleganz, die der amerikanische Tenor Eric Marry und der britische Bariton George Mosley aufzunehmen versuchen. Mit ihrem farbig schillernden, leuchtkräftigen Mezzosopran bewahrt die in Karlsruhe engagierte amerikanische Sängerin Jennifer Feinstein die Djamileh vor einer gewissen Fadesse und verleiht der sofort im Zentrum der Aufmerksamkeit stehende Sklavin verführerisch bestrickende Konturen, so dass bald klar ist, dass sie zu Harouns Favoritin aufsteigen wird; das Ghasel „Nour-Eddin, roi de Lahore“ und ihr Lamento „Sans doute l’heure est proche“ macht sie zu einer Vorbotin der Dalilah.

 

Als willkommene Ergänzung erscheint eine Fingerübung des 18jährigen Wunderkinds Bizet. Cameo Classics veröffentlichte nun die beiden identisch aufgebauten und sich in der Spieldauer nur um eine Minute unterscheidenden opéra comiques der Konkurrenten Bizet und Lecocq Le docteur miracle. Es handelt sich um eine am 7. Februar 1954 gesendete BBC-Studioaufnahme mit dem Bariton und späteren Opernleiter Bernard Lefort (u. a. Opéra de Paris und geschiedener Ehemann der unvergessenen Pressefrau Suzy Lefort/ G. H.) und den Sopranistinnen Fanély Revoil, Claudine Collart, bewährten Kräften, die man auch auf den in der Reihe Gaite Lyrique wiederveröffentlichten französischen Rundfunkaufnahmen von Opérettes und operas bouffes aus den 50er und 60er Jahren findet (2 CDs CC9113). Dazu der Tenor Alexander Young. Stanford Robinson dirigiert das Royal Philharmonic Orchestra. 1856 war Offenbch als Directeur des Bouffes-Parisiens auf die Werbeidee verfallen, einen Wettbewerb für junge Komponisten auszuschreiben, die sich an einer einaktigen opéra comique versuchen sollten. Als Preis winkte neben dem Preisgeld eine Aufführung an seinem Theater. Den Text lieferte Offenbachs Orphée- und Belle Hélène-Librettist Ludovic Halévy, den sich Bizet später für die Carmen schnappte. Bizet und der sechs Jahre ältere und erfahrenere Charles Lecocq teilten sich den ersten Preis, worüber Lecocq aufgebracht war, da er vermutete, Bizets späterer Schwiegervater und Onkel des Librettisten Fromenthal Halévy habe seine Hände im Spiel. Ausgehend von einer Komödie Sheridans schrieb Ludovic Halévy ein Vierpersonenstück, in dem ein junges Liebespaar, wie stets, dem widerstrebenden Vater, der gegen die Verbindung Laurettes mit einem Militärangehörigen ist, die Einwilligung zur Heirat abringt. Der junge Offizier Silvio kommt als der titelgebende Docteur miracle ins Haus des künftigen Schwiegervaters. Bizet lässt dazu im Geiste gleich die Soldaten aus Sevilla aufmarschieren und schuf alles in allem eine romantisch melodiöse, südlich scheinende  – das Stück spielt in Padua – Musik mit vielen gustösen Höhepunkten, darunter das herrliche Quartett „Voici l’omelette“. Silvio gibt vor, das Omelette sei vergiftet und rettet als Wunderdoktor die Familie vor dem sicheren Tod, wodurch er Laurettes Hand erringt. Die Aufnahme strotzt vor Vitalität und überspringender vis comica, die Sänger sind ausgebuffte Theaterhasen, denen die Sprechtexte wie selbstverständlich von den Lippen gehen und die den Gesangsnummern alerte Sinnlichkeit geben. So muss französische Operette klingen. Unwiderstehlich. Ein Vergnügen, das fast unvermindert auch in Lecocqs Variante anhält, die stärker in der Tradition der klassizistisch-brillanten, kristallin klaren französischen Gesangskomödie steht.

 

Zeitensprung: Besucher des Aachener Theaters, die sich noch an die Uraufführung aus dem Jahr 2005 erinnern, dürfen sich freuen, dass Michael Gordons (*1956) Acquanetta jetzt in einer 2018 beim Prototype Festival gezeigten chamber version greifbar ist (CA21150). Gordon ist Kopf des 1987 als Bang on a Can formierten Komponistenkollektivs. Das interessanteste an den von Daniela Candillari mit dem Bang on a Can Opera Ensemble und dem Choir of Trinity Wall Street und Mikaela Bennett in der Titelrolle geleiteten zehn musikalischen Sequenzen, in denen sich Schauspiel, Musik und Film zu einem bizarren Tongemälde aus wilden Minimal Music-Fetzen verbinden, ist die Story des B-Movie-Stars Acquanetta. Die zu Lebzeiten nur als Acquanetta bekannte Schauspielerin, die zum „venezolanischen Vulkan“ stilisiert wurde, gelangte Anfang der 1940er Jahre nach Hollywood und wurde durch ihre Mitwirkung in Horrorfilmen kurzzeitig bekannt. Erst bei ihrem Tod 2004 wurde offenkundig, dass die Sexbombe nicht lateinamerikanischer, sondern afro-amerikanischer Abstammung war und Mildred Davenport hieß. Der Film ihres Lebens war „Captive Wild Woman“, in der sich durch das Zutun eines bösen Arztes eine durch Mutation aus einem Gorilla-Weibchen entstandene junge Frau wieder in einen Gorilla zurückverwandelt. Um diese zentrale Szene kreist Gordons mit einem langanhaltend ekstatischen „Oooh“-Geschrei eingeleiteter Thriller, der eine unerbittlich bohrende Intensität annimmt und den man wohl auf der Bühne erleben muss. Rolf Fath

Ab-Ebbendes

 

Vom Meer singt Marie-Nicole Lemieux auf ihrer neuen CD bei Erato (0190295424336). Der französische Originaltitel Mer(s) steht deshalb im Plural, weil die Altistin drei Zyklen interpretiert, die sich thematisch dem Phänomen des Meeres widmen. Zu Beginn erklingen Edward Elgars Sea Pictures op. 37. Die fünf Gesänge auf Texte verschiedener Dichter (darunter Elgars Ehefrau Alice) entstanden 1899 als Auftragswerk für das Norfolk und Norwich Festival. Referenzaufnahmen dieses Zyklus sind die mit Janet Baker und Yvonne Minton, gegen die es die Neueinspielung schwer hat. Die dramatischen Partien der jüngeren Vergangenheit (Azucena, Cassandre) haben Marie-Nicole Lemieux offenbar nicht gut getan, die Stimme ist in ihrer Lasur nunmehr spröder und in der Höhe ausgefasert. Das stört vor allem beim dritten und fünften Titel, dem bewegten „Sabbath Morning at Sea“ und „The Swimmer“ mit einem unschön verzerrten exponierten Ton. Auch vermisst man die schwebenden Momente, die ihre Vorgängerinnen so atmosphärisch gezaubert hatten. Am besten gelingt ihr Nummer 4, „Where Corals Lie“, in ausgeglichenem Fluss. Das Orchestre National Bordeaux Aquitaine unter Paul Davis begleitet schwelgerisch und wartet auch mit impressionistisch flirrenden Nuancen auf.

Auch bei Ernest Chaussons Poème de l’amour et de la mer mer op. 19 hat Lemieux starke Konkurrenz – wieder ist es Janet Baker, dazu die griechische Mezzosopranistin Irma Kolássi, aber auch französische Soprane wie Régine Crespin haben Modellaufnahmen hinterlassen. Der Zyklus besteht aus drei Titeln, wobei der zweite ein kurzes instrumentales „Interlude“ ist, welches das Orchester in seiner wehmütigen Melancholie stimmungsvoll wiedergibt. Im ersten, dem ausgedehnten„La Fleur des eaux“, klingt die Stimme von Marie-Nicole Lemieux wieder unruhig vibrierend. Reizvoll wirken einige tiefe Noten. Groß rauscht das Orchester auf und findet zu grandioser Steigerung. Solche findet sich auch in Nummer 3, „La Mort de l’amour“, was die Interpretin an Grenzen führt.

Der dritte Zyklus, Victorin Joncières’ vierteilige Komposition La mer, ist eine Weltpremiere auf CD. Sie wurde 1881 in Paris aus der Taufe gehoben. Eine Besonderheit ist die Einbeziehung des Chores, hier der stimmgewaltige Choeur de l’Opéra National de Bordeaux in der Einstudierung von Salvatore Caputo. Die Stimmung des Werkes ist spätromantisch, der mehrfach eingesetzte Hörnerklang erinnert gar an Weber und Mendelssohn. Der Alt und der Chor geben im Wechsel die Stimmen der Nixen, Fischer und Meereswellen wieder. Die Schrecken der Stürme, Blitze und Brandung werden fast naturalistisch geschildert, was zu  dramatisch aufgetürmten Klangwogen führt. Im letzten Stück, „Épilogue“, tröstet die Stimme des Meeres all jene, die in den Wellen den Tod fanden. Lemieux findet hier endlich zu warmen, sanften Tönen, die für die einstige Schönheit der Stimme stehen. Bernd Hoppe

„La vie d’une rose“

 

Unter dem Titel „La vie d’une rose“ ist jetzt eine CD mit Liedern von Jules Massenet erschienen (SOMMCD 0600). Die inzwischen leider viel zu früh verstorbene Sally Silver und deren Begleiter Richard Bonynge haben sie 2017 aufgenommen; in sechs Duetten und mit zwei Sololiedern ist auch die Mezzosopranistin Christine Tocci beteiligt. 25 von insgesamt 285 vertonten Texten geben einen guten Überblick über Massenets Liedschaffen. Oft steht in den Texten außer der Liebe mit all ihren Formen und Folgen die Rose im Mittelpunkt, die auch der „code“ zwischen Massenet und seiner letzten Muse Lucy Arbell war.

Sally Silver entfaltet ihren schönen klaren Sopran und überzeugt mit aufblühenden Höhen sowie ausgefeilter Gesangstechnik. Darüber hinaus besticht sie durch gute Diktion, hat aber auch den Mut, zugunsten des Gesamtklanges mal verschwommener zu artikulieren, um die entscheidenden Worte dann wieder präzise zu setzen. Ihre Gestaltung dieser Lieder spricht den Hörer direkt an. Wunderbar ist die Steigerung in Dieu créa le désert und die kleine Kostbarkeit Être aimé.

Der üppige Mezzo von Christine Tocci wird nicht immer ruhig geführt, was aber zu dem ausdrucksstarken La dernière lettre de Werther à Charlotte gut passt; hier verwendete Massenet ausnahmsweise zusätzlich die Sprechstimme, die einen interessanten Effekt bewirkt. In den Duetten verbinden sich die Stimmen der beiden Protagonistinnen dagegen erfreulich gut, wobei sie in Le poète et le fantôme deutliche Kontraste setzen. Herrlich ist das jubelnde Joie! der Beiden.

Richard Bonynge ist ein stets aufmerksamer Wegbereiter und Begleiter der Frauenstimmen. Seien es Impulse durch Akkordsetzungen wie in Le coffret d’ébène oder sanftes Flimmern in Aux ètoiles, sein einfühlsames Spiel passt zu jeder Stimmung.

 

Bereits 2016 ist eine CD mit Mélodies von Camille Saint-Saens auf den Markt gekommen. Apartè (AP132) stellt damit die vier geschlossenen Liederzyklen des vielseitigen Komponisten vor, die mit insgesamt 24 Liedern nur einen Teil seines großen Lied-Schaffens ausmachen. Der griechische Bariton Tassis Christoyannis und sein amerikanischer Klavierpartner Jeff Cohen haben sich erfolgreich der Aufgabe gestellt, uns mit diesen selten zu hörenden Zyklen bekannt zu machen. Der erste Zyklus Mélodieses persanes umfasst 6 Lieder, die Saint-Saens auf Gedichte des zur Gruppe „Poètes parnassiens“ gehörenden Armand Renaud aus dessen Sammlung Les Nuits persanes in den frühen 70er Jahren des 19.Jahrhunderts vertont hat. Jedes Lied ist einer bestimmten Person aus seinem engsten Freundeskreis gewidmet wie z.B. La Brise Pauline Viardot oder Tournoiement Lorenzo Pagans. Mit kerniger, höhensicherer Stimme präsentiert Tassis Christoyannis die Lieder, die von orientalischen Einflüssen durchsetzt sind. Besonders intensiv gelingt das ruhig fließende Au cimetière, das stark kontrastiert wird durch Tournoiement (songe d’opium), einem flüchtig dahinfliegenden Traum; bei dessen flimmernder Klavierbegleitung erfreut Jeff Cohen durch größte Fingerfertigkeit, der auch durch Ausdrucksstärke im langen Nachspiel von Sabre en main seine hohe künstlerische Qualität beweist.

Der zweite Zyklus La Cendre rouge entstand 1914 und umfasst 10 Lieder nach Texten von Georges Docquois. Erstmals aufgeführt wurden die Gabriel Fauré gewidmeten Lieder allerdings erst 1916 im Salle Gaveau, wo der Komponist selbst den Tenor Rodolphe Plamondon begleitete. „Die kleine Sammlung enthält sowohl ernste als auch amüsante Stücke, für jeden Geschmack etwas“, wie Saint-Saens an Fauré schrieb. Christoyannis überzeugt mit flexibler Stimmgebung, tragfähigem piano (Ame triste), frisch jubelndem Mai, weich klingendem Zwiegespräch (Amoroso) und gewaltiger dynamischer Steigerung (Reviens!). Cohens unterstützt lautmalerisch wie z.B. bei Pâques mit den aus Rom heimgekehrten Glocken und den getupften Tropfen in Jour de pluie.

Die beiden anderen Zyklen stammen aus Saint-Saens‘ Todesjahr 1921, als er nur zu seinem Vergnügen komponierte, inspiriert durch seine Liebe zur Dichtung des 15. und 16. Jahrhunderts. Da gibt es zunächst die Cinq Poèmes de Ronsard, die die humorvolle Seite des Komponisten zeigen. Herrlich witzig sind das flotte Grasselette et Malgrelette, L’Amant malheureux und L’Amour blessée, in dem der kleine Cupido erfährt, wie groß sein Schmerz durch einen Bienenstich wirklich ist im Verhältnis zu dem Schmerz, den er anderen zufügt mit seinem Pfeil!

Zuletzt entstanden drei kleine Vieilles Chansons, fröhliche Lieder über Natur und Schönheit, deren Le Temps nouveau Saint-Saens‘ letzte Liedkomposition vor seinem Tod war: Ein heiteres, optimistisches Lied, das die beiden Künstler schwungvoll ausdeuteten.

 

Tassis Christoyannis beim Konzert in Versaille/MT

Außerdem hat Aparté (AP181) 2017/18 Mélodies von Charles Gounod herausgebracht, ebenfalls mit Tassis Christoyannis und Jeff Cohen. 24 seiner etwa 150 Vertonungen von Gedichten verschiedener Dichter sind auf der CD vereint, darunter auch ein Text von Metastasio im italienischen Original und drei in englischer Sprache. Christoyannis‘ Bariton hat in der Zwischenzeit noch an Reife gewonnen, klingt wunderbar weich und ist für das französische Lied bestens geeignet. Où voulez-vous aller? nach Théophile Gautier ist sein erstes, 1839 veröffentlichtes Lied: Die beiden Interpreten nehmen es mit jugendlichem Schwung, so dass die gewisse Ironie durch nach oben oktavierte Begleitung der letzten Strophe bestens zur Geltung kommt. Intensiv gestaltet der Bariton Lamento (La Chanson du pêcheur) mit Cohens vorzüglicher Wellenbewegung durch gebrochene Arpeggien. Ô ma belle rebelle nach Jean-Antoine de Baif ist Gounods guter Kenntnis der Renaissance-Musik verhaftet und wird mit sehr klarer Diktion geboten. Höhepunkte sind weiter der elegante Salon-Walzer Si vous n’ouvrez votre fenêtre (Alexandre Dumas, fils), das flotte Au printemps (Jules Barbier) – ein Walzer mit gitarrenartiger Klavierbegleitung –, das einschmeichelnde Liebeslied Maid of Athens (Lord Byron), das dramatisch auftrumpfende Départ (Émile Augier) und die verspielte Sérénade (Victor Hugo) mit kleinen Koloraturen. Man merkt deutlich, dass die beiden Interpreten viel zusammen arbeiten und der Pianist mit dem Sänger atmet. Sehr zu empfehlen zum Kennenlernen. Im informativen Begleitheft – wie immer leider nur in Französisch und Englisch – findet sich viel Interessantes zu Dichtern und Kompositionsstil, auch zu allen Liedern in chronologischer Reihenfolge, die aber nicht der Abspielfolge der CD entspricht!

 

Im weitesten Sinne gehört auch die Einspielung von Liedern von Alfredo Casella in diese Zusammenfassung, da sie während seines knapp 20 Jahre währenden Aufenthaltes in Frankreich entstanden. Die Engländerin Lorna Windsor und der Italiener Raffaele Cortesi haben Le liriche degli „anni di Parigi“ bei Tactus im französischen Original eingespielt (TC880301). Diese Lieder mit ihrer verstärkt eigenständigen, fast orchestral behandelten Klavierbegleitung – zwischen 1902 und 1915 entstanden – üben einen besonderen Reiz aus. Lorna Windsors in Tiefe und Mittellage durchaus füllige Sopranstimme wird leider in der Höhe durch stärkeres Vibrato und Schärfen eingeschränkt. Am besten gelingen die Tagore-Vertonungen L’Adieu à lavie op.26 u.a. mit wunderbar fahlen Tönen in Mort, ta servante, est à ma porte; im Klavier hört man bei A cette heure du départ genau den ankommenden Zug. Cortesi entwickelt gewaltige Klänge, die manchmal die Texte und ihren Gehalt erschlagen, aber ungemein fesselnd sind. Leider sind im Beiheft überhaupt keine Liedtexte und Informationen über die Künstler abgedruckt, nur ein allgemeiner Überblick über Casellas Schaffen in Paris in Italienisch und Englisch – das ist sehr dürftig! Marion Eckels

Suche nach der blauen Blume

 

Dimensionen nennt sich die Trilogie, von der Marlis Petersen nun den dritten Teil vorgelegt hat, nach Welt und Anderswelt schickt sie auch Innenwelt mit ihren Überlegungen sehr esoterischer Art  auf den Weg, spricht im Booklet von der „inneren Nacht des Unterbewusstseins“, der „inneren Weisheit unserer Seele“, wünscht dem Hörer „viel inniges Erleben auf der Reise zu den inneren Welten“. Dem Hörer wünscht die Sängerin, „wieder Mensch (zu) sein und die Augen und Ohren und das Herz für unsere grandiose Welt (zu) öffnen“.

Rationaler und damit für viele sicherlich eher nachvollziehbar geht Joachim Reiber in seinem ebenfalls im Booklet enthaltenen Aufsatz mit dem Thema um, informiert so sachkundig wie engagiert über die Lieder vor allem aus der Romantik, aber auch von Richard Strauss und der französischen Musik.

Marlis Petersen schreibt zwar von der Vielfalt romantischen Erlebens, ihre Interpretationen jedoch sind fast durchgehend durch auf sehr schönes, auf die Dauer jedoch ermüdendes Piano konzentriert. Das garantiert den Eindruck tiefer Verinnerlichung, könnt aber, vor allem auf die Dauer gesehen, für Manierismus gehalten werden.

Im ersten Kapitel, Nacht und Träume genannt,  hat sie in Weigls „Seele“ ein herrliches Gefunkel für „Sternen“, überzeugt bei Strauss‘ „Die Nacht“ die Hervorhebung der letzten drei Zeilen, könnte Brahms‘ „Nachtwandler“ mehr Binnendifferenzierung vertragen. Besonders verträumt geraten natürlich die „Träume“ in Wolfs „Die Nacht“, in feiner Zartheit kommt das Selige(s) Vergessen von Hans Sommer daher, erfreut den Hörer auch deswegen, weil er neben Bekanntem auch weniger Vertrautes hören kann. „Nacht und Träume“ von Schubert beschließt das Kapitel und lässt über die Fermate für „Heil’ge“ entzückt staunen.

Bewegung im Innern ist der zweite Teil betitelt und lässt mit Regers „Schmied Schmerz“ nicht zum ersten Mal bedauern, dass die Textverständlichkeit oft auf dem Altar der Verinnerlichung geopfert wird. Auch wäre etwas mehr Stimmvolumen, über das die Sängerin sicherlich verfügt, hier angemessen gewesen. Gemeinsam haben die folgenden drei Lieder die Beschwörung der Nachtigall, unverzichtbar für die Romantik wie Waldesrauschen und Posthorn. In Brahms‘ „Der Tod, das ist die kühle Nacht“ klingt „sogar im Traume“ tatsächlich wunderbar träumerisch, wie von fern ertönt in seinem „Nachtigall“ „ein leiser Widerhall“, noch sich steigern kann sich  der Eindruck von Entrücktheit in Lizsts  „Lasst mich ruhen“. Auch wenn eine zart angedeutete Ekstase in Wagners „Träume“ hörbar wird, wünscht man sich, daran sind vielleicht Hörgewohnheiten schuld, eine dunklere, sinnlichere Stimme.

Weiter geht es mit Mouvement Intérieur, wo in Faurés „Après un reve“ wichtiger die Einheitlichkeit der Stimmung als der Kontrast zwischen Verlangen und Erfüllung zu sein scheint. Wie bei den deutschen Liedern fällt bei den Chansons auf, dass die Textverständlichkeit zurückstehen muss hinter dem Wunsch, ein äußerstes Maß an Ästhetisierung zu erreichen. Duparcs „Chanson triste“ besticht durch den silbrigen Klang des Soprans, der Ton gewordenes Mondlicht zu sein scheint, dazu fällt hier nicht zu ersten Mal auf, wie vorzüglich die Begleitung durch Stephan Matthias Lademann ist.

Erlösung und Heimkehr kehrt zur deutschen Sprache zurück und lässt bei Wolfs „Gebet“ doch etwas mehr Schlichtheit vermissen, bei Lizsts „Hohe Liebe“ ein überzartes „trunken“ ein wenig üppiges „Himmel aufgetan“ noch Wünsche offen. Auch Richars Rösslers „Läuterung“ verbindet einen von „lodern“, „Gluten“, „rauschend“ geprägten Text von Richard Dehmel mit gleichbleibend zartem Gesang.

Aus den Vier letzten Liedern stammt „Beim Schlafengehen“, bei dem die Stimme wie eine zweite Violine klingt, die von einer ersten üppig virtuos herausgefordert wird. Da geht der schöne Text in virtuoser Selbstgefälligkeit unter. Zum prätentiösen Gedicht Rilkes und der Musik Robert Fürstenthals passt das geheimnisvolle Raunen der Stimme (Solo Musica SM 316). Ingrid Wanja   

Eine Ikone des Gesangs

 

An Jessye Norman (die am 30. September 2019 im Alter von 74 Jahren verstarb) erinnere ich ganz genau, vor allem an ihren ersten Liederabend in Berlin 1968 im damaligen West-Berliner Amerika-Haus, wo sie als ganz junge Stipendiatin die Zuhörer und mich – gleichaltrig –  zutiefst beeindruckte: eine Stimme wie Samt, dunkel, erotisch und geheimnisvoll. Schubert und Amerikanisches gut artikuliert, mit wunderbaren Augen in einem interessanten Gesicht über einer wüsten Haarpracht und beträchtlicher Leibesfülle.

1969 wurde Jessye Norman in das Opernstudio der Deutschen Oper Berlin übernommen. Und von da an war sie für einige Jahre ein fester Bestandteil des Ensembles, sang – wie die nachstehenden Artikel beifügen – Elisabethen, Elviren und Aidas. Letztere sehe ich noch vor mir in dieser abenteuerlichen, zweigeteilten Bühne. Aber auch ihre Figaro-Contessa, über deren Hand sich Fischer-Dieskau auf der Suche nach Erika Köth im Halbdunkel des letzten Aktes beugte… Es ist heute absolut nicht  politisch korrekt, sich über die Körperfülle und vor allem die Hautfarbe eines Künstlers zu äußern, aber für uns damalige unaufgeklärte Operngänger der Sechziger war es schon gewöhnungsbedürftig, Jessye Norman im Kostüm von der Grümmer als Tannhäuser-Elisabeth oder statt Pilar Lorengar als Mozarts Elvira zu erleben … Über viele Jahre hing in der U-Bahn-Station der Deutschen Oper ein Schwarz-Weiß-Poster für Aida mit Jessye Norman und George Fortune abgebildet, wovon Frau Norman später in einem Interview zu Zeiten ihres internationalen Ruhmes nichts mehr wissen und ihren Beginn in Berlin nicht erinnert werden wollte („Ich habe immer gern mit Herrn von Karajan gearbeitet“, und ihr Deutsch hatte sie auch verloren.).

Ich erinnere mich auch an diese Abende mit Herbert von Karajan und anderen in der Berliner Philharmonie, wo sie ihre immer afrikanischer werdenden Roben zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Auftritte machte. Sie hatte da bereits in Frankreich ein drastisches image-polishing erfahren und stand nun als die große Heroine des Gesangs vor uns: stolz, aztekisch anmutend, charismatisch und geheimnisvoll. Sie war neu erfunden, war durch Video-Auftritte und die vielen, vielen Einzel-LPs/CDs bei Philips mit den fabelhaften Covers zur Ikone der Musik geworden.  Namentlich die Franzosen (Sergio Segalini von L´Opéra vor allem) wiesen ihr den Göttinnen-Status zu, der in ihre Umhüllung in die Trikolore zum 14. Juli mündete (man hat immer schon schwarze Sängerinnen in Frankreich geliebt, vor allem Amerikanerinnen wie Josephine Baker, Ethel Semser, Barbara Hendricks bis zu – nun – Pretty Yende).

De mortuis… Ein Nachruf ist ja auch der Moment, sich über das bleibende Erbe des Verstorbenen Gedanken zu machen: Was bleibt von Jessye Norman für uns heute? Sie hat (gefühlt) wirklich unendlich viele  Aufnahmen gemacht, mehr Liederplatten als Operneinspielungen. Und es sind sicher die Lied-Aufnahmen, mit denen sie in Erinnerung bleiben wird. Die Opernpartien leiden (nur für mich, um die Welle der Empörung einzudämmen!!!) unter einer gewissen Monochromie an Ausdruck: Alles klingt für mich gleich glorios, cremig, üppig. Nach einer Weile ist mir diese Üppigkeit über, sagt mir nichts mehr über den bloßen Klang (wunderbar) hinaus. Das scheint mir ein amerikanisches Syndrom zu sein, wo Stimmen auf Klang und Reichweite geschult werden und (für mich) oft eine gewisse Blässe des Ausdrucks aufweisen. Jeder hört Stimmen anders, natürlich, aber die Stimme von der Norman sagt mir so wenig, erzählt mir keine Geschichte, ist zu oft „nur“ Wohlklang, namentlich bei der Oper (und da gibt’s monströse Aufnahmen, die man wirklich schnell vergisst), keine Aussage. Es ergießt sich eine köstliche Cremespeise über Text und Musik und ertränkt beide.

Ich denke, Jessye Norman war die Sängerin des gefeierten Moments, ein (gehypter) Event, eine Inszenierung und eine  Projektionsfläche für viele. Sicher auch eine stolze schwarze Frau, die viel für die Akzeptanz schwarzer Sänger im Musikbetrieb getan hat. .Zudem eine Diva, ohne Zweifel, und eine Ikone, die in  ihrer Zeit zu Marmor erstarrt war. Sie war eines der letzten großen Ereignisse des Musiklebens und hat als solches ihren Platz in der Erinnerung. G. H.

 

Die Deutsche Oper Berlin trauert mit der gesamten Musikwelt um Jessye Norman. Zugleich sind wir jedoch stolz darauf, dass diese Jahrhundertsängerin ihre Karriere auf der Opernbühne bei uns begonnen hat. Für eine junge Opernsängerin gehören die ersten Jahre in einem Ensemble zu den prägendsten, zumal wenn sie diese Zeit an der Seite großer Kollegen verbringen und von ihnen lernen kann. Das war auch bei Jessye Norman der Fall, als sie 1969 nach ihrem Gewinn des ARD-Musikwettbewerbs an die Deutschen Oper Berlin kam. Hier wurde sie sofort mit zentralen Rollen betraut und konnte als Gräfin in Mozarts LE NOZZE DI FIGARO an der Seite von Dietrich Fischer-Dieskau, als Donna Elvira im DON GIOVANNI, als Elisabeth im TANNHÄUSER und in der Titelpartie von Verdis AIDA unter dem Dirigat von Claudio Abbado in den folgenden Jahren die Möglichkeiten ihrer einzigartigen Stimme auf der Opernbühne erproben und zur Sängerdarstellerin reifen.

Dabei lernte Jessye Norman aber auch die Schattenseiten eines großen Repertoirebetriebs kennen: Ihren ersten Auftritt am Haus, zugleich ihr Rollendebüt als Elisabeth, musste sie ohne eine einzige Bühnenprobe absolvieren und darüber hinaus wurde die Tochter einer amerikanischen Bürgerrechtlerin auch noch weiß geschminkt. Die Partie der Elsa im LOHENGRIN hingegen studierte sie zwar als Coverbesetzung für Pilar Lorengar, bekam aber nie die Gelegenheit, diese Rolle auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin zu singen. Dennoch betonte Jessye Norman auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Ensemble 1975 immer wieder, wie wichtig diese Zeit in Berlin für sie gewesen sei – um das große Opernrepertoire kennenzulernen, aber auch aufgrund des besonderen künstlerischen Klimas der geteilten Stadt, deren Kulturangebot von Karajan bis Felsenstein, von Schaubühne bis Schiller Theater in ihr eine begeisterte Besucherin fand. Sicher auch deshalb hat Jessye Norman Berlin die Treue gehalten und ist auch als Weltstar immer wieder in die Stadt gekommen.

Noch in diesem Jahr, am 20. Februar 2019, wurde Jessye Norman mit dem Glenn Gould Prize 2018 in Toronto ausgezeichnet, im Rahmen des Galakonzerts zu ihren Ehren dirigierte Donald Runnicles das TRISTAN-Vorspiel und „Isoldes Liebestod“ mit Nina Stemme als Solistin.

Die Deutsche Oper Berlin gedenkt einer großen Künstlerin, die durch ihr beeindruckendes Charisma, ihr warmherziges Wesen und ihre außergewöhnliche Bühnenpräsenz die Welt der Oper geprägt hat und uns allen in Erinnerung bleiben wird.

 

Und das bewährte Wikipedia fügt an: Jessye Norman wurde 1945 als Tochter einer Lehrerin und eines Versicherungsagenten in Georgia geboren. Die Eltern waren aktiv in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und Amateurmusiker, die Mutter Pianistin, der Vater Sänger in einem Kirchenchor. Schon in ihrer Kindheit sang Norman gerne und häufig. Ein prägendes Erlebnis war nach ihrer Aussage ein Radiofeature mit Marian Anderson und Rosa Ponselle, von dem sie tief beeindruckt war.

Sie erhielt ein Stipendium an der Howard University, wo sie Musik studierte und 1967 mit einem Bachelor abschloss. Außerdem nahm sie Gesangsunterricht bei Alice Duschak in Baltimore und Pierre Bernac in Michigan. 1968 gewann sie den ersten Preis beim internationalen Musikwettbewerb der ARD in München, worauf sie 1969 in der Rolle der Elisabeth in Richard Wagners Tannhäuser an der Deutschen Oper Berlin debütierte. In der zweiten Pause des Tannhäuser bot man ihr ein vierjähriges Engagement an, das sie überrascht annahm. Dort sang sie unter anderem auch die Rolle der Gräfin Almaviva in Mozarts Le nozze di Figaro.

In den folgenden Jahren trat sie mit verschiedenen deutschen und italienischen Opernensembles auf, 1972 gastierte sie unter der Leitung von Claudio Abbado in der Rolle der Aida in Verdis gleichnamiger Oper erstmals an der Mailänder Scala. Noch im selben Jahr sang sie erstmals die Cassandra in Les Troyens von Hector Berlioz am Royal Opera House Covent Garden in London. Erste Auftritte in den USA hatte sie ab 1972 in Los Angeles und 1973 im Lincoln Center. In den drei folgenden Jahren entfaltete sie eine vielfältige Konzert- und Operntätigkeit, die sie unter anderem zum Maggio Musicale Fiorentino führte, wo sie an Aufführungen von Giacomo Meyerbeers Africana und Georg Friedrich Händels Deborah mitwirkte.

Um diese Zeit begann Norman, sich verstärkt mit dem Liedrepertoire zu beschäftigen, das sich als für ihre Stimme besonders geeignet erwies. Bis 1980 sang sie keine weiteren Opern, sondern konzentrierte sich ausschließlich auf die Welt der Lieder, in der sie sich ein bemerkenswertes Repertoire erarbeitete. Zu ihren Spezialitäten gehörten Wagners Wesendonck-Lieder, die Gurre-Lieder von Arnold Schönberg und Alban Bergs Altenberglieder. Außerdem beschäftigte sie sich ausführlich mit französischen Komponisten wie Henri Duparc, Francis Poulenc, Gabriel Fauré und den Liedern Modest Petrowitsch Mussorgskis.

Ab 1981 gab sie wiederholt Liederabende bei den Salzburger Festspielen, wo sie 1987 auch unter Herbert von Karajan mit Isoldes Liebestod zu hören war. 1982 kehrte sie mit dem Part der Dido in Henry Purcells Oper Dido and Aeneas (Philadelphia) auch wieder auf die Opernbühnen zurück. 1983 trat sie dann erstmals in der Metropolitan Opera auf, dort sang sie erneut die Cassandra in Les Troyens in der Jubiläumsproduktion zur 100. Spielzeit des Hauses. 1985 sang sie die Titelpartie in Ariadne auf Naxos an der Wiener Staatsoper.

In den 1980er und 1990er Jahren war sie an vielen großen Konzerthäusern zu hören, unter anderem an der Lyric Opera in Chicago (Debüt 1990 mit Christoph Willibald Glucks Alceste), der Scala, der Philharmonie Berlin und dem Royal Opera House in London. Norman trat bei Festivals in Verbier, Saito Kinen, Aix-en-Provence und Salzburg auf und sang die Marseillaise aus Anlass des 200. Jahrestages der Französischen Revolution. 1996 eröffnete sie die Olympischen Sommerspiele in Atlanta. Seit den 1990er Jahren begann sie zusätzlich im Jazz zu arbeiten und erarbeitete Programme mit Musik von Michel Legrand oder Duke Ellington.

2015 erlitt Norman eine Rückenmarksverletzung, an deren Folgen sie im September 2019 in einem Krankenhaus in Harlem starb.

Trügerisches Cover

 

Noch überaus karriereermunternd zeigt sich das Cover des Buches der Bertelsmann Stiftung mit dem Titel Opernsänger mit Zukunft! ja, mit einem Ausrufezeichen und dem Foto einer strahlenden Sängerin, die offensichtlich gerade, vor dem Orchester stehend, für ihre Leistung gefeiert wird. Bertelsmann hat sich vielfach als Förderer der Sängerzunft gezeigt, sei es als Gestalterin des renommierten Wettbewerbs Neue Stimmen, sei es als Unterstützerin des Opernstudios der Berliner Staatsoper. Nun stellt man ein Buch vor, das zukünftigen Opernsängern Hilfe und Stütze beim Weg zur Karriere sein soll oder aber der Masse der nicht zu den Hochbegabten Zählenden Warnung, aber auch Hilfe beim Finden von Alternativen sein will.

Das Vorwort stammt von Liz Mohn, die stolz verkünden kann, dass 80% der Endrundenteilnehmer von Neue Stimmen Verträge erhalten haben, die aber auch darauf verweist, dass Deutschland zwar ein Land mit einem reichen kulturellen Leben sei, trotzdem aber, nicht zuletzt wegen der harten ausländischen Konkurrenz, es nur wenige Hochschulabsolventen schaffen, eine beachtenswerte Karriere zu starten und durchzuziehen.

Jürgen Kesting ist das Kapitel Der Sänger im globalen Opernbetrieb zu verdanken, in dem er am Beispiel der Karriere von Elisabeth Schwarzkopf nachweist, dass Technik und künstlerische Verantwortung Voraussetzung für den Erfolg als Sänger sind. Er weist aber auch auf die Veränderungen in den letzten Jahrzehnten hin, auf die Renaissance der Barockoper, die historische Aufführungspraxis und damit den Erfolg von Countertenören, die Konkurrenz aus Ostblock, Asien und USA, aber auch auf die neuen Opernhäuser, die z.B. in China oder im Nahen Osten eröffnet werden.  Talent, Technik und Gestaltung müssen gleichermaßen vorhanden sein, wenn eine Karriere gelingen soll, messa di voce und messa voce (Was ist das? Meint er mezza voce?) sind Voraussetzung. Warnend erhebt der Musikologe seine Stimme gegen zu frühen Einsatz in hochdramatischen Rollen, oft sei eine Karriere eine Art Selbstopfer, ein künstlerisches Dasein in Comprimari-Partien könne durchaus erfüllend sein.  Dieser Beitrag erscheint recht sprunghaft, geizt aber nicht mit wichtigen Einsichten.

Klaus Siebenhaar und Achim Müller sind für die weiteren Kapitel verantwortlich. In einem Kurzüberblick werden die Mängel der derzeitigen Ausbildung an den deutschen Musikhochschulen aufgelistet: es werden zu viele Frauen und besonders zu viele lyrische Soprane ausgebildet, man bereitet die Studierenden nicht genügend auf die Realität außerhalb der Hochschule vor, es wird noch nicht genug auf die durch das Regietheater geforderten neuen Qualitäten eingegangen. Opernstudios, Hochschulproduktionen oder der Unterricht in Chorgesang könnten in weit größerem Ausmaß als bisher üblich hilfreich sein. Auch müssten Persönlichkeitsentwicklung, Selbstvermarktung, Karriereplanung und soziale Kompetenz Unterrichtsstoff werden.

Ausführlich berichten die Autoren über ihr Vorgehen beim Erforschen der gegenwärtigen Situation. Soziologie müsste man studiert haben, um diesen Teil des Buches recht würdigen zu können. Ein Satz wie: „Der gemeinsame Erfüllungsort dieses neuen künstlerischen Selbstverständnisses liegt außerhalb der angestammten Institutionen. Kultur und Stadtentwicklung im Kontext von Anti-Gentrifizierungs- und Migrationsstrategien markieren den operativ-ästhetischen Rahmen , in dem basisdemokratische, genderfixierte oder multikulturelle Praxen eingepasst werden sollen“ macht eher Angst, als dass er zu Einsichten führt. Lieber widmet man sich den zahlreichen Graphiken und Abbildungen, den praktischen Ergebnissen der Interviews und Gruppendiskussionen, nimmt zur Kenntnis, dass die Grenzen zwischen Darbietungen von Laien und Professionellen sich verwischen, „der Künstler seiner tendenziellen Singularität“ beraubt wird. Mancher still vor sich hin Studierende wird erschrocken sein über:“Als kreatives Selbst ist der unabhängige Künstler von heute eigeninitiativ gefordert, diskursiv und praktisch Position und Haltung zu beziehen“.

Sorge macht den Autoren und nicht nur diesen, dass das Opernpublikum überaltert ist, weniger Opernvorstellungen als früher stattfinden, anstelle von Ensembles immer mehr Gastsänger auftreten, damit jungen Sängern keine kontinuierliche Entwicklung mehr garantiert ist.

Da die finanziellen Zuwendungen an die Hochschulen abhängig von der Zahl der Studierenden sind,  wird zu wenig ausgesiebt, werden  Minderbegabte mitgeschleppt. Der Vorschlag, jedem Gesangsstudenten mehrere Lehrer zuzuordnen, könnte allerdings wegen der unterschiedlichen Methoden des Unterrichtens auch zu Verunsicherung und Verwirrung führen.  Opernstudios, Wettbewerbe, Einladung von Agenten in die Hochschulen wären für beide Seiten nützlich.

Musiktheater als „meritorisches“, d.h. nur durch Subventionen erhaltbares Gut ist nach Meinung der Verfasser zwar Anlass zur Freude, weil dadurch Kultur erschwinglich wird, eine allgemeine ästhetische Erziehung gewährleistet ist, birgt aber auch die Gefahr allzu großer Anziehungskraft auf oft besser ausgebildete Kräfte aus aller Welt.

Den heutigen Managern weisen die Verfasser auch die Aufgabe zu, für Publicity und Marketing zu sorgen, allerdings gebe es zu viele schwarze Schafe unter ihnen, die nur an der Vermittlung von Einzelengagements interessiert seien.

Eventisierung und Kommerzialisierung seien Entwicklungen, auf die Sänger reagieren müssten. Um dem gewachsen zu sein, geben die Autoren 7 Empfehlungen für die Ausbildung, zeigen außerdem drei Alternativen auf, wenn es mit der Solistenkarriere nicht klappt: Chor, freier Musiktheaterbetrieb, musikpädagogische Aktivitäten.

Der letzte, umfangreich Teil des Buches ist der Dokumentation gewidmet: Leitfragen, Stichprobenprofile, Fragenkatalog und Exzerpte geben interessante und informative Einblicke in das Leben von Musikern, besonders natürlich auch die finanzielle Seite.

Nicht erst wenn man von Jahresverdiensten zwischen 10000 und 25000 Euro liest, dürfte das von strahlendem Erfolg kündende Titelbild wie ein Hohn wirken (Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2019, 185 Seiten; ISBN 978 3 86793 858 7). Ingrid Wanja

 

ELENA MOSUC

 

In einer Fernseh-Sendung bei Servus TV (moderiert von Ion Holender) hörte man kürzlich Gutes über die Sopranistin Elena Mosuc, als in Muscat das neue Opernhaus von Oman prunkvoll eröffnet wurde und die Lakmé von Léo Délibes in Elena Mosuc eine aufregende Verkörperung fand. Das war uns Anlass zu einem Interview, das Csaba Némedi mit ihr bei den Proben zu Verdis Lombardi gehalten hat, die in Klausenburg im September 2019 Premiere hatten. Und nicht vergessen werden soll, dass Elena Mosuc als beste Sopranistin  für den Opus Klassik-Preis zweimal nimoniert wurde. Und am 1 Oktober 2019 in Teatro Malibran bekommt sie den Oscar della lirica in der Kategorie beste Sopranistin im venezianischen Teatro Malibran! Glückwünsche!

 

Elena Mosuc/ Foto EM

Jahrzehntelang galt die Extrempartie der Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte als eine Ihrer wichtigsten Visitenkarten in der Opernwelt. Eine Rolle, die Sie nicht nur weltweit mit großem Erfolg in mehr als 250 Aufführungen verkörperten, sondern auch für Sie wichtige Türen öffnete. Wie würden Sie Ihre Interpretation vokaler, musikalischer und darstellerischer Natur beschreiben? Wie haben Sie diesen komplexen Charakter ausgearbeitet bzw. wie haben Sie diesen Vorstellung für Vorstellung selbst erlebt? Als ich während meines Gesangstudiums angefangen hatte, an den Arien der Königin der Nacht zu arbeiten, war ich zunächst davon überhaupt nicht überzeugt, ob diese Arien bzw. diese Rolle überhaupt zu meiner Stimme passt. Die Idee, dass ich mir diese Rolle erarbeiten sollte, kam eigentlich von einem Gesangsprofessor, bei dem ich allerdings nur eine kurze Zeit studierte. Er hatte überdies auch die anfangs etwas merkwürdig anmutende Idee, auch mit Mezzosopranistinnen an dieser Rolle zu arbeiten. [Anm.: sie lacht]. Im Nachhinein betrachtet – noch dazu nach soviel Jahren als Opernsängerin – muss ich aber zugeben, dass seine Idee gar nicht so abwegig war, wenn man seine Unterrichtsmethode und deren Zielsetzung in ihrer Gesamtheit betrachtet. Am Anfang meines Gesangsstudiums hatte ich Angst vor der Höhe. Durch das Erlernen der richtigen Gesangstechnik hat sich dann auch meine Höhe entdeckt und immer mehr entfaltet und sicherer geworden. Aus heutiger Sicht kann ich natürlich darüber lachen, was für eine Angst es mir bereitete, am Anfang etwa ein b zu singen… Ab dem Moment, als die Höhe sich festigte, hätte ich Tag und Nacht die Königin singen können, somit war auch meine ursprünglich vorhandene Angst vor der Höhe weg.

Als ich im Februar 1990 nun mein offizielles Bühnendebut – noch dazu mit der Königin der Nacht geben konnte – war ich bereits in technischer Hinsicht sicherlich soweit sattelfest, dass man dieses Debüt sehr wohl als klaren Erfolg verbuchen konnten. Dennoch ist meine Königin durch das stetige Weiterarbeiten an meiner Stimme, die Festigung meiner Gesangstechnik und die jahrelange intensive Arbeit auch viel stärker, ausdrucksstärker und dramatischer geworden. Um mein Repertoire auch nach der Königin der Nacht erfolgreich erweitern zu können, ist es unerlässlich, permanent an der eigenen Technik zu arbeiten und die Stimme zu pflegen. So folgten auf meine erste Königin in relativ rascher Folge Rollen wie beispielsweise Gilda, Lucia, Violetta, aber auch Donna Anna und Zerbinetta. Während ich die Königin der Nacht anfangs nur als gute und wichtige Übung betrachtete, musste ich später erkennen, dass sie für mich nicht nur das Fundament für mein späteres Bühnenrepertoire bildete, sondern sie half mir sogar bei der souveränen und technischen Bewältigung manch anderer Partien!

Wenn man aber während des Studiums der Königin der Nacht erkennen sollte, dass es doch nicht so recht klappen könnte, dann sollte man lieber ganz die Finger von dieser exponierten Partie lassen, da diese absolut keine halbe-halbe Lösungen zulässt.

Da ich weltweit nicht nur in unzähligen Zauberflöte-Produktionen mitwirkte, die sowohl musikalischer, als auch szenischer Natur teilweise sogar extrem unterschiedlich und herausfordernd waren, festigte sich meine Rolleninterpretation immer mehr. Viele musikalische und szenische Einflüsse trugen dazu bei, mich in der Rolle nicht nur sehr gut, sondern auch sicher zu fühlen. Musikalisch habe ich insbesondere von der regen und inspirierenden Zusammenarbeit mit Maestro-Legende Nikolaus Harnoncourt profitiert, von dem ich eine Menge über diese schwere Rolle  und andere) und deren vielschichtigen Charakter gelernt habe!

Die Königin der Nacht hat nicht nur wichtige Türen in meiner Karriere geöffnet, sondern war ein jahrzehntelanger und konstanter Wegbegleiter meiner Karriere. Außerdem habe ich den Eindruck, dass ich an dieser enorm facettenreichen Rolle von Vorstellung zu Vorstellung, von Produktion zu Produktion, sehr gewachsen bin! Jede Vorstellung war ein besonderen Abenteuer! Vielleicht werde ich sogar mein 30-jähriges Bühnenjubiläum mit ihr feiern…?! [Anm.: sie lacht]

 

 Gibt es eine bestimmte Aufführung oder Aufführungsserie der  Zauberflöte, die Ihnen auch aus heutiger Sicht noch ganz besonders am Herzen liegt? Eine ganz besonders schöne Erinnerung verbindet mich mit einer Produktion am Gärtnerplatz Theater in München (1990) – nicht nur wegen des opulenten und wunderschönen Kostüms, sondern weil es meine allererste Königin der Nacht im Ausland war, noch dazu auf Deutsch, da ich zuvor lediglich zwei Aufführungen in meiner Heimatstadt Iasi auf Rumänisch absolviert hatte…

Am häufigsten trat ich vermutlich in der legendären und sehr beliebten Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle am Opernhaus Zürich auf. Die ausladende und überdimensional große Krone – aus Pfauenfedern angefertigt –  die nicht auf dem Kopf war, sondern hat meine ganzen Rücken bedeckt, war nicht nur atemberaubend schön, sondern auch ziemlich schwer… [Anm.: sie lacht], aber das Publikum liebte diese Produktion sehr! (Dieser Produktion verdanke ich übrigens auch eine kurze, jedoch unvergessliche Begegnung mit der einzigartigen Sopranistin Lucia Popp, die ja zuvor selbst auch als legendäre Königin der Nacht galt. In Zürich sang sie bereits meine Bühnentochter Pamina…)

Die spektakuläre Regie und Kostümierung von Marco Arturo Marelli an der Wiener Staatsoper, die Inszenierung von Pier Luigi Pizzi an der Oper zu Rom und die Produktion an der Leipziger Oper samt in der Luft schwebender Königin der Nacht bleiben mir natürlich auch in guter Erinnerung.

 

Nicht nur die bereits angesprochene Mozart’sche Sternflammende Königin, sondern auch die unterschiedlichsten Belcanto-Heldinnen gehören seit knapp 30 Jahren zu Ihrem Kernrepertoire. Welche Rollen sind aus diesem Repertoire Ihre absoluten Lieblingsrollen und aus welchem Grund? Was macht das Phänomen italienischer Belcanto für Sie aus? Wie ist es hierbei um Technik und Stilistik bestellt? Es ist ein Riesenglück, dass der liebe Gott mir dieses großzügige Geschenk in die Wiege gelegt hat und ich würde mit keiner anderen Sängerin tauschen wollen! [Anm.: sie lacht]. Es ist also nicht mein Verdienst. Mein Verdienst ist hingegen, wenn man das als solches bezeichnen kann (?), dass ich mit diesem Geschenk bzw. an meiner Stimme so lang und hart gearbeitete habe, bis ich soweit war, die Fachpartien des italienischen Belcanto nicht nur technisch und stilistisch, sondern auch in ihrer Gesamtheit souverän und mit Raffinesse zu bewältigen.

Es ist aber natürlich ein kontinuierlicher (Lern-)Prozess, welcher nie aufhört bzw. niemals aufhören sollte! Obwohl es sich um dieselbe Epoche oder sogar oftmals um den gleichen Komponisten handelt, sowie jede einzelne Interpretation etwas ganz spezielles darstellen und erzählen sollte, ist es für mich irgendwie so wie der Duft eines geliebten und vertrauten Parfüms, das man aktuell verwendet, so ist es auch im Fall meiner Belcanto-Rollen: die jeweils Aktuelle ist eben mein aktuelles Lieblingskind!

Wenn ich aber meine bisherigen Belcanto-Erfahrungen Revue passieren lasse, muss ich zugeben, dass ich sehr wohl dazu tendiere, eher die dramatischen und tragischen Rollen zu bevorzugen. (Für manche, die mich persönlich kennen, scheint es oft etwas verwunderlich, denn Humor, Witz, Heiterkeit und Freude sind mir im Privaten alles andere als fremd!) [Anm.: sie lacht]

Elena Mosuc/ Foto EM

Etwa Lucia, Norma, Lucrezia Borgia, Anna Bolena, Maria Stuarda sind aber definitiv ganz oben auf der Skala meiner sogenannten Lieblingsrollen – diesen stehen aber auch Gilda, Violetta und Luisa Miller in nichts nach, insbesondere wenn man sich überlegt, dass die Opernheldinnen des »frühen« und »mittleren Verdi« ursprünglich für Sängerinnen komponiert wurden, die die größten und wichtigsten Belcanto-Primadonnen ihrer Zeit waren…

Belcanto heißt für mich also nicht nur eine ganz bestimmte Epoche oder ein ganz bestimmter  Gesangsstil, sondern schlicht und einfach auch Perfektion. Die Anforderungen an die Sängerinnen und Sänger, denn man braucht hier – nebst eines tollen Stimm-Materials als Basis – absolut alles, was von einem Sänger überhaupt abverlangt werden kann: makellose Technik, perfekte Stilistik, Klasse und guten Geschmack für Phrasierung und Verzierungen etc.

»Wer Belcanto singen kann, kann alles singen!« – soll Maria Callas einst gesagt haben. Eine Aussage und Feststellung, der ich nur vollinhaltlich zustimmen kann. Belcanto ist also auch für mich die unangefochtene Basis, auch wenn ich etwa Rollen von G. Puccini oder gar R. Strauss singe. In diesen Fällen muss natürlich eine entsprechende und zeitgemäße Stilistik ohne Wenn und Aber berücksichtigt und angewandt werden, jedoch ohne die eigene Stimme bzw. Technik zu verstellen.

 

Um beim italienischen Fach zu bleiben, ist es nicht zu übersehen, dass man u.a. den Rollen der Lucia, Violetta und Gilda immer wieder in Ihrem Repertoire begegnen kann. Gibt es für Sie spezielle Verbindungen unter diesen Operncharakteren? Absolut! Es sind zwar allesamt jüngere Frauen, sie erleiden jedoch jeweils ein anderes Schicksal.

Der einzige gemeinsame Nenner unter diesen drei Heldinnen ist und bleibt die Liebe und deren Auswirkungen. Man könnte fast behaupten, die Liebe ist hier eine Art dramaturgisches Leitmotiv, welches eine indirekte Verbindung zwischen Lucia, Violetta und Gilda herstellt.

 

Seit langem gehört ebenfalls die Titelpartie der Donizetti’schen Maria Stuarda Ihrem Repertoire an, also Ihre erste Rolle aus der sog. Tudor-Trilogie. Seit 2007 haben Sie bereits auch die Titelpartie in  Anna Bolena mit großem internationalem Erfolg gesungen. Wie sieht es aber mit Elisabetta I. in Roberto Devereux aus? Haben Sie vor, Ihre eigene Tudor-Trilogie zu vervollständigen? Was ist das Spezielle an der Rolle der Elisabetta I.? Nach meinem erfolgreichen Debüt (2006) in einer wunderschönen szenischen Produktion von Maria Stuarda – unter der Leitung von Ralf Weikert – am Opernhaus Zürich, habe ich anschließend 2007 auch die Partie der Anna Bolena mit Maestro Bertrand de Billy – zunächst konzertant – am Wiener Konzerthaus erarbeitet. Wie man es den div. Tondokumenten dieses Konzerts im Internet entnehmen kann, darf ich auch aus heutiger Sicht dieses Rollendebüt als erfolgreich betrachten. Diese beiden Debüts haben für mich einmal mehr bestätigt, dass es absolut richtig war, diese Entscheidung zu treffen, mich immer mehr auf die Epoche des Belcanto zu konzentrieren – noch dazu mittlerweile auch auf die eher dramatischeren Rollen dieses Repertoires.

Auf diese beiden Rollendebüts folgten dann die weiteren Maria Stuarda-Aufführungen in Berlin und Genova, während ich Anna Bolena zum ersten Mal szenisch in Lissabon, in der Regie von »il grande« Graham Vick singen durfte. (Diese Produktion habe ich letztes Jahr auch am Teatro Filarmonico zu Verona wiederholt, also an jenem Haus, für welches diese Regie von Graham Vick ursprünglich erarbeitet worden war.)

Natürlich ist es ein langersehnter Wunsch, eigentlich ein Traum von mir, endlich »meine eigene und persönliche Tudor-Trilogie« auf der Bühne zu vervollständigen, zumal ich Ausschnitte aus Roberto Devereux bereits vor ein paar Jahren auch auf meiner Donizetti-Arien CD eingespielt habe.

Auch wenn die Sehnsucht schon sehr groß ist, die Extremrolle der Elisabetta I. endlich auf der Bühne verkörpern zu können, muss ich gestehen, dass ich meinem Schicksal dennoch sehr dankbar bin, dass ich diese »Mammutrolle« nicht schon früher singen sollte…(Die ganze Partie sollte ich bereits vor vielen Jahren am Opernhaus Zürich einstudieren, als ich das Cover für Edita Gruberová war – zu einem Rollendebüt meinerseits kam es damals jedoch nicht.)

Das Maximum an Dramatik, was Donizetti hier schonungslos von der Sängerin einfordert, kann eine zarte und bewegliche Stimme sehr rasch ruinieren. Nun kann ich aber beruhigt sagen: »Die Zeit ist reif und ich bin in jeglicher Hinsicht bereit für mein Rollendebüt als Elisabetta I.!«

 

Elena Mosuc als Lakmé in Oman/ EMI

Wir haben bereits Ihre besonderen Markenzeichen – die dramatischen Koloratursopran-Partien Mozarts oder die div. Belcanto-Rollen – angesprochen. Es gibt aber eine weitere tragende Säule innerhalb Ihres Bühnenrepertoires – noch dazu seit dem Anfang Ihrer Karriere: Ihre wichtigen Fachpartien Giuseppe Verdis! Erzählen Sie uns ein wenig über Ihr bisheriges Verdi-Repertoire und Ihre 2018  erschienene Verdi-ArienCD Verdi Heroines. Verdis fantastische Opernheldinnen (Gilda, Violetta – sogar als Hausdebüt an der Scala, Luisa Miller, Leonora, Medora, Desdemona und Alice Ford) aus Fleisch und Blut sind auch schon immer meine große Liebe gewesen, auch wenn man mich hin und wieder gerne in die Schublade mit der Aufschrift: »Mozart und Belcanto-Sängerin« stecken möchte! [Anm: sie lacht]. Auch wenn manche dies nicht wahrhaben wollen, begleiten mich diese Rollen sowieso schon seit Anbeginn meiner Bühnenkarriere. (Die Verdi-Partien der Gilda, Violetta und Luisa Miller habe ich sogar mehrfach an der Mailänder Scala singen dürfen.)

Das Programm meiner Verdi CD dürfte zunächst nicht nur das Publikum, die Rezensenten und die Entscheidungsträger der internationalen Opernszene etwas überrascht haben, sondern es sollte sogar eine Art von mir bewusst gewählter Wegweiser und eine aktuelle Bestandsaufnahme dahingehend sein, wohin mein Weg künftig führen soll, welche Optionen könnte es noch geben etc. So findet man auf diesem Album – neben meinen bühnenerprobten Partien wie beispielsweise Violetta und Leonora (Il trovatore) – sehr viel Neues, insbesondere aus der Epoche des »frühen Verdi«…

Etwa die dramatischen Koloraturen der Lucrezia (I due Foscari) wären sicherlich eine großartige künstlerische Herausforderung, welcher ich mich sehr gerne auch auf der Bühne stellen würde. Ähnlich empfinde ich auch für Amelia Grimaldi (Simon Boccanegra), die ich neulich an der Seite von Thomas Hampson auszugsweise in einer Operngala an den Ljubljana Festival mit großer Freude interpretieren durfte.

(Wenn die Rolle der Königin der Nacht einst für mich derart wichtige Türen der internationalen Opernszene geöffnet hatte, so kann ich guten Gewissens behaupten, dass Giuseppe Verdi bzw. seine La traviata mir – im 17ten Jahr meiner Bühnenkarriere – auch die Türen der Mailänder Scala geöffnet hat – eine Tatsache, die ich niemals vergessen werde (unter der Leitung von Maestro Lorin Maazel). Wie es wohl mit meiner Karriere an der MET weitergegangen wäre, wenn ich dort anstelle von Olympia auch mit einer Verdi-Rolle mein Hausdebüt hätte geben können, beschäftigt mich auch heute noch… denn Verdi verlangt wie seine Vorgänger aus der Epoche des Belcanto – neben einer Top-Stimme, einer felsenfesten Technik – auch sehr viel Einsatz, Enthusiasmus und Leidenschaft!)

Das Programm meiner Verdi CD dürfte zunächst nicht nur das Publikum, die Rezensenten und die Entscheidungsträger der internationalen Opernszene etwas überrascht haben, sondern es sollte sogar eine Art von mir bewusst gewählter Wegweiser und eine aktuelle Bestandsaufnahme dahingehend sein, wohin mein Weg künftig führen soll, welche Optionen könnte es noch geben etc. So findet man auf diesem Album – neben meinen bühnenerprobten Partien wie beispielsweise Violetta und Leonora (Il trovatore) – sehr viel Neues, insbesondere aus der Epoche des »frühen Verdi«… (Dieses mutige Experiment meinerseits dürfte offenbar auch die Fachjury überzeugt haben, da ich soeben erfahren habe, dass ich ausgerechnet wegen meines Albums „Verdi Heroines“ für den Opus  Klassik-Preis 2019 nominiert worden bin!)

 

Es war vor kurzem mehreren Medienportalen zu entnehmen, dass Sie im September in einer ganz großen Rolle des frühen Verdi debütieren werden. Es handelt sich hierbei um die Rolle der Giselda in Verdis selten gespielten,  vierten Oper I Lombardi alla prima crociata. Wie kam es zu diesem ganz speziellen Engagement Das ist eine wunderbare Überraschung und zugleich auch eine fabelhafte Herausforderung, die ich mir – ehrlich gesagt – niemals hätte träumen lassen! Noch dazu all das knapp vor meinem 30-jährigen Bühnenjubiläum.

Ohne überheblich zu klingen, kann ich gerne behaupten, dass es mich selbst auch immer wieder aufs Neue überrascht, welchen abwechslungsreichen Weg ich in diesen Jahrzehnten in puncto Bühnenrepertoire gehen konnte. Am Anfang stand noch wie gesagt die Mozart’sche Sternflammende Königin, eine Rolle, die – wie bereits erwähnt – sehr wohl den ursprünglichen Kern meines einstigen Repertoires darstellte.

Nach zahlreichen anderen Fachpartien für einen Mozart’schen Dramatischen Koloratursopran, unterschiedlichsten Belcanto-Heldinnen bis hin zu den Krönungspartien dieses Fachs wie Norma, Semiramide und Anna Bolena, berühmten Bühnencharakteren des vorwiegend »mittleren Verdi«, einigen bestimmten, großen Rollen aus dem französischen Fach und Zerbinetta – sogar in deren viel virtuoserer, höherer und längerer Urfassung bei den Salzburger Festspielen, war es nun an der Zeit, meine Fühler auch in andere Richtungen auszustrecken und der stetigen Weiterentwicklung meiner Stimme zu folgen…

Der erste konkrete Schritt in diese Richtung war die bereits erwähnte Verdi Arien CD »Verdi Heroines«.  Keine drei Jahre nach den Aufnahmesitzungen zu meinem Verdi-Album darf ich mich nun in einer ersten und kompletten Rolle des »frühen Verdi« auch auf der Bühne ausprobieren!

Im deutschen Sprachraum pflegt man gerne in so einem Fall von einem sogenannten »Fachwechsel« zu sprechen – ich hingegen bevorzuge viel eher die Bezeichnung »Facherweiterung«, auch wenn diese Rollen primär und generell dramatischer sind als die meisten Partien meines bisherigen Bühnenrepertoires, dennoch liegen die Wurzeln dieser »ungezähmten Töchter des frühen Verdi« allesamt in der Epoche des italienischen Belcanto!

A propos italienischer Belcanto! Gerade diese Epoche – inkl. der Schaffensperiode des »frühen Verdi« liegt meinem lieben Freund, Csaba Némedi, dem österreichischen Opernregisseur und Musiktheaterwissenschaftler ungarischen Ursprungs, ganz besonders am Herzen. Nach mehreren Inszenierungen div. Belcanto-Opern in internationaler Besetzung, sowie auch etlichen Vorträgen zu diesem Thema sogar an der Universität Wien, bekam er nun die Möglichkeit, an der Ungarischen Oper zu Klausenburg (Rumänien) I Lombardi alla prima crociata zu inszenieren. Auch nach soviel Jahren Karriere auf den großen und größten Opernbühnen der Welt ist es immer wieder ein wunderbares Gefühl, wenn man im Fall einer geplanten Neuproduktion nicht nur die Erstbesetzung, sondern zugleich auch die absolute Wunschbesetzung eines Dirigenten oder Regisseurs sein darf!

Im Frühstadium des Einstudierens dieser Rolle ist mir aufgefallen, dass die Partie der Giselda bisher von den unterschiedlichsten Sängerinnen interpretiert worden ist. Auch wenn die Aufführungspraxis und Diskografie dieser Oper bzw. dieser Rolle nicht einmal annähernd so reichhaltig ist wie die der anderen berühmten Verdi-Heldinnen, sieht man sofort, dass solch unterschiedliche Sängerinnen in dieser Rolle zu reüssieren wussten wie beispielsweise die junge Renata Scotto – zu einem Zeitpunkt ihrer Karriere, in welchem sie auch noch sehr viele Belcanto-Rollen zu singen pflegte, aber auch Luciana Serra, die man generell als lyrisch-leichte Virtuosa bezeichnen kann. Parallel zu diesen beiden seien natürlich auch Legenden wie die hochdramatische Ghena Dimitrova und die einzigartige Cristina Deutekom erwähnt, die sicherlich die Giselda innerhalb ihrer künstlerischen Generation war… [Anm.: Ich habe mich überdies auch mit der Rezeptionsgeschichte und Aufführungspraxis dieser Rolle in zwei ausführlichen Notizen via Facebook auseinandergesetzt;

 

Fakt ist aber, dass diese Rolle mir – auch bezüglich ihres Temperaments und Charakters – sehr entspricht. Musikalisch betrachtet konzentriere ich mich selbstverständlich auf meine eigene Interpretation, d.h. auch diese Rolle werde ich – ohne jemanden von den großen erwähnten Vorgängerinnen kopieren zu wollen – mit meiner eigenen Stimme singen und mit meinen eigenen stimmlichen Mitteln ausstatten. Da die Stilistik und v.a. auch das heterogene Spektrum der vokalen Anforderungen derart reichhaltig, fordernd und anspruchsvoll ist, ist es absolut legitim und korrekt, sich dieser Rolle belcantesk zu nähern. Trotz aller in der Partie enthaltenen Dramatik, halte ich es für absolut verkehrt, Giselda veristisch anmutend zu interpretieren, zumal es einerseits gar nicht zu meiner Stimme passen würde, außerdem existierte ja zum Zeitpunkt der Entstehung von I Lombardi die spätere Epoche des Verismo noch gar nicht…

Neben den primären Anforderungen an die Stimme und Stimmtechnik darf man im Fall von Giselda auch die Stimmökonomie im Allgemeinen nicht außer acht lassen – man muss sich seine Kräfte irrsinnig gut einteilen, da die Rolle extrem lang ist. Um es vereinfacht auszudrücken, würde ich sagen: Diese Rolle ist genauso lang wie Norma, jedoch mindestens fünfmal schwerer, fordernder und komplexer! Dies wurde mir natürlich auch beim Rollenstudium immer bewusster. Es ist also kein Wunder, dass dieses Werk so selten aufgeführt wird…

Dass ich ausgerechnet jetzt – noch dazu als Wunschbesetzung der rumänischen Erstaufführung des Werks – Giselda singen darf, erfüllt mich mit sehr großer Freude, Dankbarkeit und Demut. Der Erfolg meiner vorausgegangenen Verdi CD und das bevorstehende Rollendebüt als Giselda lassen mich hoffen, künftig auch in weiteren und neuen Verdi-Rollen in Erscheinung zu treten.

Wir sind dankbar der Ungarischen Oper Cluj ( Kolozsvari Magyar Opera, Rumänien ) die uns ermöglichte, diesen Projekt zu realisieren und unseren Traum Realität werden zu werden mit der Première am 26 September 2019.

 

Elena Mosuc/ Foto EM

Nachdem wir bereits über Ihre Karriere als Mozart-, Belcanto- und Verdisängerin gesprochen haben, möchte ich Sie dennoch auf ein weiteres, ganz wichtiges und bedeutendes Rollendebut ansprechen, welches erst im Frühling diesen Jahres stattgefunden hat: Sie sangen zum ersten Mal die Titelpartie von L. Delibes‘ Lakmé am Royal Opera House Muscat. Wie kam es zu diesem – zugegebenermaßen überraschenden – Rollendebüt? Darf man diese Rolle lediglich auf das aus den div. TV-Werbespots bekannte Blumenduett und die mit wahnwitzigen Koloraturen gespickte Glöckchenarie reduzieren? Lakmé ist eine wahre Rarität, bzw. eine eine Rarität geworden… Eigentlich sehr schade!

Vor knapp 20 Jahren, als ich meine erste Arien-CD-Aufnahme gemacht habe, durfte natürlich auch die berühmt-berüchtigte Glöckchenarie aus dem Programm nicht fehlen und es machte mir damals sehr viel Freude und Spaß, diese wahnwitzige Arie zu singen. Nach dem Erfolg dieses Albums habe ich schon irgendwie gehofft, dass ich Engagements für diese Rolle bekäme… aber es kam leider anders.

Ich finde es sehr bedauerlich, dass man diese Rolle lediglich auf die Kehlkopfakrobatik der Sängerin reduziert. Diese Betrachtungsweise ist völlig falsch und lässt eindeutig durchblicken, dass viele Menschen – auch Entscheidungsträger aus der Opernbranche – die Rolle in ihrer Gesamtheit gar nicht kennen…

Dass Lakmés Auftritt – das sogennante orientalische Gebet – oder das Blumenduett  sowie auch die Glöckchenarie ganz klar einen Bravourkoloratursopran erfordern, steht außer Zweifel, aber der Rest der Rolle verlangt eindeutig nach einem vollen und durchschlagskräftigen lyrischen Sopran – nach einer Stimme, die sonst in der Lage wäre, etwa auch die Titelpartie von Madama Butterfly mühelos zu bewältigen. Da die Anforderungen dieser Partie derart heterogen sind, müsste man fast sagen, dass man für diese Rolle zwei verschiedene Sängerinnen bräuchte, nämlich einen Bravourkoloratursopran und einen soprano lirico bzw. soprano lirico spinto. (Noch dazu muss man bei Lakmé immer unterscheiden, von welchem Teil der Rolle man spricht, denn die Glöckchenarie ist eine ganz klare Trennlinie.)

Wenn ich schon im Zusammenhang mit Giselda davon erzählte, welche Schwierigkeiten und spezielle Herausforderungen sich beim Rollenstudium gezeigt haben, muss ich gleich hinzufügen, dass ich fürs Studium der Lakmé gerade mal nur drei Wochen zur Verfügung hatte – erst so kurzfristig bekam ich nämlich die Anfrage vom Royal Opera House Muscat (Oman). (Nur für Giselda brauchte ich vier Wochen, um die ganze Rolle einzustudieren und dies soll auch ein weiterer Hinweis auf den wahren Schwierigkeitsgrad dieser Partie sein…)

In Muscat wir haben drei Wochen hart und intensiv für die Première gearbeitet, ich habe einen Tag- max zwei Tage frei gehabt, war aber sehr motiviert eine schöne Interpretation und einen schönen Charakter zu liefern, das Team war total voll dabei und das Resultat war fantastisch. Der Regisseur Davide Livermore hatte fantastische Ideen und die ganze moderne Technik und alle Möglichkeiten brachten als Resultat eine traumhafte Inszenierung, was das Publikum und die internationale Presse begeisterte.

Abschließend möchte ich festhalten, dass die diesjährige Opernsaison mir drei völlig unterschiedliche und jeweils sehr anspruchsvolle Rollendebüts (Lakmé, Magda – in La rondine und Giselda) beschert hat – noch dazu alles Rollen, mit denen ich fast nicht gerechnet hätte! Es scheint also irgendwie auch mein Schicksal zu sein, während meiner gesamten Karriere, ausschließlich schwere und äußerst anspruchsvolle Partien singen zu dürfen. Ein schweres, aber auch ein einzigartiges und wunderschönes Los, wofür ich sehr dankbar bin!

 

 Kaum haben Sie Ihr Rollendebüt als Lakmé erfolgreich hinter sich gebracht, haben Sie die Nachricht erhalten, dass Sie mit dem International Opera Award – Oscar della lirica (Kategorie: Best Soprano) ausgezeichnet worden sind In der Tat, dieser Preis bzw. diese renommierte Anerkennung war für mich eine Überraschung der ganz speziellen Art! Ich befand mich – nach den bereits erwähnten Lakmé-Vorstellungen – auf dem Heimflug von Muscat nach Zürich…  Die offizielle und feierliche Verleihung findet am 1. Oktober 2019 – im Rahmen eines Festkonzerts – am Teatro Malibran in Venedig statt, wo ich gemäß meines aktuellen Repertoires die große Szene des Giselda aus I Lombardi und natürlich auch die große Aria aus La traviata singen werde. (Das besagte Bühnenjubiläum möchte ich übrigens nächstes Jahr gesondert auch mit einer eigenen Operngala feiern, diese ist also gerade noch in Planung.)

 

Elena Mosuc versichert, die Abbildungsrechte für die hier gezeigten Foto zu besitzen.

 

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Bassgewaltig

 

Höchste Opernehren wurden ihm mit dem Singen der Titelfigur bei der Scala-Eröffnung im Jahre 2018 bereits zuteil, und so ist es nur natürlich, dass der russische Bass Ildar Abdrazakov seine Verdi-CD  bei DG mit der großen Arie des Attila beginnt, als Uldino assistiert von Rolando Villazón auf absteigendem Charaktertenor-Zweig. Anders als der Tenor, der auch noch als Ismaele zu hören ist, verfügt der Sänger des Hunnenkönigs über urgesunde, unanfechtbare, in Höhe wie Tiefe und in der Mittellage sowieso farbige Stimmmittel, machtvoll, aber nicht tückisch klingend, kein Wüterich, sondern eher ein recht menschliches Wesen im Widerstreit der Gefühle. Die Stimme ist wunderbar ebenmäßig geführt, in der Cabaletta flexibel, und die Höhenfermate am Schluss ist einfach imponierend.

Gar nicht so weit entfernt vom hunnischen ist der spanische König Filippo, nur noch eine Spur empfindsamer, mit einer gut tragenden mezza voce und einem schönen Piano für die Wiederholung von „amor per me non ha“. Der Stimmungswechsel in der Arie wird auch ohne Textverständnis hörbar gemacht, tieftraurig klingt das „nell‘ avello del Escorial“, eindrucksvoll kann auch eine Pause sein wie die vor dem letzten „Ella giammai m’amò“.

Zweimal ist Zaccaria vertreten, der vom unendlich erscheinenden Atem, den großen Bögen, der über dem Chor thronenden Stimme profitiert. Die Cabaletta lässt, so gesungen, nie den Gedanken an Umtata aufkommen. Das Gebet strahlt eine große Ruhe und viel Souveränität aus, der Sänger kann die Spannung ohne Einbrüche halten. Aufgewühlt klingt das Rezitativ des Fiesco, eine kleine Intonationsschwäche glaubt man in der Arie zu erkennen.  Nochmal eine Superfermate beschert der Oberto dem entzückten Hörer, mit großzügiger Phrasierung und souveränem Crescendo-Decrescendo erfreut der Procida, mehr nach tragisch umflortem Machtmenschen, denn nach verlogenem Schurken klingt der Walter aus Luisa Miller.

Angemessen verhangen düster ertönt die Arie des Banco, sich steigernd im Grauen, im Erahnen des Unheils und berührend abgeschlossen mit dem Orchesternachspiel, das und nicht nur dieses vom Orchestre Métropolitain de Montréal unter Yannick Nézet-Séguin Verdis würdig dargeboten. Im zweiten Teil sanft altersmilde, in der Cabaletta völlig frei davon gestaltet Abdrazakov schließlich noch die Arie des Silva, und der Hörer weiß längst, warum der Sänger laut Booklet dem Komponisten dankbar ist für die schönen Arien, die dieser für die Bassstimme geschrieben hat (DG  483 6096). Ingrid Wanja

Mozart-Pasticcio

 

Eine reizvolle Ausgabe auf zwei CDs mit dem Titel Libertà! Mozart et l’opéra veröffentlicht harmonia mundi (HMM 902638.39). Raphaël Pichon und sein Ensemble Pygmalion haben sich in ihrem 2018 aufgenommenen Programm auf Kompositionen Mozarts zwischen 1782 und 1786 konzentriert und in drei Akten ein fiktives Dramma giocoso zusammengestellt, welches Ausschnitte aus unvollendeten Opern und Konzertarien enthält, darüber hinaus sogar Werke von Zeitgenossen einbezieht. So findet sich im ersten Abschnitt, „La folle giornata“ überschrieben, die zart getupfte Serenata des Conte „Saper bramate“ aus Paisiellos Il barbiere di Siviglia. Im zweiten („Il dissoluto punito“) und dritten (“La scuola degli amanti“) sind es Szenen aus Opern Salieris – das Sestetto „O quanto un sì bel giubilo!“ aus Una cosa rara mit seiner motivischen Nähe zum Giovanni und das Sestetto „Son le donne sopraffine“ aus La scuola de’ gelosi.

Solisten dieser frei erfundenen Handlung sind die Soprane Sabine Devieilhe (als La Camériste/L’Amoureuse/Une Fiancée) und Siobhan Stagg (La Comtesse/Une Noble d’Espagne/ Une Fiancée), die Mezzosopranistin Serena Malfi (Le Page/Une Fiancée trahie, La Servante), der Tenor Linard Vrielink (Le Comte/L’Amoureux/Un Soldat), der Bariton John Chest (Le Vieux Borbon/Le Serviteur/Un Soldat) und der Bass Nahuel di Pierro (Le Valet/Le Libertin/Le Vieux Philosophe).

Von Mozart wurden für den ersten Abschnitt Szenen aus Lo sposo deluso, L’oca del Cairo und Idomeneo ausgewählt, ergänzt um einige Konzertarien. Die Ouverture zu Lo sposo deluso ist ein beschwingter Auftakt, der bereits den pulsierenden Drive hören lässt, der sich durch alle orchestralen Teile zieht. Nach dem munteren Quartetto „Ah che ridere!“ aus dieser Oper mit Stagg, Malfi, Vrielink und di Pierro fällt dem Bariton mit der Arie „Dove mai trovar“ das erste Solo zu, das er sehr lebendig vorträgt. Di Pierro singt  aus der Oca die Arie „Ogni momento“, bei der er nicht nur sein schönes Material hören lässt, sondern auch resolut auftrumpft. Danach vereinen Stagg und Vrielink ihre Stimmen im Duett Ilia/Idamante„Spiegarti non poss’io“ aus Idomeneo. Die Stimme des Tenors ist so voller Wohllaut, dass man den Mezzosopran hier nicht einen Moment vermisst.

Die erste Konzertarie ist „Bella mia fiamma“, welche Stagg mit tiefer Empfindung und feinen lyrischen Tönen anstimmt. Auch Devieilhe bezaubert mit zarter Stimme mit „Ridente la calma“.

Im zweiten Abschnitt finden sich wiederum Konzertarien und  Ausschnitte aus Thamos, im dritten aus Der Schauspieldirektor und noch einmal Lo sposo deluso. Die Ouverture und der dramatische  Entracte aus Thamos geben Pichon und seinem Ensemble erneut Gelegenheit, mit federndem Spiel aufzuwarten, dabei auch ernste, gewichtige Töne anzustimmen. Di Pierro singt danach die Konzertarie „Così dunque tradisci“, die in ihrer zornigen Erregung die Verwandtschaft mit dem Figaro-Conte nicht leugnen kann. „Vado, ma dove?“ ist eines der schönsten Zeugnisse dieser Gattung, aber Malfis Stimme mangelt es hier an Noblesse. Dagegen kann Vrielink mit „Per pietà, non ricercate“ wiederum für sich einnehmen. Höhepunkt dieses Blockes ist Devieilhe mit der virtuosen „No, che non sei capace“, die schon von Lilli Lehmann als eine der schwersten Konzertarien Mozarts angesehen wurde. Die Französin meistert die vertrackten Koloraturläufe, staccati und Extremtöne staunenswert. Sie kann im dritten Abschnitt, den die turbulente Ouverture zum Schauspieldirektor einleitet, mit der wehmütigen Arie der Frau Herz „Da schlägt die Abschiedsstunde“ nochmals ihre Kompetenz in Sachen Mozart herausstellen. Chest gefällt in der Konzertarie „Io ti lascio“ und vereint zum Schluss seine Stimme mit denen von Devieilhe, Malfi und  Vrielink im Notturno „Più non si trovano“ als stimmungsvollem Ausklang. Bernd Hoppe

Unersetzlich

 

Es gab für uns als West-Berliner Operngänger eine Zeit, als Aufführungen an der Deutschen Oper so voraussichtlich sicher waren wie die Deutsche Bank. Man blickte beim Anstehen für die Studenten-Plätze auf dem 2. Rang auf das Monatsplakat und wusste: Der oder der andere Abend läuft so ab, wie wir uns das vorstellten. Weil George Fortune den Amonasro sang, den Escamillo (in neuen und selbstbezahlten Samthosen), den  Renato, den Alfio und Tonio, und viele mehr. Es stand ja nicht nur George Fortune auf den Brettern der DOB, natürlich auch seine vielen Kollegen, die wie er ein Haushaltswort an Qualität und Zuverlässigkeit waren: Gladys Kuchta, Hans Beirer, Donald Grobe und Barry MacDaniel, Annabelle Bernard und Karl-Ernst Merker, Robert Kerns und viele, viele andere. Die Deutsche Oper war – wie viele deutsche Häuser der Sechziger/Siebziger und Achtziger noch – ein Ensembletheater von hoher künstlerischer Qualität, eben weil sie so  hervorragende Sänger wie George Fortune als Hauskräfte besaß.

Und an George erinnere ich mich sehr und sehr gerne: diese wirklich bombig sitzende Stimme mit dem ganz eigenen Timbre, ideal für Verdi und dessen Zeit, nie ausfallend, immer präsent, vor allem als Barnabà in der alten Gioconda (die in ihrer wunderbaren Quasi-Original-Pappe noch immer gespielt wird und jedes Mal Szenenapplaus bekommt). Dieser fiese Brunnenvergifter war eine ideale Partie für George, der alle Nuancen der Musik und der Darstellung genüsslich auskostete. Ich habe nie wieder diese Rolle so intensiv erlebt wie durch ihn. Er war an vielen Abenden am Haus einfach nicht entbehrlich. Und meine Erinnerungen an die Deutsche Oper gelten in erster Linie auch ihm, der an seinem Wohnort Berlin auch als ein gesuchter Stimm-Lehrer einen Namen hatte. Nun ist er im hohen Alter am 23. September 2019 gestorben. RIP George. G. H.

 

Sein Stammhaus, die Deutsche Oper Berlin, schreibt: Noch nicht dreißigjährig kam George Fortune 1960 (* 13. Dezember 1931 in Boston) in Europa an.  Er debütierte in Ulm als Ford in DIE LUSTIGEN WEIBER VON WINDSOR von Otto Nicolai und gewann im folgenden Jahr den 1. Preis des renommierten ARD-Wettbewerbs in München. Die Fachkollegen Roland Herrmann und Benjamin Luxon erhielten den 3. Preis. Beim Norddeutschen Rundfunk debütierte George Fortune daraufhin in einer deutschsprachigen Gesamtaufnahme der BOHEME mit einer seiner späteren Paradepartien als Maler Marcello. Mit von der Partie war der Erste Preisträger von 1960, Iwan Rebroff, dessen Karriere abgesehen von Prinz Orlofsky in DIE FLEDERMAUS bekanntlich in andere Gefilde führten. Ebenfalls mit dabei war Evelyn Lear, die bereits mit der Deutschen Oper Berlin (bzw. der Städtischen Oper) im Kontrakt stand, und Donald Grobe, dessen Debüt an der Deutschen Oper Berlin mit Don Ottavio in der Eröffnungsvorstellung DON GIOVANNI unmittelbar bevorstand, sowie William Dooley, der im Jahr darauf nach Berlin kam. Die Aufnahme entstand für eine Fernsehproduktion, die am 25. Dezember 1962 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde (und dank Youtube heute halblegales Allgemeingut ist).

Über Ulm und Augsburg und nach dem zwischenzeitlichen Debüt an der Wiener Staatsoper kam George Fortune 1965 in das Ensemble der Deutschen Oper Berlin, in dem er sich schnell zu einer zentralen Figur entwickelte. Er übernahm in vielen Premieren die Partien seines Fachs und war vor allem auch ein verlässlicher Zweiter, der die Hauptpartien in zahlreichen Repertoirevorstellungen übernahm, auch wenn ihm die Ehre der Premiere nicht zugekommen war. Mit Lorin Maazel trat er seine neue Wirkungsstätte an und in dessen weltweit beachteter erster Berliner Premiere LA TRAVIATA sang er den Baron Douphol. Sein Repertoire war weit gefächert und umfasste sowohl Ur- und Erstaufführungen wie LOVE‘S LABOUR‘S LOST von Nicolas Nabokov oder WIR ERREICHEN DEN FLUSS von Hans Werner Henze, als auch Opernhits wie DER BAJAZZO oder EIN MASKENBALL. Gerd Albrecht setzte ihn gerne bei seinen Erkundungen zur Erweiterung des Repertoires ein, nicht nur sang er den Grafen Tomskij in PIQUE DAME, sondern auch den André Thorel in der konzertanten Aufführung der THERESE von Jules Massenet, die auch – allerdings nicht in der Deutschen Oper Berlin, sondern in Italien – auf Schallplatte/CD aufgezeichnet wurde. Auch in OLYMPIE von Gaspare Spontini, die Albrecht nicht in der Deutschen Oper Berlin realisieren konnte, sondern in der Philharmonie mit dem RSO, wirkte er mit. In der konzertant am Klavier wiederbelebten Oper HOLOFERNES von Nikolaus von Reznicek, die am Deutschen Opernhaus Charlottenburg 1923 uraufgeführt worden war, trat er später in die Fußstapfen des großen deutschen Bassbaritons Michael Bohnen. George Fortune warf sich mit dem gleichen Elan in traditionelle wie moderne Inszenierungen. So konnte man ihn kurz nacheinander in LA GIOCONDA, inszeniert von Filippo Sanjust im Stil der Uraufführung und in DIE MACHT DES SCHICKSALS, inszeniert von Hans Neuenfels erleben. 1995 ließ er sich mit viel Selbstironie auf Götz Friedrichs Spiel mit den Sängern in CARMINA BURANA ein, das auf eine liebevolle Parade der Musikereitelkeiten hinauslief. Das war seine letzte große Premiere an der Deutschen Oper Berlin unter dem damaligen Generalmusikdirektor Rafael Frühbeck de Burgos. Im gleichen Jahr wurde ihm der Titel „Berliner Kammersänger“ verliehen. Mit der Baritonpartie in CARMINA BURANA verabschiedete er sich im März 2001, nach fast 36 Jahren, von seinem Berliner Opernpublikum. Danach trat er noch vereinzelt als Opernsänger u. a. in den USA (wo er 2004 seinen endgültigen Bühnenabschied feierte) und in Berlin noch einmal bei einem Konzert des Ärzteorchesters auf. Weiterhin wirkte er als Gesangspädagoge und bildete eine ganze Generation von jungen Sängern aus.

Der 1931 in Boston geborene Sänger studierte zunächst Philosophie und Sprachen in seiner Heimatstadt und an der Georgetown Universität in Washington D. C. Seine stimmliche Ausbildung erhielt er bei dem berühmten amerikanischen Bariton Todd Duncan, der 1935 in Boston die Rolle des Porgy aus der Taufe gehoben hatte. George Fortunes Stimme zeichnete sich durch eine besondere menschliche Wärme aus, die den in der Farbe bis zur Schwärze dehnbaren Kern umschloss.

Seine größten Erfolge feierte er im italienischen Fach: 1985 gab er als Tonio in PAGLIACCI sein Debüt an der Metropolitan Opera New York, wo er auch der Amonasro in Verdis AIDA, Scarpia in TOSCA und Jack Rance DAS MÄDCHEN AUS DEM GOLDENEN WESTEN von Puccini war. Oft sang er neben Plácido Domingo, zu dessen Timbre und Art des Singens das seine ideal passte. So in TOSCA, OTELLO, LA GIOCONDA und DAS MÄDCHEN AUS DEM GOLDENEN WESTEN.

George Fortune hat diverse Schallplatten und CDs eingespielt: neben den erwähnten THERESE und OLYMPIE, ARMIDA von Antonín Dvořák, sowie einige Oratorien wie „Christus“ von Franz Liszt, die „Krönungsmesse“ von Wolfgang Amadeus Mozart und „La Vita nuova“ von Ermanno Wolf-Ferrari.

Wir sind in Gedanken bei der Witwe von George Fortune und wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Quelle Deutsche Oper

 

Skandale in der Direktionsetage

 

Händels Dramma per musica Agrippina ist derzeit auf vielen Bühnen anzutreffen. Jüngst tourten Joyce DiDonato und Franco Fagioli damit konzertant durch Europa, an der Bayerischen Staatsoper gab es im Rahmen der Münchner Opernfestspiele in diesem Sommer eine Neuinszenierung durch Barrie Kosky und nun legt Naxos die Aufzeichnung vom März 2016 aus dem Theater an der Wien vor, welche eine Inszenierung von Robert Carsen festhält (2.110579-80). Der Regisseur und sein Ausstatter Gideon Davey holten die Handlung um Kaiserin Agrippina, die ihren Sohn Nerone zum Nachfolger des vermeintlich gestorbenen Kaisers Claudio machen will, in die Gegenwart. Zu Beginn sitzt sie im schwarzen Lederrock (!!!) in einer hohen Halle, die (mal wieder) an Mussolinis Architektur erinnert, am modernen Schreibtisch mit Computer und Telefonanlage. Nerone im Schlafanzug zappt in den TV-Programmen. Wie originell und neu…

Patricia Bardon singt die Titelpartie mit strengem Mezzo von hoher Autorität. Schon ihre erste Arie, „L’alma mia“, zeigt die Flexibilität der Stimme und das unvermindert große Volumen auch in den Koloraturläufen. Jake Arditti ist ein jungenhafter Nerone mit jugendlichem Countertenor. Für das Fernsehen wird eine Szene inszeniert, wo er Almosen an die Armen verteilt, um sich beim Volk beliebt zu machen. Die Kaiserin versichert sich der Unterstützung ihrer Gefolgsleute Pallante (Damien Pass mit imposantem Bassbariton) und Narciso (Tom Vereney mit hohem Counter von larmoyantem Klang), die beide in sie verliebt sind. Nacheinander versuchen sie gar ein stürmisches Liebesspiel mit ihr auf dem Schreibtisch. In Trauerkleidung gibt sie sich danach pathetisch ihrem Schmerz über den toten Gatten hin, während sein Diener Lesbo im dreiteiligen korrekten Anzug und Brille (Christoph Seidl mit verquollenem Bass) unter Trompetengeschmetter dessen Rückkehr verkündet. Es war der getreue Ottone, der ihm das Leben rettete und dafür die Thron-Nachfolge versprochen bekam. Der Counter Filippo Mineccia singt ihn mit passioniertem Einsatz und virtuosem Vermögen. Ottones Liebe gehört Poppea, die aber auch von Kaiser Claudio und Nerone hofiert wird. Danielle de Niese singt sie verführerisch, die reich verzierte Auftrittsarie „Vaghe perle“ absolviert sie kokett im Spitzenunterkleid in einem großen  Rundbett. Wenig später beweist sie in„Fa’ quanto vuoi“ vehemente Koloraturattacke, denn die Intrige der Kaiserin zeigt ihre Wirkung: Sie machte Poppea glauben, Ottone habe sie verraten und im Tausch gegen den Thron an Claudio abgetreten, Seine Aufwartung kündigt der Kaiser (Mika Kares mit grobem Bass) mit prachtvollen Blumenbuketts an. Seine Leidenschaft  für Poppea führt zu einer turbulenten Bettszene mit unfreiwillig komischer Wirkung. Sie beendet den 1. Akt mit der bewegten Arie „Se giunge un dispetto“, in welcher de Niese mit äußerster Entschlossenheit den Konflikt der Figur schildert.

Den 2. Akt eröffnet Ottone mit der furiosen Arie „Coronato il crin d’alloro“. Er ist in Ungnade  gefallen, kann aber Poppea seine Treue beweisen. Seine Arie „ Voi che udite il mio lamento“ ist eine schmerzliche Klage, die der Counter mit tiefer Empfindung vorträgt. Der Schauplatz wechselt zu einem Swimmingpool, umgeben von Badenixen auf Liegestühlen, wo Poppea die launische Arie „Bella pur nel mio diletto“ singt, während Ottone mit „Vaghe fonti“ eine der schönsten Eingebungen Händels anstimmt – ein kurzes Arioso in siciliano-Manier. Auch Nerone kann gefallen in dem kantablen “Quando invita la donna“, das er in Badehose mit der Gitarre wie ein Ständchen vorträgt. Dann folgt Agrippinas große Szene „Pensieri“, vom Orchester mit harschen Akkorden eingeleitet und begleitet, in der die Interpretin auch heulende Töne nicht scheut und im Mittelteil sich in rasenden Furor steigert. Sie fordert Pallante und Narciso auf, Ottone zu ermorden, und ringt Claudio das Versprechen ab, Nerone statt Ottone zum Thronfolger zu bestimmen. Den 2. Akt beendet sie mit dem beschwingten und an Trillern reichen „Ogni vento“, wo es bei den hohen Noten einige grelle Momente gibt.

Im 3. Akt  in Poppeas Salon finden die Verwirrungen ihren Höhepunkt, aber alles nimmt einen glücklichen Ausgang. Poppea und Ottone besingen in einem innigen Duett („No, ch’io non apprezzo che te“) ihr Glück, während Nerone noch die rasante Bravourarie „Come nube“ zufällt, in der sich die Koloraturläufe zu überschlagen scheinen. Arditti beweist hier seine hohe Kompetenz im Barockfach. Das letzte Solo aber gebührt der Titelheldin – das getragen-sanfte „Se vuoi pace“  beweist auch akustisch, dass sich (scheinbar) alle Wogen geglättet haben. Denn leider verzerrt Carsen dieses lieto fine, indem er eine ausgelassene Orgie mit Feuerwerk, Konfetti, Sex und Alkohol zeigt. Am Ende lässt der offenbar wahnsinnig gewordene Nerone seine Mutter und Poppea ermorden.

Kein Einwand aber lässt sich gegen Thomas Hengelbrock finden, der das Balthasar Neumann Ensemble zu einer Glanzleistung führt. Das Preludio im 2. Akt  ist von fiebriger Spannung, der nachfolgende Chor „Di timpani e trombe“ von pompösem Glanz. Selten hat man den Dirigenten am Pult so stringent, differenziert und Affekt geladen erlebt. Bernd Hoppe