Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Bewegend

 

Zu Beginn des Prologs denkt man noch: “Ach je, schon wieder moderne Kleidung auf trüber Szene“, bereits in dessen Verlauf und ganz und gar bis zum und im Epilog mit eben diesen Personen auf eben dieser Bühne ist man ganz gefangen genommen von der Produktion, die Deborah Warner im Teatro Real von Madrid von Brittens Billy Budd zu verantworten hat. Zwar wirkt es auch hier befremdlich, dass der strahlend Junge ein Bariton und der grübelnd Scheiternde ein Tenor, dem Zwang zur Besetzung mit des Komponisten Lebenspartner geschuldet, ist und das besonders, weil die Stimme von Toby Spence alles andere als bedeutend, seine Optik allzu jugendlich ist. Die Produktion von 2017 wurde inzwischen auch in Rom gezeigt und wird weiter nach London wandern.

Michael Levine verweigert der Bühne jede Seemanns- und Segelschiffsromantik, über den Bühnen- und damit Schiffsboden fließt ein dünnes Rinnsal, Leitern, Seile und Hängematten reichen aus, das trostlose Ambiente zu verdeutlichen. Die Regisseurin zeigt sich gleichermaßen fähig in der Führung der Solisten wie zu eindrucksvollen Massenszenen, so wenn die über die Hinrichtung Billys empörten Matrosen die Kommandobrücke in ein gefährliches Schlingern bringen, der Begeisterung der Schlachtvorbereitung die Enttäuschung über die wegen des Nebels entgangene Prise folgt. Das ist hervorragendes Musiktheater ohne Regiemätzchen.

Unverwechselbar sind die Angehörigen der Besatzung: Sam Furness weiß die Gewissenskonflikte des vom Waffenmeister Claggart erpressten Neulings an Bord berührend zu vermitteln, die beiden Offiziere Tedburn (Thomas Oliemans) und Flint (David Soar) erhalten ein jeweils scharf gezeichnetes Profil. Eine runde Charakterstudie liefert Clive Bayley als alter, dem jungen Billy besonders verbundener Dansker. Brindley Sherratt ist der graumäusige, mit seinen Gelüsten hadernde und sie dem unschuldigen Billy anlastende Claggert, der auch vokal mit ihn charakterisierender Stimme zwar scharf, aber farblos bleibt.  Von Toby Spence, der den Kapitän Vere auf allen drei Bühnen singt, war bereits die Rede. In Prolog und Epilog wird er als alter Mann, der schließlich seinen Frieden findet, von einem stumm bleibenden Schauspieler gegeben, während die singende Figur ihre Jugendlichkeit bewahrt hat, zum Schluss die schmucke Kapitänsjacke (Chloe Obolensly) von sich wirft und  schließlich ihren Frieden dank des Segens von Billy Budd findet. In Jacques Imbrailo hat die Lichtgestalt einen würdigen Vertreter gefunden, der optisch durch blonde Liebenswürdigkeit und vokal mit einem geschmeidigen Bariton überzeugt. Ivor Bolton legt hörbar besonderen Wert auf die Charakterisierung der einzelnen Personen durch die ihnen zugeordneten Instrumentengruppen, kann mit dem Orchester des Teatro Real Madrid aber auch in den Zwischenspielen auftrumpfen (Blu-ray Bel Air BAC 554). Ingrid Wanja   

Crossover People

 

Nicht selten haben gestandene Opernsänger das Bedürfnis, sich im Crossover zu erproben. Im Falle der beiden Neuveröffentlichungen mit Renée Fleming und Bryn Terfel bei deren Stammfirmen Decca und DG handelt es sich um zwei Sänger, die sich schon mehrfach erfolgreich in diesem Genre versucht haben. Man denke nur an Flemings Alben Dark Hope, Love Sublime, Distant Light oder The Faces of Love. Und in Renée & Bryn Under The Stars ist sie sogar in Duetten mit dem walisischen Bassbariton zu hören.

Broadway heißt die Neuveröffentlichung der amerikanischen Sopranistin, die von jeher eine Affinität zum Jazz hatte und schon als Studentin in Nachtbars singend aufgetreten ist. Das Programm dieser CD (483 4215) bietet Ausschnitte aus Broadway-Musicals, darunter von so bekannten Komponisten wie Cole Porter, Richard Rodgers, Stephe Sondheim, John Kander, Andrew Lloyd Webber und Jerome Kern. An das luxuriöse, cremige Timbre der Opernsängerin darf man bei ihrem neuen Album nicht denken. Fleming setzt auf einen robusten, gelegentlich sogar ordinären Tonfall und nutzt ausgiebig ihre substanzreiche tiefe Lage. Oft hört man aber auch sinnliche, gar erotisch verruchte Töne und vor allem jenes jazzige Feeling, das der Interpretin so perfekt zu Gebote steht. „Loneliness of Evening“ aus Rodgers’ South Pacific und Sondheims „Children Will listen“ aus Into the Woods könnten geradewegs Live-Mitschnitte aus einer Nachtbar sein. In letzterem ist Leslie Odom Jr. mit ihr im Duett zu hören. Und es gibt auch Titel, in denen die Sängerin ganz soft, zärtlich und träumerisch klingt, wie „Something Wonderful“ aus Hammersteins The King and I, „Lay Down Your Head“ aus Tesoris Violet, „Dear Friend“ aus Bocks She Loves Me oder „Unusual Way“ aus Yestons Nine.

Zu den flotten, rhythmisch betonten Nummern gehören „Wonderful Guy“ aus Hammersteins South Pacific und „The Glamourous Life“ aus Sondheims A Little Night Music. Die Platte, auf der die Solistin vom BBC Concert Orchestra unter Rob Fisher begleitet wird, bietet also ein vielfältiges Spektrum von Klängen, Farben und Stimmungen. Mein Favorit ist „Till There Was You“ aus Willsons The Music Man, bei dem die Stimme der Fleming sich schwelgerisch verströmt und in ihrem ganzen Glamour zu vernehmen ist.

 

Gibt es auf Flemings Platte einen Duettpartner, hat Bryn Terfel auf seiner neuen CD  Dreams and Songs (00289 483 5514) sogar mehrere Mitstreiter, darunter sind so illustre Namen wie die Schauspielerin Emma Thompson, die Sopranistin Danielle de Niese und der Tenor Joseph Calleja. Das Programm umfasst viele jener Zugaben, die der walisische Bassbariton bei seinen zahlreichen Auftritten weltweit gegeben hat. Als Auftakt erklingt der Song „I believe“ von Drake/Graham/Shirl/Stillmann, in welchem der Sänger seine bekannt grobkörnige Stimme hören lässt, was in diesem Schmuse-Song, der am Schluss groß aufrauscht, nicht stört. Das folgende „The Fields of Athenry“ von St. John ist eine melancholische irische Ballade, das später erklingende „Ar lan y mor“ ein melodisches walisisches Traditional. John Denvers „Perhaps Love“ war ein Erfolgssong auf der LP mit Plácido Domingo. Hier ist Alfie Boe der Partner von Bryn Terfel. Zwei Ausschnitte aus Bocks Fiddler on the Roof bieten das populäre „If I Were a Rich Man“, in welchem Terfel die perfekte Mischung aus Aufbegehren und Gottvertrauen trifft, sowie das berührende Duett mit seiner Frau Golde „Do You Love Me“, in welchem sich Emma Thompson mit sensiblem Gesang zum Solisten gesellt. Unzählige Interpreten haben „Amazing Grace“ zu Weltruhm verholfen. Hier bieten Terfel, Danielle de Niese und die Metro Voices eine soßige Variante mit hohem Kitschfaktor. „Tell My Father“ stammt aus dem Film The Civil War und lässt Terfel und Katherine Jenkins in einen schwelgerischen Dialog treten. Im schmissigen „Golf Song“ von Hay Malotte hört man mit Terfel und Rob Brydon ein resolutes, auftrumpfendes Duo. Und dann gibt es noch den populären Gesangspartner Joseph Calleja, der im populären „Granada“ für tenorale Glanzlichter sorgt. Schließlich bietet Terfel mit dem „Hippopotamus Song“ von Swann/Flanders einen lebensfrohen, beschwingten Ausklang dieser CD, bei der ihn das Czech Philharmonic Orchestra und das Royal Philharmonic Orchestra (jeweils unter Paul Bateman) begleiten. Bernd Hoppe

Gounods „Tribut de Zamora“

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2018 jährte sich der Geburtstag von Charles Gounod, der am 17. Juni 1818 in Paris geboren wurde, zum 200. Mal – Grund für den bei uns so reichlich zitierten Palazetto Bru Zane, 2018 drei  seiner Opern zu initiieren und auf CD mitschneiden zu lassen: in München Le tribut de Zamora, in Paris Faust in der Erstversion als Opéra comique/mit Dialogen und La Nonne Sanglante (die es ja bereits in Osnabrück bei cpo gibt). Daneben viele Abende mit Symphonischem, Opernarien und anderem von Gounod.

Einige Fakten vorab. Le Tribut de Zamora, Grand Opéra in vier Akten von Charles Gounod ; Libretto von Adolphe D’Ennery und Jules Brésil, Entstehung des Werks:1878–1880; Uraufführung: 1. April 1881 an der Opéra (Palais Garnier) in Paris vermutlich in der zweiten Fassung des Werks, die auch im Konzert auf Bayern 3 zu hören war; Lebensdaten des Komponisten: 17. Juni 1818 in Paris18. Oktober 1893 in Saint-Cloud (westlich von Paris).

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„Le Tribut“ de Zamora“: Szene zur Uraufführung von Pierre-Auguste Lamy/ BNF. fr. Gallica

Also wieder eine Ko-Operation zwischen dem Palazetto Bru Zane und dem Münchner Rundfunkorchester: Gounods Oper Le tribut de Zamora (am 28. Januar 2018 in Münchner Prinzregententheater. Florian Heurich schreibt im nachstehenden Artikel über die Oper und die Umstände ihrer Aufführung in Paris 1881. Dank dafür an den Autor und das Münchner Rundfunkorchester. Dieses nun veranstaltete  die konzertante Aufführung der exotischen Oper Le Tribut de Zamora, nun auf CD festgehalten für die Kollektion der «Opéra francais» des Palazetto Bru Zane (PZ 1033) mit Herve Niquet am Pult.

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Stefan Lauter zum musikalischen Eindruck: Hervé Niquet sorgt für eine sinnlich- schwungvolle Wiedergabe, mit schönen Momenten bei den Bläsern und Piccoloflöten, die für die orientalische Stimmung sorgten, wenngleich Gounods Einfälle da doch recht bemüht wirkten. Sklavenmarkt und Serail waren geradezu pflichtschuldig „exotisch“ instrumentiert. Was da im dritten Akt an Hüftschwung abgeht, ist mildes Wabern – und wie an vielen anderen Momenten der Oper auch recht Massenet-nahe. Da hatte ich mehr „Exotismus“ erwartet, der im Wesentlichen durch die Piccolo-Flöten bedient wird. Der Chor des Bayerischen Rundfunks gibt wortverständlich und kraftvoll die Folie für das Geschehen im fernen historischen Spanien, wo der Maurenfürst Ben-Said die schöne christliche Xaima (eine der Jungfrauen als Tribut an die muslimischen Herscher in Folge der Niederlage bei Zamora) begehrt, entführt und an ihrer Standhaftigkeit zerbricht.

Gounods „Tribut de Zamora“ bei Ediciones Songolares

Die Palme des Abends geht zweifellos an Tassis Christoyannis in dieser Partie, die er mit wunderbar geführter, leichterer Bass-Stimme ausfüllt, sonor und unangefochten in den hohen Lagen und von großer Klangschönheit. Sein großes Solo im dritten Akt lässt nicht nur die Umworbene dahinschmelzen, und seine etwas körnige Stimme (die mich an den von mir verehrten José van Dam erinnert) bleibt lange im Ohr. Ein bedeutender Sänger, der manches eher funktionale Rezitativ adelt. Judith Van Wanroij als die begehrte Xaima hat wie ihr Tenorpartner Edgaras Montvidas (als ihr christlicher Geliebter Manoel) 2018 – im Gegensatz zu Salieris Horaces von 2016 – bereits an Schönheit der Stimme eingebüßt. In beiden Fällen merkt man den Raubbau durch zu große Partien, die die Stimmen sehr unruhig und faserig-weitschwingend haben werden lassen. Sicher: Sopran wie Tenor schaffen ihre anspruchsvollen Rollen fast ohne Mühe (er kam an seine Grenzen in den geforderten Höhen), und vor allem Judith Wanroij gibt alles für den effektvollen Schluss, aber die Stimme wirkt säuerlich und zu dunkel, wenngleich der Einsatz zu loben ist. Aber die Wortverständlichkeit bleibt auf der Strecke. Die wichtige Rolle der wahnsinnigen Mutter Hermosa ging an Jennifer Holloway, die dasselbe Problem aufweist: tapfer und furchlos auf den Höhen, in der Krauss-Partie der Hermosa mehr Sopran als Mezzo, aber unter Druck eben auch sehr unruhig und extrem verwaschen in der geforderten Diktion, da fallen mir doch zwei oder drei franzöische Kolleginnen ein, die das besser gemacht hätten. Zumal für die CD und das Nur-Hören die Stimmen einenander zu ähnlich sind. Beide haben am Ende vom dritten Akt ein fulminantes Mutter-Tochter-Solo (das Freiheitslied des ersten Aktes nochmals reichlich ausgequetscht), in dem ihre beiden Stimmen recht uncharmant und scharf, aber eben furchtlos Eindruck machen – zu charaktervoll vielleicht.  Die Diktion und eine gewissen Schönheit der Stimmen bleiben auf der Strecke. Beeindruckend die Nebenrollen. Juliette Mars bezaubert als Iglesias, ein weiteres Tribut-Opfer. Boris Pinkhasovich gibt einen vollmundigen, sonoren, erotischen Ben-Said-Bruder Hadjar, Artavazd Sargsyan strahlt als Alcalde und Kadi. Dazu kommt sehr angenehm Jeröme Boutillier als König/Soldat. Man kann nur staunen, wie gut diese kleineren Partien besetzt waren. Gounods letzte Oper nimmt vor allem ab Akt 3 Fahrt auf: Der Schluss sowie das erwähnte Ben-Said-Solo und das herrliche Duett zuvor stehen den renommierten und bekannteren Opern Gounods in nichts nach.

Ein wirklich aufregender, im Ganzen hervorragend gesungener Abend und eine tolle CD, die als bewährtes Buch nun vom Palazetto Bru Zane  mit leider nur englischsprachigen Aufsätzen zur Bildung beiträgt. Als deutscher Käufer ärgere ich mich einmal mehr, dass es nicht einmal eine deutsche Inhaltsangabe gibt, das wäre das Mindeste für den größten Anteil am europäischen Markt. und man kann auch verlangen, eine deutsche Beilage zu finden! Ärgerlich (Gounod: Le tribut de Zamaora, 2 CD PZ 1033) ! S. L.

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„Le Tribut de Zamora“: Gabrielle Krauss und Jean Lazare als Hermosa und Ben-Said/ Foto nach der Uraufführung 1881/ Bialistock/ opera mania

Florian Heurich: Von Mauren und Christen – zu Charles Gounods Historiendrama Le tribut de Zamora. Zu einer Zeit, als Primadonnentum und die Capricen eitler Gesangsstars schon aus der Mode waren und das Musiktheater längst auf die perfekte Illusion im Sinne des Wagner’schen Gesamtkunstwerks abzielte, ereignete sich bei der Uraufführung von Le tribut de Zamora am 1. April 1881 in der Pariser Opéra Ungewöhnliches: Als das Publikum nach einer leidenschaftlich patriotischen Szene in tosenden Applaus ausbrach, erhob sich Gabrielle Krauss, die Sängerin der Hermosa, kurzerhand vom Boden, nachdem sie gerade voller Erschöpfung zusammengebrochen war, und streckte Charles Gounod die Hand entgegen. Gounod dirigierte die Uraufführung seiner Oper selbst, wie es seinerzeit Usus war, unmittelbar hinter dem Souffleurkasten, das Gesicht zu den Sängern, das Orchester im Rücken, und erwiderte die Geste seiner Solistin bereitwillig. Das Publikum reagierte amüsiert, die Presse kritisierte diesen Vorfall als deplatziert, zumal in einem durch Handlung, Musiksprache und Inszenierung schon fast naturalistisch anmutenden Werk.

Gerade der Naturalismus des zur Zeit der Maurenherrschaft in Spanien angesiedelten Sujets war ungewöhnlich für Gounod, der zuvor mit Opern wie La nonne sanglante, Faust, Roméo et Juliette, La reine de Saba oder Polyeucte eine Vorliebe für teils fantastische, teils ins Metaphysische reichende Stoffe gezeigt hatte. Mit Le tribut de Zamora, seiner letzten Oper, konnte er schließlich nach dem Misserfolg von Polyeucte drei Jahre zuvor am selben Ort nun noch einmal sein Gespür für melodienreichen Lyrismus und theaterwirksame Dramatik demonstrieren; zum lang anhaltenden Triumph wurde jedoch auch dieses Werk nicht, sodass Gounod danach das Opernschreiben ad acta legte. Nach nur zwei Saisons und 47 Aufführungen verschwand Le tribut de Zamora wieder vom Spielplan. Drei weitere Aufführungen folgten 1885, was Gounod und seinen Librettisten Adolphe d’Ennery und Jules Brésil immerhin von ihrem Verleger Choudens eine vertraglich zugesicherte Extrazahlung nach der fünfzigsten Aufführung einbrachte; danach geriet die Oper jedoch endgültig in Vergessenheit.

Schon der Entstehungsprozess, die Verhandlungen mit der Pariser Opéra und die Retuschen und Anpassungen an der Partitur zogen sich länger hin, als ursprünglich geplant, was Gounod den Abschied von der Oper leicht machte. „Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass ich nach diesem Werk absolut im Guten dem Theater adieu sagen werde“, so bekannte er seinen Kindern gegenüber.

„Le Tribut de Zamora“: Gabrielle Krauss und Josephine Daram als Hermosa und Xaima/ Foto nach der Uraufführung 1881 im Palais Garnier/ Bialistock/ opera mania

Die Pariser Presse der Zeit war voller Lob für Gounods Oper; die aufwendige Inszenierung mit ihren prunkvollen Kostümen, durch die ein pittoreskes, christlich-maurisches Spanien im Mittelalter heraufbeschworen wurde, fand großen Anklang; auch die Interpreten bekamen meist gute Kritiken, allen voran Gabrielle Krauss als Hermosa, die als „ebenso bewundernswerte Tragödin wie großartige Sängerin“ gepriesen wurde und ihre zwischen Wahnsinn und glühendem Patriotismus changierende Rolle zum Zentrum der Aufführung machte. Publikum und Kritiker ließen sich aber kurioserweise nicht nur über die musikdramatischen Qualitäten der Partitur und die Stimmkünste der Sänger aus, sondern auch über die korrekte Form der Berberhelme, die Reitkünste des Baritons Jean-Louis Lasalle als arabischer Gesandter Ben-Saïd oder die Choreografie eines Defilees von hundert Jungfrauen. Dies zeugt freilich gerade von dem detailgetreuen Realismus, der erwartet wurde und den Le tribut de Zamora szenisch und musikalisch größtenteils auch erfüllte.

„Gounods Partitur ist klar, durchsichtig, melodiös und von großer stilistischer Einheit; sie enthält reizende Stücke voller Anmut und Gefühl wie das exquisite Morgenständchen des ersten Akts oder die bewegende Phrase der Iglésia; die expressiven Couplets des Ben-Saïd; daneben Stücke von außerordentlicher Kraft wie das Finale des ersten Aktes mit seiner lebhaften Szenerie; jenes des zweiten Aktes mit seinem grandiosen Charakter und seiner wunderbaren Klanglichkeit; und vor all dem das dramatische Duett der beiden Frauen im dritten Akt, das Wellen der Begeisterung hervorrief.“ Damit hob die Zeitung La liberté bereits die zentralen Nummern in Gounods Oper hervor.

Der Schauplatz von Le tribut de Zamora im Spanien des Mittelalters, wo christliche und maurische Kultur aufeinandertreffen, legt ein orientalisches Lokalkolorit nahe. Dieses schlägt sich jedoch weit mehr auf der szenischen als auf der musikalischen Seite nieder. Während der erste Akt noch im christlichen Milieu Oviedos spielt, fährt schon die Bühnenanweisung für den zweiten Akt alles auf, was für die szenische Erschaffung eines schillernden Orients nötig ist: „Pittoreske Gegend, Ufer des Guadalquivir bei Córdoba. Befestigte Brücke, durch einen hohen viereckigen Turm verteidigt. Auf der anderen Seite des Flusses Córdoba mit zahlreichen Minaretten. Im Hintergrund eine blaue Bergkette. Vorne rechts der Eingang zu einem Bazar.“ Weitere Schauplätze der Oper sind ein Harem und ein maurischer Garten. Dezenter Orientalismus findet sich in Gounods Partitur jedoch allenfalls in einem Tanz der Mauren im zweiten Akt, in der einer alten arabischen Gedichtform nachempfundenen Kasside Hadjars, in der Chorszene der Haremsdamen am Beginn des dritten Akts und im sich anschließenden Ballett mit seinen verschiedenen Nationaltänzen – spanisch, arabisch, italienisch, griechisch. Schon ein Kritiker der Uraufführung stellte den szenischen Exotismus über den musikalischen: „[…] die Couleur locale, die in der Partitur und im Text fehlt, entfaltet sich hingegen aufs Großartigste im Bühnenbild und in den Kostümen. Das ganze ritterliche und muslimische Spanien des 9. Jahrhunderts entsteht komplett neu in diesen vier Bildern mit ihrem grandiosen und fremdländischen Pomp.“

„Le Tribut de Zamora“: Szene aus der Uraufführung im Journal „Le Théâtre IIlulstré“ von Marie Adrien/ BNF France/ Gallica

Auch die Handlung gründet sich auf das Aufeinandertreffen von zwei Kulturen: Die beiden Spanier Manoël und Xaïma sollen heiraten, jedoch auch der arabische Edelmann Ben-Saïd begehrt Xaïma. Sie wird mit anderen Frauen nach Córdoba, seinerzeit das Zentrum des Reiches von Al-Andalus, gebracht und als Sklavin verkauft. Damit soll der jährliche Tribut gezahlt werden, den die Mauren von den Spaniern fordern, nachdem sie zwanzig Jahre zuvor die Stadt Zamora erobert hatten. Ben-Saïd kauft Xaïma und will sie für sich gewinnen, muss jedoch am Ende mit dem Leben für seine Leidenschaften bezahlen. Außerdem stellt sich in dieser Handlung voller Irrungen und Wirrungen des Schicksals heraus, dass der Tenorheld Manoël den Bruder des tyrannischen Mauren einst auf dem Schlachtfeld gerettet hat, worauf sich dieser nun im Kampf um Xaïma auf dessen Seite schlägt.

Als besonderen Kunstgriff lassen Gounod und seine Librettisten durch diese Dreiecksgeschichte noch die Wahnsinnige Hermosa irrlichtern, die sich schließlich als Xaïmas Mutter entpuppt und am Ende Ben-Saïd tötet – einerseits, um ihre Tochter zu schützen, andererseits, um Rache zu üben für die Grausamkeit, mit der einst ihre Heimatstadt Zamora niedergemetzelt wurde. Durch den Mord am maurischen Machthaber mischen sich privates Schicksal und das Schicksal eines ganzen Volkes.

Hermosa ist die zentrale Figur der Oper. Ihr Wahnsinn entbindet sie nicht nur aller Schuld und lässt sie in ihrem, wie Le Figaro es beschrieb, „golden bestickten Kaftan aus violetter Seide“ fast als Heilige erscheinen, sondern bietet dem Komponisten auch dankbare Möglichkeiten für musikdramatisch effektvolle Szenen: etwa ihre als eine Art Wahnsinnsszene gestaltete Auftrittsarie im zweiten Akt mit einem ariosen ersten Teil, in dem sie sich als „pauvre hirondelle“, als „arme Schwalbe“, wähnt, sowie einer lyrischen rezitativischen Passage und einer abschließenden Stretta. Gerade der letzte Abschnitt ist seinerzeit mit Agathes Arie aus dem Freischütz verglichen worden, und ein träumerischer romantischer Gestus liegt tatsächlich über dieser Nummer. Ganz im Gegensatz dazu steht der große patriotische Ausbruch Hermosas „Debout! Enfants de l’Ibérie“ („Auf! Ihr Kinder Spaniens“) im Duett mit Xaïma am Ende des dritten Akts. Hier wird die spanische Hymne des ersten Aktfinales wieder aufgegriffen, nachdem Hermosa in einer dramatischen Szene die schrecklichen Ereignisse der Schlacht von Zamora heraufbeschworen hat. Auch dieses Duett endet in einer Stretta, die schon fast italienisch anmutet und an die großen Frauenduette bei Bellini und Donizetti erinnert.

„Le Tribut de Zamora“: zeitgenössische Illustration zur Oper/ BNF France/ Gallica

Herausragende lyrische Szenen der Partitur sind des Weiteren die Duette der beiden Liebenden Manoël und Xaïma im ersten und vierten Akt sowie die Solonummern von Ben-Saïd im dritten und Manoël im vierten Akt. Großen Effekt erzielt auch das Terzett der drei Männer Manoël, Ben-Saïd und Hadjar im dritten Akt, das schließlich in eine vom Chor begleitete Duellszene übergeht. Überhaupt entfaltet Gounod in Le tribut de Zamora neben dem Lyrismus der Solonummern auch große Tableaus wie das breit angelegte Finale des ersten Akts. Hier schälen sich aus dem kollektiven Gesang mit seinen Einschüben einer spanischen Nationalhymne immer wieder bewegende Einzelepisoden heraus: etwa die Phrasen der Iglésia, einer der Jungfrauen, die den Mauren als Tribut gezahlt werden müssen. Mit solchen Massenszenen, wie beispielsweise auch dem Einzug der Jungfrauen und deren Versteigerung im zweiten Akt, greift Gounod Elemente der Grand Opéra auf, deren Blütezeit mit den paradigmatischen Werken Meyerbeers jedoch schon fast fünfzig Jahre zurückliegt. Der realhistorische Hintergrund, die Schlacht von Zamora im Jahr 939 (die Gounod und seine Librettisten jedoch aller geschichtlichen Genauigkeit zum Trotz schon rund ein Jahrhundert früher stattfinden lassen) und das gesamte Panorama des Reichs von Al-Andalus, also des von den Mauren eroberten Teils Spaniens, vor dem eine erfundene private Liebesgeschichte erzählt wird, ist auch das typische dramaturgische Muster der Grand Opéra. Auch wenn diese Opernform 1881 – zu einer Zeit, als das Wagner’sche Musikdrama die europäischen Bühnen beherrschte und sich ein szenischer Realismus nach und nach durchsetzte – schon etwas aus der Mode gekommen war, lässt Gounod mit Le tribut de Zamora noch einmal die große romantische französische Oper aufleben; und er verwendet dabei eine Musiksprache, der schon seine Zeitgenossen eine gewisse Italianità attestierten: „Wenn Monsieur Gounod Le tribut de Zamora in der Absicht geschrieben hat, jegliche Verbindung mit Wagner zu leugnen, so hat er gut daran getan. Er hat zweifellos einen Schritt getan, um sich von der deutschen Schule zu entfernen und um sich der italienischen Schule anzunähern, ja um von jener mit voller Absicht Entlehnungen zu nehmen.“

In diesem Sinne stellt diese letzte Oper Gounods eine Synthese vieler musikalischer Tendenzen der Zeit dar: eine große Oper alter Schule und zugleich ein kleiner Schritt in die Zukunft des Musiktheaters. Diesen Weg wird der mittlerweile zum Monument des französischen Theaters gewordene Komponist jedoch nicht weitergehen.

„Le Tribut de Zamora“: der Tenor Henri Sellier sang den Manoel/ Foto nach der Uraufführung/ Bialistock/ opera mania

Ein ein Wort zu Al-Andalus: Zentrum der Künste und romantisches Sehnsuchtsland. Als im Jahr 711 die Mauren auf die iberische Halbinsel kamen, begann die mehr als siebenhundert Jahre dauernde Zeit von Al-Andalus. Dieses muslimische Reich mit der Stadt Córdoba als Zentrum erstreckte sich über den größten Teil des heutigen Spaniens und Portugals. Lediglich die Gegend im äußersten Norden blieb unter christlicher Herrschaft. Trotz verschiedener kämpferischer Auseinandersetzungen zwischen Christen und Arabern, darunter die Schlacht von Zamora im Jahr 939, waren die Jahrhunderte von Al-Andalus größtenteils eine Epoche des friedlichen Zusammenlebens der Kulturen und Religionen, in welcher Kunst, Musik und Dichtung florierten.

Mit der Reconquista, der Rückeroberung Spaniens 1492 durch die katholischen Könige Fernando II. von Aragón und Isabel I. von Kastilien endete die Herrschaft der Mauren auf der iberischen Halbinsel. Später wurde die Zeit von Al-Andalus von Literaten und Künstlern als Zeit der harmonischen kulturellen Mischung voller exotischer Fremdartigkeit verklärt, in Spanien etwa von dem romantischen Dichter José Zorrilla, der in seiner Lyrik die maurische Zeit wieder aufleben ließ, oder später von Federico García Lorca, der in Al-Andalus den Ursprung sämtlicher spanischer Kultur sah. In Deutschland bedichtete Clemens von Brentano die Alhambra von Granada als romantischen Sehnsuchtsort, und in Frankreich waren es Jean-Pierre Claris de Florian mit seinem historisch-epischen Roman Gonzalve de Cordoue (Gonzalo von Córdoba) oder François-René de Chateaubriand mit seiner Novelle Les aventures du dernier Abencérage (Die Abenteuer des letzten Abencerragen), die das maurische Spanien für Kunst und Literatur entdeckten.

Der Autor: Florian Heurich/ Quelle Bayr. Staatsoper

Im Bereich der Oper bedienten sich etwa Luigi Cherubini mit Les Abencérages, Gaetano Donizetti mit Zoraida di Granata und Alahor in Granata oder Giacomo Meyerbeer mit Lesule di Granata dieser Thematik – meist Geschichten über die unmögliche Liebe zwischen einem Mauren und einer Christin oder über die im Sinne europäischer Moralvorstellungen rechtmäßige Beziehung zwischen zwei Christen, in die ein maurischer Nebenbuhler eindringt. Genau dieses Handlungsmuster greifen auch Gounod und seine Librettisten in Le tribut de Zamora auf. Florian Heurich

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 Den vorstehenden Artikel entnahmen wir dem Programmheft des Münchner Rundfunkorchesters. Besonderen Dank geht an den Autor Florian Heurich wie auch an Doris Sennefelder vom Münchner Rundfunkorchester für die liebenswürdige Genehmigung zur „Übernahme“ des Textes!

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Rosl Schwaiger

 

Am 5. September 1918 wurde Kammersängerin Rosl Schwaiger – von 1954 bis 1968 Ensemblemitglied des Staatstheaters am Gärtnerplatz – in Saalfelden geboren. Am Gärtnerplatztheater sang sie unter anderem die Adele in der Fledermaus, Marie in Zar und Zimmermann, Ernestine in Salon Pitzelberger und Lady Durham in Martha. Rosl Schwaiger war Namensgeberin des Schwaigersaals, der ehemaligen Probebühne des Gärtnerplatztheaters in München/Harlaching. Von 1952 bis 1963 war die Sopranistin an der Bayerischen Staatsoper engagiert. Am 19. April 1970 verstarb Rosl Schwaiger in München. (Quelle Theater am Gärnerplatz München)

Rosl Schwaiger/ Österreichisches Bildarchiv/ Foto wie auch oben/ Schwaiger als Susanna/ Sammlung Krugmann

Dazu ein Artikel vom unerlässlichen Wikipedia: Nach ihrem ersten Musikunterricht durch den Vater, einem Organisten, nahm Rosl Schwaiger Klavier- und Gesangsunterricht am Mozarteum in Salzburg. 1940 gehörte sie dem Salzburger Landestheateran; hier hatte die Sängerin als „Königin der Nacht“ einen ihrer ersten ganz großen Erfolge. Folgend erhielt Rosl Schwaiger Engagements an der Volksoper Wien, am Theater Basel und in Bregenz sowie an der Wiener Staatsoper.

1952 holte Intendant Rudolf Hartmann Rosl Schwaiger als erster Koloratursopran an die Bayerische Staatsoper in München, als auch an das Staatstheater am Gärtnerplatz. In den beiden letztgenannten Theatern waren ihre Partner/innen u. a. Harry Friedauer, Marianne Schech, Erika Köth, Martha Kunig-Rinach und Sari Barabas. Unvergessen ist sie für das Münchener Publikum (und weit darüber hinaus) insbesondere in zwei Rollen: als Papagena in der legendären Inszenierung der Oper Die Zauberflöte von 1956 unter der Leitung von Hans Knappertsbusch im Prinzregententheater in München sowie als Adina in Gaetano Donizettis Oper Der Liebestrank, zusammen mit ihrem Kollegen Benno Kusche, die 1957 im Theater am Gärtnerplatz auf dem Spielplan stand.

Bei den Salzburger Festspielen sang sie 1945 eine der Soubrettenrollen, die der Zofe Blonde, in Mozarts Die Entführung aus dem Serail, 1946 die Barbarina im Figaro und die Sophie in Der Rosenkavalier. Sie war eine der populärsten Sängerinnen der Festspiele in Salzburg Anfang/Mitte der 1950er Jahre.

Hin und wieder machte Rosl Schwaiger einen Abstecher zur Operette. So übernahm sie 1952 die weibliche Hauptrolle in der von Franz Marszalek geleiteten WDR-Produktion der Operette Die Geishavon Sidney Jones. 1966 sang Rosl Schwaiger, inzwischen zur Bayerischen Kammersängerin ernannt, die Partie der Maria bei der Uraufführung der „Salzburger Passion“ von Cesar Bresgen im Großen Festspielhaus von Salzburg.

1954 unternahm Rosl Schwaiger eine Tournee durch Nordamerika, auf der sie frenetisch gefeiert wurde. Drei Jahre später sang sie sehr erfolgreich bei den Festspielen von Glyndebourne das Blondchen in Die Entführung aus dem Serail, die Papagena in Die Zauberflöte und die Najade in Ariadne auf Naxos. Zwei Jahre vor ihrem Tod gab die bereits durch Krankheit geschwächte Künstlerin, die im Alter von 52 Jahren an Leukämie starb, noch Liederabende in Griechenland und in der Türkei. Beigesetzt wurde sie in Maria Alm im Salzburger Land (Aufnahmen: Die Hochzeit des Figaro; Tiefland; Der Rosenkavalier; Die Zauberflöte Label Deutsche Grammophon; Bach Label Philips; Der Bettelstudent Label Archipel-Walhall) Wikipedia  

 

ungekürzt, aber enttäuschend

 

Belcanto-Liebhaber und vor allem Sammler von Raritäten warten mit Spannung auf jede Neuveröffentlichung der rührigen britischen Firma Opera Rara. Selbst wenn man auch über die Auswahl der Sänger maulen mag, die man in diesem Fall entweder als „alte Schuhe“ oder „ungeeignet“ nennen möchte. denn die jüngste Initiative betrifft Rossinis Melodramma tragico Semiramide, welches freilich nicht unbedingt eine Rarität auf dem Plattenmarkt darstellt. Noch immer ist für mich die Decca-Einspielung mit Joan Sutherland und Marilyn Horne von 1966 der Maßstab aller Dinge. 25 Jahre später brachte die DG ihre Aufnahme mit Cheryl Studer und Jennifer Larmore heraus. Auch viele und wirklich bedeutende Live-Dokumente sind verfügbar, so vom Festival Aix-en-Provence 1980 mit Montserrat Caballé und Marilyn Horne oder vom Rossini Opera Festival Pesaro 1992 mit Iano Tamar und Gloria Scalchi sowie aus dem Konzerthaus Wien 1998 mit Edita Gruberova und Bernadette Manca di Nissa. Maßstäblich sind immer noch die beiden  Aufnahmen mit der hinreißenden und gebührend dunklen Cecilia Gasdia und Gloria Scalchi aus Pesaro oder die aus Genf mit der unglaublich intensiven Nelly Miricioiu in der Titelrolle. Die Konkurrenz also ist groß und illuster. Da kann die neue Aufnahme bei Opera Rara nicht mithalten, auch nicht im orchestralen Bereich.

Zumindest aber markiert diese Veröffentlichung von OR die erste Studio-Aufnahme seit mehr als 20 Jahren (wobei Live-Mitschnitte meistens spannender, weil intensiver sind) und ist darüber hinaus bedeutungsvoll wegen ihrer absolut ungekürzten Fassung. Daraus resultieren die vier (!) CDs mit einer Spieldauer von insgesamt 230 Minuten.

Semiramide ist die letzte italienische Oper des Komponisten vor seinen Kreationen für Paris, uraufgeführt mit enormem Erfolg 1823 am Teatro La Fenice von Venedig. Sie gehört zu Rossinis Werken mit den allerhöchsten Anforderungen an die Interpreten und da muss man leider konstatieren, dass die Neueinspielung diesen Ansprüchen nicht durchweg genügt und sich mit den vorhandenen Aufnahmen kaum messen kann. Die virtuose Titelrolle, die einen dunklen Sopran, also einen Falcon, verlangt,  wurde Albina Shagimuratova anvertraut, einer international gesuchten und erfolgreichen  Königin der Nacht, eine bekannte Koloratursängerin. Doch Rossinis babylonische Königin ist ein anderes Kaliber, eine von Isabella Colbran kreierte Partie, für welche die Sängerin eine stabile und farbige Mittellage sowie eine gute Tiefe braucht. Eine solche steht der Russin nicht zu Gebote, ihr Sopran klingt zu leicht, gelegentlich sogar dünn und zu eindimensional im Farbspektrum. Prüfstein ist die große Kavatine „Bel raggio lusinghier“ mit ihrem elegischen, sehnsuchtsvollen Beginn, dem mit „Dolce pensiero“ ein bewegter Schlussteil folgt. Shagimuratova lässt technisch keine Wünsche offen, verziert ausgiebig und legt (auch grelle) Spitzentöne ein, aber in Ausdruck und Farbpalette wünschte man sich einen größeren Reichtum.

Auf den Arsace, die zweite Hauptrolle der Oper, ist Daniela Barcellona beinahe abonniert. Mit ihrem gutturalen, recht groben, gewöhnlichen Timbre ist sie mein Fall nicht, aber ich muss gestehen, dass sie hier weicher und ausgeglichener klingt als erinnert und die Besetzung dieser Semiramide dominiert. Rossini führt die Figur mit einer ausgedehnten Auftrittsszene ein – dem beklommenen Rezitativ „Eccomi alfine in Babilonia“ folgt eine Kavatine („Ah! quel giorno ognor rammento“), gespickt mit vielen vokalen Tücken, die ihren Höhepunkt im vertrackten Schlussteil im Stil einer Cabaletta findet („Oh! Come da quel dì“). Auch Arsaces zweites großes Solo im nächsten Akt („In si barbara sciagura“) absolviert Barcellona (bis auf einige strenge Spitzentöne) souverän. In den beiden großen Duetten Arsaces mit der Titelheldin mischt sich ihre Stimme mit der von Shagimuratova in angenehmer Harmonie. Aber Erinnerungen an Kolleginnen wie Ewa Podles, Gloria Scalchi oder  natürlich Lucia Valentini Terrani (oder die unvergessene Kathleen Kuhlmann) treiben Tränen der Sehnsucht hervor,.

Gefürchtet wegen ihrer Tessitura ist die Partie des Idreno, in der Barry Banks (sonst meist secondo uomo bei Opera Rara, einen zu reifen Charaktertenor hören lässt, dem es an jugendlicher Frische fehlt und der in der exponierten Lage einen gequälten Klang annimmt. Der Sänger erfüllt den bravourösen Zuschnitt der Rolle, doch haben die Koloraturen einen unangenehm meckernden Ton. Seine Arie im 1. Akt, „Ah dov’è“, beginnt er passabel, die Stimme hat in der Mittellage sogar einen schwärmerischen Anflug, was auch für die Arie im 2. Akt, „La speranza più soave“, zutrifft, aber beim Aufstieg in die höhere Lage stellen sich im Klang wieder die genannten Probleme ein. Auch Mirco Palazzi als Assur ist keine ideale Besetzung und stärkt nur die Erinnerungen an Kollegen wie Samuel Ramey oder Simone Alaimo. Sein Bass ist im Charakter zu weich, klingt zuweilen auch hohl, vor allem in den Koloraturen, bei denen man die Fülle und Farbe der tiefen Männerstimme vermisst. Achtbar zieht sich der junge Sänger im Duett mit Arsace, besonders dessen Schlussteil, „Va, superbo“, mit auftrumpfender Stimmgebung aus der Affäre, auch das Duett mit Semiramide zu Beginn des 2. Aktes hat Gewicht. Die Besetzung ergänzen Susana Gaspar als Azema mit angenehmem Sopran und Gianluca Buratto als Oroe mit dumpfem Bass.

Zum fünften Mal bei Opera Rara steht Mark Elder am Pult des Orchestra of the Age of Enlightenement und sorgt für eine vitale, frische Interpretation. Fast lautlos lässt er die Sinfonia beginnen und steigert sie dann effektvoll bis zu ihrem überschäumenden accelerando-Wirbel. Plastisch malt er die übermächtigen Donnerschläge der erzürnten Götter im 1. Akt aus, spannungsreich baut er das ausgedehnte Finale Primo auf, in welchem auch der Opera Rara Chorus (Madeleine Venner) starke Akzente setzt. Schon dessen ersten Auftritt mit „Belo si celebri“ zu Beginn des Werkes hatte der Dirigent lebhaft eingeleitet und der Chor setzte diese Vorgabe mit Verve in einen pulsierenden Gesang um. Sehr atmosphärisch wird der düstere Gesang der Magier im Tempel ausgebreitet. Der Opera Rara Chorus und das Orchester sind die Säulen dieser Einspielung, welche die zehnte aus Rossinis Oeuvre bei OR darstellt. Der Ausgabe wird ein zusätzliches Booklet beigelegt, das das eingeschweiste wegen Verdrucker in demselben ersetzt. Bernd Hoppe

 

Wunderbarer Piotr Beczala

 

Vor Jahren hieß es in der Berliner Staatskapelle: “Da musste erst ein Italiener kommen, um uns zu zeigen, wie man Hänsel und Gretel spielt“. Gemeint war Fabio Luisi, damals gern gesehener Gast an beiden Berliner Häusern. Unlängst könnte es in Zürich geheißen haben: “Da musste erst ein Italiener kommen, um uns zu zeigen, wie Operette gespielt wird“, denn wenn etwas an der Aufführung aus dem Jahre 2017 das Interesse des Konsumenten wecken kann, dann sind es das Orchester  und der Protagonist Piotr Beczala. Fabio Luisi beweist, dass es keine unüberwindbare Distanz zwischen Puccini und Lehár und besonders dessen Land des Lächelns gibt, und der polnische Tenor lässt immer wieder während der Aufführung an seinen Landsmann Jan Kiepura denken.   Während die Operette an seiner früheren Arbeitsstätte, der Komischen Oper Berlin, in bunter Überdrehtheit fröhliche Urständ feiert, hat Intendant Andreas Homoki sich für eine strenge Revue entschieden, fast alles nicht Gesungene und viele Nebenrollen gestrichen und Regie vor allem auf das Auf- und Zugehen eines goldglitzernden und eines blauen Vorhangs beschränkt, wozu Bühnen- und Kostümbildner Wolfgang Gussmann noch zwei schwarze Ledersessel, eine dicke Säule und zwei recht rudimentäre Treppen, die sich um dieselbe herumschlingen, beigesteuert hat. Knapp war der Etat für die Kostüme, die für Lisa über anderthalb Akte hinweg lediglich ein schwarzes vorsehen, das in vielen Variationen, so wie auch die Frisuren aus der Entstehungszeit, die Chordamen ziert.  Im Orient ist man weitaus reicher ausgestattet. Gar nicht stimmungsvoll gibt sich die Lichtregie von Franck Evin, der zwischen knalligen Farben häufig wechselt. Vielleicht ist es das Sterile, das der Produktion anhaftet, was dafür sorgt, dass man einen dreifachen Anlauf nehmen muss, um sich durch die DVD hindurch zu arbeiten.

Nicht nur als Schwanenritter, auch als Operettentenor bewährt sich Piotr Beczala als Sou-Chong mit genüsslichem Auskosten sentimentaler Melodien, mit strahlenden Höhen und immer viel Schmelz in der Stimme. Er trifft den Nerv des Genres, als hätte er nie etwas anderes gesungen, und er bewegt sich angemessen.  Optisch attraktiv, aber stimmlich sehr herb, kühl, manchmal sogar scharf klingt der Sopran von Julia Kleiter, der Lisa,  apart sind Stimme  und Erscheinung von Rebeca Olivera, die des Prinzen Schwester Mi gibt, recht tölpelhaft muss sich Spencer Lang als Gustav von Pottenstein geben, der wenig zu singen hat. Operettenzauber wird hörbar in den unendlichen Variationen, in denen Fabio Luisi mal schwelgerisch, mal zart die „Leitmotive“ des Werks erklingen lässt (Accentus Music 10435). Ingrid Wanja

Lamberto Pavanellis „Monna Vanna“

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Ein Gang durch Oberitaliens kleine Städte wie Lucca oder Savona bringt in Architektur und Kunst vor allem die Jahrhundertwende um 1900 zu Bewusstsein. Die eleganten Promenaden, die herrlichen Cafés im Jugendstil, die lichtdurchfluteten Passagen voller großbürgerlicher Geschäfte mit ihren farbenfrohen Auslagen, die schmiedeeisernen Dekorationen an den Häusern, der Bögen und Portale der frivolen Karyatiden erinnern an diese reiche, morbide Zeit Italiens des aufkommenden Industriezeitalters, der Dichtung D´Annunzios, der Duse, der Verstrickungen in Großmannssucht und Eroberungsdrang, schnelles Geld und Aufbruch.

„Monna Vanna“: der Komponist Lamberto Pavanelli/ Bongiovanni

Irgendwie weht ein anderer Wind hier. Man öffnet sich als nördlicher Besucher für die Nostalgie an einem nebligen Herbsttag, der das Licht in besonderem Maße filtert und die Grünanlagen und letzten Sonnenschirme im abendlichen Dunst bizarr verwandelt aussehen lässt. Man kann sich vorstellen, wie die elegant gekleideten Bürger der Stadt in die bezaubernden Ottocento-Theater zur Premiere strömten – jede dieser kleinen Städte hat diese typischen 80ger Theaterbauten mit ihren Goldmosaiken über dem Eingang und den Sälen in Rot und Gold, dazu die Deckengemälde voller mythologischer Figren,  Melpone neben  Concordia oder Euterpe in den Saal-Ecken überdimensional. Es war eine Epoche der delektablen, wenngleich  auch sehr hohlen Dekoration, des Scheinbaren, des Morbiden. Dem Bedürfnis nach heiler Welt, nach Überzuckerung für die Bourgeoisie setzten die jungen Veristen die Hässlichkeit der Welt entgegen, die Gemeinheit des Arbeiterlebens, auf dem der Reichtum der upper class nun im  Industriezeitalter beruhte. Unter der schönen Oberfläche brodelte es.

Keine Angst, es wird nicht noch lyrischer – aber beim Anhören der beiden (!) neuen Einspielungen von Lamberto Pavanellis Monna Vanna, die uns aus Italien erreichten, überkamen mich diese Erinnerungen an meine Besuche in Savona,  an eben diese Eindrücke in Italiens nebligem Norden. Denn dazu passen Sujet und Komponist.

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Ein wenig verwirrt muss der Musikfan erstmal sortieren, dass es zwei Aufnahmen von Pavanellis Oper mit dem Namen Bongiovanni gibt. Felicia Bongiovanni ist nicht mit der Bologneser Firrma gleichen Namens verwandt, singt erfolgreich Oper und 2016 in Bergamo erstmals die Titelrolle in dem Mitschnitt, der Sammlern vorliegt (die Redaktion hilft weiter). Ihre schöne, leuchtende Sopranstimme führt die restliche kompetente Besetzung an (Ernesto Morillo, Giorgio Valenta, Mariello Credo und andere) unter der Leitung von Vito Lo Re am Pult der Bergamasker Kräfte. Dies ist eine Privataufnahme mit allen akustischen Bedingungen ihres Genres und wegen der interessanten Stimme der Signora Bongiovanni habenswert.

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Felicia Bongiovanni sang 2016 die Monna Vanna in Bergamo/ FB

Die andere, offizielle Einspielung ist eine Studioaufnahme unter demselben Dirigenten vom März 2017 in Mailand bei der verdienten Firma Bongiovanni. Nun ist Elyse Charlebois die Vanna neben George Cebrian, Sebastian Ferrada, Carlo Torriani und weiteren. Vito Lo Re dirigiert jetzt die Sinfonietta di Milano, und das Ganze passt mit 44 Minuten auf eine CD (GB 2493-2). Dem Booklet haben wir den nachfolgenden Text von Carlo Curami und Carlo Torrfani in unserer Übersetzung von Daniel Hauser übernommen. G. H.

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Monna Vanna stammt aus der Epoche des  Aufbruchs aber auch des letzten Verharrens in einer vergangenen großen Zeit. Ein Wort zur Geschichte: Während einer langen liberaleren politischen Phase stieg das Königreich Italien unter König Umberto I. 1878 zur Großmacht auf und beteiligte sich ab den 1880er Jahren am kolonialen Wettlauf um Afrika, wo es mehrere Kolonialkriege in Ostafrika und von 1911 bis 1912 um das spätere Italienisch-Libyen einen Krieg gegen das Osmanisches Reich führte. 1882 wurde mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn die Allianz des Dreibundes geschlossen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich Italien von einem Agrarstaat zum, zusammen mit Frankreich und Österreich-Ungarn, bedeutendsten Industrieland des Mittelmeerraums gewandelt. (…)

Pavanellis „Mona Vanna“ bei Bongiovanni

Die Gründung des Königreichs 1861 erfolgte im Zuge der Risorgimentobewegungen, in deren Endphase mit der Proklamation des sardischen Königs Viktor Emanuel II. zum König von Italien am 17. März 1861 in Turin der erste moderne italienische Nationalstaat unter der Herrschaft des Hauses Savoyen entstanden war. 1866 erklärte er dem Kaisertum Österreich den Krieg und erwarb Venetien mit Friaul. 1871 folgte der Kirchenstaat mit Rom, womit die italienischen Unabhängigkeitskriege endeten. Während einer langen liberaleren politischen Phase stieg das Königreich Italien unter König Umberto I. 1878 zur Großmacht auf und beteiligte sich ab den 1880er Jahren am kolonialen Wettlauf um Afrika, wo es mehrere Kolonialkriege in Ostafrika und von 1911 bis 1912 um das spätere Italienisch-Libyen einen Krieg gegen das Osmanisches Reich führte. 1882 wurde mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn die Allianz des Dreibundes geschlossen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich Italien von einem Agrarstaat zum, zusammen mit Frankreich und Österreich-Ungarn, bedeutendsten Industrieland des Mittelmeerraums gewandelt. Es kam unter Umbertos Nachfolger Viktor Emanuel III. ab 1900 in den großen industriellen Ballungszentren Oberitaliens zum Aufstieg der organisierten Arbeiterschaft und des Bürgertums sowie von Massenverbänden und -parteien. Im Süden hielt der wirtschaftliche Aufschwung dagegen nur langsam Einzug  (Dank an Wikipedia)

„Monna Vanna“, Poster für die gleichnamige Oper von Henry Fevrier/ Gustave Fraipont 1909/ Dover Press

In dieser ganz besonderen Zeit des Aufbruchs in Großmannssucht und Expansion (man denke an Montemezzis Oper La Nave, in der am Ende die Jungfrau angenagelt an den Schiffsbug den Weg in die Ferna, nach Äthiopien weist) gab es viele musikalische Entsprechungen zur Lage Italiens, namentlich in der Hinwendung an die glorreiche Geschichte des Landes. Franco Alfano, Italo Montemezzi, Ottorino Respighi, Leoncavallo, Mascagni, Giordano, Ricardo Zandonai zählen zu den bekannsten Komponisten neben dem jungen Giacomo Puccini nach dem Tode Verdis 1901.

Aber es gab natürlich noch weitere, uns heute völlig unbekannte, die die musikalische Landschaft des aufkommenden Verismo in dieser Zeit belebten. Dazu gehört Lamberto Pavanelli, dessen Monna Vanna 1910 (bereits im Verlag Ricordi!) in Mailand vorgestellt wurde. 1902 hatte Maurice Maeterlinck bereits das Theaterstück gleichen Namens  in Paris uraufgeführt und damit eine Ikone des Symbolismus geschaffen, auch als Gegenentwurf zur immer bedrohlicher werdenden Wirklichkeit. Maeterlinck schildert die Geschichte einer Frau im Pisa des ausgehenden Cinquecento, Monna Vanna, die eine Nacht im Zelt des Florentiner Heerführers Prinzivalles verbringen muss, damit dieser die Stadt schont. Monna Vanna und der Feldherr, die sich schon seit Jugendtagen kennen, verbringen eine Nacht in gegenseitiger Hochachtung und Verehrung ohne Zwischenfälle; sie werden Freunde. Als Monna Vanna nach Pisa zurückkehrt, muss sie erfahren, dass sie trotz aller Beteuerungen das Vertrauen ihres Mannes, des Garnisonschefs Colonna, verloren hat. Zu den ganz großen Interpretinnen gehörte in Italien Leonora Duse. 1909 folgte die erste Oper über dieses Sujet von Henry Fevrier, ebenfalls in Paris (die flamboyante Lucienne Breval führte die Oper zum Erfolg) . Lamberto Pavanellis Komposition war dann die erste italienische. Schließlich gibt es noch die unvollendete Oper von Rachmaninoff (1908), die Igor Burketoff 1984 in seiner Bearbeitung in Philadelphia vorstellte und die in dieser Fassung bei Chandos herausgekommen ist G. H.

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Und nun der Text von Carlo Curami, Carlo Torrfani. Wer war Lamberto Pavanelli? Er war in seinem kurzen Leben alles andere als ein unbedeutender Komponist und gehörte zu jener Gruppe von Musikern, die als die in der zweiten Reihe stehenden Veristen bezeichnet wurden, deren Wiederentdeckung indes lohnenswert wäre, schon deswegen, um einige Lücken in der Musikgeschichte zu füllen und sich abseits von Leoncavallo, Mascagni, Giordano und einigen weiteren zu bewegen.

„Monna Vanna“: Lucienne Breval sang die Titelrolle in der Oper von Fevrier 1909 in Brüssel/ Dover

Lamberto Pavanelli wurde 1890 in Ferrara geboren, etablierte sich indes bereits in jungen Jahren in Imola, wo er am dortigen Konservatorium Klavier und Komposition studierte. Es ist nichts über sein Debüt als Musiker bekannt, aber er muss sehr bald bemerkt worden sein, da er, als er gerade ein wenig älter als zwanzig war, die Aufmerksamkeit des Verlages Casa Ricordi auf sich zog, welcher seine Vanna im Teatro Dal Verme, einem seinerzeit prestigeträchtigen Theater in Mailand, zur Aufführung brachte. Diese Oper wurde am 23. November 1910 aufgeführt; unter den Sängern befanden sich einige der größten Stars des Verismo, darunter Lia Remondini (Vanna), Ricceri Angelo (Francesco di Pace), Giulio Rotondi (Sampiero) und Romano Constantini (Roberto). Heutzutage zaubern uns diese Namen ein Lächeln ins Gesicht und wecken Neugier, doch waren sie zu jener Zeit (der goldenen Ära der italienischen Oper) oftmals Gäste an den wichtigsten Opernhäusern. Vanna erzielte zumindest einen Achtungserfolg, mehr allerdings auch nicht.

Der junge Komponist hat sich nie wieder an diesem Werk versucht und seinen schöpferischen Impuls auf zielstrebigere Projekte gerichtet, darunter das Operetten-Genre: Kiss Kiss (1920 mit einem Libretto von Carlo Zangarini im Teatro Fossati in Mailand uraufgeführt), Bon-bon (1923 mit einem Libretto von Arturo Franci im Teatro Eliseo in Rom uraufgeführt) sowie Ich und du oder: Zwei auf der Insel (1926 im Neuen Deutschen Theater in Prag uraufgeführt, Libretto von Fritz Grunbaum und Willy Sterk). Pavanelli hatte jedoch seinen wahren Erfolg mit Kammermusik (Chasse aux papillons, Impromptu dances, Petit bal d’efants sowie Capriccio, alle für Klavier) und, mehr noch, mit Salonmusik-Romanzen, die einen melancholischen, subtilen Flair verströmten. Einige Titel sind in diesem Sinne von Bedeutung: Pianto Antico (nach einem berühmten Gedicht von Giosue Carducci), Roseto Bianco (Text von Ettore Neri), La Viorna e Solicchio (beide mit Text von Antonio Beltramelli), Foglia di Rosa, Nostalgia, D’autunno, Piccola voce und Voci Iontane, zu denen Luigi Orsini den Text beisteuerte. Über Orsini sollte in diesem Zusammenhang auch etwas gesagt werden, war er doch ebenfalls der Librettist von Vanna. Er wurde 1873 in Imola geboren und war ein außergewöhnlicher Dichter und Publizist, Librettist und Dozent. Im Jahre 1904 gründete er mit Gaetano Gasperoni die Zeitschrift La romagna nella storia, nella lettere e nelle arti. Später arbeitete er für wichtige Blätter wie Il Popolo d’Italia, Il Resto del Carlino, Regime Fascista und L’Illustrazione italiana. 1911 wurde er Professor für Dichtung und Drama am Königlichen Konservatorium von Mailand, wo er bis 1939 unterrichtete. Er starb 1954 in seiner Heimatstadt Imola.

1922 wurde „Monna Vanna“  nach Maeterlinck von Richard Eichberg verfilmt/ OBA

Doch zurück zu Vanna: Es handelt sich um eine exquisite Partitur, die ein typisches Realismus-Libretto verklärt, mit einer Orchestrierung, die manchmal beinahe einen Touch von Ravel hat. Bereits die einleitende Ouvertüre hat Anklänge des drohenden Dramas, darunter eine Totenglocke, die am Ende der Oper wiederum erklingt. Die Charaktere sind gut konstruiert: Die Hauptfigur wird seit ihrem ersten Auftritt als junges Mädchen präsentiert, das verliebt ist und dem alles andere gleichgültig erscheint. Exemplarisch ist in diesem Sinne die schöne Romanze Anima mia di neve, ricordi?, womöglich die bedeutendste Stelle der gesamten Partitur. Die anderen Personen, vom leidenschaftlichen Sampiero über den väterlichen Francesco bis schließlich zum einfältigen Roberto, finden in Pavanellis Musik die richtigen Akzente, um ihre Charaktereigenschaften zu definieren. Sehr interessant ist die Verwendung des Chores mit verschobenen Akzenten, die womöglich eine volkstümliche, bäuerische Art widerspiegeln sollen.

Ist nun ein Meisterwerk wiederentdeckt? Sicherlich nicht. Gleichwohl ist eine gut angelegte Oper jedoch von viel größerem historischen Interesse. Auf der anderen Seite starb Pavanelli 1927 in Varese, vielleicht zu jung, um ein Meisterwerk zu hinterlassen, das seinem Stil entsprach. Womöglich könnte diese Version von Vanna einem der vielen talentierten Schöpfer gerecht werden, mit denen die italienische Musik so gesegnet ist. Carlo Curami, Carlo Torrfani (Übersetzung Daniel Hauser)

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Dank an Felicia Bongiovanni, der wir die Anregung zur Entdeckung dieser seltenen Oper verdanken, ihre website  präsentiert sie in all ihrer blonden und charmanten Persönlichkeit, ein wenig Italienisch sollte man können.

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Zur Aufbruchszeit des beginnenden 20. Jahrhunderts auch den Beitrag von David Chandler in seinem Artikel zu La Nave Montemezzis in operalounge.de. Monna Vanna gab es auch verfilmt: Monna Vanna (1916), US-amerikanischer Spielfilm von Mario Caserini aus dem Jahr 1916; Monna Vanna (1917), deutscher Spielfilm von Eugen Illés aus dem Jahr 1917; Monna Vanna (1922), deutscher Spielfilm von Richard Eichberg aus dem Jahr 1922, der auch in den USA lief (s. oben). Abbildung oben:  Nude Mona Lisa by Salai (Gian Giacomo Caprotti)/ Wikipedia

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Provencalische Verstrickungen

 

Die Bauern erfreuen sich des Goldenen Zeitalters, das ihnen beschert wurde, und die Mäher besingen die Schönheit der lieblichen Landschaft, während die Jäger zur Hetze rufen. In der mittelalterlichen Provence, wie sie Giovanni Simone Mayr und sein Librettist Andrea Leone Tottola in der am 28. Januar 1814 in Neapel uraufgeführten Oper Elena e Constantino schildern, wäre die Idylle vollkommen, wenn Costantino, Graf von Arles, nicht fälschlicherweise des Mordes beschuldigt worden wäre, und seine Gattin Elena, als Mann verkleidet, nicht um den gemeinsamen Sohn kämpfen müsste. Kein Zuhörer muss sich aber grämen: selbstredend  ist der lieto fine in diesem Dramma eroicomico zu erwarten und trifft am Ende auch tatsächlich ein. Die Auflösung ist unwahrscheinlich, aber die Geschichte nicht viel alberner als der Fidelio-Stoff, der zur selben Gattung gehört. Mayr hätte es sich bequem machen und eines jener blassen Werke vorliegen können, mit denen er um 1800 die Theater in Venedig beglückte und die in den letzten Jahren nicht immer zu seinem Vorteil ausgegraben wurden. Aber Neapel war ihm offenbar viel wichtiger, als dass er sich mit Dutzendware begnügt hätte. Für die Bühnen des zu Beginn des 19. Jahrhunderts  wohl bedeutendsten italienischen Opernzentrums schrieb er einige seine besten Stücke, etwa Medea in Corinto und Cora.

Schon in der Ouverture von Elena e Constantino bewundert man seinen Sinn für farbige Gestaltung und ansprechende Melodien. Mit einer solchen Mischung aus tragischen Gestalten, die sich mit Bösewichten raufen, und herumhüpfenden Bauern, die das Landleben rühmen, kann der heutige Musikliebhaber allerdings wenig anfangen. Das wird in einer konzertanten (und nicht, wie sie angekündigt war, halbszenischen) Aufführung erträglich, weil man keine Verzweiflung eines überforderten Regisseurs ob des unspielbaren Zeugs erleben muss und sich dafür auf die Musik konzentrieren kann. Das gilt umso mehr, wenn Franz Hauk am Pult steht. Hauk trifft immer den richtigen Ton, wenn er sich Werke des Primo Ottocento vornimmt, und mit seinen Einspielungen von Mayr und Paer hat er sich zu Recht einen Namen als bester Befürworter vergessener Musikschätze aus der Zeit um 1800 erworben. Auch diesmal hatte er Sänger und Musiker fest im Griff. Man kann höchstens etwas bedauern, dass die bukolische Färbung der Oper nicht stärker hervorgehoben wurde, weil Hauks wie immer forscher Ansatz dies bisweilen verhinderte. Doch bot er insgesamt einen musikalisch befriedigenden Abend.

Simone Mayr in Italien/OBA

Unterstützt wurde er von einem exzellenten Männerchor mit Mitgliedern der Bayerischen Staatsoper und einem engagiert aufspielenden, vor allem in den Bläsern sehr gut besetzten Concerto de Bassus „auf authentischen Instrumenten“ (die virtuose, elegant phrasierende Soloklarinettistin sei gesondert erwähnt). Das aus jungen, aber teilweise schon etablierten Sängern bestehende Ensemble überzeugte insgesamt, wobei die beiden ernsten Charaktere wegen der gattungsbedingten Kürze ihrer Rollen wenige Möglichkeiten hatten, sich hervorzutun. Daniel Ochoa verkörperte den unglücklichen Costantino mit schönem, festem Bariton. Er gestalte seine große (und einzige) Arie im ersten Akt mit viel Sinn für die Zwischentöne und einer ausgezeichneten Wortverständlichkeit. Weniger erfolgreich war Julia Sophie Wagner als Elena. Sie verfügt über beachtliche vokale Mittel und einen einnehmenden, dunkel gefärbten Sopran. Doch die verwaschene Diktion und die unter Druck gebildeten Töne trübten ihre Leistung. Die als Romance bezeichnete Ballade im ersten Akt klang viel zu dramatisch. Danach allerdings zeigte die Sängerin die von der Rolle geforderte Autorität im Ausdruck, etwa im Finale des ersten Aktes. Niklas Mallmann fiel die dankbare Rolle zu, Carlo, den eigentlichen Protagonisten der Oper, zu gestalten. Er meisterte die vokalen Anforderungen der Buffo-Rolle und kam auch mit dem neapolitanischen Dialekt einigermaßen zurecht. Da schon bei einer Reprise in Mailand eine Übersetzung ins Hochitalienische vorgenommen wurde, wäre das vielleicht auch hier eine Option gewesen. Gute Leistungen boten auch die comprimari, allen voran Anna-Doris Capitelli, Mitglied der Accademia della Scala, die in ihrer kurzen Arie im ersten Aufzug mit attraktivem Mezzo aufhorchen ließ, aber auch Anna Feith (Ernesta), Mira Graczyk (Paolino) und Andreas Mattersberger (Urbino) als Governatore machte im zweiten Akt mit seinem sicher tönendem Tenor und einer besonderen Aufmerksamkeit für den gesungenen Text aus einer Charakterrolle einen Protagonisten. Markus Schäfer schließlich trat in einer doppelten Rolle auf. Als Edmondo, falscher Graf von Arles, sorgte er in der Oper für das happy end, aber darüber hinaus sprang er als Erzähler ein. Denn auf die Dialoge der Uraufführung von 1814 bzw. die Rezitative der Wiederaufnahmen außerhalb Neapels hatte man verzichtet und sie durch nicht immer kurze Texte ersetzt. Auf der Bühne führt eine solche Vorgehensweise üblicherweise ins Verderben, wie manche Fidelio-Aufführung mit den unausstehlichen Elukubrationen von Walter Jens oder just in diesem Sommer die Salzburger Zauberflöte mit einem erzählenden Opa zur Genüge bewiesen haben. Hier aber glückte es, dies vor allem dank dem unwiderstehlichen Charme von Schäfer, dem es im zweiten Aufzug mit bewundernswerter Lockerheit gelang, zwischen Sprache und Gesang zu wechseln.

Das zahlreich anwesende Publikum bedankte sich am Ende mit begeistertem Applaus. Wie gewohnt, stand die öffentliche Aufführung am Ende von Aufnahmesitzungen. Der Musikliebhaber wird sich allerdings noch eine Weile gedulden müssen. Franz Hauk bringt dieses Jahr noch eine zweite CD mit venezianischen Solo-Motetten heraus (die erste ist soeben erschienen) und 2019 die Mayr-Oper I Cheruschi (1808) sowie Psalmen des Mayr-Schülers Donizetti. Sie versüßen somit das Warten auf die Veröffentlichung von Elena e Costantino, welche zweifelsohne einen zukünftigen Höhepunkt in der an bemerkenswerten Aufnahmen unter Franz Hauk nicht armen Mayr-Reihe bei Naxos bilden wird (26. August 2018). Michele C. Ferrari

Carl August Bünte

Der  Dirigent Carl August Bünte verstarb am 6. Juni 2018 im Alter von 92 Jahren.  Am 23. September dieses Jahres wäre er 93 geworden. Besonders älteren Konzertgängern in Berlin war er, der stets im Schatten Wilhelm Furtwänglers und später Herbert von Karajans stand, ein Begriff, prägte er das Berliner Konzertleben als Chefdirigent des Berliner Symphonischen Orchesters und anschließend des Symphonischen Orchesters Berlin zwischen den späten 1940er und frühen 1970er Jahren durchaus nachhaltig.

Bünte wurde am 23. September 1925 als Sohn des Pianisten und Komponisten Charles Bünte (1880-1943) in der deutschen Hauptstadt geboren. Zwischen 1946 und 1949 studierte er in einer Meisterklasse bei Sergiu Celibidache, dem damaligen Interimschefdirigenten des Berliner Philharmonischen Orchesters, am Internationalen Musikinstitut Berlin Dirigieren und zudem Komposition bei Paul Höffer. 1949 wurde Bünte, gerade 24-jährig, Chefdirigent des Berliner Symphonischen Orchesters. Binnen kürzester Zeit war dieser neugegründete Klangkörper so angesehen, dass er von der amerikanischen Kulturverwaltung bereits 1951 als Vertretung der Berliner Philharmoniker während Furtwänglers Tournee (u. a. nach Kairo) ausgewählt wurde (das bekanntere RIAS-Symphonieorchester wurde dafür übergangen). Der junge Bünte hatte einen guten Draht zu Furtwängler, der es ihm auch ermöglichte, zweimal mit den Berliner Philharmonikern zu konzertieren. Dieses gute Verhältnis zwischen den beiden Berliner Orchestern währte indes nicht lange, untersagte Furtwänglers Nachfolger Karajan Bünte doch lebenslang Auftritte mit den weltberühmten Philharmonikern. 1962 erhielt er einstimmig den deutschen Kritikerpreis. Die von der Stadt Berlin verfolgte Orchesterfusion des Berliner Symphonischen Orchesters mit dem „recht mittelmäßigen“ (Zitat Bünte) Deutschen Symphonieorchester (nicht zu verwechseln mit dem späteren DSO Berlin) zum nunmehrigen Symphonischen Orchester Berlin im Jahre 1967 hat Bünte von Anfang an höchst kritisch gesehen, auch wenn er gleichwohl noch bis 1973 als künstlerischer Leiter des nunmehr fusionierten Orchesters amtierte. Anhaltende Probleme führten dann gleichwohl zu seiner Kündigung, womit die Ära Bünte in Berlin nach bald einem Vierteljahrhundert endete (das Orchester nannte sich später in Berliner Symphoniker um). Er widmete sich in der Folge Gastdirigaten, besonders in Japan, wo er 1979 auch seine spätere (dritte) Ehefrau (eine gebürtige Steiermärkerin) kennenlernte. Carl August Bünte dirigierte in seinem Leben zahlreiche Orchester in Europa, Japan und Südamerika, darunter so bekannte wie die Münchner Philharmoniker, das BBC Symphony Orchestra, das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin, das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, die NDR Radiophilharmonie Hannover, das Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken, das Orchestre Lamoureux in Paris, das Yomiuri Nippon Orchestra in Tokio und das Orquestra Sinfónica Nacional in Buenos Aires. Er spielte Aufnahmen u. a. für die Label CBS, Turnabout, Intercord und Vox ein. Seit 2006 erschienen bei Bella Musica zahlreiche Konzertmitschnitte in oft erstaunlich guter Klangqualität auf CD (zu beziehen u. a. bei jpc und Amazon), darunter einige Sinfonien von Beethoven, Schubert, Schumann, Bruckner und Tschaikowski, das zweite Klavierkonzert von Rachmaninow, die Symphonie fantastique von Berlioz und Tod und Verklärung von Strauss. Carl August Bünte wurde vielfach ausgezeichnet. So war er Ehrendirigent des Kansai Philharmonic Orchestra in Osaka (1982), Ehrenprofessor für Dirigieren an der Staatlichen Universität für Musik in Tokio (1982) und Honorarprofessor für Dirigieren an der Universität der Künste in Berlin (1999), wo er seit 1987 als Gastprofessor tätig war. Daniel Hauser

Der Star ist das Haus

 

Wegweisung zum „Welterbe Opernhaus“. Nein, diesmal ist nicht das Festspielhaus oben auf dem Grünen Hügel gemeint, sondern die kleine 500-Plätze Preziose in der Innenstadt. Seit 2012 ist Bayreuth um eine von der UNESCO offiziell als Weltkulturerbe anerkannte Attraktion reicher. Kenner wussten freilich schon immer, dass das Markgräfliche Opernhaus die anderen erhaltenen Barocktheater in Deutschland, die Schlosstheater in Ludwigsburg und Sanssouci und das Eckhof-Theater, an theatralischer Pracht und feierlicher Vornehmheit übertrifft. Sofort wurde Giuseppe Galli Bibienas Opernhaus einer umfassenden, sechs Jahre dauernden Resaturierung unterzogen, in deren Verlauf für 30 Millionen Euro u.a. die Holzkonstruktion von den vielen Farb- und Lackschichten frei gelegt die bei der letzten Sanierung vor fast 80 Jahren mit falschen Lacken und Schutzmitteln begangenen Fehler behoben und in den Originalzustand von vor 270 Jahren versetzt wurde, als das Haus 1748 mit Hasses Artaserse eröffnet wurde. 30 Millionen. 90 Prozent Original. Fast unmittelbar nach der Fertigstellung und der Wiedereröffnung mit Hasses Artaserse durch die Münchner Everding Theaterakademie wurde das Markgräfliche Opernhaus am 1. Mai 2018 zum Austragungsort des Europakonzerts der Berliner Philharmoniker, in dessen Rahmen die bereits 2013 zu Wagners 200. Geburtstag zu Gala-Ehren gekommene Eva-Maria Westbroek zu Beethovens Leonoren-Ouvertüre Nr. 3, der Vierten und Die Geschöpfe des Prometheus die Wesendonck-Lieder beisteuerte, alles dirigiert von Paavo Järvi. Wer das nicht alles bereits im Fernsehen sah, kann es nun auf Bluray (Euroarts 2064504) nachholen.

Die Mitwirkenden werden verschmerzen, dass jeder nur auf das Theater, den Innenraum, den Stuck und die Malerei achtet, die sich die Schwester Friedrichs II., Wilhelmine von Preußen, in die fränkische Provinz bauen ließ. Überhaupt hat die Markgräfin dem Ort viel stärker den Stempel aufgedrückt als Richard Wagner, der das Theater im April 1871 erstmals besichtigte. Und sich dagegen entschied. Das im feinen Bayreuther Rokoko dekorierte Stadtschloss, die Eremitage samt Orangerie stammen von der kunstbeflissenen Dame, so erfahren wir aus dem touristischen Werbefilm, der dem Konzert nebst Interviews mit Westbroek und Järvi beigegeben ist. Darin erfahren wir noch mehr von Bayreuther Traditionspflege, beispielsweise von dem in 5. Generation geführten Becher-Bräu und der fast ebenso lange wie das Opernhaus existierenden Bäckerei Lang, die auch in der 13. Generation die alten Rezepte wie die gehaltvollen Kretzaweckla aus Hefeteig hochhält.

Im anthrazitfarbenen Paillettenkleid wetteifert Westbroeck mit den Lüstern an den Logenbrüstungen. Sie singt angemessen und passioniert, der Ton ist zu wuchtig, der Ansatz ungenau und die Diktion könnte feiner sein. Geschliffen in ihrer lichten Heiterkeit erklingt die Vierte, elegant abgehorcht in ihrer motivischen und rhythmischen Leichtigkeit. Doch der Star bleibt das Haus, das Wunder aus Holz und Leinwand. Da muss man hin. Derzeit sind nicht viele Veranstaltungen angesetzt. Dann eben zu Lang (Foto Wikipedia).  Rolf Fath

TRAJANS GLÜCK

 

Die französische Barockopern hat es in Deutschland immer noch schwer: Lully oder Jean-Philippe Rameau schaffen es hierzulande kaum einmal auf die Bühne, dabei sind die oft allegorischen Figuren und metaphorischen Bilder ihrer Opern eine dankbare Aufgabe für Regisseure und erlauben Spektakel und Phantasie. Auf Tonträgern sieht die Auswahl schon anders aus, Einspielungen kommen inzwischen nicht mehr nur aus Frankreich, sondern wie in diesem Falle sogar aus Amerika.

Rameaus Le Temple de la Gloire ist keine Tragédie lyrique, sondern eine Opéra ballet, das Libretto stammt von Voltaire, mit dem Rameau nicht zum ersten Mal zusammenarbeitete. Die Uraufführung in Versailles erfolgte 1745 (das Jahr, in dem auch Platée aufgeführt wurde). Die Originalfassung verwendete Dirigent Nicholas McGegan für eine szenische Produktion, die im April 2017 im kalifornischen Berkeley präsentiert wurde und als Live-Aufnahme nun als Ersteinspielung in befriedigender Aufnahmequalität bei Philharmonia Baroque Productions vorliegt. Für die Produktion gab es einen regionalen Grund: Libretto und Partitur aus dem 18. Jahrhundert sind einer der Schätze aus der Musikbibliothek der Berkeley Universität und die einzige bekannte überlieferte Quelle des Originals. Le Temple de la Gloire war 1745 kein Erfolg, eine überarbeitete Version 1746 ebenso nicht. Voltaire schrieb drei voneinander unabhängige Akte mit unterschiedlichen Figuren – eine Konstellation, die man aus anderen Werken des Typs Opéra ballet kennt (bspw. Les Indes galantes). Alle Akte vereint ein gemeinsames Thema, beim Tempel des Ruhms ist das das Streben und Handeln des Souveräns. Der Prolog erzählt, wie die allegorische Figur des Neids versucht, sich gegen den Widerstand der Musen mit dämonischer Hilfe Zutritt zum Ruhmestempel auf dem Parnass zu verschaffen, doch von Apollo und anderen Helden überwältigt wird. In den folgenden drei Akten versuchen drei Herrscher Ruhm zu erringen, zwei scheitern. Der mythische Gründer Babylons Belus ist zu gewalttätig, dem griechischen Gott Bacchus mangelt es an Tugendhaftigkeit, nur der römische Kaiser Trajan überzeugt durch Großherzigkeit. Er lehnt nicht nur bescheiden den Einzug in den Tempel des Ruhms ab, sondern fordert einen Tempel der Glückseligkeit für die Menschheit. Voltaire versteckte in seinem philosophisch anmutenden Libretto eine Kritik an Ludwig XV. und ein Lob der Aufklärung: ein großer König ist weder Eroberer noch Tyrann, sondern hat stets das Glück der Menschen im Blick. Trajans Glück scheint Ludwig XV. nicht gefallen und nicht geteilt zu haben.

McGegan engagierte sich seit vielen Jahren für eine Aufführung, seit 1985 leitet er das Philharmonia Baroque Orchestra (PBO) und hat damit eines der führenden amerikanischen historisch informierten Ensembles mit Originalinstrumenten zur Verfügung, die bei dieser Aufnahme mit über 40 Musikern (u.a. mit Flöten, Oboen, Fagotten, Hörnern und Trompeten) spielen. Die Instrumente sind präsent, man hört ein hochmotiviert und in bester Laune spielendes Ensemble und erlebt eine typische Rameau-Oper mit ihrem musikalischen Ideenreichtum – den vielen kurzen Nummern und fliegenden Wechseln zwischen Solo, Ensemble, Chor und Tanz, die aber aufgrund der regelmäßig unterbrochenen und allegorischen Handlung auch undramatisch  wirken kann. McGegan hält die Balance und kostet den Klang sowie die instrumentellen Details und Finessen aus. Die Aufnahme hat leider eher die Nachteile von Live-Aufnahmen: man hört Bühnengeräusche und Applaus, die Aufnahmequalität ist nur zufriedenstellend, man befindet sich im Abstand zur Bühne, nicht mitten im Geschehen. Die Gesangssolisten haben mehrere Rollen. Mit den Sängern hatte man im Gegensatz zu den Sängerinnen nicht durchgehend Glück bei den Aufnahmen. Tenor Aaron Sheehan gibt zwei Helden (Apollon, Trajan) ohne ihnen überzeugende Statur zu verleihen, seiner Stimme mangelt es als Apollon noch an Durchschlagskraft, als Trajan an Statur. Der junge französische Tenor Artavazd Sargsyan ist als Bacchus in den hohen Lagen mit etwas zu angestrengt klingender, nicht agil wirkender Stimme, seine Arriette „Venez, troupe aimable, volez, suivez-moi“ mag kaum verführen. Bariton Philippe-Nicolas Martin (u.a. als Bélus) und auch Bariton Marc Labonnette  (u.a. als L’Envie und Le Grand Prêtre de la Gloire) bleiben zu blass und kommen nicht richtig in ihre Rollen, ihre Konzentration scheint eher auf der szenischen Darstellung gelegen haben. Die vier Soprane in den begleitenden Frauenrollen hingegen klingen unbeschränkt, offen und mühelos. Die puertoricanische Sopranistin Camille Ortiz ist bspw. eine reizvolle Érigone, Gabrielle Philiponet eine stimmschöne Plautine, Chantal Santon-Jeffery ist u.a. La Gloire ausdrucksstark. Der Chor des Philharmonia Baroque Chorale ist engagiert dabei und hat szenisch einiges zu tun. Das Booklet enthält das Libretto, einiges an Informationen und auch Fotos der Bühnenproduktion in Berkeley, angesichts derer und der nicht ganz überzeugenden Live-Qualität der Aufnahme eine Studio-Aufnahme oder eine DVD-Produktion dieses bemerkenswerten Werks sinnvoller erscheinen will (2 CDs, Philharmonia Baroque Productions/ Naxos Vertrieb, PBP10). Marcus Budwitius

Helena Bader

 

Unsere Kollegen vom online Merker erinnerten uns an den hundertjährigen Geburtstag  der Sopranistin Helena Bader (16. September 1918), zu der wir ihr bewundernd gratulieren. Von Helena Bader finden sich nicht viele Spuren, aber Sammler erinnern sich an einen Oberon unter Hans Müller-Kray vom SWR 1957 (auf zwei 25-cm-Mono-LPs bei MMS neben Max Liebl, Franz Fehenberger und Robert Tietze) und an ihre doppelte Mitwirkung in der Bayreuther Walküre 1957 unter Hans Knappertsbusch als Siegrune am 15. August und (anderen unbestätigten Quellen zu Folge, vielleicht als Einspringerin) als Grimgerde wenig später – in illustrer Gesellschaft von Hans Hotter, Ramon Vinay, Birgit Nilsson und Astrid Varnay. Ihre Mitwirkung in der im Netz auftauchenden Elektra der Gerda Lammers in Covent Garden 1958 hat sich nicht bewahrheitet. Sie wird im bayerischen Sänger- und Künstlerlexikon ebenfalls als Pädagogin geführt, und wir wüssten gerne, wo sie wohnt.

Im Folgenden ein Auszug aus dem wie stets unerlässlichen Lexikon von Kutsch & Riemens (Kutsch, Karl-Josef / Riemens, Leo: Großes Sängerlexikon, unter Mitw. v. Hansjörg Rost, DE GRUYTER SAUR Verlag), in dem die Karriere  von Helena Bader kurz zusammengefasst ist. Foto oben mit Dank an den online merker.

 

Sie erhielt ihre Ausbildung durch Emmy Feuge-Gleiss und durch E.Wack in München. An der Münchner Akademie der Tonkunst war sie Schülerin der großen Sopranistinnen Anna Bahr-Mildenburg und Emmy Krüger. 1940 fand sie ihr erstes Engagement am Stadttheater von Salzburg und blieb dort bis 1942. 1942-44 sang sie am Opernhaus von Brünn (Brno); nach dem Zweiten Weltkrieg war sie 1947-48 am Stadttheater von Mönchengladbach, 1947-48 am Staatstheater von Karlsruhe und 1950-52 am Staatstheater Hannover engagiert. Sie unternahm dann von ihrem Wohnsitz Hannover aus Gastspiele und Konzertauftritte, die ihr in der Schweiz, in Italien, Frankreich und Portugal Erfolge brachten. Bei den Bayreuther Festspielen des Jahres 1957 gastierte sie als Siegrune in der Walküre. In ihrem Bühnenrepertoire fanden sich an erster Stelle dramatische und Wagner-Rollen. Schallplatten: Period, MMS (Rezia im Oberon von Weber u. a.).

 

Maßstäbe setzend

 

Selbst wer bereits gefühlte hundert Mal MozartsOper  Le Nozze di Figaro erlebt hat, wird von der 2009 in Madrid entstandenen Produktion des Werks gefangen genommen werden und begeistert sein. Das liegt zum einen an der wunderbaren Bühne von Daniel Bianco, der in die Zeiten zurückführt, als künstlerische Opulenz und handwerkliches Können das Publikum verzauberten, hier nun mit dem Blick auf eine Orangerie von Figaros und Susannes Zimmer aus oder mit einem verzauberten Park für das letzte Bild. Und immer spielen die berühmten spanischen Kacheln eine Rolle, als farbige Wandverkleidung oder als die Szene dominierendes Sitzmöbel im nächtlichen Garten. Zur zauberhaften Bühne passen die Kostüme (Renata Schussheim) mit verständlicherweise spanischen Elementen für das dem „Volk“ zugehörige Personal, während der Adel im feinsten Rokoko repräsentiert. Die Lichtregie von Eduardo Bravo sorgt ebenso für lichtdurchflutete Räume wie für das Aufblitzen der Wasserfontänen im Dunkel des Parks.

Die Dienerschaft nimmt neugierig und stumm kommentierend an allem teil, wessen sie ansichtig werden kann, die Personenregie von Emilio Sagi setzt neue Akzente, wenn Figaro in den Kuss zwischen Conte und Contessa bereits im zweiten Akt hineinplatzt, wenn die Contessa viel mehr als gemeinhin noch Züge der temperamentvollen Rosina aus Rossinis Barbiere hat, nicht nur nobel leidend wehmütig Erinnerungen nachhängt.

Das Ensemble ist ein erlesenes, und das gilt nicht nur für die Hauptrollen, sondern auch für Bartolo, Basilio und Marcellina, die allesamt ihre oft gestrichenen Arien singen dürfen. Köstlich ist Raúl Gimenez, einst vorzüglicher Rossini-Tenor, als Don Basilio, vor dessen Hang zum Intrigieren man sich wirklich fürchten muss, eine Wucht Carlos Chausson mit seiner Vendetta-Arie als Don Bartolo, dünnstimmig, aber überzeugend vom Altjüngferlichen zum Mütterlichen sich wandelnd Jeanette Fischer als Marcellina, hübsche Klänge in Moll lässt die Barbarina von Soledad Cardoso erklingen.

Um die Bedeutung der Rezitative weiß der Figaro von Luca Pisaroni, der mit viriler, farbiger Stimme in seine Arien überzuleiten weiß und besonders mit „Aprite“ einen besonderen Erfolg erzielen kann. Etwas zu ältlich in Optik und Stimmklang ist die Susanna von Isabel Rey, deren Rosenarie nicht schimmert, deren grässliche Frisur allerdings wesentlich dazu beiträgt, dass man sie eher für die Tante als die Braut des jugendlichen Figaro halten möchte. Ihre Gestik wirkt zudem unangenehm konventionell. Wie an vielen anderen Bühnen ist auch in Madrid Barbara Frittoli eine ideale Contessa mit auch in der Höhe und im Piano warm leuchtendem Sopran. Ludovic Tézier wirkt so aristokratisch wie derb draufgängerisch als Conte und macht „Già vinta la causa“ so stilsicher wie darstellerisch eindrucksvoll zum Höhepunkt des Abends.  Am Dirigentenpult weckt der unlängst verstorbene Jesus Lopez Cobos die Erinnerung an viele Abende, an denen er auch an der Deutschen Oper Berlin das Werk in der Friedrich-Produktion dirigierte (Euro Arts 2059348). Ingrid Wanja

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Edward Loders „Raymond and Agnes“

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Edward Loder? Nie gehört. Ich wage zu behaupten, dass nur einer von tausend deutschsprachigen Opernfans die Hand heben würde, würde er nach Edward Loder gefragt. Und auch britische Opernliebhaber wären wohl hard pressed bei diesem Namen. Wallace, Balfe, auch Benedict ließen es vielleicht im Kopf klingeln (zumal da das Wexfords Festival kürzlich Seh-/Hörhilfe geleistet hat), aber Edmund Loder? Nun also gibt es Abhilfe. Die rüstige englische Retrospect Opera hat sich der englischen Oper verschriebe und unter der Leitung von Richard Bonynge (dem großen Champion für viktorianische Opern) Loders Grand Opera in Three Acts, Raymond and Agnes von 1855 eingespielt und nun herausgebracht.

Auf bemerkenswert hohem Niveau singen Mark Milhofer, Majella Cullagh, Andrew Greenan, Carolyn Dobbin, Quentin Hayes, Alessandro Fisher, Alexander Robin Baker sowie Timothy Langston; dazu hört man das Royal Ballet Sinfonia und den Restrospect Opera Chorus – dies alles, wie gesagt, unter der liebevollen Hand von Richard Bonynge. Valerie Langfield überwachte die Aufnahme, die mit fabelhaften Sponsoren- und Loder-Friends-Geldern ermöglicht wurde. Als Kontinentaleuropäer ist man immer wieder davon begeistert, wie stark im anglo-amerikanischen Bereich Sponsoren zu aktivieren sind.

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Zu Edward Loder sollte man auch das Buch von Nicholas Temperley bei Boydell Press lesen: Musicians of Bath and Beyond Edward Loder (1809-1865) and his Family (Music in Britain, 1600-2000)

Loders Oper von 1855 (Manchester)  ist die Frucht einer reichen Opernbewegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts im viktorianischen Empire. Die romantische Oper, mit Dialogen wie die meisten Opern von Balfe und anderen (The Bohemian Girl et al,)  bedienten ein breites Publikum auf der Insel und in den Überseezentren wie USA und Australien. Loder, der sich einen „deutschen Studenten“ nannte und einige Zeit auf dem Kontinent verbracht hatte, sah Carl Maria von Weber als sein Vorbild. Und sein Chef-d´ouevre, Raymond and Agnes, ist denn auch eine „gothic love story“  mit Schauplatz in einem vergangenen Deutschland voller Schlösser und geheimnisvoller Wälder, dem Mönch von Lewis oder dem Castle of Otranto Walpoles nicht unähnlich. In England lobte man seine kongeniale Umsetzung von Edward Fitzballs turbulentem Libretto in die Nähe Verdis (was vielleicht für heutige Ohren sehr hoch gegriffen ist). Seine Nähe zu Weber, Auber, Meyerbeer und in der Tat Verdi erstaunt. Der Bariton der Uraufführung, Henry Drayton, ist als Conte di Luna im Trovatore in Covent Garden 1865 sogar bildlich festgehalten. Diese Titel liefen parallel.

Edward Loder wurde 1788 in Bath in einer musikalische Familie geboren (seine Brüder hatten ebenfalls eine erfolgreiche Karriere im Musikbetrieb), wurde zum professionellen Geiger ausgebildet und war Leiter des Theatre Royal in Bath. Loders Familie schickte Edward nach Frankfurt/M. zu Ferdinand Riess, bei dem er sein Handwerk als Dirigent und Komponist lernte. 1851 übernahm er das Theatre Royal in Manchester, wo seine ersten Opern auf die Bühne kamen: Nourjahad gelangte 1834 zur Aufführung, es folgten Raymond und Agnes 1855 (mehrfach an anderen Theatern aufgeführt). Seine erfolgreichste Oper war The Willis or The Nightdancers von 1846, 1859 im St. James Theatre und in Covent Garden nochmals 1860 vorgestellt. Richard Bonynge hat daraus die Ouvertüre neben denen anderer viktorianischer Komponisten bei Somm eingespielt.

Edmund Loders Oper „Raymond and Agnes“/ zeitgenössische Illustration/ Restrospect Opera

Raymond and Agnes sind in jüngerer Vergangenheit wieder aufgetaucht. 1966 gab die Universität von Cambridge im Arts Theatre unter David Grant in der Edition von Nicholas Temperley einen Eindruck des Werkes, in den 1970er Jahren dirigierte James Lockhart die Oper bei der BBC (Justin Lavender und Judith Howard in den Hauptrollen). Nun also erstmals eine kommerzielle Studioeinspielung der schwungvollen, romantischen Oper bei Retrospect Opera, die sich bereits durch manche hervorragende Aufnahmen vergessener Werke der Epoche ausgezeichnet hat. So haben wir über The Boatswain´s Mate von Ethel Smythe berichtet. Eine andere CD hält Musik von Charles Didbin fest. Von Charles Barnand und Solomon gibt es Pickwick, eine dramatische Kantate. Und schließlich ist von Didbin eine Aufnahme von dessen Datchet Mead geplant, wie David Chandler schreibt.

Im Folgenden gibt es einen Artikel von einem der eminenten Kenner der Oper des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, David Chandler, der uns bereits einige seiner kenntnisreichen Artikel zur Verfügung gestellt hat (vergl. seine Artikel zu Catalani, Montemezzi oder Smyth); in diesem Fall haben wir den Artikel dem Booklet zur neuen CD-Einspielung von Retrospect Opera (mit Libretto) entnommen und danken David Chandler und Valerie Langfield. Details zum Erwerb der Oper (2 CD RO005) gibt es hier. G. H.

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Nun also der Artikel von David Chandler: Beyond Gilbert and Sullivan –  Edward Loder’s Raymond and Agnes  and the Apotheosis of English Romantic Opera. Mention ‘nineteenth-century English opera’ to most people, and they will immediately think ‘Gilbert and Sullivan’. If they really know their Gilbert and Sullivan, they’ll probably remember that Sullivan always wanted to compose more serious operas, but that Gilbert resisted this, believing they should ‘stick to their last’: light, comic, tuneful satire.

Edmund Loders Oper „Raymond and Agfnes“ bei Retrospect Opera

It thus comes as a surprise to many opera lovers to learn that, before Gilbert and Sullivan teamed up in 1871, Britain had its own distinctive school of serious opera. This is conventionally referred to as English Romantic opera: it made its first appearance in 1834, continued to be produced into the 1860s, and the best-known examples were performed well into the twentieth century. It was strongly influenced by both German (especially Weber) and Italian (mainly Rossini, Bellini and Donizetti) models, but it also had distinctively British elements. The most important of these was the ballads, generally not too difficult to sing, which were designed to become hit songs outside the opera house – British composers were much more dependent on the sale of sheet music than their Continental rivals.

English Romantic opera had been almost completely forgotten when Richard Bonynge made a landmark recording of Michael William Balfe’s The Bohemian Girl in 1991. This was the obvious place to start a revival, for The Bohemian Girl was the most successful of all these operas. Inspired by Bonynge’s example, other operas from this period have since been revived and recorded. Bonynge himself has recorded William Vincent Wallace’s Lurline and Balfe’s Satanella. There have also been recordings of Balfe’s The Maid of Artois, Wallace’s Maritana, and – a favourite of this writer – George Alexander Macfarren’s Robin Hood. Alongside these have appeared George Biddlecombe’s standard study, English Opera from 1834 to 1864 (1994), and books on Balfe, Wallace, and Edward Loder. All this would have been quite unthinkable before 1990.

Edmund Loders Oper „Raymond and Agnes“/ zeitgenössische Illustration/ Restrospect Opera

Most of these recordings have been met with surprise and delight by critics astonished at the fact that such impressive operas from the pre-Gilbert and Sullivan era even existed. Yet until now it has been impossible to listen to the work that critics have increasingly highlighted as the finest of all the English Romantic operas: Edward Loder’s Raymond and Agnes of 1855. Biddlecombe wrote of this as having ‘a quality of invention and dramatic power that raises it to an unusual position in English nineteenth-century opera’. Nigel Burton, in The Grove Dictionary of Opera, goes even further, emphasising the ‘surprising emotional intensity’, ‘the sense of drama and depth of musical characterization … close to Verdi’, which makes Loder ‘the foremost composer of serious British opera in the early Victorian period’.

In 1855, Raymond and Agnes was premiered at the Theatre Royal, Manchester, where Loder had been musical director since 1851. It enjoyed considerable success there, but when a London production was organised four years later, it was something of a disaster, thanks to the very poor quality of the performance. Loder (1809–65) was by that time suffering from the mental illness which painfully afflicted his final years, and was unable to promote his own work adequately. Thus this extraordinary opera disappeared from sight and was more or less unheard of for a century.

Then in 1963, Nicholas Temperley discovered a vocal score and immediately recognised Raymond and Agnes as a lost masterpiece. He organised a staged performance at Cambridge in 1966, and as word got out about just how good the opera was, critics travelled from all over the country to see it. They were all impressed. Charles Osborne wrote that he ‘was bowled over by Raymond and Agnes. Its intensity, and Loder’s gift for melody and musical characterization, were indeed Verdian and marvellously exciting.’ Andrew Porter called Loder a genius, John Warrack dubbed the Act 2 quintet ‘magnificent’ and Stanley Sadie thought it ‘would not disgrace middle‑period Verdi’.

Loders „Raymond & Agnes“ with Richard Bonynge, Majella Cullagh, Mark Milhofer, A Greenan @RetrospectOpera

After all the excitement in 1966, one might suppose that Raymond and Agnes could not be forgotten again. Yet it was. The problem was that in the 1960s, no libretto was thought to survive, and Temperley’s production was a speculative recreation of the opera based on the sung music. Although the BBC did broadcast a radio version in 1967, there was too much uncertainty about the opera for recording companies, or professional opera companies, to show interest. And so, once more, the dust gradually settled.

Finally, though, in the last decade there has been a steady movement toward reviving Raymond and Agnes in the form of a professional recording. A copy of the libretto, as used in London in 1859, has been located, and musicologist Valerie Langfield has spent years creating a definitive performance edition. When Retrospect Opera, the British charity, was founded in 2014, their first goal was to record Raymond and Agnes. It has been a crowdfunded project, with over 200 donations coming in from all over the world. Richard Bonynge was the obvious conductor to turn to, and a studio recording under his baton was made in October 2017. It is being released this summer complete with a sumptuous booklet containing the full libretto and three authoritative essays.

It must be confessed that the title, Raymond and Agnes, does not raise the same degree of interest as The Bohemian Girl or Robin Hood. It can sound prudishly ‘Victorian’. But this is very misleading. The title was in existence long before the opera, having been given to various works derived from Matthew ‘Monk’ Lewis’s classic Gothic novel, The Monk (1796), which had much the same impact in the 1790s as Alfred Hitchcock’s Psycho had in the 1960s, fascinating, horrifying and appalling people. The Monk contains several intertwined stories – that of the lovers Raymond and Agnes is just one of them, and when that part of the story began to be treated as an independent work, it was called, unimaginatively, Raymond and Agnes. Loder’s librettist, Edward Fitzball, adapted this time-tested story, enlarging and complicating it with elements drawn from Lewis’s play, The Castle Spectre (1797), and Weber’s Der Freischütz.

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Zu Edward Loder: aus seiner Oper „The Night Dancers“ gab es die berühmten Quadrillen für Klavier/ Frontespiece/ The Richard Bonynge Archive Switzerland in  der Picture Gallery, Holburne Museum, Bathwick, Bath/ Illustration zum Beitrag von Raymond Walker über die „Musical Loders of Bath“ (auf Seen and heard International)

The plot is very intricate, no doubt; the listener needs to make some effort to understand what is happening. It is also improbable in the extreme. But it is full of intensely dramatic situations and inspired Loder’s greatest music. Although Raymond and Agnes does contain some of the ballads that the Victorians demanded, it is in no sense a ‘ballad opera’. Its musical core is found in the duets and ensembles, composed with a Verdian level of force and conviction. The three central characters, Raymond (tenor), Agnes (soprano) and their sinister nemesis, the Baron of Lindenberg (bass-baritone), are brought together in various combinations and with every variety of emotion, from the most passionate youthful love to the profoundest hate, from tender gratitude to remorseless revenge. These scenes are orchestrated with a mastery unprecedented in nineteenth-century English opera, and make the strongest possible case for taking pre-Gilbert and Sullivan works seriously.

In Loder’s youth, Weber was making his huge impact on English opera, first with the sensationally successful adaptations of Der Freischütz (one of them made by Fitzball) in 1824, then with Oberon two years later. Weber seems to have been, enduringly, Loder’s greatest inspiration, and it is certainly not fanciful to imagine these German Romantic operas giving him his sense of vocation. By 1827, young Loder was studying music in Germany with Ferdinand Ries, and in 1834, when his own operatic career commenced, he introduced himself to the British public as ‘a German Student in music’. Unlike Balfe, with his mainly Italian influences, Loder wanted to create an English Romantic opera that could stand beside and claim kinship with the works of Weber and his German followers. Raymond and Agnes, with a story appropriately set long ago in a Romantic Germany of forest and castle, represents a most satisfying fulfilment of this goal.

Retrospect Opera’s recording of Raymond and Agnes can be ordered directly through their website (www.retrospectopera.org.uk), as well as through standard music retailers.  David Chandler © 2018 David Chandler

 

Zu Loders Oper „Raymond and Agnes“: Der Tenor der Uraufführung George Perren/ OBA

Synopsis: Long ago, a Baron of Lindenberg, in Germany, fell in love with a Prioress named Agnes. She resisted his advances, and he attempted to rape her; desperate, she grabbed his dagger and killed herself. Since then, her ghost is said to haunt the Castle of Lindenberg, still holding the uplifted dagger. The Baron’s family believes itself cursed, and that the curse will only be defeated when the last of the Lindenberg line marries the last of the Prioress’s line. The present Baron of Lindenberg, considering himself the last of his family, has identified another Agnes, an Andalusian girl, as the last descendent of the Prioress’s family. She is much younger than him, so he first made her his ward, along with her foster-sister, Madelina, choosing to live in Spain to watch over her education. But now he has placed Agnes temporarily in the Convent of St. Agnes, Germany – founded in honour of the long-dead Prioress – as a prelude to marrying her. She knows nothing of his matrimonial intentions.

During his years in Andalusia, the Baron lived a double life: both kindly guardian to Agnes and fierce leader of a gang of brigands, calling himself ‘Inigo’. One of his comrades was an Italian named Antoni. As Inigo, the Baron murdered Don Fernando, a Spanish gentleman, and carried off his wife, Ravella. Fernando’s little boy Raymond thus grew up parentless, sworn to avenge his father’s death. As an adult, Raymond meets Agnes at the Carnival in Madrid; they fall deeply, though secretly, in love. Soon afterwards, the Baron places Agnes in the convent. Undeterred, Raymond follows her to Germany, wholly ignorant of her connection with ‘Inigo’.

Some time after the killing of Raymond’s father, Antoni quarrelled with the Baron (Inigo), and was ordered to leave the gang. Appalled by the latter’s treatment of Ravella, and determined to take revenge, Antoni took her with him. Ravella lives with Antoni and, after all her sufferings, has lost the power of speech.

 Act 1: Having arrived in Germany with his valet, Theodore, Raymond stops at the Golden Wolf hostelry in the forest near the Convent of St. Agnes. The ‘fête of the wolf’ is being celebrated with a shooting competition, which he wins. As the celebrations continue, Theodore recognises an old friend, Francesco, who happens to be the Baron’s valet. As they exchange news, they realise Raymond is in love with the girl the Baron intends to marry. Theodore laughs at the suggestion that the Baron’s castle is haunted, but Madelina, entering opportunely, is persuaded to tell the ancient story of the attempted rape of the Prioress and its consequences in the form of a ‘Legendary Ballad’. Theodore tells Raymond what he has learned of the Baron’s plan to marry Agnes, and Raymond, who has already arranged secret access to the convent, decides he and Agnes must elope as soon as possible. He hopes Agnes will ‘admit one sigh of love’ on this balmy night.

Zu Loders Oper „Raymond and Agnes“: der Bariton der Uraufführung, Henri Drayton, hier als Conte di Luna (Mitte) neben Lucy Escott/ Leonora und Augustus Braham/ Manrico in Covent Garden 1865 in einer zeitgenössischen Illustration/ OBA. Augustus Braham sang ebenfalls den Raymond in weiteren Aufführungen.

Agnes decorates the shrine devoted to her namesake in a chapel in the convent, and prays. Madelina enters to reveal the Baron’s marriage plans; Agnes is horrified, and asks if Madelina still loves her. Madelina assures Agnes of her undying love, recalling their happy childhood years in Andalusia. Raymond himself appears, disguised as the verger, and makes his own claim on Agnes: in a passionate duet, he says he will follow her to the ends of the earth, while she declares their love hopeless, even though she will always think of him. The real verger hurriedly pulls Raymond into the shadows as the Baron enters. The Baron, thinking himself alone, sings of his guilt and suffering; noticing Agnes, he is struck by her beauty. Raymond and Agnes look forward to their next meeting as the Baron recognises that but for his historic ‘crime’ he could feel genuine love for his ward. The Baron orders an immediate departure for the castle; the doors open to reveal a carriage, to which he leads Agnes. Antoni and his men plan to attack the carriage ‘where the woods are darkest’.

Act 2: Having rescued the Baron and Agnes from Antoni and his gang, Raymond is visiting the Castle of Lindenberg, and being shown around by Agnes. Again, they sing of their love. Theodore brings news that the Baron wants to see Raymond, and the latter departs. Theodore, Francesco, Madelina, and the castle servants are all nervous and excited because it is All Hallows’ eve; on this night the ghost is said to walk. Madelina faints and Theodore kisses her; she pretends to be offended, but their mutual attraction is established. The servants all hurry away when the Baron appears. Seeing the portrait of the Prioress Agnes, which the servants have revealed, the Baron is prompted to sing again of his guilt, this time touching explicitly on the murder of Raymond’s father. Raymond enters; the Baron asks him to name his reward for the rescue from the robbers, and Raymond boldly requests Agnes’s hand. The Baron says this is quite impossible, explaining the tradition of the curse and his conviction that only he can marry Agnes. Raymond rejects this, and the Baron angrily demands to know who Raymond is. Raymond sings a ‘Romance’ detailing his own life story; horrified, the Baron realises he is talking to Don Fernando’s son. Raymond says he has sworn vengeance on ‘Inigo’, the alleged name of the man who destroyed his family. The two men quarrel as the Baron commands Raymond to leave at once; finally, the Baron pulls out his dagger and attempts to stab Raymond. Raymond wrestles the dagger away and sees the name ‘Inigo’ on it: he immediately realises he has found his father’s murderer. The Baron summons his servants and has Raymond carried to the dungeon.

That night, amid general fear of the ‘Spectre-Nun’ in the castle, Madelina causes consternation when she says the ghost is approaching. In fact, the ‘ghost’ is Agnes in disguise, who with the assistance of Madelina and Theodore has adopted this ruse to first frighten the servants away before praying at the shrine of her ancestor and attempting to rescue Raymond. The Baron appears, and the plotters think their plan has been frustrated – then realise with astonishment that the Baron is sleepwalking, haunted by guilt. The Baron prays to the portrait of the Prioress Agnes, but the portrait fades away, and the Prioress, seeking to aid the lovers, then appears in the background, pointing to a door. The Baron orders the castle door to be unlocked, and in his confusion hands the key to Raymond. Raymond, Agnes and Theodore flee over the drawbridge. Suddenly coming to his senses, the Baron orders a pursuit.

Zu Loders Oper „Raymond and Agnes“: der Autor David Chandler des Artikels. David Chandler is a professor of English at Doshisha University in Kyoto. His background is in English Romanticism (M. Phil and D. Phil, Oxon), but he has wide-ranging research interests in English and Italian opera. He has edited books on the Italian composers Alfredo Catalani and Italo Montemezzi and published many articles and reviews on British musical theatre, including pioneering accounts of Edward Cympson (1838-1905), Alan Doggett (1936-78) and nineteenth-century musical adaptations of Charles Dickens’s novels. David has recently written a series of commissioned essays, including one on Romantic opera for a book titled Into the Eurozone, and another about Andrew Lloyd Webber for The Oxford Handbook of the British Musical. Quelle Restrospect Opera

Act 3: Antoni’s two sons are playing dice in their cave, watched by other members of the gang; they quarrel. Antoni enters. He reveals that the Baron of Lindenberg they attacked is none other than their old comrade ‘Inigo’. Raymond, Agnes, and Theodore, fleeing the Baron, arrive at the cave; Antoni, quickly disguising himself as a hermit, invites them in. Ravella manages to reveal that they are in danger, and Theodore tears the false beard off Antoni; mutual threats are exchanged. When Antoni blows his whistle, Raymond is quickly overpowered; Agnes appeals to the bandits for mercy. Ravella discovers a miniature portrait Raymond had accidentally dropped in the fight. Recognising her husband, Don Fernando, she screams; she shows the portrait to Antoni, who immediately realises who Raymond is and orders his release. At this moment, the Baron and his soldiers arrive. Antoni and his men escape, but Raymond and Agnes are captured and ordered back to the castle.

Antoni arrives at the castle, disguised as a monk, to see the Baron. Raymond is brought in by guards and sings of his despair before being led off. The gloating Baron encounters Antoni; the latter reveals himself and informs the Baron of how he abducted Ravella, and how she has lost the power of speech. Willing to be reconciled, and knowing Antoni is an expert marksman, the Baron offers him a thousand ducats if he will undertake to shoot the man who emerges from the castle with ‘a female on his arm’. Antoni agrees and gets into position.

In the castle, Agnes sings of her hopeless love for Raymond. She feels faint and sinks on a couch. The ghost of the Prioress bends over and blesses her, then a dream tableau is revealed of Raymond and Agnes being married at an altar, surrounded by ghostly nuns. As Agnes wakens from her ‘happy dream’, Madelina brings news that the Baron has relented, and is letting Raymond and Agnes leave the castle. They, along with Madelina and Theodore, themselves now lovers, prepare to start for Madrid. They anticipate a happy future devoted to ‘mirth and love’.

The Baron steps outside to check that Antoni is ready to shoot. Ravella, who has been waiting nearby, glides up to him. Seizing her arm, he holds up his lamp to identify her. Antoni, seeing a man and woman revealed together, shoots the Baron. Raymond and Agnes emerge to find the Baron dying, and asking forgiveness; Ravella, speaking for the first time in years, reveals she is Raymond’s mother. The lovers look forward to ‘happiness at last’.  David Chandler © 2018 David Chandler/

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(Dank an David Chandler, der wie stets großzügig uns seinen Text überließ, wir haben ihn ja bereits für Catalani und Montemezzi bemüht; Dank auch an Valerie Langfield!  Abbildung oben: Agnes and Raymond/ zeitgenössische Illustration/ Ausschnitt aus der Cover-Gestaltung der neuen Aufnahme bei Retrospect Opera)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Ein deutscher Belcantist

 

Der Bariton Jörn W. Wilsing (* 25.Oktober 1940  Hamm/Westf. – † 19. September 2010 Stuttgart) gehört für mich zu den schönsten, timbrereichsten deutschen Baritonen meines Opern-Lebens. Neben dem lyrischeren Barry MacDaniel (Amerikaner, gewiss, aber mit einen lange und zum Schluss exklusiv deutschen/Berliner Karriere) war Wilsing für mich der vollkommene Bariton von Belcanto-Prägung, stets in seiner Rolle, stets neben viel Humor auch eben kantiger, die vielen Facetten seiner Figuren herausbringend. Er kam oft nach Berlin auf Einladung Einhard Luthers zu dessen vielbeachteten Rundfunkkonzerten des damaligen SFB, sang Lortzings Sachs oder Moniuszkos Jacek (Halka) gleichermaßen charaktervoll, unverwechselbar, ebenso sattstimmig wie hochpersönlich. Er hat zu wenige offizielle Dokumente hinterlassen, aber Gottseidank hat die rührige HafG nun in vier Boxen manches  an Rundfunkaufnahmen versammelt, von denen es zum Glück doch reichlich gibt. Wilsing-Fans wie ich haben ein Fest. Und der bedeutende deutsche Bariton wird auf diese Weise verdientermaßen geehrt. Das ist schön. Und mit Dank bringen wir anschließend – mit einigen Kürzungen – den Text des renommierten Musikjournalisten Karl Ulrich Spiegel (ohne die Fußnoten) aus dem Booklet der ersten Box beim Hamburger Archiv für Gesangskunst. G. H.

 

Jörn W. Wilsing/ Foto privat

Ein letzter Kavalierbariton? Künstlerkarrieren im darstellenden Metier stehen in Zeiten globaler Medienmacht vielfach unter irrationalen und darum ungerechten Einwirkungen. Die dokumentierte Gesangshistorie bietet Beweise dafür: Kamen noch in der frühen Ära der akustischen Tonaufzeichnung nahezu alle, selbst nur regional bedeutsame Vokalisten auf die Tonträger, so reduzierte sich deren Präsenz mit der elektrischen Aufnahmetechnik und erst recht im Digital-Zeitalter stetig zugunsten internationaler bis weltweiter Prominenz. (…) Das Hamburger Archiv hat deren einige aus den Archiven geholt und in Editionen für die Gesangsgeschichte gesichert. In dieses Projekt fügt sich die vorliegende Präsentation des hochrangigen, entdeckungswürdigen Bühnensängers Jörn W. Wilsing.

Schon der Ansatz weist auf ein sanguinisches, lebenszugewandtes, selbstironisches  Naturell. Zeitzeugen berichten von einer humorvollen, integrativen, positiven Persönlichkeit. Das drückte sich akustisch in seinen Interpretationen aus – als „Face-in-the-voice“ und in lustvollen Attitüden. Das „W.“ im Namen ist eine Reverenz an seinen Vater Wilhelm. (…) Wilsing entdeckte noch vor dem Stimmwechsel seine Leidenschaft fürs Singen, trat als Gymnasiast bereits in Schulkonzerten auf, war schon da entschlossen, professioneller Sänger zu werden. Getreu der Familientradition stellten sich die Eltern nicht dagegen, nötigten ihn aber, „erstmal einen Brotberuf zu erlernen“. Nach zwei Praxisjahren strebte der fertige Industriekaufmann in seinen Wunschberuf. Er erreichte ein Vorsingen an der Kölner Hochschule.

Stimmbildung – Partienstudium – Bühnenpraxis: Naturbegabung, Konzentration und Meisterpädagogik machten in weniger als zwei Jahren aus dem stimmbegabten Laien einen komplett stimmgebildeten Sänger, dem allerdings die Voraussetzungen für eine Bühnenlaufbahn noch fehlten. Die Semester 1962-64 wurden für ihn entscheidend: Ein Glettenberg-Schüler fand in der Szene offene Türen. Wilsing erlangte einen Platz in Glettenbergs Sommerakademie am Mozarteum in Salzburg, war dort primär auf die Erlernung von Partien aus vielfältigen Opernrepertoires konzentriert. Etwa gleichzeitig wurde ihm von der Landeshauptstad München ein Stipendium, ergänzt um einen Zuschuss vom Bayerischen Rundfunk, zu einem Vollzeitstudium am Münchner Richard-Strauss-Konservatorium in München zuerkannt. Es ermöglichte eine Wohnadresse in der bayerischen Landeshauptstadt, die ihm nach eigener Schilderung als Kultur- und Kommunikationsplatz zur Heimat wurde. Unter dem Supervising der Schauspiellehrerin Christa Gernot-Heindl erlernte er das Bühnenhandwerk: Darstellung, Artikulation, Sprachen, Bewegungslehre, Tanz & Pantomime … 1964 wurde ihm das Abschlussdiplom der Bühnenreife ausgestellt.

Damit war der Sänger Jörn W. Wilsing Kandidat für die Kader maßgeblicher Agenten. Vor Beginn der Opernspielzeit 1964/65 erhielt er ein Angebot zum Voll-Engagement am Landestheater Coburg – einem mittelgroßen Dreispartenhaus mit 550 Zuschauerplätzen am Schlossplatz des zauberhaften Städtchens, mit ca. 40.000 Einwohnern damals nicht größer als Goslar, Singen, Freising, Wetzlar, doch mit einem auf weite Einzugsgebiete abgestimmten Hochleistungs-Spielplan. Kaum vorstellbar: Es eröffnete die Spielzeit mit Wagners Lohengrin; und der Bühnendebütant Wilsing hatte seinen ersten Auftritt als Heerrufer – einer fast obligatorischen Bariton-Debütpartie (von Titta Ruffo 1888 bis Gerd Nienstedt 1954). Er war noch gar nicht motiviert für existenzielle Berufsausübung, hätte gern lange weiterstudiert. Man musste ihn förmlich zum Schritt ins Sängerleben nötigen.

Der Starterfolg bestätigte den Einstieg. Schlag auf Schlag folgten Erstfach-Partien. Er wechselte nach Giessen, dann nach Karlsruhe, wo er bis 1969 zum Ensemble gehörte. Zeitgleich begann seine Verbindung zum Sommerfestival Eutin. Schließlich holte ihn Intendant Kurt Pscherer fest ans Münchner Gärtnerplatztheater, als ersten Lyrischen Bariton neben dem hier etablierten Heinz Friedrich. Bis zum Beginn der 1970er hatte er sich als neue Größe im deutschen Opernbetrieb verankert, beherrschte schon zwei Dutzend Bühnenrollen: Mozarts Figaro-Graf,  Jeletzky in Tschaikowskys Pique Dame, Rossinis Barbier, Giorgio Germont in Verdis Traviata, Liebenau in Lortzings Waffenschmied, Fluth in Nicolais Lustigen Weibern, Marcel in Puccinis Bohème.

Zwischen Provinz & Professionalität: Im Münchner Engagement avancierte Wilsing rasch zum unverzichtbaren Universalisten, vom Publikum geliebt, von der Dramaturgie in praktisch allen Rollenfächern eingesetzt – von Mozart über Romantik und Spieloper, im italienischen, französischen, slawischen Repertoire, bis zur am Haus dominanten klassischen Operette. Das ging so fünf Jahre lang; dann wurden dem immer noch jungen Sänger Momente der Überforderung, der Verheizung in pausenlosen Einsätzen bewusst. Er spürte die Notwendigkeit eines Wechsels, ja Neubeginns. Er sondierte, erhielt ein Agenten-Angebot an die Dortmunder Bühnen – seit 1965 im modernen großen Haus unter der Generaldirektion des bedeutenden Operndirigenten Wilhelm Schüchter am Beginn einer Ära. Wilsing wechselte 1974 in die seiner Heimat so nahe Industriestadt, gewann dort zunächst mehr Freiräume, ruhigeres Studieren, Proben, Auftreten, dazu neue Partien von Donizetti bis Richard Strauss. Nur eine ‚Spielzeit, dann ereilte Schüchter unerwartet früh der Tod. Der inzwischen zu erheblichem Format gewachsene Sänger verabschiedete sich und ging – nunmehr im Status eines ersten Fachvertreters – erneut ans Staatstheater Karlsruhe, wo seinem Repertoire wieder neue, diesmal ins dramatische Fach ausgreifende Partien zufielen.

Jörn W. Wilsing in „Zar und Zimmermann“ an der Hamburgischen Staatsoper/ Foto HafG

Die Kontinuität seines Aufstiegs schien gesichert, denn nun öffneten sich Opernhäuser der ersten Reihe für Gastauftritte mit Medienresonanz: die Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg, die Hamburgische Staatsoper, die drei Berliner Opernhäuser Staatsoper, Deutsche Oper & Komische Oper, dazu Staatstheater deutscher Bundesländer. Dann ereignete sich eine so unerwartete wie absurd erscheinende Zäsur: Am Karlsruher Staatstheater wechselte 1976/77 die Intendanz. Der bisherige Regisseur Günter Könemann avisierte eine „Verjüngung des Ensembles“, brachte neue Solisten mit, reduzierte das Stammensemble. Das traf auch den bereits angesehenen Jörn W. Wilsing.

Doch dieser war längst kein Lückenfüller mehr. Er hätte mit Gastspielverträgen und Rundfunkarbeit eine Laufbahn weiterführen können, die Mann und Familie solide gesichert hätte. Doch dem Niederschlag folgte gleich der Auftrieb: Die Württembergische Staatsoper Stuttgart, eines der großen deutschsprachigen Häuser von europäischem Rang, legendär seit der Nachkriegsära Schäfer & Leitner, als Winter-Bayreuth von Wieland Wagner, medienberühmt mit einem Ensemble der Stars, offerierte ihm ein festes Engagement. Er nahm an – und hatte ein Haus- und zugleich Rollen-Debüt als Phoenix in Händels Deidamia.

Er füllte eine Vakanz: Das durch Sänger wie Mödl, Eipperle, Borkh, Wissmann, Pütz, Hoffman, Plümacher, Windgassen, Traxel, Tobin, Welitsch, von Rohr, Neidlinger uvm. repräsentierte Ensemble hatte – nach fast 40 Jahren mit Engelbert Czubok als Platzhirsch – dringend Bedarf an Nachfolgerbaritonen fürs Lirico- und Spinto-Fach. Dessen Serioso-Segment war erfolgreich mit Raymond Wolansky besetzt worden. Für die lyrischeren, breiter sortierten, komödiantischen und belcanto-nahen Aufgaben stand mit Wilsing nun eine, wie sich beweisen sollte, ideale „Kombi“-Lösung ins Haus.

Resonanz ohne Medienbasis: Stuttgart wurde zum Ziel und Gipfel der Sängerlaufbahn des Jörn W. Wilsing. Hier fand er optimale Arbeitsbedingungen, vielfältige neue Gestalten in einem Breitspektrum von Werken – darunter adäquate Spielräume für sein Komödiantentalent in Spieloper und Buffa, für Charakterisierung, Vitalisierung, Suggestion. Dazu ein sachverständiges, begeistertes, treues Publikum. Sein Rollenrepertoire wuchs weiter. Es umfasste nun sämtliche Epochen, Kulturen und Sparten der Opernspielpläne. Diese erweiterten sich noch in externen Konzertauftritten, Funkproduktionen, TV-Shows.

In durchaus reduzierter Auswahl seien genannt: Mozarts Don Giovanni, Masetto, Guglielmo Sprecher, Papageno. Webers Graf Ottokar. Kreutzers Jägersmann. Rossinis Figaro, Dandini, Haly, Rudolphe. Donizettis Enrico, Belcore, Impresario, Malatesta. Lortzings Zar Peter, Konrad, Graf Eberbach. Wagners Wolfram, Melot, Beckmesser, Kothner, Donner, Gralsritter. Verdis Conte di Luna, Marquis Posa, Ford. Gounods Valentin. Bizets Escamillo. Aubers Lord Kookborne. Offenbachs Orpheus, Roi Carotte, Bobèche, Bobinet, Choufleury. Jh.Strauß‘ Dr. Falke, Frank & Homonay. Tschaikowskys Onegin & Tomsky. Smetanas Thomas, Krushina, Micha. Dvoráks Jäger. Leoncavallos Silvio. Puccinis Marcello, Sharpless, Ping. Giordanos Roucher. Humperdincks Peter. R. Strauss‘ Faninal, Musiklehrer, Harlekin, Justizrat. d’Alberts Morruccio. Prokofievs Don Ferdinand. Orffs Petrus. Suppés Boccaccio. Millöckers Erminio. Lehárs Danilo.

Auch die überregionalen Auftritte setzten sich fort. Schon 1973 war Wilsing bei den Salzburger Festspielen als Arbace in Mozarts Idomeneo herausgestellt worden. 1988 präsentierte die Stuttgarter Oper bei den Schwetzinger Festspielen Rossinis La Cenerentola unter Gabriele Ferro mit Rockwell Blake, Doris Soffel, Wolansky, Berger-Tuna und Jörn Wilsing als Dandini – einer Partie, die zu seiner gefeierten Glanzrolle werden sollte. In Wiederbelebungen aus dem vorklassischen Metier glänzte er mit Singprüfsteinen wie Kitheron in Rameaus Platäa oder Conte Perucchetto in Haydns La fedeltà premiata. Im zeitgenössischen Repertoire brillierte er auch als Sängerdarsteller: Lehrer in Jasager/Neinsager und Dreieinigkeitsmoses in Mahagonny von Kurt Weill. Narr in Kreneks Das geheime Königreich. Doktor in Die Nase von Schostakovich. Escalus in Romeo und Julia von Sutermeister. Mammon in Das verlorene Paradies von Penderecki. 1994 wurde er vom Württembergischen Kultusministerium zum Kammersänger ernannt.

Jörn W. Wilsing als Belcore in „L´Elisir d´amore“/ in Karlsruhe/ Foto HafG

Herausragende, bleibend wichtige Auftritte hatte der Sänger bei Rundfunkanstalten – beim SWR und SFB, Studio + Live. In Berlin gab es zwischen 1978 und 1992 in einer Produktionspartnerschaft des Berliner Opernhistorikers, Archivars und Dokumentaristen Einhard Luther mit dem Sender Freies Berlin und dem Berliner Konzertchor des Dirigenten Fritz Weisse eine mehrjährige Aufführungs- und Sendefolge wenig bekannter Opernwerke konzertant in der Berliner Philharmonie. Zur Aufführung kamen Werke von Lortzing, Marschner, Moniuszko, Dvoràk und als eine Art Krönung Ruggiero Leoncavallos für Kaiser Wilhelm komponierte Brandenburg-Oper Der Roland von Berlin von 1904. In den zentralen Bariton-Partien war stets Jörn Wilsing besetzt.

Einhard Luther war ein erklärter Wilsing-Fan und überzeugt davon, dass dessen Bühnenrepertoire ungeachtet seiner Breite und Fülle noch lange nicht die stimmlichen & sängerischen Ressourcen des Baritons erfasse. Er arrangierte deshalb im SFB auch Aufnahmesitzungen mit Arien-Recitals aus Charakter- und Drammatico-Partien. Sie gelangen mit dieser CD-Edition erstmals auf Tonträger und in die dokumentierte Gesangsgeschichte. Die Ergebnisse sind – wie zu hören – von umwerfender Attraktivität. Sie helfen, heute eine Präsenzlücke zu füllen, die dem erstklassigen, in vielem maßstäblichen Vokalisten und Bühnensänger von einer maßstabfernen Tonträger-Industrie zugemutet wurde.

Ein deutscher Belcantist: Wer den Namen Wilsing kannte und – der Medienrealität folgend – für einen guten Bariton der zweiten Reihe mit Schwerpunkt im leichten und Unterhaltungsgenre hielt, kann beim Anhören der hier versammelten Tondokumente von einer Überraschung in die nächste, schließlich in Begeisterung bis zur Fanship fallen. Wir hören, repertoire-übergreifend, eine perfekt geschulte, an Eignungsvielfalt kaum überbietbare, wohlklingende Baritonstimme der tradierten Kategorie Kavalierbariton. Allein die äußeren Merkmale Timbre, Faktur, Volumen, Umfang stellen sie neben weit bekanntere, Fachkollegen und an die Seite anerkannter deutscher First-rate-Baritone der Epoche, etwa Poell, Braun, Kunz, Oeggl, Günter, Blasius, Gester, Peters, Grumbach, McDaniel, Wolfrum, Tichy – dann Gutstein, Waechter, Brendel und nicht zuletzt Prey, der in teils identischen Partien, dazu Lied- und Song-Beständen grenzenlose, nahezu provokant extreme Vermarktung erfuhr.

Provokant mag deshalb die Feststellung wirken: Wilsing ist all denen und auch ihm in nahezu allen Kriterien ebenbürtig, in Details sogar überlegen. Das ist beweisbar – unter vokalen, vor allem aber sängerischen Gesichtspunkten. Maßstäbe kommen aus dem Vergleich – für Wilsing mag die Grammatik der klassischen Gesangskunst reichen. Charakteristik und Färbung der Naturstimme sind die eines Baritono lirico mit dramatischen Optionen, (um zu allbekannten Vorbildern zu greifen:) etwa in Nähe zu den Deutschen Schlusnus, Reinmar, Hüsch, den Italienern Campanari oder Tagliabue, den Franzosen Renaud oder Albers. Stimmbildnerisch weist er die für Glettenberg-Schüler typische Manier auf, die ein Perfektions-Indiz ist: Präzise, doch unaufdringliche Intonation, schwingende Legatoführung auf pulsierendem Atem, vor allem bruchfreie Registerverblendung, gekrönt von kaum gedeckter, dafür flammend-strahlender brillanter Höhe über G‘/Gis‘ hinaus. In späteren Wirkungsjahren, wenn sich die Stimme als ein wenig gesetzter, breiter darbietet, tönt auch das tiefere Register um noch einen Hauch gewichtiger = sonorer.

Weil der Sänger über eine nahezu vollkommene Technik gebietet, vermag er variante Klanggestalten zu formen und suggestiv zu vermitteln – vom schlanken Jünglingston zum körperhaft-maskulinen Kerl-Charakter. Anders als  diverse Fachkollegen deutscher Provenienz beherrscht er meisterlichen Canto fiorito, also souveränen Umgang mit Verzierungen, Koloraturen, Figurationen, etwa hörbar in seiner Glanzpartie als Rossinis Dandini. Es versteht sich, dass er – wieder viel natürlicher als der immer etwas sentimentalisch-plüschig klingende Hermann Prey – ein geradezu geborener Bühnenkomiker, Bonvivant, Charmeur in Buffa, Operette, Musical war. Seine sanguinische, grundheitere Persönlichkeit vermittelt sich überdies in den Ausdrucksnuancen seines Singens: Er wusste mit rein musikalischen Mitteln im Gesang zu lächeln, zu bezaubern, zu verführen. Mehr als ein Sänger also: ein singender Mime – und ein Stilist.

Jörn W. Wilsing als Falke in der „Fledermaus“ am Münchener Gärtnerplatztheater/ Foto HafG

Stagione lirica conclusa: Am Ende der 1990er Jahren erkrankte der Sänger schwer. Ein Herzleiden und ein aggressiver Diabetes zwangen ihn zu tiefgreifender Umstellung seiner Lebensweise. Unter starken Medikamenten, die seine Motorik einschränkten, verlor er an Beweglichkeit und Belastbarkeit. Doch er mochte vom geliebten Metier und vom ihn liebenden Publikum nicht lassen. So gab er schrittweise große und fordernde Rollen auf, zog sich auf Episodisten und Comprimarii zurück, die er mit Charakterisierungskunst, Präsenz und Selbstironie erfüllte. Er überstand die Frist bis zur Verrentung diszipliniert, ohne Einbußen an Humor und positiver Weltsicht. Zum sogenannten Lebensabend blieben ihm kaum fünf Jahre, beeinträchtigt von eskalierenden Leiden. Sein Tod verstörte Freunde und Kenner.

Er ist beigesetzt auf dem Stuttgarter Friedhof Heslach. In den Erinnerungen zahlreicher deutscher, vor allem Stuttgarter Opernfreunde hat er einen Ehrenplatz – als Idealbild eines meisterlichen Sängers und als Bühnenphänomen von Graden.

Jörn W. Wilsings tönende Hinterlassenschaft war allzu lange ein ungehobener Schatz in Archiven und Privatsammlungen. Die marktbezogenen handelnde (häufig nicht-handelnde) Tonträgerbranche hat diese Ressource an Stimme, Gesang, Singdarstellung kaum genutzt. Nahezu ein Jahrzehnt nach seinem Hingang ist es hohe Zeit für ein Wilsing-Revival. Es müsste zur Entdeckung werden. Diese Edition soll helfen, sie in Gang zu setzen (Foto oben:Wilsing als Phoenix in Händels „Deidamia“ in Karlsruhe/ Foto Wilsing). Karl Ulrich Spiegel

 

Vol.1: CIMAROSA Il Maestro di Capella/ ROSSINII La Cenerentola – Il Barbiere di Siviglia/ DONIZETTI Anna Bolena – L’Elisir d’amore – Lucia di Lammermoor – La Favorita – Don Pasquale/ VERDI Don Carlo – La Traviata – Falstaff/ PONCHIELLI La Gioconda/ LEONCAVALLO I Pagliacci – Der Roland von Berlin/ GIORDANO Andrea Chénier/ MEYERBEER Ein Feldlager in Schlesien – Dinirah – L’Africaine/ THOMAS Hamlet/ GOUNOD Faust/ BIZET Les Pêcheurs de Perles/ CHABRIER Die Bildungslücke/ MONIUSZKO Halka/ MUSSORGSKY Chowanschtschina/ DVORAK Der Jakobiner – Dimitrij/ TSCHAIKOVSKY Pique Dame

Vol. 2: KREUTZER  Das Nachtlager von Granada/ MARSCHNER Hans Heiling/ LORTZING Zar und Zimmermann – Hans Sachs/ WAGNER Parsifal/ NESSLER Der Trompeter von Säckingen/ D’ALBERT Die toten Augen/ SCHILLINGS Mona Lisa/ S. WAGNER Herzog Wildfang/ WALTERSHAUSEN Oberst Chabert/ KRENEK Das geheime Königreich/ WEILL Der Ja-Sager/ BREDEMEYER Der Nein-Sager/ WALTER Andreas Wolfius/ SUTERMEISTER Romeo und Julia

Vol. 3: Lieder: LOEWE Der Edelfalk – Prinz Eugen/ OFFENBACH Der Winter/ GRIEG Der Jäger/ ZILCHER Hölderlin (Sinfonischer Zyklus für Bariton und Orchester)/ KÜNNEKE Löns-Lieder-Suite/ SALMHOFER Heiteres Herbarium/ Geistliche Werke: BRUCH Achilleus/ SGAMBATI Messa da Requiem

Vol. 4: SUPPÉ Die schöne Galathée – Banditenstreiche – Boccaccio/ STRAUSS Casanova/ MILLÖCKER Gasparone/ ZELLER Der Vogelhändler/ HEUBERGER Der Opernball/ LINCKE Im Reiche des Indra/ LEHÁR Die lustige Witwe – Zigeunerliebe/ KÜNNEKE Robins Ende – Die große Sünderin – Die lockende Flamme/ OFFENBACH Das Mädchen von Elizondo – Salon Pitzelberger – Die elektromagnetische Gesangsstunde/ GROTHE Das Wirtshaus im Spessart/ SCHULZE Schwarzer Peter/ RODGERS Pal Joey – Oklahoma/ BERLIN Anny get your Gun