Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Bezaubernd

 

Ein zauberhaftes Abschiedsgeschenk machte die langjährige Intendantin des Theaters Freiburg, Barbara Mundel, ihrem Publikum mit Massenets Cendrillon und bewies gemeinsam mit ihrer Ausstatterin Olga Motta, dass man auch mit begrenzten finanziellen Mitteln große Wirkungen erzielen kann, die zu einem großen Teil auf das Konto der Lichtdesignerin Dorothee Hoff gehen. Beim Schlussapplaus wird deutlich, dass die eine Zirkusarena darstellende Bühne mit kleinen, durch blaue Vorhänge voneinander getrennten Kammern schlicht und einfach, um nicht zu sagen primitiv, ist und vor allem durch viel Gefunkel, wechselnde Farben, den fleißigen Einsatz der Drehbühne, von einem riesigen Aufziehschlüssel gelenkt, märchenhaften Zauber entfaltet. Bezopfte kleine Mädchen ziehen ihre Väter in Kostümen der Entstehungszeit vorbei an der Kasse in das Zirkuszelt, in dem Cendrillon, die erst spät im Stück ihren wahren Namen Lucette preisgibt, einem Messerwerfer als Ziel dient. Stiefmutter und –schwestern sind Dressurreiterinnen, es wimmelt von Clowns nicht der derben, sondern romantischen Art, sogar ein Babyelefant entzückt die Zuschauer. Eine feine Ausgewogenheit zwischen Groteskem und Poetischem garantiert einen reuelosen Genuss zwischen Unterhaltung und Nachdenklichkeit.

Wie einem Lilian-Harvey-Film entsprungen zeigt sich die Titelheldin, von der so viel Faszination ausgeht, dass man das Entzücken über ihre Erscheinung am königlichen Hof nachvollziehen kann, obwohl das prächtige, von der Fee gespendete Kleid nur über ihr schwebt, sie selbst aber aschebeschmiert und im armseligen Fetzen auf dem Ball erscheint. Der zarte, silbrig schimmernde Sopran von Kim-Lillian Strebel klingt nur selten etwas säuerlich, sehr berührend singt sie ihr „Adieu mes souvenirs“, und im großen Duett der Liebenden, die einander sehr nahe sind, sich aber nicht sehen, harmoniert ihre Stimme gut mit der etwas wärmeren, runderen von Anat Czarny mit melancholischem Touch, die der mondbleiche Prince Charmant ist. Hochvirtuos gibt Katharina Melnikova die kapriziöse Fée mit irrwitzigen Koloraturen, süffig klingt der Mezzo von Anja Jung als böse Stiefmutter, Juan Orozco ist der den Parlandostil gut beherrschende besorgte Pandolfe, im dritten Akt wünscht man sich von seinem Bariton mehr Geschmeidigkeit. Auch die vielen kleineren Partien sind durchweg rollendeckend besetzt, und man kann dem Label Naxos nur dankbar dafür sein, dass es dem Zuschauer die Möglichkeit gibt festzustellen, dass die Provinz schlüssigere, erfreulichere und werk- wie publikumsangemessenere Produktionen bieten kann als die großen Häuser es oft tun (Naxos NBD0079V). Ingrid Wanja          

Ein Hochinteressanter

 

Mit großem Bedauern hören wir vom Tod des italienischen Dirigenten Claudio Scimone. Er war für mich einer der ganz wichtigen Beförderern der Rossini-Renaissance in Italien und weltweit mit seinen wunderbaren Aufführungen in Parma, Bologna, Pesaro und andernorts. Noch vor Alberto Zedda und den späteren wie Chailly, Pidò oder Ferro war er der Exponent für so herrliche Aufführungen wie die Italiana in Algeri (in der vielerorts in der gloriosen Hampe-Inszenierung die Damen Horne oder von Stade triumphierten, weltweit von Bologna, der Scala bis San Francisco, verfilmt und auf die CD gebracht). Scimone hatte diesen genialen Rossini-Touch, der von seiner starken Hinwendung zum Barock herrührte, in dem er vorher sich einen Namen mit seinen vielen Platten bei Erato gemacht hatte. Ich erinnere  mich an an manche aufregende Opernabende mit ihm in den Achtzigern, als die Rossini-Bewegung unter ihm Fahrt aufnahm (1986 der absolut wahnsinnige Abend des Maometto II in Pesaro mit der göttlichen Gasdia umgeben von der unvergessenen, sonoren Valentini sowie Merritt und Ramey unter Scimones schwungvoller Leitung), und ich werde ihn – wie den von mir gleichermaßen verehrten Michel Corboz – stets als einen Pionier und Könner im Gedächtnis behalten – er hat uns reich beschenkt.

Im Folgenden ein Beitrag aus dem bewährten Wikipedia, das die Stationen seine vollen Lebens nachzeichnet. Möge er in Frieden ruhen. G.H.

 

Claudio Scimone (* 23. Dezember 1934 in Padua; † 6. September 2018 ebenda) arbeitete 1952–57 als Musikkritiker für die Gazetta del Veneto und studierte gleichzeitig Dirigieren bei Carlo Zecchi, Dimitri Mitropoulos und Franco Ferrara. 1959 gründete er das Kammerorchester I Solisti Veneti, das er seither leitete. Er unterrichtete Kammermusik an den Konservatorien von Venedig (1961–67) und Verona (1967–74); 1974–83 war er Leiter des Konservatoriums von Padua.

Durch Archivstudien und wissenschaftliche Forschungen erweiterte Scimone das musikalische Repertoire um zahlreiche Werke des 18. und 19. Jahrhunderts. So nahm er als Erster sämtliche Sinfonien von Muzio Clementi auf und machte die Werke Tartinis allgemein bekannt. Er rekonstruierte Vivaldis Oper Orlando furioso (auf CD bei Erato) und brachte sie 1979 in Verona und 1981 in Aix-en-Provence zur Aufführung. Eine Rekonstruktion von Albinonis Il nascimento de l’aurora (ebenfalls bei Erato) folgte 1984 in Venedig. Auch Werke des 20. Jahrhunderts standen immer wieder auf seinem Programm.

Neben seiner Tätigkeit als Dirigent von I Solisti Veneti leitete Scimone 1979–86 das Orchester der Gulbenkian-Stiftung in Lissabon, wo er 1981 Rossinis Oper Mosè in Egitto neu aufführte. Im gleichen Jahr debütierte er mit einer Aufführung von Donizettis L’elisir d’amore am Covent Garden. Als Gastdirigent arbeitete er u. a. mit dem Philharmonia Orchestra London, dem Royal Philharmonic Orchestra, dem English Chamber Orchestra, dem Orchestre Philharmonique de l’ORTF und den Bamberger Symphonikern zusammen.

Scimone nahm über 150 Schallplatten und CDs auf, viele davon Ersteinspielungen (u. a. Mercadante, Boito, Donizetti, Spontini, Ponchielli). Seine Vivaldi-Diskografie beläuft sich auf über 250 Werke. 1969 wurde Scimone mit der Elizabeth Sprague Coolidge Memorial Medal ausgezeichnet. Für seine Schallplattenaufnahmen erhielt er mehrmals den Grand Prix du Disque, außerdem den Grammy Award, den Prix Mondial du Disque (Montreux) und den Diapason d’or. Wikipedia

Beeindruckendes Gesamtkunstwerk

 

Es zeugte vom Mut des neuen Salzburger Festspielintendanten Markus Hinterhäuser, im vergangenen Sommer drei Werke des 20. Jahrhunderts zu präsentieren, und die positive Aufnahme beim Publikum gab seinen Bemühungen um anspruchsvolles zeitgenössisches Musiktheater Recht. Einer der Höhepunkte war die Produktion von Bergs Wozzeck im Haus für Mozart, die harmonia mundi nun auf DVD und Blu-Ray herausgebracht hat (HMD 9809053.54).

Eine opulente, zuweilen gar chaotische Bilderwelt überflutet den Zuschauer in William Kentridges Inszenierung. Es ist ein Gesamtkunstwerk aus Musik, Film und Bildender Kunst, wofür dem Regisseur Luc De Wit (Co-Regie), Sabine Theunissen (Bühne), Greta Goiris (Kostüme), Catherine  Meyburgh (Video Design) und Urs Schönebaum (Licht) zur Seite standen. Die Einheitsszenerie stellt einen aufgetürmten Bretterberg mit ramponierten Möbeln, Fensterläden und Treppen dar. Eine Staffelei gibt dem Raum die Anmutung eines Ateliers, ein Filmvorführgerät dient zur Einspielung von historischen Dokumenten aus der Zeit des 1. Weltkrieges. Die expressiv schraffierte Wand im Hintergrund bringt Kentridges Stil als Zeichner ein und zeigt im Verlauf der Aufführung mehrere seiner typischen Sujets (abgestorbene Bäume, Sümpfe, Grasbüschel, Trümmer) als Projektionen grobkörniger Kohlezeichnungen. Beklemmend sind jene Bilder, welche an die Schrecken des Krieges erinnern: Schlachtfelder, Ruinen, Tote und Verwundete, Soldatengräber… Personifiziert sind sie in vier Mimen, die mit Gasmasken, Krücken und Rotkreuz-Schürzen omnipräsent sind und abgründige, gespenstische Metaphern abgeben. Auch die Puppe, mit der Maries Knabe spielt, trägt eine Gasmaske und reitet am Ende, von zwei Statisten geführt, auf einer Krücke als Abbild des Grauens.

An der Spitze einer grandiosen Besetzung steht Matthias Goerne in der Titelrolle, die er gesanglich und darstellerisch mit beeindruckender Präsenz und Ausdruckskraft ausfüllt. Mit den perfiden Experimenten des Doktors an dem ihm ausgelieferten Soldaten nimmt der Regisseur jene der NS-Ärzte an KZ-Insassen vorweg. Goerne hütet sich vor jeder naturalistischen Entgleisung, bleibt in seinem Spiel  stets maßvoll und überzeugt gerade durch diese Schlichtheit. Sein warmer, sonorer Bariton besticht durch große Ausbrüche, welche die existentielle Not dieses Mannes hören lassen, aber auch lautmalerische Finessen und eine Schluss-Szene von beklemmender Spannung. Nur in der unteren Lage wird die Stimme gelegentlich vom Orchester überdeckt, wenn Vladimir Jurowski die Wiener Philharmoniker zu exzessiven Klangballungen antreibt. Man hört aber auch sehr subtile, kammermusikalisch transparente Momente, wie bei Maries Bibelszene. Insgesamt also finden Dirigent und Orchester zu einer Balance zwischen schroffen Klangblöcken und lyrischen Inseln. Die litauische Sopranistin Asmik Grigorian mit leuchtend-sinnlicher Stimme feierte ein erfolgreiches Salzburg-Debüt. Ihre Marie ist eigensinnig und selbstbewusst, die Bibelszene gerät durch die expressive Deklamation zum Höhepunkt ihrer Darstellung. Ihre großartige stimmliche wie schauspielerische Leistung führte sogleich zu einer weiteren exponierten Verpflichtung – der Titelrolle in Strauss’ Salome bei den diesjährigen Festspielen. Glänzend Gerhard Siegel als Hauptmann mit schneidendem Tenor in der exponierten Höhe und souveränem Gebrauch des Falsetts sowie Jens Larsen als Doktor mit skurriler Haltung und tragfähigem Bass. John Daszak ist ein eitler Tambourmajor mit potentem, gelegentlich gequält klingendem Tenor, der Marie fast vergewaltigt. Von ihm  hebt sich der lyrische Tenor von Mauro Peter als Andres gebührend ab und zeichnet sich darüber hinaus noch durch den liedhaften Vortrag aus. Hoch besetzt sind die beiden Handwerksburschen mit Tobias Schnabel und Huw Montague Rendall im Wirtshausgarten, wo die Soldaten und Mägde sich in einer schaurigen Danse macabre vergnügen. Präzise Studien bieten Heinz Göhrig als Narr und Frances Pappas als Margret. Musikalisch gipfelt Bergs Oper nach Maries und Wozzecks Tod in einem aufgetürmten Orchester-Epilog den das Produktionsteam apokalyptisch bebildert und das Publikum betroffen entlässt. Bernd Hoppe

Sepia-Helden

 

Ob dereinst nochmals ein Tenor ein Tribute to Plácido Domingo oder Jonas Kaufmann aufnehmen wird? Zumindest erster hat auch in einigen Uraufführungen gesungen, darunter als bekannteste in Menottis Goya und in Torrobas El Poeta. In weit mehr Uraufführungen hatte naturgemäß in Zeiten, die nahezu nur neue Werke kannte, Gilbert Duprez mitgewirkt. An den „Erfinder“ des mit Bruststimme gesungen hohen C erinnert jetzt der amerikanische Tenor John Osborn in seinem ersten Solo -Album, das ihm Delos (DE 3532) 2016 ausrichtete, quasi punktgenau 20 Jahre nach seinen Met-Debüt 1996. Während seiner rund ein Vierteljahrhundert währenden Karriere hatte das Vorbild Duprez zentrale Partien kreiert, darunter 1835 in Neapel Lucia di Lammermoor, später in Paris, wo er neben seinem vier Jahre älteren Kollegen, dem Rossini- und Meyerbeer-Star Adolphe Nourrit, der sich bereits 1837 von der Opéra zurückzog und zwei Jahre später in Neapel aus seinem Hotel stürzte, in La favorite, Les Martyrs, Dom Sébastien sowie in Berlioz’ Benvenuto Cellini und Verdis Jérusalem rasch als Publikumsliebling etablierte. Osborn hat sich für seinen Tribut in der französischen Originalsprache „seine“ vier Donizetti-Opern ausgesucht, dazu Jérusalem, Benvenuto Cellini und Guillaume Tell, Nourrits Oper, in dessen italienischer Erstaufführung 1831 indes Duprez mit seinem erstmals voll ausgesungenen hohen C ein neues Zeitalter für die Tenöre einläutete.

Gilbert Duprez /Foto Nadar/ Taschen

Wie offenbar Duprez, der im Gegensatz zu Nourrit nicht im elaborierten Zierwerk glänzte, überzeugt Osborn mit der Morbidezza in den langsamen, melancholischen Arien, die er mit kontrolliertem Atem, geschmeidiger Linie, eleganter Phrasierung, klarer Diktion und perfekt angebundenen Höhen singt, wie in Gastons „Je veux encore entendre ta voix“ aus Jérusalem, der genauen Adaption von Orontes „La mia letizia infondere“ aus den Lombardi. Zu den Neukompositionen in Verdis Pariser Umarbeitung gehört Gastons von Osborn pianosanft gesungenes Rezitativ und Arie „O mes amis“, in dem er die Höhepunkte mit zärtlicher Emission an- und abschwellen lässt. Mit stilistischer Eloquenz verleiht Donizettis Figuren den Sepia-Glanz der romantischen Helden, eher fragil denn robust, stets von bezaubernder Lyrik, beispielhaft in Fernands „Ange si pur“ aus La favorite und Edgards „Bientôt l’herbe des champs croîtra“ („Tombe degli avi miei“) aus der vier Jahre nach der Uraufführung in Paris erstaufgeführten Lucie und Sébastiens „Seul sur la terre“. Mit seiner Kunst der dynamischen Schattierung, der majestätischen Anlage-Sorgfalt gelingt es Osborn, seine im Grunde weiße Stimme, das gelegentlich etwas nasale Timbre und eine Enge in der extremen Höhe nebensächlich erscheinen zu lassen. Mit hoher stilistischer Empfindsamkeit umgibt Osborn auch den seine Schweizer Eidgenossen zum Kampf aufrufenden Arnold, der mit Bryan Hymel und Michael Spyres – und eben John Osborn – derzeit fest in amerikanischer Hand ist. Vielleicht fehlt es hier etwas an heldischem Elan, das schmälert den Rang der Aufnahme mit dem Kaunas City Symphony Orchestra unter dem um Feinheit bemühten Constantine Orbelian nicht, die – wenn es auf diesen Seiten so etwas gäbe – die CD des Monats sein sollte. Rolf Fath

Luisa Mandelli

 

„Wer war doch noch …?“:   In unserer Serie über weitgehend vergessene Bühnenkünstler erinnern wir an uns wichtige Personen, die oft nur wenige oder keine Spuren hinterlassen haben, die aber für ihre Zeit und für den Fortbestand von Oper und Konzert so immens wichtig gewesen sind. Es waren und sind ja nicht allein die Stars, die die Oper am Laufen halten, sondern die Sänger der Nebenrollen und Komparsen, auch die Provinzsänger, die Diven und Heroen aus den kleineren Orten, wo Musik eine ganz andere Rolle spielte als hochgehypt in den großen Städten. Vor allem vor dem Krieg, aber auch in den Fünfzigern und Sechzigern hatte allein in Deutschland jedes der 36 und mehr Theater seine eigene Primadonna, seinen Haustenor und  langlebigen Bariton, die von der Operette bis zu Mozart und Wagner alles sangen. Das macht Oper aus. Nicht (oder nicht nur) die Auftritte der umjubelten Stars.

 

Wir beginnen unsere Serie „Wer war eigentlich noch…? mit Luisa Mandelli, die am 15. August 2018  im Alter von 95 Jahren in Mailand verstarb (geboren  Oktober 161922 in Saronno, Lombardei) und die – vielleicht zu ihrem Leidwesen – eigentlich nur als Annina neben der Callas 1955/56 an der Scala in Erinnerung bleibt (Daniel Barenboim verpflichtete sie noch einmal 2015 an die Berliner Staatsoper für eben diese Rolle). Dass sie das alleine durchaus nicht war, berichtet das nachstehende Interview von Antonio Sanfrancesco mit der Sängerin, das wir mit freundlicher Genehmigung der website der Famiglia Christiana übernommen haben (credits s. unten).

 

Luisa Mandelli und Maria Callas in „La Traviata“ an der Scala 1955/ Foto Piccagliani/ Teatro alla Scala

Die Sopranistin Luisa Mandelli, aus Saronno stammend,starb am 15. August 2018 nach kurzer Krankheit. Am 16. Oktober, wäre sie 96 Jahre alt geworden. Sie lebte seit fast fünfzehn Jahren in der Casa Verdi, dem Werk des Schwans von Busseto, der es erbauen ließ, um Künstler jenseits der Karriere zu beherbergen. Wahrscheinlich hatte sie auch in diesem Jahr bereits die feierliche Messe in Erinnerung an Maria Callas geplant, die seit 1997 jeden 16. September, dem Jahrstag des Todes der großen Künstlerin, stattfand.  Mandelli ließ sie in der Kirche Santa Maria della Passione neben dem Konservatorium zelebrieren. „Sie hatte sich für die nächsten Tage deswegen mit mir verabredet“, sagt Armando Ariostini, der die Facebook Seite der Casa Verdi betreut.
In der Casa Verdi wurde sie „General“ genannt wegen ihres unternehmungslustigen und entschlossenen Auftretens.„Ich habe mich in die Musik verliebt, als ich das Dies Irae von Verdis Requiem gehört habe“, sagte sie vor einigen Jahren in einem Interview für La Famiglia Cristiana. Sie wurde gerührt, wenn sie daran dachte, dass der Meister La Traviata an dem Klavier komponierte, dass sich in der Casa Verdi befindet.
Sie selbst war es, die ihr Curriculum, das eine halbe Seite umfasste, diktierte (und auch das ist ein Indiz für die Demut eine Künstlerin mit so langer und ruhmreicher Karriee wie der ihren). Im Jahre 1947 hatte sie ihre Prüfung in Gesang am Konservatorium „Giuseppe Verdi“ von Mailand als Privatista ( „dreimal in der Woche legte ich dreißig Kilometer mit dem Fahrrad zurück, um, zu meiner Lehrerin zu gelangen, Elisabetta Oddone, auch wenn es regnete und auch bei Schnee. Dann Starb sie plötzlich.“) Als sie ohne Lehrerin dasatand und ein Unterkommen brauchte, wurde ihr von Dr. Curi geholfen, einem Apotheker und von dessen Familie, die sich auch darum kümmerte, dass sie ein Vorsingen an der Scala erhielt, das sie mit Bravour absolvierte, um dann am 20. Juni 1953 engagiert zu werden. Ihr Debüt an der Scala war mit Rigoletto als Page der Duchessa. 1964 verließ sie die Bühne und wurde  musikalische Beraterin bei Ricordi, wo sie zwanzig Jahre lang blieb.
Außergewöhnliche Künstlerin, eine Frau mit starkem Glauben, Freundin der „Divina“ und „ewige Annina“ – so feierte sie Maestro Barenboim. Luisa Mandelli war nie wirklich „in Pension“ gegangen:“ „Für Künstler existiert dieses Wort nicht“, meinte sie  während eines Interviews, in dem sie über ihren Tagesablauf berichtete:„Ich studiere, höre Musik, kümmere mich um die Kapelle der Casa Verdi und gehe fast jeden Abend in die Scala um Opern zu sehen, Konzerte und auch die Proben. Die Musik ist das Geheimnis eines langen Lebens in schöner Heiterkeit. Meine Lehrerin sagte mir immer:“Nie den Gesang aufgeben und die Musik, denn im Leben findest du in ihnen großem Trost. Und das ist die Wahrheit“.
Den Loggionisti der Scala war sie quasi eine Beschützerin, eine Art Göttin. In den Pausen empfing sie sie auf ihrem Sessel  in der Zweiten Galerie, um ihre ihre Ideen und Meinungen mitzuteilen. Und alle wollten wissen, was Luisa von diesem oder jenem Sänger hielt. „Ich bin stolz darauf, Loggionista zu sein“, meinte sie. „Heute fehlt es an der ersten Voraussetzung: der Stimme. Zu meiner Zeit mussten die Comprimari wie ich auf der gleichen Höhe sein wie die Protagonisten. Das verstehen die Sänger nicht, und die Dirigenten und die für das Theater Verantwortlichen nehmen es nicht zur Kenntnis: ohne große Stimmen kann man keine Oper machen.Wenn ich von hier fortgehe, möchte ich dem Herrn dafür danken, dass er mich die Musik hat lieben lassen und mir die Stimme zum Singen gegeben hat.“

Luisa Mandelli bei einer Gesangsprobe im August 2015 in der Casa Verdi/ youtube

In ihrem Zimmer in der Casa Verdi in Mailand hob sie sorgsam zwischen Klavierauszügen und Opernplakaten das Briefchen und die drei Orchideen auf, die ihr Luigi Visconti nach der Premiere von Traviata an der Scala im Jahre 1955 geschickt hatte: „Für die tüchtige Annina mit Glückwünschen von ganzem Herzen.“ Und vor drei Jahren, mit 93 Jahren, war Luisa Mandelli bereit, von neuem auf die Bühne der Staatsoper Unter den Linden zu steigen und eine ganze Oper von Giuseppe Verdi zu singen  und die Rolle zu interpretieren, mit der sie in die Geschichte der Oper an der Seite von Maria Callas  eingetreten ist:die Dienerin Annina, genau, in der historischen Traviata, die von Carlo Maria Giulini dirigiert und,in der Regie von Visconti in der Scala aufgeführt wurde. Dann scheiterte das von Daniel Barenboim gewollte Revival durch die „Schuld“ der avantgardistischen Regie mit schrägen Ebenen.und abrupten Aktionen. Sie reagierte diplomatisch: „Ich fürchtete, nicht bei Stimme zu sein.Aber dem war nicht so,“, meinte sie. „Zu gefährlich ein Bühnenbild dieser Art. Ich hatte Angst zu fallen. Und ich habe die Ratschläge befolgt, die mir einen Verzicht auf die Teilnahme nahelegten.“
In Mailand war sie die große Bewahrerin der Erinnerung an Maria Callas. „Ich habe sie kennen gelernt, als sie 1953 an die Scala kam“, erzählte sie. „In diesem Jahr machte sie Medea. Sie war wunderbar, unerreichbar.. Aber auch zugänglich, freundlich, lieb, besonders gegenüber den einfachen Leuten“. Eine Freundschaft, die auch die Bühnenkarriere überdauerte.„Sie war ein Mythos. Sie wusste alles.Sie wechselte von einer ungemein tragischen Norma zu einer Sonnambula von fünfzehn Jahren. Ich habe ihr immer meine Gefühle für sie gezeigt. Aber auch sie war sehr liebevoll mir gegenüber. Sie war freundlich, auch wenn man das Gegenteil von ihr behauptete. Sie haben ihr soviel angetan, der armen Frau. Sie hat sehr gelitten. Sie war unsterblich in Onassis verliebt. Ich glaube, dass ihr Sterben begann, als sie erfuhr, dass er Jacqueline heiratete. Für eine Frau wie sie war das ein schrecklicher Affront. Aber als er erkrankte, besuchte sie ihn im Krankenhaus in Frankreich. Nur zwei Jahre nach ihm ist sie gestorben.“ „Sie liebte Papst Francesco („Er ist wunderbar mit seinem Lächeln.“) Es scheint so, als ob sie nie ernsthaft an den Tod dachte. „Wer weiß, was sein wird, wenn wir von hier gehen“, vertraute sie mir einmal mit einem Lächeln an, „wenn ich mich davon mache, will ich nur von Angesicht zu Angesicht dem Herrn dafür danken, dass er mich die Musik lieben ließ und mir meine Stimme zum Singen schenkte.“
Und sie war sicher, dass ihre Freundin Maria Callas sie nie verlassen hatte. „Ich spüre sie immer an meiner Seite. Und ich weiß, dass sie mich vom Himmel aus beschützt.“ Nun, wer weiß das so genau, leisten sie einander wieder Gesellschaft. Antonio Sanfrancesco/ Übersetzung Ingrid Wanja

 

Mit sehr liebenswürdiger Genehmigung von Antonio Rizzoli, dem Chefredakteur der Famiglia Christiana (der uns mitteilen ließ: a nome del Direttore don Antonio Rizzolo, diamo l’autorizzazione per la pubblicazione dell’articolo „Addio a Luisa Mandelli“, articolo di Antonio Sanfrancesco del 30/8/2018, tratto dal sito www.famigliacristiana.it); Foto oben Luisa Mandelli als Madama Butterfly an der Mailänder Scala/ Foto  Piccagliani/ Teatro alla Scala, dazu auch die Würdigung der Scala auf dieser Seite.

Cherubini in Wien

 

In früheren, glücklichen LP- und CD-Tagen kam es vor, dass man sich für einen Kauf entschied, weil das Cover besonders anziehend war. Junge Menschen, die nur noch YouTube und Spotify anzapfen, können das nicht mehr nachvollziehen und staunen nicht wenig, wenn sie in Ausstellungen wie zuletzt in Paris und Berlin LP-Kunstwerke etwa von Andy Warhol betrachten, als ob es sich um Dinosaurierschädel aus längst vergangenen Zeiten handele (dies natürlich nur, wenn es einem gelingt, die Jungs und Mädels physisch in eine solche Schau zu zerren). Doch derartige Kleinode gibt es immer noch, die sich durch Inhalt und Aufmachung auszeichnen. Unter dem Titel Cherubini in Wien veröffentlicht das Concerto Stella Matutina, ein junges, 2005 gegründetes Ensemble, das auf historischen Instrumenten unter der Leitung von Martin Skamletz spielt, ein solches Juwel .

Cherubini wurde in Wien hochgeschätzt, nicht zuletzt von Beethoven, welcher die Médée und die Deux journées für mustergültig hielt. Unter den Skizzen seiner Leonore findet sich die Abschrift eines Trios aus letzterer Oper, die im ganzen 19. Jh. beliebt war und für viele die republikanischen Ideale aus Frankreich verkörperte. Zu Beginn des 19. Jh. wurden mehrere Opern Cherubinis auf Wiener Bühnen gespielt, und 1805 kam der Meister selbst in die Hauptstadt, um seine neue Oper Faniska einzustudieren. Gut tat ihm der Aufenthalt in Wien wahrlich nicht: Faniska wurde kaum nachgespielt und ist erstaunlicherweise nach wie vor das einzige bedeutende Stück des Florentiners, das in modernen Zeiten nie ausgegraben wurde; der Komponist selbst verfiel nach dem Wiener Intermezzo in eine tiefe Depression, von der er sich sehr langsam und vielleicht nie ganz erholte. Dabei hatten sowohl das Wiener Publikum als auch, was noch bemerkenswerter ist, sogar seine Kollegen ihn herzlich empfangen.

Die CD erinnert daran, indem nicht nur die Faniska-Ouverture und instrumentale Ausschnitte aus den Deux Journées und Lodoiska, sondern ebenfalls Stücke und Bearbeitungen von Anton Fischer (1778-1804) und Ignaz von Seyfried (1776-1841) eingespielt wurden. Die beiden Herren arbeiteten am Theater an der Wien, wo sie mit der Einrichtung von Cherubinis Werken beauftragt wurden, die wegen der unterschiedlichen Besetzungen in Paris und Wien angepasst werden mussten. Auf den ersten Blick wirkt Hummels Trompetenkonzert in diesem Umfeld fremd, aber das Rondo des 1803 verfassten Werkes zitiert den Marsch aus den Deux journées. Wie Martin Skamletz im lesenswerten Booklet darlegt, wurde das Werk für das Neujahrskonzert 1804 geschrieben. Auftraggeberin war die musikliebende Kaiserin Marie Therese (1772-1807), die sich nicht nur um die schönen Künste kümmerte, sondern in ihrem Wirken offensichtlich politisch Stellung nahm: „Die Akribie, mit der die Kaiserin dieses Konzert gestaltet (…), lässt keinen Zweifel daran, dass auch das Cherubini-Zitat in Hummels Konzert auf ihr kaiserlich-antinapoleonisches Programm des Anlasses zurückzuführen ist“. Das half bekanntlich nicht, aber die Kaiserin setzte in Würde ein Zeichen. Und die Dame konnte auch mehr, denn das Booklet ziert ein unfertiges, aber nettes Bild von ihrer Hand. Sklametz und seine Musiker spielen mit großer Frische das auf eigene Forschungen zurückgehende Programm. Der Versuchung von Turbo-Tempi, die manche Produktion von sich auf die historisch verbürgte Spielweise beziehenden Ensembles verunziert, widerstand man hier erfolgreich. Die Musik fließt würdig und erhaben, was in Hummels Trompetenkonzert, souverän von Herbert Walser-Breuss auf der Nachbildung eines Instrumentes von Alois Doke aus dem 1820er Jahren gespielt, besonders auffällt. So mag das Stück tatsächlich 1804 geklungen haben, fern von der effektheischenden Hysterie moderner Trompetenstars. Diese liebevoll gestaltete CD ist eine kleine Kostbarkeit wie aus einer fernen Epoche. Sie sei allen Liebhabern nicht nur der Musik, sondern der der Kultur um 1800 wärmstens empfohlen (Cherubini in Wien. Werke von A.Fischer, A.M. Grétry (bearb. Fischer), Cherubini, Hummel, I. von Seyfried: Herbert Walser-Breuss (Klappentrompete), Concerto Stella matutina, Martin Skalmetz. Fra Bernardo FB 1811678 (2018).). Michele C. Ferrari

Revolutionär und Reaktionär

 

Im Jahre 1839 schrieb Luigi Cherubini, der damals schon über 40 Jahre am Conservatoire in Paris gewirkt hatte und es inzwischen seit Jahrzehnten leitete, an den Innenminister und schlug ihm den Namen eines jungen Kollegen für den Posten des Aushilfsbibliothekars vor. Das Empfehlungsschreiben hat sich erhalten, aber Hector Berlioz, um den es ging, behauptete lange, Cherubini habe ganz im Gegenteil gegen ihn intrigiert. Cherubini und Berlioz: Nicht zu Unrecht wählt Marc Vignal in seiner neuen Monographie über den Florentiner die Beziehungen zwischen den beiden Musikern als roten Faden für die Erzählung von Cherubinis Leben seit den 1820er Jahren. Ihre Hassliebe ist sprichwörtlich. Berlioz, der kein direkter Schüler Cherubinis, sondern des milden Jean-François Lesueur (1760-1837) war, stellte Cherubini gerne als jenen alten Zopf dar, der er tatsächlich war, insofern als er, 1760 in Florenz geboren und u.a. noch von Giuseppe Sarti (1729-1802) unterrichtet, das Conservatoire nutzte, um die Ideale eines strengen Klassizismus zu erhalten und zu verbreiten (nicht zufällig heißt die Institution ja „Erhaltungsanstalt“). Dabei war er, der Autor der Lodoiska (1791), der Médée (1797) und vor allem der Deux Journées (1800), einmal als ein Erneuerer angesehen worden, etwa von Beethoven, der ihn bewunderte und dann 1805/1806 in Wien auch treffen konnte. Bei aller Abneigung zollte indes auch Berlioz dem Komponisten Cherubini seinen Respekt, so sehr er auch den Funktionär verabscheute. Vignal erzählt sein Leben chronologisch, von der Jugend in bescheidenen Verhältnissen in der Toskana über die Pariser Triumphe des späten 18. und frühen 19. Jh. bis hin zum Tode 1842, kurze Zeit nachdem er endlich seinen Rücktritt als Direktor des Konservatoriums eingereicht hatte. Die biographische Darstellung wird durch Abschnitte unterbrochen, in denen der Verfasser die wichtigsten Werke Cherubinis kurz vorstellt. Dankenswerterweise berücksichtigt Vignal dabei nicht nur die Opern, sondern auch die Kammermusik, etwa die interessanten Streichquartette, die nach wie vor leider wenig gespielt werden, seine einzige Symphonie und die großen Messen. Vertiefte Interpretationen wird man allerdings vergeblich suchen. Vignal beschreibt lediglich knapp die Nummern und Sätze der einzelnen Werke. Überhaupt erfährt man hier fast nichts über die ästhetischen Ideale Cherubinis. Auch unter Berücksichtigung des geringen Umfanges, der vorgegeben ist, hätte man sich eine intensivere Auseinandersetzung mit Cherubinis Musik gewünscht. Sorgfalt sollte der Leser von dieser an sich gut lesbaren Darstellung auch sonst nicht erwarten. Die Reihe Horizons des Verlages Bleu Nuit zählt inzwischen über 50 Bände und hat sich zum verdienstvollen Ziel gemacht, die westliche Musikgeschichte in Einzelmonographien einem breiteren Publikum näher zu bringen. Nicht nur die Großen wie Beethoven oder Brahms finden Berücksichtigung, sondern auch wichtige Persönlichkeiten, welche der Musikliebhaber heutzutage nicht mehr gut kennt, etwa Michael Haydn, Salieri (beide Bände stammen von Marc Vignal), Méhul, Spontini oder Florent Schmitt. Leider ist die Reihe die Königin der Schlampereien: auch im Cherubini-Band wimmelt es von Druckfehlern, Quellen werden nicht angegeben, die schwarz-weißen Abbildungen sind schlecht, und die Graphik spottet jeder Beschreibung. Immerhin enthält er eine Chronologie, einen Werkkatalog, eine Bibliographie, eine Diskographie sowie ein Namensregister. Das Buch sei dennoch all denjenigen empfohlen, die sich für Cherubini interessieren, dessen Médée inzwischen regelmäßig in den Spielplänen auftaucht (in der bald beginnenden Saison z.B. an der Berliner Staatsoper, in Saarbrücken und in Linz), und die die weit gehaltvolleren Publikationen auf Italienisch von Giulio Confalonieri, Vittorio della Croce und zuletzt Giovanni Carli Ballola (2015) wegen der Sprache nicht lesen können (Marc Vignal, Luigi Cherubini, Bleu Nuit Editeur, 176 Seiten, s/w Abb., ISBN 978-2-35884-064-4, 20.- Euros). Michele C. Ferrari

Jeder Mensch ist ein Abgrund

 

„Was ein Mann! Wie ein Baum!“, lüstern beschaut sich Maries Nachbarin Margaret die aufziehende Militärmusik mit dem Tambourmajor an der Spitze. „Er steht auf seinen Füßen wie ein Löw“ fügt Claudia Mahnke mit deftigem Mezzosopran als Marie hinzu, deren reife Mütterlichkeit in dem mit praller Mittellage gesungenen „Eia popeia“-Wiegenlied und der warmherzigen Bibelszene zum Ausdruck kommt. Endlich mal kein kreischend aufgedrehter Sopran. Im Gegensatz zum kraftstrotzenden Tambourmajor ist ihr Franz jedoch ein verirrter Hänfling, der „Vielem auf der Spur ist“.  Der ehemalige Soldat Franz Wozzeck wird zum verzweifelten Mörder an seiner Geliebten, die ihn betrügt. Ein ähnlich Gebrochener, wie der ehemalige Soldat Alban Berg, den der „große Krieg“ tief getroffen, verletzt und traumatisiert hat und dem bereits ein „eiliger Gang durch die Stadt“ schier unmöglich sei, wie er seinem Lehrer Schönberg berichtete. Die Oper Wozzeck, die Berg quasi direkt nach dem Besuch von Georg Büchners Schauspiel Woyzeck 1914 in Angriff nahm, begleitete ihn durch diese quälenden Zeit und die folgenden Nachkriegsjahre, wobei ihn seine Kriegs-Erfahrungen der Titelfigur näherbrachten, „Steckt doch auch ein Stück von mir in seiner Figur, seit ich ebenso abhängig von verhassten Menschen, gebunden, kränklich, unfrei, resigniert, ja gedemütigt diese Kriegsjahre verbringe. Ohne diesen Militärdienst wäre ich gesund wie früher“.  Die 1921 fertiggestellte, mit Unterstützung von Alma Mahler-Werfel gedruckte und 1925 unter Erich Kleiber in Berlin uraufgeführte Oper war mit rund 20 sich anschließenden Produktionen ein ziemlicher Erfolg. Dieser hielt bis Ende 1932 an und wiederholte sich nach dem Zweiten Weltkrieg.

Fast unmöglich, von einer Aufführung nicht berührt zu sein. So auch von der Frankfurter Aufführung aus dem Jahr 2016, die rechtzeitig zur Wiederaufnahme in der aktuellen Spielzeit 2018/19 auf dem Stammlabel der Oper Frankfurt, bei Oehms Classics, auf CD erschien (2 CD OC 974). Immerhin gab es schon seit Jahren keine Neuaufnahme auf CD. Die Einspielung zeichnet sich durch ihre theatralische Kraft, ihre Bühnennähe und die Unmittelbarkeit des szenischen Geschehens aus, das in der technisch ausgezeichneten, die Singstimmen begünstigenden Aufnahme durchgehend spürbar ist. Prägnant gesetzt sind die Figuren: der Doktor, dem Alfred Reiter gleich in „Natur! Aberglaube, abscheulicher Aberglaube“ eine abgefeimte Gefährlichkeit gibt, dass uns die Fratze fast direkt anspringt. Der grell-quallig schwadronierende Hauptmann des gutmütigen Peter Bronder. Der aufgeblähte, nicht wirklich glänzende Tambourmajor des Vincent Wolfsteiner. Der Norweger Audun Iversen wirkt mit seinem gestandenen, wenig farbenreichen Bariton wie verloren inmitten des Geschehens, krank, unbeteiligt, dennoch getrieben, ein Jedermann, der mit rotem T-Shirt und Jeans auch durch die Einkaufszonen schlurfen könnte – wie man es den Fotos von Christof Loys aus den 1820 Jahren in die Gegenwart versetzter Inszenierung im Beiheft (Kostüme: Judith Weihrauch) entnehmen kann; Iversen bietet statt fehlender Basstiefe derbe, aggressive Ausbrüche, es fehlt an Projektionskraft.

Im Beiheft ist auch das Musikalische Szenarium aus drei Akten mit jeweils fünf Szenen und den zugeordneten Kompositionsmustern – Fünf Charakterstücke, Symphonie in fünf Sätzen und Sechs Inventionen (vor der letzten Szene mit den spielenden Kindern steht bekanntlich ein Orchesterzwischenspiel) – aufgelistet, dessen genau austarierte Struktur Sebastian Weigle sowohl als Rückschau auf das 19. Jahrhundert wie Aufbruch in die Moderne souverän  fasst. Das Gefährliche, Bedrohliche und Ungewisse, das die Musik in den flirrenden Solo-Passagen aufnimmt, kommt unter den kräftigen Konturen des ausgewühlten Orchesters nicht hinreichend zum Ausdruck. Das Frankfurter Ensemble kann sich, wie meist, hören lassen: Martin Wölfel als Narr, der auch am Ende das „Hopp, hopp! Hopp, hopp!“ von Maries Kind übernimmt, Martin Mitterutzner als sensibler Andres, Katharina Magiera als Margaret. Rolf Fath

Klimawandel in Spanien

 

Leise rieselt der Schnee- aber nicht aufs Café Momus oder die Vorbereitungen zum Duell Onegin-Lenski, sondern auf Manrico und Azucena, die dem nahenden Tod ins Auge sehen. Mit einem Übermaß an Requisiten ist in der Londoner TrovatoreProduktion die Bühne zugemüllt, als habe ein Blinder und zudem Opernunkundiger in den Sack mit Ingredienzien für Regietheater gegriffen und daraus hervorgezaubert, was mehr oder weniger oder vor allem gar nicht in die Verdi-Oper passt. Ein Gesamtkonzept lässt sich aus all dem natürlich nicht erschließen. Ein Panzer wird von den Mannen Lunas durch die Szene manövriert, aber zum Abschlachten, gern auch der eigenen Leute, bedient man sich lieber altertümlicherer Werkzeuge wie Hammer (Manrico- und es passt immerhin zum Schmiedelied einige Bilder zuvor) oder Messer zum Halsabschneiden (Lunas Leute). Kitschiges (brennendes Herz) behauptet sich neben Buntem (Luftballons), Gendermäßiges (männliche Braut) steht neben Religiösem (Engel und Kreuze), Stacheldraht macht einem Wald aus Bäumen, deren Blätter Papiertaschentücher sind, Konkurrenz. Am stimmigsten sind da noch ein puppenbestückter Camper für Azucena und ein ausgebrannter Kinderwagen.  Und wie so oft, wenn sich die Phantasie bereits bei der Gestaltung der Bühne (Patrick Bannwart) erschöpft hat, fällt der Regie (David Bösch) für die Führung der Personen nichts mehr ein, und sie dürfen ungestört an der Rampe und sich in Einheitsoperngesten ergehend agieren. Über die Allerwelts- und Allerzeitenkostüme von Meentje Nielsen dürfte sich ebenfalls keiner der Sänger beschwert haben.

Leider gibt es für diese unglückliche Produktion nur eine wirklich vorzügliche Sängerin, nämlich die Azucena von Anita Rachvelishvili mit einem hochpoetischen „Nei nostri monti ritorneremo“ und farbig flammendem drittem Bild, einer Darbietung voller vokaler Nuancen dank der perfekten Beherrschung eines stimmlichen Ausnahmematerials. Nicht viel aussetzen kann man an der anmutigen Leonora von Lianna Haroutounian, mädchenhaft und trotz recht heller, noch sehr lyrischer Sopranstimme bereits mit Tosca unterwegs. Die sichere Höhe spricht ebenso für sie wie die gut bewältigte zweite Cabaletta, die Arie zuvor hätte man sich poetischer gestaltet gewünscht. Debütant an Covent Garden war der ukrainische Bariton Vitaly Bilyy, wie il rivale ein bereits ergrauter Herr, der eher Kraft als Sensibilität in seine vokale Gestaltung einbrachte, der italienisches Leuchten abging und der „Il balen del suo sorriso“ recht eintönig grau, die Cabaletta grobschlächtig auf Effekte bauend darbot. Allerdings ist ihm hoch anzurechnen, dass er sich penibel der kleinen Notenwerte annahm. Älter als la madre sventurata wirkte der Manrico von Gregory Kunde, sicherlich ein verdienter, immer noch sicherer, vor allem höhensicherer Tenor, aber doch zu hart, zu scharf, zu hölzern klingend und eigentlich nur in der Stretta noch in seinem Element. Mit dunklem und schlankem Bass war der Ferrando von AlexanderTsymbalyuk eine erfreuliche Erscheinung und, obwohl eigentlich der Älteste, der auf der Bühne am jüngsten Wirkende. Aber das ist Oper und nicht der Grund dafür, das insgesamt diese Aufnahme kalt lässt und es, auch das Orchester unter Richard Farnes kann daran nichts ändern, zu keiner adäquaten Umsetzung der wunderbaren Partitur auf der Londoner Bühne kommt  (Opus arte BD7238). Ingrid Wanja

Schwanengesänge und Kriegserlebnisse

 

Bei der von George Butterworth vertonten sechs Gedichten, die A.E. Housman in seiner 1896 herausgegebenen Sammlung A Shropshire Lad veröffentlichte, rückt Ian Bostridge ganz nahe an uns heran als wolle er uns die von Wehmut und Todesnähe gezeichneten Bilder aus dem englischen Landleben ins Ohr flüstern („Und jetzt, da ich siebzig bin, werde ich nie wieder zwanzig sein“/“Now, of my threescore years and ten, twenty will not come again“). Diese zarten, feinsinnigen Lieder aus den Jahren 1911 und 1912 eröffnen sein Programm Requiem. The Pity of War, mit dem er an das Ende des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren erinnert. Mit ernsten Gesichtern und heruntergezogenen Mundwinkeln stehen Bostridge und Antonio Pappano wie zwei zu Statuen Erstarrte vor einer grauen Betonwand (Warner Classics 0190295661564).

Eine Aufführung von Brittens War Requiem und die in Wilfred Owens darin verarbeiten Schützengraben-Erfahrung regte Ian Bostridge zu diesem Programm über den Ersten Weltkrieg an. „Ich dachte an einige Kunstlieder, die ich bereits gesungen habe, und daran, in welcher Weise sie sich direkt oder indirekt auf den Ersten Weltkrieg beziehen“ schreibt der Tenor in seiner Einleitung, die im üppig gestalteten Büchlein ebenso wie sämtliche Liedtexte (englisch, deutsch, französisch) in eine reiche Fotosammlung eingebettet ist. Butterworth starb 1916 in der Schlacht an der Somme. Im Jahr zuvor war Rudi Stephan an der Front in Galizien gefallen. Seine 1913/14 entstandenen sechs Lieder Ich will dir singen ein Hohelied auf Gedichte der Dresdner Offizierstochter Gertrud von Schlieben, die unter dem Pseudonym Gerda von Robertus veröffentlichte, sind erotische, sinnliche Miniaturen, denen es bei Bostridge an sprachlicher Distinktion fehlt. Scharf akzentuiert singt er dagegen Kurt Weills Four Walt Whitman Songs, die sich auf den Amerikanischen Bürgerkrieg beziehen. In „O Captain, my Captain“ steigert Bostridge Weills Songstil zu einer aufrüttelnden, wie mit zwei Stimmen vorgetragenen Anklage („Exult O shores, and ring O bells“), in der die Konsonanten wie gehämmert stehen oder schier ausgespuckt werden. Auf vertrautem Terrain wandeln Bostridge und Antonio Pappano, deren musikalische Partnerschaft sich hier feiern kann, bei drei Wunderhorn-Liedern Mahlers, wo sich Inhalt, Ausdruck und vokale Schwelgerei in den langen Phrasen ergänzen.

 

Eine Begegnung hat der inzwischen für seine Tätigkeiten vielfach ausgezeichnete Konzert- und Opernsänger und Gesangsprofessor Christian Immler nie vergessen. Als 14jähriger durfte der junge Christian 1984 Leonard Bernstein im Großen Festspielhaus das Solo aus Mahlers Vierter vorsingen. Ein hübsches Foto aus dem Familienalbum, abgedruckt im Beiheft der 2016 und 2017 im Studio 2 des Bayerischen Rundfunks aufgenommenen Swan Songs (Avi-music 8553402), ist mehr als eine Erinnerung, schlägt es doch irgendwie den Bogen zu letzten der vier Liedgruppen, Bernseins Arias and Barcarolles. „Was bleibt?“ fragt Immler, „und inwiefern sind sich der Komponisten zum Zeitpunkt der Komposition der Dringlichkeit dieser Frage bewusst? Dies scheinen mir die zentralen Themen eines sogenannten Schwanengesangs zu sein.“ Immler gelingt sein Einleitungstext so eloquent und überzeugend, dass es eines zusätzlichen Textes gar nicht mehr bedurft hätte und man stattdessen lieber die Texte – zumindest im Fall der größtenteils von Bernstein stammenden Ehe-Szenen zu den acht Abschnitten der Arias and Barcarolles – gelesen hätte. Die Sechs Heine-Vertonungen aus Schuberts Schwanengesang zeigen Immler als versierten Konzertsänger, der sich mit dunkelschlankem Bariton um Textdeutlichkeit und Ausdruck bemüht und die Lieder mit düster gruftiger Atmosphäre versieht. In Vier ernste Gesänge op. 121 von Johannes Brahms geht es Immler mehr um schöne Linien zu dem von Christoph Berner fast sinfonisch entworfenen Klavierpart. In „Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh“ klingen manche Zeilen in ihrer weichen und eindringlichen Wort-Ton-Behandlung wie von Hermann Prey, mit dem Nachteil einer dann plötzlich ins larmoyant leiernde umschlagenden Haltung. Den drei Barber-Lieder op. 45 von 1972 merkt man Immlers tiefe Vertrautheit an, sie „haben mich schon seit meiner Studienzeit wegen ihrer Vielschichtigkeit, textlichen Finesse und melancholisch-morbiden Schönheit angesprochen“. Die Freude und Lust in der Umsetzung der u.a. von Keller und Heym stammenden Texte ist Immlers Interpretation der einst für Fischer-Dieskau geschriebenen Lieder stets anzumerken. Etwas hölzern agieren Immler und die Mezzosopranistin Anna Stéphany – begleitet von den Pianisten Danny Driver (der auch bei den Barber-Songs am Flügel saß) und Silvia Fraser – in den Arias and Barcarolles, mit deren Titel Bernstein einen Ausspruch von Präsident Eisenhower aufgreift, der ihm offenbar so drollig erschien, dass er sich bei diesem zwei Jahre vor seinem Tod komponierten Szenen für zwei Solostimmen und Klavierduo noch daran erinnerte. Nachdem Bernstein 1960 im Weißen Haus Mozart und Gershwin gespielt hatte, meinte der Präsident, er möge Musik mit einem Thema, nicht all diese Arien und Barcarolen.

Die acht Szenen, die am Beispiel eines Paares Aspekte der Liebe umkreisen, funkeln und sprühen, mischen Modernes und Spätromantisches, Scat-Singing und Volkslied, Klezmer und Blues; es beginnt mit einem innigen „I love you“ und endet mit dem gemeinsamen Summen im fast dreiminütigen „Postlude“. Die Ironie, der Witz, aber auch die sentimentalen Passagen und die walzende Melancholie, die beispielsweise Frederica von Stade und Thomas Hampson in der von Michael Tilson Thomas dirigierten Orchesterversion auf der alten DG-Aufnahme vermitteln, darf man bei Christian Immler und Anna  Stéphany nicht erwarten.

 

Während Weill im amerikanischen Exil am Broadway an seine europäische Karriere anknüpfte, setzte der zwei Jahre ältere Hanns Eisler auf Hollywood. Nicht ohne Erfolg. Capriccio legt jetzt eine Einspielung seltener Filmmusiken Eislers vor (C5289), die ein wenig wirkt, als sei sie für ein Seminar an der Filmhochschule gemacht, da sie auch einen 14-Sekunden Schnipsel enthält. Er stammt aus der Musik zum Fritz Langs Anti-Nazi-Film Hangmen Also Die/ Auch Henker müssen sterben, die Eisler eine Oscar-Nominierung einbrachte und an dessen Drehbuch auch Brecht beteiligt war. Die Titelmusik ist großes Kino, also spätromantisch und leidenschaftlich. Obwohl der Schönberg-Schüler in The 400 Million oder in der alternativen Musik zu John Fords The Grapes of Wrath/Früchte des Zorns zwölftönig gefasste Passagen einbaute, bleibt er vor allem ein wirkungsstarker Pragmatiker, der sich an die Gepflogenheiten der typische Kinomusik hielt und diese durch dissonante Klänge nur sanft ankratzte, wie diese ausgesprochen informative Einspielung des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin unter Johannes Kalitzke beweist, die darüber hinaus noch frühere Zwölftonwerke Eislers bereithält.   Rolf Fath

THEATRAL PASSIONIERT

 

Das legendäre erste deutschsprachige Opernhaus öffnete 1678, die Oper am Gänsemarkt erreichte ihren Höhepunkt zu Beginn des 18. Jahrhunderts und schloss ihre Pforten nach 50 Jahren. Georg Philipp Telemann wurde 1721 Musikdirektor der Stadt Hamburg (ein Posten, den er 46 Jahre lang inne hatte), Kantor des Johanneums und leitete auch die Gänsemarktoper während der letzten 16 Jahre. Zu seinen Aufgaben gehörte das Komponieren von Kirchenmusik, ein großer Teil von Telemanns Werkverzeichnis besteht aus Kantaten sowie Passionen, Oratorien und Psalmvertonungen. 1722 wurde Telemanns erfolgreichste Passion erstmals aufgeführt: Seliges Erwägen des bittern Leidens und Sterbens Jesu Christi hat keinen erzählenden Evangelisten, sondern evoziert Etappen der Leidensgeschichte als Abfolge von neun Andachten, beginnend mit dem Abendmahl, Petrus Vermessenheit, dem betenden, dann verklagten und verspottetem Jesus, Petrus‘ Buße und dem blutenden, gekreuzigten, sterbenden und ins Grab gelegten Erlöser. Telemann kam aus einer Pastorenfamilie, seine anschauliche Passion entspricht der damaligen Gepflogenheit der persönlichen, kontemplativ Begegnung der pietistischen Lutheraner mit Christus, die mit expressiven Mitteln in den anschaulichen Passagen vertont wurden, die auch in Opern der Zeit gut aufgehoben wäre, z.B. Petrus‘ Qual „Foltern, Pech, vermischte Flammen“, die Szene am Ölberg oder auch in den Prophezeiungen. Wer Bachs Passionen im Ohr hat, kann hier auch durch die Opernhaftigkeit mancher Arien einen neuen Zugang finden. Die Partitur ist abwechslungs- und facettenreich und farbig im Klang. Neben Streicher und Generalbaß hört man Flöten, Oboen, Schalmeien, Fagotte und Hörner. Das renommierte und stets hörenswerte Freiburger Barockorchester spielte diese Passion mit 26 Musikern lebendig und spannend, Gottfried von der Goltz leitet die Aufführung an der ersten Geige. Sechs Arien und sechs Rezitative sind für Jesus komponiert, die Bariton Peter Harvey eindrücklich und stimmschön singt. Als Petrus ist Tenor Michael Feyfar zu hören, der seine Rolle musikalisch zerknirscht und gequält, quasi bühnenhaft plastisch interpretiert. Bariton Henk Neven ist als Caiphas nur einmal gefordert, seine einzige Arie ist voller Zorn. Es gibt verschiedene allegorische Figuren (Andacht, Glaube, Zion), die von Sopranistin Anna Lucia Richter und Tenor Colin Balzer engagiert gesungen werden. Es handelt sich um eine Live-Aufnahme des NDR vom Telemann-Festival Hamburg am 1. Dezember 2017, die Klangqualität ist gut, das Orchester kommt schön zur Geltung, sehr vieles gelingt. Der Chor besteht aus vier Sängern, neben Feyfar und Neven singen Hanna Zumsande und Julienne Mbodjè die elf Choräle. Das Quartett erweist sich dabei an manchen Stellen als inhomogen, die Stimmen harmonieren nicht, allerdings kann dies durch die Live-Aufnahmetechnik verursacht sein. Ein Chor hätte hier aufeinander eingeübter und eingespielter wirken können (2 CDs  Aparte, AP175).

Mit Reinhard Keiser verknüpft man die Blütezeit der Gänsemarktoper. Er kam 1697 nach Hamburg und komponierte zahlreiche Opern. Nach auswärtigem Engagement kehrte er 1728 nach Hamburg zurück, wo er Kantor am Hamburgischen Dom wurde. Seine Markus-Passion (eine von vielen) ist in zwei leicht unterschiedlichen Stimmabschriften erhalten, wann Keiser dieses Werk komponierte und aufführte, scheint nicht sicher datierbar. Johann Sebastian Bach soll sie während seiner Leipziger Kantorentätigkeit aufgeführt haben. Im Aufbau gilt Keisers Passionswerk als Vorbild für Bachs große Oratorien, bspw. gibt es Turbachöre und einen Evangelisten als Erzähler. Die vorliegende Einspielung entstand auf historischen Instrumenten im Mai 1993 und wird nun nach 25 Jahren wieder neu aufgelegt. Dirigent Christian Brembeck leitet das Ensemble Parthenia baroque vom Cembalo. In der Summe 10 Musiker, sechs Streicher, zwei Oboisten sowie Orgel und Cembalo, doch die schlichte Besetzung täuscht, Keisers Oratorium wirkt komplex und abwechslungsreich und steht zwischen Telemann und Bach. Bernhard Hirtreiter als Evangelist verleiht den Erzählungen Spannung, als Jesus singt Bassist Hartmut Elbert profund,  Jochen Elbert übernimmt eindrücklich die Rollen des Petrus und des Pilatus, Melinda Paulsen singt den Judas, Hohepriester und Hauptmann mit schönem Timbre, die Sopran-Arien teilen sich Tanja d’Althann und Petra Geitner. Fünf der sechs Solisten übernehmen auch mit drei weiteren Sängern als Parthenia vocal die Chorgesänge als Doppelquartett. Auch diese Passion ist eine wichtige Ergänzung zu den Bach-Werken (Christophorus CHR 7742). Marcus Budwitius

Musikalisch attraktiv

 

Mehr Glück in modernen Zeiten als ihre nur wenig ältere, ebenfalls in Paris uraufgeführte Schwester Lucie hat La Favorite Léonor und das sogar auf italienischen Bühnen, wobei man allerdings bedenken muss, dass die Produktion von Donizettis Oper nicht nur beim diesjährigen Maggio Musicale Fiorentino, sondern auch in Madrid und in Barcelona aufgeführt wurde.

Die konventionelle Inszenierung, in der eigentlich nur der Intrigant Don Gaspar (von Manuel Amati mit scharfem Charaktertenor in die Nähe eines sich windenden Spoletta gebracht) sich um eine prägnante Darstellung bemüht, alle anderen sich eher in einer halbkonzertanten Aufführung zu ergehen scheinen, wird von Ariel Garcia-Valdés verantwortet, das sparsame Bühnenbild von Jean-Pierre Vergier, der auch die Kostüme mit viel Glitzer (selbst die Kutten sind aus Lurex-Material) geschaffen hat. Ein schwarzes Ungetüm ist mal Steilküste, mal Klosterpforte, mal Turm im königlichen Palast, die Damen des Chors oder zumindest ihre hochgetürmten Perücken scheinen allesamt aus Afrika zu stammen, die Herren tragen Teesiebartiges auf den Häuptern. Alles in allem wirkt die Optik recht provinziell.

Sehr viel besser ist es um die musikalische Aufführung bestellt, denn Fabio Luisi entlockt dem Orchester eine breite Palette vom zarten Antippen der Themen bis zum wirkungsmächtigen Aufbauen besonders des Finales vom 3. Akt. Die Sinfonia lässt viel Italianità hören trotz der französischen Version, und als Sängerbegleiter stellt der inzwischen auch ergraute Dirigent seine von ihm bekannten Qualitäten unter Beweis.

Eher wie ein eleganter Weltgeistlicher als ein strenger Glaubenskämpfer wirkt der Balthazar von Ugo Guagliardo, der allerdings eher optisch als vokal Bewunderung erzeugt. Sein Bass ist eher dunkelgrau als schwarz,  in der Tiefe hohl, und ein beeindruckender Fluch ist einfach zu wenig für die Partie. Publikumsliebling ist, wie der Schlussapplaus beweist, der Bariton Mattia Olivieri mit angenehmer Erscheinung, warm und ebenmäßig gefärbter Stimme von schönem Ebenmaß. Gegenüber diesen beiden attraktiven Herren wirkt Celso Albelo als Fernand noch rundlicher, ländlicher und unbedarfter als bereits für sich genommen, aber er entschädigt mit einer stilsicher geführten, hellen, in Mittellage wie strahlender Höhe gleich präsenter Tenorstimme, die das berühmte „Ange si pur“ nicht weinerlich, sondern wunderschön melancholisch singt.

Einen frischen, jungen Sopran steuert Francesca Longari, die den „doux zéphyr“ anmutig wehen lässt, als Ines bei. Veronica Simeoni ist eine attraktive Léonor. Der Mezzo ist bereits in den großen Verdi-Partien zu Hause, sie weiß aber hier die Stimme schlank zu halten, bleibt auch in den Höhen reich an Mezzofarben und singt „O mon Fernand!“ mit sanftem Wohllaut. Ihr Ende verklärt sie mit visionärem Klang.

Insgesamt rettet sich die optisch eher ärmlich wirkende Produktion durch die guten Leistungen im akustischen Bereich (Dynamic 57822). Ingrid Wanja

Inge Borkh

 

Die wunderbare, einmalige, spannende, erfrischende, unvergessliche Inge Borkh starb am Sonntag, dem 26. August 2018, in ihrem Stuttgarter Augustinum-Heim im Alter von 97 Jahren, bis zum Schluss äußerst fit, klar im Kopf, forsch im Witz und unendlich menschlich. Wir haben sie gekannt und erlebt und denken an sie voller Bewegung. Thomas Voigt hat sie, wie kaum ein anderer der jüngeren Generation, noch besser gekannt und über die Jahre begleitet, ein Buch mit ihr herausgegeben, das wie das mit Martha Mödl viele Einsichten in die Leben dieser großen Frauen bringt und sich außerordentlich lohnt zu lesen. Aus Anlass des Todes der großen Singdarstellerin Inge Borkh wiederholen wir ein spannendes Gespräch von Thomas Voigt mit ihr von 2016 und danken Thomas ebenso wie der wunderbaren Verstorbenen (im Nachhinein). Danke an beide! G. H.

 

„Endlich habe ich eine Tragödin gesehen. Seit all der Zeit, in der ich jeden Abend ins Theater gehe und all die großen Schauspieler gesehen habe, glaubte ich eine solche Erschütterung nicht mehr empfinden zu können. Sie ist eine Deutsche, sie heißt Inge Borkh und stellt Elektra dar – leuchtende, pathetische, entfesselte Darstellerin, eine alle Maße sprengende, unvergleichliche Erscheinung, im eigenen Drama lebend, Herz und Körper von allen Höllenhunden zerrissen. Überschwang und Höchstmaß sind ihr Normalzustand.“ Mit diesen fast poetischen Worten beginnt eine Hymne im französischen Figaro vom 24. Ma11960.

Inge Borkh: Kabarett-Zeit ca. 1976/ Foto Borkh

Inge Borkh: Kabarett-Zeit ca. 1976/ ATV

Wer Inge Borkh nie auf der Bühne gesehen hat, wird solche Begeisterung auch anhand von Platten und Fotos nachvollziehen können. Sie gilt als Prototyp der „singenden Schauspielerin“, eine modern­expressionistische Heroine, wie geschaffen für die Darstellung extremer Charaktere, darum eine „Charakterdarstellerin“ in des Wortes bester Bedeutung – eben keine ehrgeizig-sportive Sopranistin, die mit aller Gewalt schwere Partien singen wollte und gesangliche Schwächen mit besonders intensivem Spiel kaschieren musste. Vielmehr hatte Inge Borkh die stimmlichen und technischen Voraussetzungen, um sich in Partien wie Salome und Elektra restlos ausleben zu können.

„Ich hab‘ mich nie für etwas geschont – nicht für einen Schlussgesang, nicht für die nächste Vorstellung. Aber natürlich gehört Kontrolle dazu. Man muss das Handwerk so gut beherrschen, dass man es in der Ekstase vergessen kann. Man hat oft gesagt, dass ich eine Vorreiterin auf dem Gebiet des Regietheaters bin. Natürlich bin ich dafür, dass die Darstellung glaubhaft ist, echt ist, gelebt ist. Aber so, wie es jetzt ist, wollte ich es eigentlich nicht haben. Ich finde, Theater muss immer etwas  mit Schönheit, mit Ästhetik, mit Überhöhung zu tun haben. Wir wissen, dass das Leben schwer ist, dass es schreckliche Sachen gibt, und das Theater soll das sicher nicht ignorieren oder beschönigen. Nur: In der Oper ist schon durch die Musik eine höhere Ausdruckssphäre gegeben, und darum sollte man nicht immer den Alltag vorsetzen und Hässlichkeiten zeigen. Ich mag kein mieses Milieu auf der Opernbühne.“ Dennoch geht sie heute,  wann  irgend möglich, ins Theater und ins Kino. Weil sie „furchtbar neugierig ist und hofft, etwas Besonderes zu entdecken.

Inge Borkh: Elektra in Berlin 1955/ Städtische Oper/ Foto Borkh

Inge Borkh: Elektra in Berlin 1955/ Städtische Oper/ Foto ATV

Für viele ist Inge Borkh die Elektra aller Zeiten. Diese Rolle hat sie, wie auch die Salome, an die 300 mal in aller Welt gesungen. Umso erstaunlicher, dass  sie in ihren 33 Bühnenjahren ein weit gespanntes Repertoire beherrschte, dass sie viele Vorstellungen als FidelioLeonore, Lady Macbeth, Tosca und Turandot gab. Sie sang oft und gern Zeitgenössisches (u. a. die Antigonae von Orff, Irische Legende von Egk, Gloriana von Britten und Alcestiade von Luise Talma). Sie war Medea und Mona Lisa in Berlin, Eglantine beim Maggio Musicale in Florenz, Silvana in Respighis Fiamma,  Katarina Ismailova an der Scala, Sieglinde in Bayreuth, Ägyptische Helena in München, Senta in Wien, Färbersfrau in München und London, Jocaste in den USA (mit Bernstein  am Pult).

Inge Borkh: Medea in Berlin 1958 mit Vittorio Gui/ Städtische Oper/ Foto Borkh

Inge Borkh: Medea in Berlin 1958 mit Vittorio Gui/ Städtische Oper/ Foto ATV

Als die Misserfolge ihres Lebens bezeichnet sie Carmen („Ich bin nicht der Typ.“) und Rezia im Oberon. Zahlreiche Angebote für die Marschallin lehnte sie ab („So wie die könnte ich nie handeln!“), ebenso hochdramatische Wagnerrollen.Wieland Wagner wollte mich als Isolde, und ich hatte schon den Probenplan für Ortrud und  Kundry, aber ich bin dann zu der Überzeugung gekommen, dass ich es nicht kann. Ich kam stimmlich von oben, war geschult als Koloratursängerin und hatte eine leichte Höhe, und ich hab‘ immer in der Mittellage sehr schlank gesungen, habe auch Salome und Elektra schlank gesungen. Diese breite Mittellage, die  man für eine Brünnhilde unbedingt braucht, die hat mir gefehlt. Eigentlich war ich keine Hochdramatische. Das hat man aus mir gemacht. Man hat mich vorwiegend vorn Schauspielerischen her, als Typ eingesetzt. Sonst wäre ich sicher einen mehr lyrischen Weg gegangen. Als Anfängerin hat man ja früher alles gesungen – mittags die Försterchristl, abends die Aida. Ich hab‘ in meinen ersten Jahren ‚Figaro‘-Gräfin, Donna Anna, Pamina, Margarethe und den Komponisten gesungen, auch viel Operette, mit großem Genuss. Später hätte ich gern mal neben der Elektra die Rosalinde gesungen, aber das hat sich leider nie ergeben.“

 

Inge Borkh: "Der Konsul" 1951 in Berlin/ Städtische Oper/ Foto Borkh

Inge Borkh: „Der Konsul“ 1951 in Berlin/ Städtische Oper/ Foto ATV

Ingeborg Simon, Tochter einer Wiener Sängerin und eines Schweizer Diplomaten, kam am 26. Mai in Mannheim zur Welt, und zwar im Jahre 1921 – und nicht 1917, wie überall behauptet wird, wohl deshalb, weil Inge Borkh schon 1937 als Schauspiel-Elevin in Linz begann. Doch wie die Künstlerin versichert, war sie damals wirklich erst 16 Jahre. Dass sie Opernsängerin werden sollte, war schon vor ihrer Geburt beschlossene Sache. Die Großmutter war Sängerin, die Mutter war Sängerin, Opernsoubrette in Mannheim („Während der Schwangerschaft hat sie unentwegt gesungen.“), aber die Tochter mochte partout nicht den gleichen Weg gehen. Obwohl sie eine enorme Naturstimme hatte, im Wald die Königin der Nacht trällerte und später auch im Augustiner-Chor sang. Ingeborg wollte tanzen und schauspielern. Nach wenigen Schuljahren in Wien ging sie zum Max-Reinhardt-Seminar, machte nebenbei eine Artistenprüfung beim Ronacher („mit so Wiener G’stanzeln und Tanz“) und studierte die großen Heroinen für’s Vorsprechen.

Inge Borkh mit Ehemann und Bariton Alexander Welitsch 1953/ Foto Borkh

Inge Borkh mit Ehemann und Bariton Alexander Welitsch 1953/ Foto ATV

Zwar begann die Schauspiel-Karriere verheißungsvoll mit jenem Engagement in Linz, doch nach einem weiteren Jahr in Basel war sie schon zu Ende. „Josef Kahlbeck, er war zu der Zeit Regisseur in Basel, ist zu meinem Vater gegangen und hat gesagt: Es ist besser, sie lässt die Schauspielerei sein und geht in eine Kochschule. Das wurde dann auch gemacht. Bis dann frühere Kollegen mich drängten, dass ich meine Stimme ausbilden lassen soll. Und so schickte mich mein Vater zu Vittorio Muratti nach Mailand.“

Anderthalb Jahre später debütierte die 19jährige als Opernsängerin: Agathe in Luzern. Mit 25/26 Jahren sang sie schon Salome und Elektra. Bei ihrer ersten Salome, 1947 in Bern, war Richard Strauss anwesend. „Ich weiß noch, als Jochanaan hinabstieg in die Zisterne, bei diesem aufregenden Zwischenspiel im Orchester, da hab‘ ich mich wund gespielt, derart, dass Strauss zum Regisseur gegangen ist und gesagt hat: Die soll nicht so viel machen, ich hab das doch alles schon komponiert!“  Doch schrieb Strauss am nächsten Tag: „Hörte in Bern eine hervorragende neue Salome: Frl. Inge Borkh.“

Inge Borkh/ Künstlerpostkarte/ Foto Fayer Wien

Inge Borkh/ Künstlerpostkarte/ Foto Fayer Wien/ operanostalgia/be (Ruudi van der Bulck)

Während der Kriegs- und Nachkriegsjahre sang Inge Borkh vorwiegend in der Schweiz. 1951 verkörperte sie in Basel Magda Sorel in der deutschsprachigen Erstaufführung von Menottis Konsul, und wie zwei Aufnahmen des dramatischen Monologs und zahlreiche Fotos zeigen, hat sie diese Rolle nicht gespielt, sondern gelebt. Spätestens nach den Aufführungen des Konsul in Berlin und München war die Singschauspielerin Inge Borkh in aller Munde. Damit begann ihre Weltkarriere: 1953 San Francisco, 1955 Salzburg und Wien, 1958 Metropolitan, 1959 Covent Garden und Scala. Bis zu ihrem Bühnenabschied im Jahr 1973 sang Inge Borkh „überall und fast  zu viel. Ich konnte nicht ’nein‘ sagen, aber das hat mir Gott sei Dank nicht geschadet.“

 

Wer die Künstlerin in der „da capo“-Sendung von August Everding gesehen hat, wird sich vorstellen können, dass sich die diese kerngesunde, energiegeladene Frau nicht so leicht aus der Bahn werfen ließ‘. Als wir vor unserem Interview zügigen Schrittes quer durch den 1. Wiener Bezirk marschierten, wirkte sie auf mich wie eine elegante Sportlerin. Der ungeheure Optimismus, den sie ausstrahlt, kommt sicher auch daher, dass sie seit vielen Jahren ein glückliches Privatleben hat. Ihren Ehemann, den Bariton Alexander Welitsch, lernte sie 1951 in Paris kennen, als die Städtische Oper Berlin mit Salome gastierte. In den folgenden Jahren trat das Ehepaar Borkh/Welitsch häufig zusammen auf; in den USA gaben sie sog. „Joint­ Performances“, darunter auch Liederabende; auf der Bühne begegneten sie sich als Salome und Jochanaan, als Elektra und Orest, als Tosca und Scarpia, Aida und Amonasro, für eine Produktion in San Francisco auch als Elsa und Telramund.

Inge Borkh: Elektra in Wien 1957/ Foto Fayer/ Borkh

Inge Borkh: Elektra in Wien 1957/ Foto Fayer/ ATV

Diverse Rundfunk-Aufnahmen des Ehepaars sind auf einen LP-Doppelalbum der Melodram erschienen (mit wunderbaren Fotos); ein weiteres Album enthält die gesamte Partie der Sieglinde (Bayreuth 1952, Varnay/Vinay/Keilberth) und Sentas Ballade. Im Gegensatz zu einigen Sängern, die jene angeblich „halblegalen“ Veröffentlichungen missbilligen, weiß Inge Borkh die Initiative der Live-­Firmen sehr zu schätzen. „Natürlich darf man bei Mitschnitten keine Perfektion erwarten. Wenn man mit vollem Einsatz singt, ist es ganz klar, dass am Abend manches danebengeht. Überhaupt hat das schöne, makellose Singen bei mir nie im Vordergrund gestanden – und ich wünschte, das würde heute wieder so sein. Denn ich glaube, je mehr Wert auf Perfektion gelegt wird, desto weniger bleibt von der Wahrhaftigkeit des Ausdrucks.“

Diese Wahrhaftigkeit hört man in jedem Takt der hochexpressiven Elektra-Aufführungen unter Mitropoulos (Salzburg 1957 und Carnegie Hall 1958). Auf ganz andere Weise spannend ist die Böhm-Aufnahme der DG, eine auch heute noch sehr moderne, nahezu kammermusikalisch  durchsichtige  Wiedergabe, fast getreu der launigen Bemerkung von Strauss, dass Elektra „wie Elfenmusik“ klingen solle. In Sammlerkreisen kursieren noch weitere Mitschnitte: Met 1961 mit Madeira, Rysanek, Uhde/Rosenstock und Rom 1965 mit Mödl, Ericsdotter, Symonette/Dorati. In keiner Aufnahme hat Elektra dasselbe Gesicht, und doch ist Inge Borkh jedesmal die Inkarnation der Figur. Ihre Aufnahme mit Fritz Reiner, Szenen einer konzertanten Elektra in Chicago und Salomes Schlussgesang, hat die amerikanische RCA auch auf CD umgeschnitten – eine berauschende Sinfonie mit Gesangsstimmen, klanglich für damalige Zeiten ungeheuer opulent und auch heute noch ein Härtetest für Lautsprecherboxen.

Inge Borkh und Giulietta Simionato bei der San Francisco Gala für Kurt Adler/ Foto Borkh

Inge Borkh und Giulietta Simionato bei der San Francisco Gala für Kurt Adler/ Foto ATV

Erfreulicherweise wurde Inge Borkh von der Decca auch im italienischen Fach dokumentiert, nicht nur mit einem Recital (Macbeth, Ballo, Forza, Andrea Chénier, Adriana), sondern auch in einer Gesamtaufnahme von Turandot mit Tebaldi und del Monaco. „Eigentlich hat diese Rolle, dieses Laut-und-hoch-Singen meine Stimme überfordert“, sagt sie. Wenn bloß die vielen überforderten Turandots der letzten 20 Jahre so geklungen hätten, kann man da nur erwidern.

Außer dem Mitschnitt der Frau ohne Schatten (Eröffnungsvorstellung des Nationaltheaters München 1963) gibt es noch einige Aufnahmen mit Inge Borkh bei der Deutschen Grammophon, darunter die Gurre-Lieder, Orffs Antigonae und Querschnitte von Ein Maskenball und Tiefland. Zu den Raritäten der Borkh-­Diskographie gehören der Salzburger Mitschnitt von Glucks Iphigenie in Aulis (mit Ludwig, Berry/Böhm; Melodram u. a.) und die 9. Sinfonie im Beethoven-Zyklus unter Rene Leibowitz, längst eine Kult-Aufnahme (bei verschiedenen Firmen, eigentlich eine Sonderausgabe für Reader´s Digest).

Borkh Cover Orfeo CDUnd dann ist da noch ihre letzte Platte: „Inge Borkh singt ihre Memoiren“, ein Dokument ihres vielbeachteten Comebacks als Schauspielerin und Chansonette. „Nie ist über mich so viel geschrieben worden wie zu der Zeit, als ich Chansons gesungen habe. Es gab zwei Parteien. Die einen  sagten: Jetzt versucht  sie durch  die Hintertür wieder auf die Bühne zu kommen. Die anderen fanden’s  großartig.“ Angefangen hatte es mit einem  Brecht-Abend. Boy Gobert hörte sie, engagierte sie nach dem Tod der Flickenschildt für die Rolle der Volumnia im Coriolan am Hamburger Thalia-Theater. „Als er nach Berlin ging, wollte er mich mitnehmen, und so stand ich plötzlich vor der Frage, ob ich diese neue Tür öffnen soll. Ich habe das intensiv mit meinem Mann besprochen, und wir haben dann beschlossen, dass ich es nicht tun sollte. Denn letztlich war ich doch Opernsängerin und nicht mehr  Schauspielerin.“

Inge Borkh: Hörbuch/ Inge Borkh: Ein Theaterkind

Inge Borkh: Hörbuch/ Inge Borkh: Ein Theaterkind

Es war kein schmerzlicher Abschied, und die Begeisterung für das Theater ist geblieben; wann irgend möglich, besucht Inge Borkh eine Vorstellung, als Jurorin reist sie heute noch durch die Welt.„Es ist herrlich, dass ich so früh habe aufhören können, dass  ich ein zweites Leben leben darf. Ich bin gern unter Menschen, höre mir an, wie sie mit ihrem Leben fertig werden. Ich habe mich viel mit Religionsphilosophie befasst, vor allem mit Teilhard de Chardin. Heute lese ich am liebsten Biographien.“

Und schreibt Inge Borkh irgendwann ihre Memoiren? „Ich weiß nicht. Ich habe mal auf Band gesprochen, was mir wesentlich erscheint. Aber das aufzuschreiben, eine Fleißaufgabe, und dazu bin ich noch zu unruhig.“

 

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Borkh Interview BuchMehr als 25 Jahre sind seit diesem Interview vergangen. Inzwischen hat Inge Borkh ihre Memoiren geschrieben (Ich komm vom Theater nicht los), außerdem haben wir diverse gemeinsame Projekte auf den Weg gebracht: ein Interview-Buch (Nicht nur Salome und Elektra), ein Hör-Buch (Theaterkind) und eine Portrait-CD, die u. a. ihre allererste Aufnahme enthält, den Willi-Forst-Song Man hat’s nicht leicht. Inge war 14, als sie diesen Titel in am 15. Mai 1936 Wien aufnahm, eine private Schallplatte, als Geburtstagsgeschenk für ihren Vater. Außerdem enthält die CD ihre einzigen Operetten-Aufnahmen: „Wär es auch nichts als ein Augenblick“ aus Lehárs Eva und Ich schenk mein Herz aus Millöckers Dubarry. Die Platten entstanden 1938 in Zürich und kamen auf Initative des Dirigenten Alexander Krannhals zustande. „Er war ein richtiger Charmeur, den man kaum widerstehen konnte. Er war häufig bei uns im Hause zu Gast und hat meinem Vater vorgeschwärmt, wie gut ich singe. Und wahrscheinlich haben die beiden eines Abends beschlossen, dass ich etwas aufnehmen soll. Was man auf diesen Platten hört, ist in erster Linie mein Imitationstalent. Ich habe meine Mutter wirklich bis ins letzte Detail kopiert. Diese kleinen Schlenker, diese winzigen Richard-Tauber-Schleifen, die hatte ich natürlich von ihr.“  

 

Inge Borkhs 95. Geburtstag in München mit Yvonne Kalman und Thomas Voigt/ Foto Voigt mit Dank

Inge Borkhs 95. Geburtstag in München mit Yvonne Kálmán und Jonas Kaufmann Foto Voigt mit Dank

Dank der Ordnungsliebe ihrer Mutter verfügt Inge Borkh über ein fast lückenloses Archiv mit Fotos, Zeitungs-Ausschnitten und Briefen – was die Arbeit an unserem gemeinsamen Buch ebenso lustvoll wie zeitaufwändig machte. Stunden und Tage verbrachten wir mit Sichten, Sortieren und Auswählen. Seither sind wir befreundet, und wann immer es zeitlich geht, treffen wir uns zu Opern-Aufführungen – zuletzt am 26. Mai in München. Dort feierte Inge ihren 95. Geburtstag mit einer Meistersinger-Aufführung im Nationaltheater. Jonas Kaufmann und Kirill Petrenko, diese Kombination wollte sie sich nicht entgehen lassen, und sie genoss den Abend in vollen Zügen. Thomas Voigt © 2016 

 

Mit großem Dank an Thomas Voigt, der seinen Text von 1990 noch einmal überarbeitete und mit einem aktuellen Nachtrag versehen hat. Wir danken auch für die hier gezeigten Fotos von Inge Borkh, die er uns aus seinem Archiv (soweit nicht anders angegeben) zur Verfügung stellte.Das Foto oben zeigt Inge Borkh 1958 auf dem Publicity-Foto der Metropolitan Opera New York in Salome-Geste/ Louis Melancon/ Met Opera mit Dank. G. H.

Salieris Oper „Les Horaces“

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Nach dem überwältigenden Erfolg von Salieris faszinierender Oper Les Danaides unter Christophe Rousset in Versailles und andernorts 2015 und der ebenso aufregenden CD bei Ediciones Singolares sah man am 15. Oktober 2016 dem Konzert von Antonio Salieries Oper Les Horaces im prunkvollen Theater von Versailles (und danach im Theater an der Wien) mit Spannung entgegen und hat sie nun bei Aparté auf CD in einer wirklich schönen, leider nur zweisprachigen Ausstattung (wieder fehlt der deutsche Text, obwohl die drei deutschsrachigen Länder ja den größten Markt bieten); zudem mit dem französisch-englischen Libretto (2 CD APE 185).

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Salieri: „Les Horaces“ bei Aparté

Der Stoff von Corneille ist ja mehrfach vertont worden, nicht zuletzt von Cimarosa als Gli Orazi e i Curiazi, und zeichnet sich durch einen etwas unübersichtlichen Plot aus – die falschen Liebhaber in der falschen Familie, möchte man zusammenfassen. Rom und seine Gründungszeit. Römer und Albaner (die originalen aus den umliegenden Bergen bei Alba Longa lange nach Eneas´Ankunft). All dies nun von Salieri. Bemerkenswert ist die Abwesenheit des Palazetto Bru Zane Logos, das sich sonst auf den meisten Veröffentlichungen dieses Umkreises findet…In diesem Fall fand die konzertante Aufführung und Einspielung vom 15. Oktober 2016  und die nachfolgende Einspielung im Saal der kleinen Opera von Versailles unter der schirmenden Hand von  Benoit Dratwicki statt, der Chef des Centre de musique baroque de VersaillesMusikwissenschaftler von Rang und eminenter Kenner eben dieser prä- und post-revolutionären Zeit. Auf sein Konto gehen auch die Wiederbelebungen der Danaides und mancher anderen Werke aus dieser spannenden Epoche der politischen und nachfolgend musikalischen Umbrüche.

Zu Salieri – Demarais: „Horace tue sa soeur Camille“/ Louvre/ Wikipedia

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Les Horaces ist eine Tragédie lyrique in drei Akten und zwei Intermèdes von Antonio Salieri auf einen Text von Nicolas-François Guillard nach Horace von Pierre Corneille. Die Uraufführung fand am 2. November in Fontainebleau oder am 2. Dezember 1786 im Hoftheater von Versailles statt. Die öffentliche Uraufführung erfolgte am 7. Dezember 1786 in der Pariser Oper. Die Premiere der Oper geriet zum Fiasko, die Aufführung schloss laut Salieris erstem Biographen Ignaz Franz von Mosel „nicht nur ohne Beifall, sondern mit unzweideutigen Zeichen des Missfallens.“ Neben einigen Missgeschicken während der Aufführung müssen vor allem das Sujet und das Textbuch für einen Misserfolg verantwortlich gemacht werden. Salieris Komposition konnte die Unzulänglichkeiten des Librettos trotz vieler gelungener Stellen nicht ausgleichen. Das Werk kreist zu sehr um den Konflikt zwischen Liebe und Staatspflicht, die Personen sind zu eindimensional gezeichnet. Die hohen Erwartungen, die man nach dem überwältigenden Erfolg von Salieris erster französischer Oper Les Danaïdes (1784) in den Komponisten gesetzt hatte, sahen zeitgenössische Kritiker nicht erfüllt. Beaumarchais äußerte sich über das Werk Salieri gegenüber: „Ein wirklich schönes Werk, aber ein bisschen zu düster für Paris.“

Der Komponist Antonio Salieri/OBA

Der Bruderkrieg zwischen Horatiern (Römern) und Curatiern (Albanern) zählt zu diesen antiken Geschichten, die fast jeder kennt. Viele kennen auch das Gemälde von David, einige haben das Stück von Corneille gelesen, noch wenigere kennen die Oper von Cimarosa oder die von Mercadante, und niemand, da kann man sicher sein, hat jemals diese Oper von Salieri gehört, weil sie bei ihrer Uraufführung ein Misserfolg war und seitdem nicht mehr aufgeführt wurde. Das Zentrum für barocke Musik in Versailles, das mit viel Prunk sein 30jähriges Bestehen feiert, und die königliche Oper von Versailles seien wieder einmal mit Dank überschüttet, dass sie solche Raritäten aufführen, die mit prächtigen musikalischen Mitteln realisiert wurden. Wobei aber nicht sicher ist, ob das genügt, um ein Werk zu rehabilitieren, dessen vorgetragene Reize eher mager erschienen. Liegt es daran, dass die Emotionen der Danaiden desselben Salieri so überwältigend waren? Oder weil der militärische Auftritt  im Thésée von Gossec zu eindrucksvoll? Oder weil die dramatische Nachdrücklichkeit der Andromaque von Grétry die klassische Tragödie besser zur Geltung bringt? Die Wahrheit ist, dass man in dem Maße mäkeliger wird, als sich die Wiederaufführungen von Werken dieser Periode mehren. Es gibt bereits so viel Wiederaufgeführtes, dass man vergleichen und dann auch werten

Zu Salieri – Davids Gemälde „Les Serment des Horaces“/ Louvre/ Wikipedia

kann.

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Les Horaces langweilen nie wirklich, so martialisch und schwungvoll ist die Musik, extrem spannungsvoll bis in die Zwischenspiele, kriegerischer Bombast, die das Drama wie ein edles Reitpferd vor dem Rennen halten. Guillard war der Librettist großer Erfolge bei Gluck, aber hier bleibt er zu popelig (nur ein Curatier anstatt von dreien, zwei Horatier statt vier, keine Sabina mehr, ein personelles Sparprogramm) und die verbleibenden Personen sind zu eindimensional: der junge Horatier zu beflissen, die Trauer seiner Schwester statt den Tod seines Freundes zu verdammen, der alte Horatier  mehr von seinem Ruhm besessen als von seiner Familie, ein absolut sterotyper Hohepriester und einige kaum definierte  Nebenrollen. Es bleiben nur Curiace, der in einer Arie zwischen Kampf und Liebe schwankt, und Camille, die als einzige wirklich zwischen ihrer Liebe zu Curiace und ihrem Bruder, dem jungen Horatius, zerrissen ist. Salieri gibt ihr sehr schöne Momente, vor allem bei ihrem Eintreten in den Tempel Jupiters, aber ihr wilder Schmerz im letzten Akt lässt Wünsche offen, weil er zu kurz ist.

Man weiß, dass es unangebracht ist, Salieri immer auf Mozart zurückzuführen, aber um die antike Raserei darzustellen, übertrifft Mozarts Elettra mühelos Salieris Camille. Dieses Ende wurde – so die Informationen – extrem zusammengeschustert: Man würde Camille lieber ihrer Freiheit zum Selbstmord berauben, um sie am Schluss während des Schlusstriumphs weinen zu lassen. Der alte Horatier raunt: „Unsere Söhne sind eure Neffen, eure Töchter sind die unsere.“ Man sieht, welches Geschlecht vorgezogen wird. Schade für die Zweideutigkeit des anfänglichen Orakels, das der Heldin vorausgesagt hat, dass sie vor Ende des Tages mit ihrem Geliebten vereint sein werde. „Wenn der Himmel gesprochen hat, ist der Zweifel Gotteslästerung“. In seiner erhellenden Einleitung zur Musik unterstreicht Benoit Dratwicki, dass Salieri nach den Danaiden wusste, was er tatsächlich von einem Orchester und von den französischen Sängern verlangen konnte.

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Zu Salieri – Louis David, (1748-1825) „Le Vieil Horace défendant son fils“/ Louvre/ Wikipedia

Wenn man auch etwas gespalten gegenüber dem Werk sein mag, dessen gewisser Fehlschlag der Uraufführung heute nachvollziebar ist, die Interpreten in Versailles sind wirklich lobenswert. Eugénie Lefebvre gibt  eine hochmütige suivante mit ausgezeichneter Diktion, während Philippe-Nicolas Martinen die für die Handlung gleichermaßen wichtigen wie psychologisch inexistenten Nebenrollen verbindet, ihnen aber eine willkommene Autorität verleiht. Andrew Foster-Williams beeindruckt einmal mehr: als Hoherpriester durch seine Entschlossenheit und die Klarheit seiner Diktion gegenüber dem orchestralen und choralen Tumult, neben dem er kein Problem hat, sich durchzusetzen. Julien Dran ist der junge, mutige Horatius mit erstaunlichen Höhen und schönem Timbre.  Cyrille Dubois als Curatius wird im hohem Register durch die Partitur fast Unmenschliches abverlangt, und sein Curatius – sehr lyrisch gehalten –  bleibt wunderbar gesungen und dargestellt. Was für eine Entdeckung ist doch dieser junge Tenor, der dem Opernfan noch durch seine Rettung der Reine de Chypre jüngst bei den Ediciones Singulares so tapfer in Erinnerung ist. Jean-Sébastien Bou glänzt durch eine gebieterische Darstellung und durch eine bemerkenswerte Sorgfalt in der Aussprache. Im Kreise dieser ausgezeichneten Kollegen kann Judith van Wanroij weitgehend mithalten: Die Stimme ist dunkel, dramatisch und üppig. Sie weiß, was sie singt und macht dies mit bewundernswürdiger Attacke, die Höhen und Tiefen sicher und die Gesangslinie gut geführt. Man  bedauert jedoch, dass man sie nur in den Rezitativen versteht, weil sie dazu neigt, in den Arien die Konsonanten zu vermanschen – und sie wird in der Höhe auch mal recht scharf, was auf eine gewisse Überforderung schließen lässt. Aber man darf nicht vergessen, dass diese unglaublichen Stimmanforderungen bereits die Julia bei Spontini und die Medea bei Cherubini ankündigen, deren letzte Interpreten in Paris wahrscheinlich auch auf jede Textverständlichkeit verzichtet haben (und eine davon sogar vorher Karriere als Tänzerin gemacht hatte).

Zu Salieri – Benoit Dratwicki,der Chef des Centre de musique baroque de Versailles / youtube

Ausgezeichnet zeigt sich der Chœur des Chantres des CMBV in großer Disziplin und von sehr französischer Klarheit. Die Talens lyriques verdienen viel Lob, ebenso die energischen Streicher und die Bläser, die stärker noch als sonst gefordert sind. Christophe Rousset ist stets auf die Präzision dieses komplizierten Mechanismus der Tragödie bedacht, und zum großen Teil ist es ihm zu verdanken, dass diese so theatralische Musik so beeindruckt, die quasi auf jede Melodie verzichtet, um dem Pathos des Themas zu entsprechen. Aber diese Musik bewegt nicht und bleibt kalt – das ist denn doch der entscheidende Eindruck. Stefan Lauter (Foto oben: „Die Liktoren bringen die Leiche des Brutus“/ David/ Louvre/ Wikipedia).

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

ARIEN-HITPARADE

 

Wilhelm Heinse beklagte in seinem 1795 erschienen Roman „Hildegard von Hohenthal“: »Wahrer Jammer und Verlust, daß die größten Neapolitanischen Tonkünstler so frühzeitig starben, Pergolesi, Vinci, Leo, Majo!«. Seit der 2012 erschienenen Einspielung von Artaserse (Virgin Classics) mit fünf Countertenören und ohne Sängerinnen ist Leonardo Vinci (1690-1730) wieder zurück im Bewusstsein der (Barock-)Opernfreunde. Vinci gilt als der erste Meister der neapolitanischen Schule, zu Lebzeiten und posthum erfuhren seine Opern im 18. Jahrhundert Anerkennung und Aufführungen. Laut André Grétry hatte Vinci erkannt, »daß Töne die Regungen eines Herzens malen können, das seine verschiedenen Bewegungen mit denen eines vom Sturm gepeitschten Schiffes identifiziert«. Vinci malte musikalisch heroische Bilder durch auf Schönheit achtende Deklamation und einem orchestralen Kolorit, der diesem Stil das Beiwort „galant“ verdiente. Didone abbandonata beruht auf Pietro Metastasios beliebtem (und über 60 mal vertontem) Libretto, das zum ersten mal 1724 von Domenico Sarro vertont wurde, Leonardo Vincis Version wurde im Januar 1726 in Rom uraufgeführt. Händel arrangierte Vincis Oper 1737 als Pasticcio für Aufführungen in London. Die Spielzeit 1736/37 mit den Opern Arminio, Giustino und Berenice gilt als sehr schwierig für Händel, im April 1737 hatte er einen Schlaganfall und konnte die Aufführungen der Didone nicht selber dirigieren. Nach vier Vorstellungen verschwand die Bearbeitung für über 275 Jahre im Archiv. Händel transponierte, kürzte und strich Arien und Rezitativ (davon sind in der vorliegenden Aufnahme noch ca. 40 Minuten erhalten), veränderte die Reihenfolge der Gesangsnummern und ergänzte mit Arien von anderen Komponisten (u.a. von Vivaldi und Hasse), um die Oper wirkungsvoller und dramatisch zugespitzter zu gestalten. Händel behielt den ungewöhnlichen, spannenden Schluss bei, es gibt bei Vinci kein lieto fine, das tragische Ende wird in drei Accompagnato-Rezitativen Didos ausgedrückt, die sich ohne Enea in auswegloser Situation aufgibt.

 

Didone abbandonata: The Death of Dido/Jushua Reynolds (1668-1723)/ Wiki

Die Heidelberger Oper führte Händels Überarbeitung, neu editiert durch Gerd Amelung, in der Saison 2015/2016 im Rahmen des „Winter in Schwetzingen“ im dortigen Rokokotheater auf. Musikalisch einstudiert wurde die Oper von Dirigent Wolfgang Katschner, der das Heidelberger Orchester leitete. Später folgten weitere Aufführungen, die Katschner mit seiner Lautten Compagney bspw. anlässlich der Händelfestspiele Halle 2016 musizierte. Die nun vorliegende Einspielung geschah nicht live, sondern erfolgte als Studioaufnahme im November 2016. Die Akustik gelang sehr gut und hat einen frischen, lebendigen Charakter, die 20 Musiker der Lautten Compagney, die neben Streichern und Continuo lediglich je zwei Oboen und zwei Hörner umfasst, spielen mit federnd ausgeglichenem Klang auf der Höhe der Zeit, das Zuhören bereitet stets Freude. Vinci verwendete für seine Didone abbandonata teilweise Musik aus seinen anderen Werken (Ifigenia in Tauride, Astianatte, Siroe) – eine ökonomische Wiederverwertung war üblich, der Affekt es Textes spielte eine untergeordnete Rolle, es ging vielmehr um eingängliche, ungetrübte Musik mit klarer Harmonik, die Fähigkeiten der Sänger stehen im Mittelpunkt. Vincis Didone abbandonata klingt dann auch wie eine Hitparade 25 bemerkenswert schöner und virtuoser Bravourarien – Karthago geht für den heutigen Zuhörer gut gelaunt unter. Es gibt weder Duette noch Ensembles oder Chor, Dido, Enea und Jarba haben jeweils sechs Arien, Selene hat drei, Araspe und Osmida jeweils eine. Die Sänger sollen bei Vinci im besten Licht erscheinen und das gelingt auch dieser schönen Einspielung, bei der alle Sänger eine homogen überzeugende Leistung zeigen. Die amerikanische Sopranistin Robin Johannsen kennt das Berliner Opernpublikum aus den Barockproduktionen mit René Jacobs, ihre Stimme klingt elegant und verführerisch, ein beeindruckend schönes Timbre und präzise Koloraturen. Als Didone beginnt sie mit der keinen Widerspruch duldenden, heroischen Zurückweisung Jarbas in „Son regina e son amante“ – eine Arie, die 1726 vom Publikum begeistert bejubelt wurde, „Ritorna a lusingarmi“ hat Händel aus Vivaldis Griselda übernommen und fügt sich harmonisch ein. Als Enea singt die niederländische Mezzosopranistin Olivia Vermeulen ebenfalls eine heroische Abweisung Jarbas, „Quando soprai“ zeigt ihre Qualitäten, Eneas grandioser Abschied „A trionfar mi chiama“ ist aus Hasses Euristeo. Vermeulen nutzt die Chance, mit flexibler Stimme und leicht wirkender Virtuosität ergänzt sie ideal als trojanischer Held mit Sendungsbewußtsein. In Rom sangen 1726 keine Frauen, sondern Kastraten, die vorliegende Einspielung hat einen Countertenor engagiert. Der Florentiner Antonio Giovanini hat das Timbre und die Diktion, um den drohenden Bösewicht Jarba einen zwielichtigen Charakter zu geben, stimmlich wirkt er teilweise etwas verhalten, „Trà lo splendor del trono“ kann man expressiver gestalten, doch schon bei „Son quel fiume“ legt er nach. Händel gestaltete das Ende neu und fügte im dritten Akt zwei „Arie agitate“ hinzu, Dido erhält eine Arie, die ursprünglich Araspe gehörte. Die letzte Arie der Oper gehört Jarbas, „Cadrà fra poco in cenere“ aus Hasses „Cajo Fabbriccio“ besiegelt Didos Schicksal und zeigt Giovaninis Fähigkeiten. Die kleineren Rollen sind rollendeckend sehr gut besetzt. Julia Böhme gibt Selene eine ausdrucksstarke Statur, „Ch’io resti“ gelingt ihr mit beeindruckender Mischung aus Bangen und Sehnen. Die Mezzosopranistin Polina Artsis (Osmida) und der Tenor Namwon Huh (Araspe) gehörten bereits zum Team der Heidelberger Aufführung und überzeugen mit souveräner Interpretation und schönen Stimmen. Wenn man etwas an dieser bravourösen Einspielung kritisieren wollte, dann dass das Beiheft zu wenig Informationen zu Gerd Amelungs Neuedition von Händels Dirigierpartitur und dessen Bearbeitung enthält. Was Vinci und was Händel entschied, ist nicht ohne weiteres erkennbar (2 CDs, deutsche harmonia mundi, dhm 88985415082). Marcus Budwitius