Toller Hecht

 

Genau hingucken aufs Kleingedruckte sollte der künftige Leser von Alfred Kirchners Buch Der Mann von Pölarölara, denn da steht Autobiographische Splitter und nicht etwa Autobiographie. So sollte er sich nicht wundern, wenn tatsächlich keine chronologisch oder thematisch aufgebaute Lebens- und Karrierebeschreibung, sondern eine lose Abfolge von Erlebnissen und Eindrücken auf ihn wartet, oft abbrechend, wenn es gerade spannend wird, so beim Lohengrin in Oslo, wenn seitenlang die bange Frage im Raum steht, wie das Publikum die von Regisseur Kirchner verantwortete Inszenierung aufnehmen wird. Ehe das Rätsel gelöst wird, geht es aber zum Kuchenessen mit Tochter Emilia und danach flugs zu einem neuen Thema.

Das Buch beginnt mit der Schilderung eines Bombenangriffs auf des Autors Heimatsstadt Göppingen, die erste Verwunderungen auslöst, weil kein Luftschutzwart verhindert, dass die Familie während des Alarms in der Wohnung bleibt, weil ein Baby nach dem Angriff stumm für das restliche Leben bleibt und weil von Barbarossa behauptet wird, er käme wieder aus dem Kyffhäuser, wenn die Welt befriedet sei. Was hätte er dann noch zu tun? Und war 1945 vor Kriegsende von einer „deutschen Atombombe“ die Rede, nicht nur von einer „Wunderwaffe“, der V2?

Eine gespaltene Persönlichkeit führt uns das Buch vor Augen, kein Ich, sondern einen Alfred, ein Er, einen Mann aus Pölarölara, oft nur Pöla genannt, hinter dem sich der Autor versteckt, was dem Buch einen geschmäcklerischen, koketten Anstrich gibt, wozu auch beiträgt, dass weniger von den Werken, die in Sprechtheater oder Opernhaus auf die Bühne gebracht werden, die Rede ist als von den Reaktionen, oft positiven bis jubelnden Kritiken, die der Premiere folgen. Gern wird die Pose des Möchtegernrevoluzzers eingenommen, der  schockiert, der sich sonnt in der Empörung, die sein Wirken, auch und bereits in der Schule, hervorbringt. Da werden auch Künstler wie Freni und Ghiaurov nicht ausgenommen, selbst wenn Erstere versöhnen müsste, dass er sie für „die beste Violetta“ hält. Mit inzwischen vollendeten 80 noch von Lohengrins „bärenstarker Abschiedsarie“ zu schreiben ist ebenso bemerkenswert wie der Hang zu Umständlichkeiten wie das geschmäcklerische „teilten ihr Schicksal mit dem Kirschgarten“ anstelle von einfach „abgeholzt“ oder das neckische „ein wenig legendär“, ein „nicht ganz unliebenswert“ oder „nicht unanstrengend“.

Obwohl mit bayerischen Behörden oft im Clinch, findet er auch am Gegenpol Berlin wenig Gutes, denn es ist ihm bereits 1957  ein „wunderlicher Misthaufen“,  in dem sich Kriegerwitwen mit Türken zusammentun, was verwundert, weil das Anwerbeabkommen von 1961 stammt.  Viel besser kommt Straßburg mit einer liebenswürdigen Beschreibung weg, über die Zeit in Bremen, in Bochum, am Berliner Ensemble und in Bayreuth wird berichtet und mit Wendungen wie „göttlich“,  „Wunderfrauen“, „Strömen von Tränen“ nicht gegeizt. Lustig ist die Beiläufigkeit, mit der vom Lob eigentlich hassenswerter, weil politisch etablierter Personen wie Bundestagspräsident Lammert berichtet , Sieglinge im ersten Walküre-Akt eine Mitwirkung bei „Winterstürme“ zugestanden wird, es von Kurt Elser zu Harnoncourts „Don Giovanni“ nicht weit ist.

Liebevoll ist die Schilderung von Curt Bois und Bernhard Minetti, von Held und Schellow, gewunden, um der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen zu müssen, die von der Schließung des Schillertheaters, eher eine sehr subjektive Verteidigungsrede als eine Darstellung der Wirklichkeit, so dass es nur nachvollziehbar ist, dass der Autor Berlinern rät, dieses Kapitel nicht zu lesen. Sie wüssten es vielleicht besser, und sie fänden es nicht so gut, dass ausgerechnet das Neue Deutschland zweimal zum Zeugen aufgerufen wird.

Auch der Mann Alfred Kirchner stellt sich in schillerndes Licht, wenn er Andeutungen über die ihm verfallene „schönste Sängerin“ der Deutschen Oper Berlin und die Tänzerin, die sich seinetwegen das Leben nehmen wollte, tröpfeln lässt. Da wird bei manchem Leser das Recherchieren beginnen.

Fotos gibt es leider keine, aber auf solchen wäre ja der Regisseur auch nicht zu sehen.

Nicht besonders aufmerksam ist ein Lektorat, das „versucht ihm… zu lehren“ und „dem unvergessliche Freund“ durchgehen lässt, ärgerlicher aber ist das Überwiegen von Selbstbespiegelung gegenüber Information (265 Seiten  Verlag Hollitzer 2019; ISBN 978 3 99012 627 1). Ingrid Wanja