Analytiker und Psychologen

 

Neben dem gründlichen Studium sämtlicher Quellen zur Vorbereitung einer Inszenierung komme es sogar vor, so Dmitri Tcherniakov, „dass ich den Ort besuche, an dem die Oper spielt, egal, wie weit entfernt er ist, wie ich das zum Beispiel während der Vorbereitung zu Dialogues des Carmelites gemacht habe, als ich nach Compiègne in ein Karmelitisches Kloster gereist bin, um mich dort mit den Nonnen zu unterhalten. Die Inszenierung selbst ist dann am Ende ganz unabhängig von dieser historischen Basis entstanden“. Für seine Züricher Inszenierung der Debussy-Oper Pelléas et Mélisande im Mai 2016 musste er nicht nach Allemonde reisen und hat für das in einem Märchenmittelalter auf dem Schloss des Königs von Allemonde spielende Stück als sein eigener Ausstatter einen hohen, modernen loftartigen Raum entworfen. Wohnhaus und Praxis in einem, mit schräger Wand und Abtrennung zum Essbereich, von dem aus man auf einen Wald im Wandel der Jahreszeiten blickt, Sitzwürfel, zwei Couches im vorderen Bereich, Flachbildschirme und Kameras, die die Patienten im Nebenraum beobachten (DVD Belair BAC157).

Hier wohnt eine Familie von Therapeuten, die sich gerne selbst beobachtet und analysiert. Golaud hat den Ehrenkodex gebrochen, sich in eine Patientin verliebt, diese geheiratet und mit in dieses Haus gebracht. Klar, dass der ohnehin selbst psychisch deformierte Golaud ausrastet, nachdem er Mélisandes Beziehung zum jüngeren Halbbruder aufgedeckt hat und sich vom smarten Arzt zum ausrasenden Gewaltmenschen wandelt. Der bärtige Kyle Ketelsen bildet mit seinem schweren, kernigen rauen Bariton als viriler Golaud vom Typ angelsächsischer Hochschulprofessor den rechten Gegensatz zum schmal-zarteren, übersensiblen Pulloverträger Pelléas, den Jacques Imbrailo mit weichem Mozart-Bariton gibt. Nicht nur Golaud erlaubt sich schwerer Übergriffe, auch Arkel scheut sich nicht, sich der Frau seines Enkels zu nähern.

Es ist frappierend, wie in diesem Intellektuellen- und Therapeuten-Milieu, wo der Senior-Analyst Arkel mit seiner Schwiegertochter Geneviève am Esstisch die Familiensituation durchdekliniert, Maeterlincks Text neue Farben annimmt und Allgemeinplätze wie Arkels, „Wir sehen unser Schicksal immer von ganz hinten“ beim Kamerablick ins Behandlungszimmer einen neuen Klang erhält. Wie Geneviève bei aller scheinbaren Offenheit und Direktheit hinter Arkels Rücken Pelléas Zeichen macht, wie er sich zu verhalten habe. Oder wie sich Mélisande und Geneviève nebeneinander auf die Liegen betten und Geneviève Mélisandes Ängste in der Manier der Analytikerin deutet. Der bildkräftige, symbolastige Text nimmt in diesem klinischen Umfeld neue Nuancen an, ohne sein Geheimnis einzubüßen. Tcherniakov macht aus dem Fünfakter einen spannenden Psycho-Thriller, in dem auch Arkel und Geneviève, oft stiefmütterlich behandelte Figuren, als dominante Repräsentanten der Analytiker-Szene ständig geistig präsent sind; selbst Pelléas‘ kranker Vater tritt in Erscheinung. Der im Text angelegte Blick in menschliche Abgründe wird bei Tcherniakov zum Blick in die Abgründe der Seele, eben ein Psycho-Thriller wie ihn Debussy in seinen beiden Fragmenten nach Poe, La chute de la maison Usher und Le diable dans le Beffroi, nicht zu Ende führte und der in dem scheinbar so geordneten Ambiente um so perfider ausfällt. Mélisande ist eine seelisch schwer zerrüttete, immer wieder von schmerzlichen Erinnerungen geplagte Frau, die Golaud von Anfang an nicht liebt. Sie wird Opfer einer dysfunktionalen Familie, die sich selbst nicht heilen kann. Auslöser für Mélisandes Leiden ist möglicherweise Golaud, der sich nicht nur an ihr vergriffen hat. Corinne Winters spielt diese Mélisande auszeichnungswürdig, sing flatterhaft zart. Einzig bei Pelléas, der ihre Verschlossenheit respektiert, scheint sie sich zu lösen – während Golaud diese Nähe vom Nebenzimmer aus beobachtet, den verständnisvollen älteren Bruder spielt, gleich darauf Mélisande vor den Augen des Pélleas würgt und dessen Hand auf ihre Brüske drückt. Tcherniakov spielt dieses geschlossene System der Beziehungen und Abhänigkeiten – immer wieder die sprechenden Bilder am Esstisch – so gekonnt durch, dass ich diese Aufführung mit großer Faszination gesehen habe, umso mehr als mit Yvonne Naef und Brindley Sheratt als Geneviève und Arkel und dem sehr sauber singenden Damien Göritz als sich mit Kopfhörern gegen seine Umwelt abschirmender und später selbst als Analytiker versuchender Yniold und dem von Alain Altinglou mit zunehmender Dringlichkeit dirigierten Orchester und Chor auch der musikalische Teil bestens ausgerichtet war.

 

Maurice Ravels Debussy-Hommage Shéhérazade stand in diesem Sommer (2019) auf dem Programm eines Berliner Waldbühnen-Konzerts mit den Berlinern Philharmonikern unter Tugan Sokhiev – außerdem Sergej Prokofjews Leutnant Kije-Suite op. 60 und Romeo und Julia-Suite in einem Arrangement Sokhievs – bei dem sich die als neuer Stern am französischen Opernfirmament gegrüßte Marianne Crebassa der Orchesterlieder annahm. Crebassa singt auf diesem Mitbringsel für die Daheimgebliebenen (EuroArts 2067794) die drei Orchesterlieder mit starker Bildkraft und aparter Linie, beschwört mit dunklem Timbre auf eindringliche Weise die von Ravel und Tristan Klingsor in verschwimmenden Farben gemalten exotischen Paläste. Ihre Stimme ist nicht durchgehend elegant verblendet, weshalb sie trotz der Ausdruckskraft und Beweglichkeit ihres Mezzosoprans noch nicht an große Vorbilder heranreicht. Rolf Fath