Mehr Gogol als Puschkin

 

Zu sehr lieben die Russen ihre Tatjana und ihren Lenski, als dass Regisseur Dmitri Tcherniakov ihre Charaktere hätte entstellen können, wie er es in Berlin mit Tristan und Isolde tat, und so sah man beim Gastspiel des Bolschoi Theaters mit Eugen Onegin 2008 in Paris auch nur eine nicht nur von Melancholie angehauchte, sondern depressive Tatjana, einen noch immer poetischen, wenn auch seine Liebesschwüre teilweise ablesenden Lenski. Krasser waren die Eingriffe bei einer dem Suff ergebenen Larina, einem sich angesichts des Liebesdramas im letzten Bild kühl die Manschettenknöpfe schließenden Gremin oder einer Olga, die der Verlust des Ohrrings härter träfe als der des Verlobten. Durchweg in einem Raum, der von einem riesigen Tische beherrscht wird, spielt das gesamte Werk, weder fröhliches Hofleben mit der Herrin huldigenden Bauern noch verschneite Landschaft für die Duellszene, höchstens für den letzten Akt ein prachtvollerer Saal, aber ebenfalls mit Tisch und Stühlen bestückt. Schwierig ist es, die Zeit auszumachen, in die das Werk verlegt wurde, die Kostüme des ersten Teils sprechen für die Zeit kurz vor der Oktoberrevolution, die Frisuren des zweiten Teils für die Fünfziger/Sechziger, aber da gab es nicht mehr die Gesellschaftsschicht, die in ihnen dargestellt wird. Hämisch, lauernd, grobschlächtig, gewalttätig und durchweg unsympathisch sind Herr wie G‘scherr, sorgfältig charakterisierte Kleindarsteller allesamt, unter ihnen die alte Dame besonders herausstechend, die erst lüstern Streit und Duellforderung beobachtet und sich doch schließlich entsetzt abwendet. Diese unsympathische Menge ist sowohl Zeuge des Duells, das ebenfalls im Saal stattfindet, aber hier eine Rangelei um ein Gewehr ist,  wie des Monologs Onegins zu Beginn des dritten Akts. Auch Gremin verkündet seine Verachtung der höfischen gesellschaft vor den Ohren derselben. Gestrichen ist der Triquet, dessen Couplet Lenski übernimmt, auch ein Ballett gibt es nicht. All diese Änderungen tun zwar nicht weh, bringen jedoch weder zusätzlichen ästhetischen noch Erkenntnis-Gewinn.

Natürlich sind die Russen mit einem vorzüglichen Solistenensemble angereist. An seiner Spitze allerdings kein Landsmann, sondern der Bariton Mariusz Kwiecien mit schöner lyrischer Stimme, der darstellerisch die Aura des lebens- und liebesüberdrüssigen Allesverächters vermissen lässt, eher wie ein biederer Landedelmann wirkt.  Wunderschön ist die Tatjana von Tatjana Monogarova, dazu mit einer  Sopranstimme begabt, die rein und klar klingt und keine unangenehme slawische Schärfe aufweist. Einen empfindsamen Abschied vom Leben singt der Lenski von Andrey Dunaev, dem von der pöbelhaften Gesellschaft übel mitgespielt wird.  Dunkel lockend klingt der Mezzo der Olga von Margarita Mamsirova, beachtliche Stimmreste verleihen Emma Sarkisyan der Njanja und Makvala Kasrashvili der Larina. Eine mächtige Röhre, die er genussvoll trompeten lässt, hat Anatolij Kotscherga für den hier recht zwielichtigen Gremin. Prachtvoll singt der Chor des Bolschoi, natürlich seinen Tschaikowski kennt und versteht das Orchester unter Alexander Vedernikov und klingt oftmals angenehmer, als es das Geschehen auf der Bühne eigentlich zulassen dürfte (BelAir BAC 446). Ingrid Wanja