Zu Beginn des Prologs denkt man noch: “Ach je, schon wieder moderne Kleidung auf trüber Szene“, bereits in dessen Verlauf und ganz und gar bis zum und im Epilog mit eben diesen Personen auf eben dieser Bühne ist man ganz gefangen genommen von der Produktion, die Deborah Warner im Teatro Real von Madrid von Brittens Billy Budd zu verantworten hat. Zwar wirkt es auch hier befremdlich, dass der strahlend Junge ein Bariton und der grübelnd Scheiternde ein Tenor, dem Zwang zur Besetzung mit des Komponisten Lebenspartner geschuldet, ist und das besonders, weil die Stimme von Toby Spence alles andere als bedeutend, seine Optik allzu jugendlich ist. Die Produktion von 2017 wurde inzwischen auch in Rom gezeigt und wird weiter nach London wandern.
Michael Levine verweigert der Bühne jede Seemanns- und Segelschiffsromantik, über den Bühnen- und damit Schiffsboden fließt ein dünnes Rinnsal, Leitern, Seile und Hängematten reichen aus, das trostlose Ambiente zu verdeutlichen. Die Regisseurin zeigt sich gleichermaßen fähig in der Führung der Solisten wie zu eindrucksvollen Massenszenen, so wenn die über die Hinrichtung Billys empörten Matrosen die Kommandobrücke in ein gefährliches Schlingern bringen, der Begeisterung der Schlachtvorbereitung die Enttäuschung über die wegen des Nebels entgangene Prise folgt. Das ist hervorragendes Musiktheater ohne Regiemätzchen.
Unverwechselbar sind die Angehörigen der Besatzung: Sam Furness weiß die Gewissenskonflikte des vom Waffenmeister Claggart erpressten Neulings an Bord berührend zu vermitteln, die beiden Offiziere Tedburn (Thomas Oliemans) und Flint (David Soar) erhalten ein jeweils scharf gezeichnetes Profil. Eine runde Charakterstudie liefert Clive Bayley als alter, dem jungen Billy besonders verbundener Dansker. Brindley Sherratt ist der graumäusige, mit seinen Gelüsten hadernde und sie dem unschuldigen Billy anlastende Claggert, der auch vokal mit ihn charakterisierender Stimme zwar scharf, aber farblos bleibt. Von Toby Spence, der den Kapitän Vere auf allen drei Bühnen singt, war bereits die Rede. In Prolog und Epilog wird er als alter Mann, der schließlich seinen Frieden findet, von einem stumm bleibenden Schauspieler gegeben, während die singende Figur ihre Jugendlichkeit bewahrt hat, zum Schluss die schmucke Kapitänsjacke (Chloe Obolensly) von sich wirft und schließlich ihren Frieden dank des Segens von Billy Budd findet. In Jacques Imbrailo hat die Lichtgestalt einen würdigen Vertreter gefunden, der optisch durch blonde Liebenswürdigkeit und vokal mit einem geschmeidigen Bariton überzeugt. Ivor Bolton legt hörbar besonderen Wert auf die Charakterisierung der einzelnen Personen durch die ihnen zugeordneten Instrumentengruppen, kann mit dem Orchester des Teatro Real Madrid aber auch in den Zwischenspielen auftrumpfen (Blu-ray Bel Air BAC 554). Ingrid Wanja