Pierantonio Tascas „A Santa lucia“

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Das Anhaltische Theater Dessau, wo ich schon so tolle Ausgrabungen wie Esclarmonde und La muette de Portici gesehen habe, entriss am 1. April 2017 das Stück der Vergessenheit und verband es logisch und richtig mit der Cavalleria Rusticana, die diesen Verismo-Doppelabend eröffnete. Vermutlich hatten sich alle Mitwirkenden auf den unbekannten Pierantonio Tasca (1858-1934) gestürzt, denn A Santa Lucia klang wesentlich überzeugender als die musikalisch gezähmte, etwas brav leidenschaftslose Cavalleria. Erstere ist als Übernahme aus Dessau bei cpo (2 CD 7971827) erschienen.

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Die Szene aus dem alten Hafenviertel Neapels, das zum Zeitpunkt seiner Oper A Santa Lucia bereits Geschichte war, wirkt jedenfalls wie abfotografiert. Sie erinnert ein bisschen an den zweiten Akt der Bohème mit ihrem Café Momus-Treiben und ist in ihrer naturalistischen Abbildung so authentisch wie die Morgendämmerung der Tosca, für die Puccini eigens nach Rom gereist war und die Engelsburg bestiegen hatte. Tasca fließt dieses Treiben operettenleicht und unaufwendig aus der Feder, die Volksmenge und die solistischen Einwürfe samt den späteren ariosen Einflechtungen, der leichte, anschmiegsame Canzonen-Ton und die Tarantella, die seinen 75minütigen Zweiakter einrahmt, dazu die Parlando-Unterhaltungen und das südländische Idiom. Doch so unbeschwert wie sich die schaulustigen Neapolitaner gerieren, ist das Stück, dessen Libretto ihm Enrico Golisciani nach einen Schauspiel Goffredo Cognettis eingerichtet hat, nicht. Rosella hat ein Kind vom Fischer Ciccillo, dem Sohn des Austernhändlers Totonno. Sie gibt es als die Tochter ihrer verstorbenen Schwester aus, weil Ciccillo seit seiner Jugend Maria versprochen ist. Maria liebt Ciccillo und unternimmt eifersüchtig alles, um Rosella auszustechen. Es kommt zu einer Auseinandersetzung der beiden Frauen. Nur Totonnos Eingreifen kann Rosella vor dem Gefängnis bewahren. Ciccillo beschließ,t für ein Jahr auf einem Schiff anzuheuern. Das von Eifersucht, aber schließlich tiefer Liebe geprägte Duett der beiden ist ein Höhepunkt der Oper, die ansonsten liedchenhaft kurze Arien bevorzugt. Rosella findet bei Totonno Unterschlupf, der sich in die junge Frau verliebt hat. Bei Ciccillos Rückkehr steckt Maria dem Geliebten, dass nun nicht nur ihrer beiden Hochzeit, sondern auch die von Rosella und Totonno ansteht. Ciccillo sieht sich von beiden betrogen, gesteht seinem Vater, dass Rosellas Kind von ihm ist und stößt die unschuldige Rosella von sich. Diese stürzt sich ins Meer.

A Santa Lucia verdankte seinen kurzen Sensationserfolg vor allem dem Einsatz von Gemma Bellincioni, die zusammen mit ihrem Mann Roberto Stagno, zwei Jahre nachdem sie 1890 in Rom Cavalleria Rusticana erfolgreich zur Uraufführung gebracht hatten, eine Novität für ihre Tournee suchte – die Bellincioni hatte u.a. auch Giordanos Fedora kreiert. So kam es, dass die Oper eines bis dahin unbekannten Komponisten an Berlins Kroll-Oper herauskam. Es folgten weitere Stationen, auch Aufführungen unter Gustav Mahler, der sich ebenfalls für die Cavalleria Rusticana eingesetzt hatte, bis die Oper mit dem Karriereende der Bellincioni in Vergessenheit geriet.

Auch wenn Tascas A Santa Lucia in Dessau durchaus überzeugend gegeben wurde, wird sie wegen ihrer fehlenden musikalischen Dramatik und länglichen Kleinteiligkeit der Cavalleria kaum ihren Platz an der Seite der Pagliacci streitig machen..

Tascas Einakter „A Santa Lucia“ am Anhaltischen Theater Dessau/ Szene mit Rita Kapfhammer (als Maria), Iordanka Derilova (als Rosella)/ Foto Claudia Heysel

Nur Ray M. Wade ist der tenorale Felsen in dem Geschehen, kann im Duett mit Rosella einen kompakten Tenor günstig ausspielen, ein arioses Changieren, das in ähnlicher Form bei Wolf-Ferrari wiederkehrt, doch eher in den Buffoopern als in den auf einen Text Goliscianis entworfenen Goielli della Madonna, wo sich der Verismo zu einem groben Abgesang nochmals nach Neapel begibt. Ulf Paulsen gibt als Totonno, Austernhändler und Vater von Ciccillo und Concettina liegt die Partie überhaupt nicht, nicht in der Höhe und nicht in der vokalen Attacke (und im trockenen Ton); da zieht er sich lieber mit einfarbig festem Bariton aus der Affäre. Iordanka Derilova kann in den beiden Partien der Bellincioni, von der Heuberger gesagt hat, sie sei eine „Doppelgängerin der Duse“ und „die größte Seelenmalerin unter den derzeitigen Opernsängerinnen“, einen großen persönlichen Erfolg verbuchen. Nach Brünnhilden, Ortrud und Elektra und den dramatischen italienischen Partien ist es erstaunlich, zu welch feiner Emission und Lyrik sie als Rosella fähig ist, wo sie natürlich und kraftvoll singt und sich die Stimme noch immer von großer Homogenität zeigt. Die Chormitglieder singen ihre schönen Chöre, die Dörfler ergehen sich in Duetten und Szenen, alles in allem die Sicht des Norditalieners auf das exotische Sizilien, das in Vergas Romanvorlage wesentlich krasser erfasst ist. Auch wenn Tascas A Santa Lucia in Dessau durchaus überzeugend gegeben wurde, wird sie wegen ihrer fehlenden musikalischen Dramatik und länglichen Kleinteiligkeit der Cavalleria kaum ihren Platz an der Seite der Pagliacci streitig machen.

Die Regie wurde in Dessau damals widerspruchslos hingenommen – trotz des nicht zum Stück gehörenden, aus der Cavalleria interpolierten Schreis am Ende, die Aufführung gefeiert, was Markus L. Frank und die Anhaltische Philharmonie für ihren feinsinnigen Tasca verdient hatten, ebenso der Opernchor, dazu der Kinderchor, Rita Kampfhammer als energische Maria, Cornelia Marschall als verständnisvolle Concettina. Und dann hört man auch noch Cezary Rotkiewicz als Tore sowie David Ameln als Stimme des Fischers  Rolf Fath

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.Und zur Oper selbst ein Artikel von Felix Losert: Eine junge Diva, ihr Mann und die Oper eines Freundes aus der Heimat: Im November 1892 kamen die junge Mezzosopranistin Gemma Bellincioni (1864 – 1950} und ihr tenoraler Ehemann Roberto Stagno (1840 – 1897) zu einem ersten Gastspiel nach Berlin. Die Leitung der Kroll­ Oper, des Hauses am Exerzierplatz gegenüber dem Reichstag, wollte mit den berühmten Uraufführungsinterpreten der Cavalleria  rusticana (1890) einen Angriff gegen den kürzlich erlebten, unglaublichen Dauererfolg von Mascagnis Einakter an der Hofoper starten. Und der Clou ihres Gastspiels sollte nichts Geringeres als die Uraufführung einer italienischen  Oper sein, die von den Sänger selbst empfohlen wurde. Es handelte sich um A Santa Lucia vonPierantonio Tasca (1864 – 1934), die nun im April, Mai und Juni 2017 am Anhaltischen Theater Dessau zu sehen ist (Premiere ist der 1. April in der Koppelung mit Mascagnis Cavalleria rusticana).

Zu Tascas Oper „A Santa Lucia“:  Pierantonio und Salvatore Tasca/ collegiomondragone

A Santa Lucia ist neben Leoncavallos Pagliacci und Giordanos Mala vita (beide 1892) eine der ersten Opern, die nach dem Vorbild der Cavalleria eine tragische Handlung bei den Ärmsten der Armen spielen lässt. Das Libretto stammte von Enrico Golisciani (1848 – 1918), der später u. a. mit Wolf-Ferrari zusammenarbeitete. Wie Mascagnis Librettisten hatte auch Golisciani ein originales, veristisches Theaterstück zur Vorlage genommen. Dessen Autor, Goffredo Cognetti, stellte jedoch keine tranche de vie aus dem unterwickelten Hinterland Siziliens auf die Bühne (wie Giovanni Verga in seiner Cavalleria), sondern bot eine Art Fotografie des Alltags vom Neapel des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Golisciani war wie Cognetti ein waschechter Neapolitaner, und so verwundert es nicht, dass allein schon das Libretto ein Neapel der armen Fischer und Straßenverkäufer mit einer Genauigkeit und Lebendigkeit zu schildern vermag , die noch heute verblüfft. Da lässt es sich leicht verschmerzen, dass der tragische Ausgang hier weit weniger dem Schicksal als einer klassischen Intrige zu verdanken ist.

Zu Tascas Oper „A Santa Lucia“: Postkarte mit den beiden Hauptdarstellern Gemma Bellinconi und Roberto Stagna/ OBA

Angesichts eines solchen Sujets ist es eigentlich erstaunlich, dass sich ein Mann wie Tasca dieses Librettos annahm. Tasca wurde als Sohn eines Barons im Palazzo Tasca in Noto, südlich von Siracusa, geboren – wenige Kilometer von dem Ort entfernt, an dem Verga seine Erzählungen und Dramen spielen ließ. Die adlige Familie Tascas war jedoch  weit besser gestellt als vergleichsweise Turiddus Mamma Lucia. Während Turiddu für den Militärdienst Lola verlassen muss, sieht sich der junge Pierantonio nur von seinem Notenpapier getrennt. Es lohnt sich, aus einer Lebensbeschreibung den Vorbericht zur Uraufführung zu zitieren, der im Berliner Börsen-Courier erschien: „Tasca studirte fleißig und componirte seine erste Oper ‚Bianca‘ [Florenz 1885]. [. ..] Tasca’s Beschäftigung als Componist erhielt eine Unterbrechung durch dessen Militärjahre . Nach beendetem Militärdienst lebte Tasca in Noto, und als der Bürgermeister der Stadt Noto starb, wählte das Stadtverordneten-Collegium einstimmig Tasca zum Bürgermeister. Somit war der junge Komponist mit 22 Jahren der jüngste aller Bürgermeister Italiens. Seine erste Verordnung war originell: Alle Musikkapellen in der Stadt Noto und Umgebung haben Wagnersche Fragmente in ihr Repertoire aufzunehmen. Wie bereits gemeldet, hat Pierantonio Tasca dem Künstlerpaar Stagno-Bellincioni seine neueste Oper gewidmet, und diese fragten bei ihm telegraphisch an, ob er nicht nach Berlin reisen wollte, um die Oper persönlich zu insceniren.  Tasca [. ..]  packte  in aller  Eile seine Sachen zusammen und jagte über Palermo, Neapel, Rom, Florenz, Venedig, München nach Berlin, von wo er seinen Freunden das einzige   Wort  ‚Angekommen‘ meldete.“

Zu Tascas Oper „A Santa Lucia“: Straßenleben in Neapel vor 1900/ Foto vecchio-napoli.it

Tasca inszenierte sein Werk nicht selbst, aber er hat sicher nicht bereut, die lange Reise auf sich genommen zu haben. Denn als am 16. November 1892 die schöne, noch viel zu junge Rosella in den starken Armen Ciccillos ihr Leben aushaucht, bricht in der Kroll­ Oper das Publikum in Tränen und dann in rasende Begeisterung aus. Mit einer „tief eingreifenden Wirkung und einem so stürmischen äußeren Erfolg, wie er seit Mascagnis ‚Cavalleria rusticana‘ hier nicht erlebt worden ist“, so schrieb die Vossische Zeitung am nächsten Morgen, endete die Premiere. In den nächsten Jahren wurde A Santa Lucia nicht nur in Berlin wiederaufgenommen, sondern u. a. in Wien, Hamburg (hier unter der Leitung von Gustav Mahler), Prag, Triest, Manchester und Genua nachgespielt. Es ist erstaunlich, dass auf diese Weise eine italienische, ja: eigentlich neapolitanische Verismo-Oper von einem Publikum gefeiert wird, das die liebevollen Details im Lokalkolorit gar nicht würdigen konnte und die Geschichte vom Leben und Sterben im Hafenviertel für reichlich exotisch und sogar sonderbar hielt.

Zu Tascas Oper „A Santa Lucia“: der Pallonetto di Santa Lucia in Neapel vor 1900/ Wiki

Übrigens findet sich in keiner zeitgenössischen Kritik ein Hinweis darauf, dass man sich bewusst gewesen wäre, mit Tascas Oper einen Blick auf eine versunkene Welt geworfen zu haben: Nach einer Cholera-Epidemie, die gerade in den Slums der Altstadt furchtbar gewütet hatte, war auch das Viertel um die Kirche St. Lucia Ende der 80er Jahre abgerissen und so grundlegend modernisiert worden, dass sich Straßenszenen wie die in der Oper dort nicht mehr abspielten. Nun standen dort – wie heute – große Hotels für (damals deutsche) Touristen und mondäne Uferpromenaden an der Stelle der Buden der Fischverkäufer.

Tascas Oper wurde auf deutschsprachigen Bühnen bis zum Ersten Weltkrieg häufiger gegeben als Andrea Chénier und Manon Lescaut. Der große Erfolg ist, was die Musik angeht, kein Missverständnis gewesen. Tasca komponierte eine gefällig und leicht fließende Musik, die sich geschmeidig den rasch wechselnden Situationen auf der Bühne anpassen kann. In der großartigen Einleitung mit ihren durcheinander singenden Solisten und Chorgruppen bietet er ein bis dato ungeahnt realistisches Abbild großstädtischen Straßenlebens. Hier, dann im Auftrittslied Ciccillos (das eigentlich eine veritable Canzone napoletana ist) und der Einleitung zum zweiten Akt mit den aus der Ferne herüber klingenden Rufen der Fischer, zeigt sich Tasca als intimer Kenner der Musik Neapels. Als Glanzstück des Werkes wurde von der zeitgenössischen Kritik das große Liebesduett am Ende des ersten Aktes gefeiert. Es ist aus kurzen Abschnitten gebildet, die genauer und rascher dem Gespräch der Liebenden zu folgen vermögen als die großbogigen Themen des frühen Mascagni oder Puccini. Hier im Duett findet Tasca dennoch zu einer Melodie voller Ekstase, die nicht nur das Berliner Publikum Anno 1892 begeisterte, sondern auch am 26. Oktober 2012 das im Theater Erfurt bei der Aufführung von A  Santa Lucia in der  Veranstaltungs-Reihe „Oper am Klavier“.  Bei dieser Gelegenheit – höchstwahrscheinlich die erste Aufführung seit 97 Jahren – zeigte sich die Oper insgesamt als ein für die Sänger (Shivko Shelev und Oxana Arkaeva  waren als Liebespaar zu hören) dankbares und das Publikum mitreißendes Werk.

Zu Tascas Oper „A Santa Lucia“: Operndirektor Felix Losert/ Foto Anhaltisches Theater Dessau

Mitte der 1890er Jahre galt Tasca mit seiner Neapel/Berlin-Oper im deutschsprachigen  Raum  als  wichtiger  Vertreter der „jungitalienischen Schule“ neben Mascagni und Leoncavallo – bis Puccini seinen internationalen Siegeszug antrat. Die wenigen weiteren Opern Tascas, darunter Pergolesi, das im Berliner Theater des Westens 1898 uraufgeführt wurde, und eine Vertonung des berüchtigten Librettos zu La Lupa, das Giovanni Verga ursprünglich Puccini zugedacht hatte (Noto 1932), zogen jedenfalls keine größeren Kreise. Dass jedoch kaum ein Musiklexikon über Tasca und seine neapolitanische Verismo-Oper Auskunft gibt, ist nicht zu rechtfertigen. Felix Losert

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.