Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Puschen-Oper

 

Es ist ein verführerischer Titel: „Das Wohnzimmer als Loge“. So heißt das neue Buch, das Matthias Henke und Sara Beimdieke beim Verlag Königshausen & Neumann (230 Seiten, 38 Euro, ISBN 978-3-8260-5942-1) herausgegeben haben. Untertitel: „Von der Fernsehoper zum medialen Musiktheater“. Ich gestehe, dass die Publikation mich überrascht hat, weil sie nicht davon handelt, was ich erwartet hatte, nämlich einer Analyse der aktuelle Situation, in der immer mehr Menschen Opernaufführungen nicht live im Theater sehen, sondern im Kino in Form von Broadcasts aus der Met oder Covent Garden, im Fernsehen bei arte, 3sat & Co, oder neuerdings auch einfach am Computer als Live-Stream im Internet bei OperaVision und ähnlichen Portalen. Wie gesagt, von all dem handelt „Das Wohnzimmer als Loge“ nicht. Vielmehr geht es primär um eigenständige Opern oder Musikwerke, die direkt fürs Fernsehen geschrieben wurden. Den Auftakt machte 1951 Gian Carlo Menottis Amahl and the Night Visitor, für den Sender NBC erschaffen und von diesem erstausgestrahlt. Seither gab es zirka 140 Produktionen von vergleichbaren Fernsehopern, u.a. Bohuslav Martinůs The Marriage von 1953 oder Rainer J. Schwobs Paßkontrolle, 1958 vom ORF produziert.

Das sind – allesamt – keine Stücktitel, die einem breiten Publikum bekannt sind; sie werden vermutlich nicht einmal eingefleischten Opernfans sonderlich vertraut sein. D.h. man kann in diesem Buch mit elf Essays viel Neues entdecken und kennenlernen. Dazu gehört auch das Phänomen „Fernsehoper in Japan“ zwischen 1959 und 1989, Kazusa Haii stellt diese in einem Beitrag vor. Ob die Werke von Komponist Osamu Shinmizu (1911-1986) hierzulande eine echte Chance haben, Interesse zu erregen: etwa seine Fernsehoper Shuzenji Monigatari (englisch: Tale of Shuzenji) von 1959? (Ich wage das zu bezweifeln.)

Persönlich am spannendsten fand ich Kurt Hickethiers Beitrag „Fernsehspiel und Fernsehoper: Von der Bühne zum Studio“, weil er darin von TV-Aufzeichnungen von bekannten Opern spricht und Mitwirkenden, die den meisten Opernfans vertraut sein werden. Hickethier holt historisch aus und beginnt in der Nazi-Zeit. Denn die Anfänge des Fernsehspiels im Dritten Reich, im Fernsehprogramm des Senders „Paul Nipkow“ in Berlin-Witzleben ab 1935, fallen zusammen mit verschiedenen Formen des musikalischen Fernsehspiels: der „Musikalischen Filmgroteske“, dem „Musikalischen Schattenspiel“ und dem „Musikalischen Lustspiel“. Zur letzten Kategorie gehört „Herzen auf Urlaub“ von Peter Arnold, Musik von Dolf Brandmeyer, am 22. Juni 1040 ausgestrahlt. Es war eine durchkomponierte Operette, die so erfolgreich war, dass sie im Winter 1941 en suite elf Mal wiederholt wurde, d.h. sie wurde weitere elf Mal live aufgeführt und ausgestrahlt; andere technische Möglichkeiten gab es damals nicht, elektronische Aufzeichnungen kannte man noch nicht.

Die erste wirkliche Fernsehoper im deutschen Fernsehen war 1940 die Abu Hassan von Carl Maria von Weber, Regie führte Günter Stenzel, Bühnenbilder von Karl Joksch, der in den 1950er Jahren für den NWDR arbeitete. Die Bearbeitung der Weber-Oper stammte von Herman Roemmer, der als Librettist und Schriftsteller 1935 für Eduard Künneke die opulente Operette Die große Sünderin geschaffen hatte, an der Berliner Staatsoper uraufgeführt mit Tiana Lemnitz und Helge Rosvaenge.

Aufgrund der Kriegsbedingungen – es gab die Verpflichtung zur Verdunkelung – gelangte die Weber-Oper nachmittags von 15 bis 16.15 Uhr zur Aufführung, danach am gleichen Tag nochmal von 18 bis 19.15 Uhr. In der Rolle der Fatima konnte man die junge Elisabeth Schwarzkopf bewundern, die 1938 am Deutschen Opernhaus in Charlottenburg debütiert hatte; 1942 holte Karl Böhm sie an die Wiener Staatsoper als ‚rising star‘.

Dieser Abu Hassan war so erfolgreich, dass er bis Juni 1940 noch acht Mal im Fernsehen zu sehen war. Mit Schwarzkopf entstand 1944 auch eine Radioaufnahme, darin singt Erich Witte den Abu Hassan und Michael Bohnen den Omar, Leopold Ludwig dirigiert das Berliner Rundfunk-Sinfonie-Orchester. Leider geht Knut Hickethier auf diese Aufnahme nicht ein, so wie er auch sonst nicht auf die musikalischen Qualitäten (oder Nichtqualitäten) der Fernsehopern eingeht oder darauf, wie sie bei Opernfans heute in Erinnerung geblieben sein könnten.

Immerhin erwähnt er, dass das Fernsehen der frühen 1950er Jahre stark „von ehemaligen Mitarbeitern des NS-Fernsehens geprägt wurde“. Er erwähnt als erste ‚große‘ Oper im bundesdeutschen Fernsehen La Traviata“am 9. Dezember 1953, als Live-Übertragung in der Fernsehregie von Herbert Junkers (auch er hatte schon im NS-Fernsehen Regie geführt). Über die Besetzung erfährt man nichts; leider. Im Januar des gleichen Jahres war bereits „Amahl und die nächtlichen Besucher“ zu sehen, als Gastspiel einer holländischen Truppe.

Spannend fand ich den Hinweis auf eine Übertragung der Lustigen Witwe zu Ostern 1953; sie schrieb Programmgeschichte, weil die Live-Sendung aus dem Operettentheater in Hamburg-St- Pauli abgebrochen werden musste: das Publikum hatte gegen die anwesenden Kameras protestiert und fühlte sich dermaßen gestört, dass das TV-Team mitten in der Aufführung abziehen musste! Trotzdem gab es danach immer wieder Übertragungen aus Opernhäusern, weil die Theater damit ihre Bekanntheit und ihr Renommee bei einer breiten Öffentlichkeit erhöhen konnten. Auf die diversen inzwischen auf DVD erhältlichen Aufzeichnungen, beispielsweise aus der Deutschen Oper Berlin, geht der Artikel nicht ein. Dafür auf die 1961 produzierte Serie von zwölf Fernsehoperetten, die Regisseur Kurt Wilhelm kostengünstig en bloc herstellte. Aber auch hier erfährt man nicht, welche zwölf Titel das sind und auch nicht, ob es diese heute irgendwo zu sehen gibt, bei YouTube oder auf DVD.

Wie gesagt, wer sich auf eher unbekanntes Repertoire einlassen möchte, ist mit diesem Essay-Band gut bedient. Wer etwas zum Wandel in der Rezeption von Oper vom Theater hin zu TV, Kino und Internet erfahren möchte, wird hier nur begingt fündig. Das kann man bedauern, aber auch als Chance zur Horizonterweiterung verstehen. Der Band ist übrigens nur begrenzt bebildert, so dass man von vielen der diskutierten Fernsehopern nur bedingt einen Eindruck bekommt. Kevin Clarke

Dusolina Giannini

 

Nur nostalgische Opernfans werden mit dem Namen Dusolina Giannini etwas anfangen können (Dezember 19, 1902 – Juni 29, 1986), aber die vielen Dokumente lassen eine italienisch geschulte, volle und dem Verismo verpflichtete, robuste Sopranstimme hören, die allerdings – zu meiner Überraschung, als ich sie 1983 in Berlin kennenlernte – in Berlin bei Marcella Sembrich ausgebildet wurde. Ich hatte die Ehre, ihr Tischherr bei einem Diner zu Ihren Ehren sein zu dürfen, dass die West-Berliner Hochschule für Musik und der dto. Senat gaben, als sie 1983 ihre musikalische Hinterlassenschaften der HdK stiftete und dafür nach Berlin angereist war, einundachtzigjährig. Die bezaubernde Dame mit dem beblümten Kapotthütchen sprach fließend Deutsch und war von außerordentlicher Lebendigkeit. Bei Suppe und Riesling schwatzen wir über ihre Karriere, ihr Leben, ihre Ansichten zur Kunst und zur Opernlandschaft jener Tage. „Alles beruht auf einer guten Technik, ich könnte heute noch singen!“ „Da glaub ich nicht!“ platzte ich ungläubig und etwas ungezogen  (ah Jugend!) heraus. Sie lächelte erneut, klopfte mit dem Löffel ans Glas um Ruhe zu bitten. Ihr Gesicht straffte sich, und das Wunder der Verwandlung ließ durch das Anspannen der nötigen Muskulatur sie nun um vierzig Jahre jünger aussehen:  Sie setzte – mit den ersten paar Tönen noch etwas zitterig – zur Nilarie an, a capella, aus dem Stand/Sitz, die Suppe vor sich. Die ganz hohen Noten tippte sie nur an, aber der Ton war noch immer voll, unverkennbar sie, unglaublich. Ich fiel fast vom Stuhl. „Geht doch noch!“ sagte sie zufrieden und strahlte mich an. Im allgemeinen Beifall freute sie sich über meine Sprachlosigkeit. Was für eine Frau.

Dusolina Giannini mit Blumenhut/ Foto OBA

Im Folgenden gibt es eine Zusammenfassung unseres Gespräches von 1983, die Ingrid Wanja liebenswürdiger Weise besorgt hat, während mein Dank auch an Wolfgang Denker für seine bewährte Archivarbeit geht. G. H.

 

Von Dusolina Giannini sagte Arturo Toscanini  enthusiastisch: ,,E la musica in persona, nella sua bellezza, nella sua sincerita e nella sua purezza.“ Um diese „bellezza“ meinte eine damals bekannte Sängerin angesichts der andächtig lauschenden Noch-nicht-einmal-Debütantin Giannini sich sorgen zu müssen, als sie bedauernd deren Lehrerin Marcella Sembrich zurief: ,,Questa bella faccia innocente – in questa professione! Peccato!“

Die „sincerità“ feierte ihren größten Triumph, als Dusolina Giannini ihre Zuneigung gegenüber dem  deutschen  Publikum  auch  unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg selbst gegenüber den Vorwürfen  immerhin  eines  Arthur  Rubinstein  nicht verleugnete. Sie war unter den ersten, die im Titaniapalast in Berlin heute legendäre Konzerte gaben. Die „purezza“  drückte  sich rührend aus in der Scheu der Sängerin, die schon mit 12 Jahren die Azucena sang und eine überzeugende Santuzza jugendlichsten Alters darstellte, sich privat jedoch nicht zu fragen getraute, was  für ein schreckliches Unrecht ihr Turiddu denn angetan habe.

Gründe, meinte sie, gab es für sie schon genug, nicht selbstgefällig, aber zufrieden in den Spiegel schauen  zu  können  und  zu   ihrem   Spiegelbild zu sagen: ,,Dusolina, du hast deine Sache gut gemacht“ , ein Selbstlob, das aus einer Bescheidenheit erwächst, die die Sängerin nie den spektakulär-triumphalen Opernerfolg suchen;  sondern das sich liebevolle Bemühen vor allem um das deutsche Lied vorrangig sein ließ; aus einer Redlichkeit heraus, die  ihr Auftreten an der Mailänder Scala scheitern ließ, weil sie sowohl dem üblichen Bestechen der Kritiker wie dem Anheuern einer Claque abhold war. Nicht als Opernsängerin, auch nicht als Sängerin, sondern als Künstlerin bezeichnete sie sich.

Ihre farbigen und temperamentvoll erzählten Erinnerungen reichen weit zurück. Mit drei Jahren wahrscheinlich hatte sie ihren  ersten Auftritt als   Sängerin: auf  einem Tisch   inmitten  einer Menschengruppe, deren Bitten um  eine  Darbietung sie erst nachgab, als man ihr auch ihr heißgeliebtes rotes Stühlchen hinaufgereicht hatte „Erblich belastet“ war  sie  von  beiden  Eltern her. Die Mutter war als Geigerin Mitglied eines Kammerorchesters und spielte auch Mandoline. Der Vater, Ferruccio Giannini, war ein recht bekannter Tenor, der den ersten amerikanischen Turiddu sang und den ersten Faust kreierte. Ein Großonkel war Dirigent eines Orchesters von ebenso musikalischen Onkeln und Tanten, eine Schwester wurde eine bekannte Gesangslehrerin, ein Bruder zeitweise erfolgreicher Komponist, dessen Oper „The Scarlet Letter“ sie 1936 bei der Uraufführung mit zum Erfolg verhalf. Es gab also in ihrem Leben von Kindesbeinen an „Musik, Musik und nur Musik“.

Der Vater war ein überaus unternehmender Mann, der zeitweise eine „banda concertante“ leitete, einer der ersten Sänger auf Schallplatten war, der in Philadelphia ein Theater gründete, in dem nicht nur Opern, sondern auch Stücke der Commedia dell’Arte aufgeführt wurden . Die ganze Familie, deren musikalische Grundausbildung die Mutter besorgte, wurde für dieses Unternehmen eingespannt, so dass die l2jährige Dusolina (,,Ich glaube, ich habe in der Schule nichts gelernt, ich habe nur gesungen.“) unter dem Gelächter des Publikums den tenorsingenden Vater als „figlio“ Manrico bei dem schon erwähnten Trovatore  in den  Arme schließen musste. Auch eine  Aida  mit der  älteren  Schwester in der Titelrolle, mit dem Vater als Radames und ihr selbst als Amneris stand auf dem Programm; der Vater überwachte die Entwicklung  der  Stimme seiner Tochter mit Sorgfalt, und als er die 15jährige zu der bekannten Gesangspädagogin Marcella Sembrich brachte, meinte diese abwehrend: ,,Was wollen Sie denn bei mir? Die Stimme sitzt doch.“ Der Vater bestand auf  einer  „seriösen“  Ausbildung, auf der Vermittlung der „Frauenfinessen“ durch eine weibliche Lehrerin. Ein Bekannter, Besitzer einer Zigarrenfabrik, finanzierte das Studium, das von Dusolina und ihrer sie begleitenden Schwester in einer kärglichen New Yorker Umgebung mit großem Ernst absolviert wurde.  Sie  fühlte sich der geliebten Lehrerin gegenüber verpflichtet: ,,Sie war auch  eine  große  Frau,  nicht nur eine große Künstlerin. Sie liebte mich  sehr, und ich liebte sie. Ich wollte sie nicht enttäuschen.“

Dusolina Giannini als Santuzza/ Foto mit Widmung/ OBA

So konnte die Giannini , als die große Chance kam, kühn, aber    wahrheitsgemäß  behaupten: „Ich bin bereit.“ Es ging um das Einspringen bei einem Konzert in der New Yorker Carnegie Hall, nach dem die Zeitungen einmütig schrieben: ,,A new star is born.“ Agenten stürmten die Garderobe, und die Einundzwanzigjährige stand vor der Entscheidung: ,,In three  years I will make you a rich girl“ oder „I’ll make you a world­carreer“. Sie wählte das letztere, aber trotz der nun folgenden Engagements nahm sie weiter Unterricht. Im Herbst 1923 sang sie unter Bruno Walter Dvoráks „Zigeunerlieder“, im Herbst 1924 Arien aus Oberon und Figaros Hochzeit.

Mit dem Versprechen des Berliner  Agenten Erik Simon (,,You must come to Berlin, you will have Berlin at your feet“)  begann  die  Zeit,  die die Sängerin heute als die glücklichsten Jahre ihrer Karriere bezeichnet. ,,Berlin hat mich  an sein Herz genommen“, stellte sie nach den beiden ersten Konzerten hier beglückt fest.

Eine andere große Liebe brachte zunächst Tränen. ,,Ich weiß nicht, diese Lieder, diese Lieder…“, mit diesen nur gestammelten Worten war sie schluchzend weggelaufen, nachdem sie zum ersten Mal Lieder von Schubert und Schumann gehört hatte. Sie konnte nur erklären: ,,Ich weiß  nicht, was es ist, aber diese Lieder sind mein  eigenes Ich.“ Der Liedgesang sollte ihre gesamte Karriere hindurch einen Vorrang einnehmen, auch als sie nun in Hamburg ihre  erste  Bühnenpartie,  die Aida, sang; Tosca, Recha, Forza-Leonora, Donna Anna und andere Rollen folgten. Die berühmtesten Dirigenten verpflichteten sie immer wieder: Toscanini, Furtwängler, Blech, Busch, Kleiber, Stokowski und immer wieder  Bruno  Walter, Pierre Monteux und Ernest Ansermet, die sie besonders liebten. 1938 erreichte sie auf einer Schiffsreise ein  Telegramm Winifred Wagners mit dem Angebot, im Sommer 1939 in Bayreuth die Kundry zu singen. Obwohl die amerikanischen Agenten, in der Mehrzahl Juden, sie zu einer Absage drängten, nahm sie das Angebot an, denn in Bayreuth zu singen, war für eine. Künstlerin ihrer Generation und ihres Formats der Traum schlechthin. Der Krieg zerschlug ihre Pläne und bewahrte sie vielleicht vor einem  Schicksal  ähnlich  dem der Französin Germaine Lubin. Eine gewisse Entschädigung für Dusolina Giannini war später in San Francisco der konzertante Parsifal unter Ansermet.

Schon 194 7 kam Dusolina Giannini wieder nach Europa, erst 1949 durfte sie nach  Berlin (hier fehlte eine nähere Begründung, aber ihre politische Vergangenheit blieb unerwähnt und im Dunkel/G. H.), wo  sie  es durchsetzte, dass der immer noch belastete Michael Raucheisen sie am Klavier begleitete. Auf der Fahrt durch die zerbombte Stadt weinte sie fassungslos. Aber ihr Wunsch hatte sich erfüllt: wieder in Deutschland zu  singen.

Um  Politik hatte sie sich nie gekümmert – sie hatte die Deutschen als Musikliebhaber lieben gelernt. 1956 dann gab sie allein in Berlin fünf Abschiedskonzerte, wollte sich ganz aus dem musikalischen Leben zurückziehen und wurde  doch  rückfällig, als Herbert Graf ihr 1962 die Leitung des Zürcher Opernstudios anbot. ,,Nur wer ,es‘ gehabt hat, kann ,es‘ verstehen„, sagte sie im Rückblick  auf  ihre  Karriere. Und um ,es‘ zu haben, musste man zweierlei auf ­ bringen, was sie dann schmerzlich vermisst: „Andacht und Besessenheit!“ Sie  fühlte sich als ,,Dienerin der Musik“. Viele der heutigen „Stars“, die vielleicht eine schöne Stimme haben,  aber keine Sänger sind, empfand sie als „Schwindler“, die in ihren Augen nie das erreichten, was ein Aureliano Pertile verkörperte, der „keine Mätzchen“ kannte, oder ein Hans Beirer , der nur deshalb noch singen konnte, weil er „echt  ist,  weil er sich selbst treu geblieben ist“!

Sie bedauerte die heutige Generation, weil  sie nicht mehr die Mutter kennt, die am Herd steht, wenn das Kind nach Hause kommt, und sich geduldig seine Sorgen anhört; nicht mehr den Vater, der die Prinzipien einer konsequenten Erziehung vertritt, nach denen sie sich selber zeitlebens richten konnte. Die Sänger von heute aber hatten ihr Mitgefühl, weil sie des übereifrigen Regisseurs nicht zuletzt deshalb bedürfen, weil sie nicht mehr den Mut haben, sich allein von der Musik inspirieren zu lassen, eben weil sie nicht mehr zu hören vermochten. (Dies 1983!)

 

Dusolina Giannini bei Naxos

Hinsichtlich der Dokumente verweise ich auf die 2 LPs bei Preiser und die CD bei Naxos: eine wunderschöne, frische Norma von 1931, Arien aus Aida, Forza, eine hinreißende Carmen, Santuzza und  Manon,  sowie zwei italienische canzoni; dann weitere Arien aus ForzaOtello, jeweils Arien und Duette aus Butterfly (mit Marcel Wittrisch) sowie Tostis Dauerbrenner „Mattinata“. Lieder von Brahms und Strauss –  diese sind ein Muss für Fans des Liedgesangs und demonstrieren (schon aufgrund der Begleitung von Michael Raucheisen) die bemerkenswerte Kunst der Giannini. Als Aida hört man sie dann noch in der Gesamtaufnahme bei EM Italiana, auf der  sie neben Aureliano Pertile,  Irene  Minghini-Cattaneo (der Ricordi-Gattin) u.a. unter Carlo Sabajno ihren Verdi-Gesang dokumentiert. Aber es gibt noch mehr. G. H.

Französischer Klangrausch mit Raritäten

 

Am 6. November 1968 starb der bedeutende Dirigent Charles Munch im Alter von 77 Jahren. Dieses Datum jährt sich in Kürze zum 50. Male. Charles Münch, 1891 im damals zum Deutschen Reich gehörigen Elsass geboren, verkörperte wie kein anderer Dirigent die nicht immer einfachen deutsch-französischen Beziehungen, kämpfte im Ersten Weltkrieg auf Seiten Deutschlands und unterstützte im Zweiten Weltkrieg als Direktor des berühmten Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire die französische Résistance. Seinen größten Ruhm erlangte er zweifellos während seiner 13-jährigen Amtszeit als Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra zwischen 1949 und 1962, in der zahllose heute legendäre Einspielungen für RCA entstanden. Erst im hohen Alter kehrte er wieder nach Frankreich zurück, gründete noch 1967 das Orchestre de Paris und stand diesem bis zu seinem überraschenden Ableben im Folgejahr während einer Amerika-Tournee vor.

Warner ehrt Munch nun (2018) mit einer nicht weniger als 13 CDs umfassenden Box (0190295611989), welche sämtliche für EMI und Erato entstandenen Einspielungen zwischen 1935 und 1968 enthält. Es sind insgesamt vier Orchester beteiligt, allesamt französisch: Neben dem 1967 aufgelösten Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire und dem im selben Jahr daraus weitgehend hervorgegangenen Orchestre de Paris handelt es sich um das Orchestre National de la Radiodiffusion Française bzw. de’l O.R.T.F. (so seit 1964) sowie das seinerzeit berühmte Orchestre des Concerts Lamoureux.

Die ersten sechs CDs versammeln Stereoaufnahmen der ganz späten Lebensjahre Munchs von 1965 bis 1968. Die CDs Nr. 1 bis 3 werden vom Orchestre de Paris, die CDs Nr. 4 bis 6 vom Orchestre Lamoureux bestritten; lediglich Honeggers vierte Sinfonie „Deliciae Basiliensis“ auf CD 6 steuert das O.R.T.F.-Orchester bei. Eröffnet wird die Box mit der 1967 im Salle Wagram eingespielten Symphonie fantastique von Berlioz, die als fast einziges Werk doppelt vorliegt (so auch von 1949 mit dem Rundfunkorchester). Es handelte sich hierbei um das allererste Zusammentreten des neugegründeten Orchestre de Paris. Die Symphonie fantastique lag Munch sehr am Herzen: Neben den beiden hier enthaltenen Aufnahmen gibt es nicht weniger als drei weitere Studioeinspielungen (1954 und 1962 aus Boston und 1966 aus Ungarn). Gemeinhin gilt die ’54er Living Stereo-Einspielung von RCA Victor als der Klassiker, während die Pariser Aufnahme altersweiser daherkommt. Die Tempi sind in den Altersaufnahmen gemäßigter, in sich ruhender, ohne aber an Intensität einzubüßen – ein Grundmerkmal der späten Interpretationen dieses Dirigenten, welches auch beim Ravel’schen Boléro zu Tage tritt. Dieser wurde wenige Wochen vor Munchs Tod Ende September/Anfang Oktober 1968 in Paris eingespielt und ist mit gut 17 Minuten deutlich getragener (und m. E. auch überzeugender) als die gehetzt wirkende Bostoner Aufnahme aus den 50er Jahren (13:49); Ravel selbst übrigens sah ein zu schnelles Tempo für das Stück als ruinös an. Auch in den übrigen enthaltenen Ravel-Werken (die Suite Nr. 2 aus Daphnis et Chloé, die Pavane pour une infante défunte, die Rapsodie espagnole und das Klavierkonzert G-Dur mit Nicole Henriot-Schweitzer) beweist Munch seine Meisterschaft.

Auf der dritten CD befindet sich eine der herausragendsten Aufnahmen der ersten Sinfonie von Brahms, die für Geld zu haben ist. Im Jänner 1968 ebenfalls im Pariser Salle Wagram eingespielt, nimmt sich Munch beinahe 50 Minuten Zeit, in denen er die monumentale Größe dieser gewichtigen Sinfonie betont. Vom pochenden Anfang des Kopfsatzes über das tief empfundene Andante sostenuto und das hier wirklich graziöse Scherzo bis hin zum apotheotischen Finalsatz. Dort vergehen sage und schreibe sechs spannungsgeladene Minuten, ehe das weltbekannte und hymnusartige Hauptthema erklingt. Dass Munch trotz solcher Tendenzen sein französisches Temperament keinesfalls verloren hat, kann man in der abschließenden Coda mustergültig miterleben: mehr à la française kann das eigentlich kaum klingen. Der typisch französische Klang der Blechbläser, der ein wenig an die Marseillaise denken lässt, verrät die illustre Tradition des Orchestre de Paris, die im dortigen Konservatorium seit dem frühen 19. Jahrhundert gepflegt wurde. Ein Wermutstropfen bleibt indes: Leider bediente sich Warner nicht des überlegenen japanischen Remasterings, das dem hier vorliegenden hörbar vorzuziehen sind.

Das heutzutage etwas im Schatten stehende Orchestre Lamoureux erlebte seine große Zeit in den 1950er und frühen 60er Jahren unter den Chefdirigenten Jean Martinon und Igor Markevitch, als es zu zahlreichen bedeutenden Produktionen herangezogen wurde (darunter Markevitchs spektakuläre Einspielung der Symphonie fantastique, die m. M. n. sogar jene Munchs noch übertrifft). Auch wenn dieser Klangkörper nicht ganz die Spielkultur anderer Orchester aufweist, so nimmt einen der wahrlich gallisch zu nennende Elan mit. In der vorliegenden Box werden in der Hauptsache das Cellokonzert Nr. 1 von Saint-Saens und das Cellokonzert d-Moll von Lalo (mit André Navarra) sowie die Sinfonien Nr. 3 und 4 von Roussel vom Lamoureux bestritten. Von Charles Munchs Einsatz auch für zeitgenössische Komponisten zeugt die zusätzlich inkludierte zweite Sinfonie von Henri Dutilleux, die dieser 1959 dem 75. Jubiläum des Boston Symphony Orchestra widmete – für den damaligen Chefdirigenten Munch also gleichsam eine Pflichtübung. Interpretatorisch überzeugender wird man all die genannten Werke schwerlich zu Gehör bekommen. Dies gilt genauso für die beiden Sinfonien von Arthur Honegger, die zweite und die vierte, die Warner in die Kassette gepackt hat (es spielen das Orchestre de Paris bzw. das Orchestre National de l’O.R.T.F.).

Mit der siebten CD verlässt man das Stereozeitalter und macht eine Zeitreise in die 1930er Jahre. Das vierte Klavierkonzert von Saint-Saens mit keinem geringeren Solisten als Alfred Cortot von 1935 eröffnet den Reigen. Munchs enorme Bandbreite erkennt man, wenn hier auf das Violinkonzert D-Dur von Vivaldi die Berceuse von Gabriel Fauré (mit Denise Soriano) und das Violinkonzert von Ernest Bloch (mit Joseph Szigeti) folgen. Auch das in Stereo nicht vorliegende Klavierkonzert für die linke Hand von Ravel ist hier in Mono versammelt (zweifach; wiederum mit Cortot sowie mit Jacques Février), ferner unter anderem die jeweils ersten Klavierkonzerte von Tschaikowski und Liszt (mit Kostia Konstantinow und Joseph Benvenuti). Hier findet man auch die dritte Dopplung, nämlich die Pavane pour une infante défunte, diesmal von 1942. Selbst eine Bach-Kantate wurde ausgegraben: „Meine Seele rühmt und preist“ BWV 189 mit dem Bariton Pierre Bernac.

Eine besondere Liebe verband Charles Munch mit der Wiener Klassik, die durch das fünfte und siebte Violinkonzert sowie das zwanzigste Klavierkonzert von Mozart (Solisten: Jacques Thibaud, Denise Soriano und Jean Doyen) sowie das „Kaiser-Konzert“ von Beethoven (mit Marguerite Long am Piano) angemessen repräsentiert ist. Weitere Lücken in der Munch-Diskographie können ebenfalls durch hochbetagte Einspielungen geschlossen werden, darunter Debussys La Mer und Ravels La Valse. Nahezu alle dieser zwischen 1935 und 1949 entstandenen Mono-Produktionen werden vom Orchester des Pariser Konservatoriums übernommen; einzig die ’49er Symphonie fantastique (Orchestre National de la Radiodiffusion Française), die genannte Bach-Kantate (ungenau als „Kammerorchester“ bezeichnet) sowie das Klavierkonzert Nr. 4 von Saint-Saens (genauso nichtssagend schlicht „Orchester“ genannt) entstanden mit anderen Klangkörpern.

Richtet sich die erste Hälfte dieser Box mit seinen gut klingenden Stereoaufnahmen aus den 1960ern also an die breite Öffentlichkeit, ist die zweite Hälfte mit den Monoeinspielungen aus den 1930ern und 40ern aufgrund der nicht zu leugnenden klanglichen Einschränkungen und trotz des hohen künstlerischen Wertes eher für den Munch-Sammler geeignet. So sind zwei sehr unterschiedliche Abschnitte im langen Dirigentenleben von Charles Munch aufnahmetechnisch festgehalten, was sich auch im jeweiligen Stil zeigt. Zeichnen sich die frühen Einspielungen durch Spritzigkeit und meist flotte Tempi aus, erlebt man in den späten Tondokumenten den reifen und abgeklärten Munch, der nach seinem Indian Summer in Boston einen markanten Altersstil entwickelte, der sich selbst von jenem der späten 50er und frühen 60er Jahre deutlich unterscheidet. Da die Warner-Box gewissermaßen die Bostoner Jahre zeitlich umschließt und nur den „jungen“ und „ganz alten“ Munch abdeckt, empfiehlt es sich, die bei RCA zumeist bereits in ausgezeichneter Stereophonie dokumentierten Einspielungen seiner besten Jahre zusätzlich kennenzulernen (Charles Munch/Boston Symphony Orchestra – The Complete RCA Album Collection, 86 CDs). Daniel Hauser

Warum nun noch eine …

 

Man muss sich schon sehr anstrengen, will man erreichen, dass der Zuschauer wenig Anteil am Schicksal Mimis und Rodolfos in der Bohème aus Covent Garden bei der Hausfirma  Opus Arte nimmt, und Richard Jones ist das über weite Strecken gelungen, wobei ihm Stewart Lainig als Designer ein williger Helfershelfer war. Der erste und letzte Akt verdammt die vier Künstler zum Leben in einer klitzekleinen Dachkammer, die keinerlei Raum für das bei allem Elend muntere Treiben der jungen Leute lässt, gerade einmal zwei Stühlen Raum gibt. Im naturalistischsten aller veristischen Stücke malt Marcello in die Luft und hat auch das Weihnachtsbild keine Atmosphäre, weder im Draußen noch im Drinnen des Momus, denn alles wirkt zu fein, zu bunt, zu unberührt vom Leben in einer umtriebigen Großstadt, eher einer Revue als dem Stück angemessen.  Im dritten Bild steht eine Baracke allein auf weiter Flur, die Zöllner kommen aus dem Nichts und verschwinden in demselben, dass man mit Schnee nicht geizt, ihn schon vor Beginn der Oper vom Bühnenhimmel fallen lässt, hilft da wenig. Immerhin ist es interessant zu erfahren, dass Musetta im letzten Akt zu einem sittsamen Leben zurückgekehrt ist, so züchtig ist ihr Kostüm, und kaum zu glauben ist, dass sie im zweiten Akt noch ihren Slip in die Menge warf. Der Regisseur hat mit viel Erfolg verhindert, dass die Figuren Charme entfalten, und wenn doch ein gewisser Zauber besonders im zweiten Teil des dritten Aktes entsteht, dann ist es den Sängern und, wen wundert es, der Musik zu verdanken, die mit Dirigent Antonio Pappano natürlich einen berufeneren Anwalt gefunden hat als in den mit der Optik Betrauten.

Einen recht pummeligen Rodolfo gibt Michael Fabiano mit für Puccini recht hellem und flachem Tenor, der das Fehlen von Rundung und Farbe immerhin mit gewaltigem Geschluchze auszugleichen versucht. Eine sehr gute Besetzung für die Mimi ist Nicole Car, hochgewachsen, so dass Tenöre sich recken und strecken müssen, mit feinem lyrischem Sopran, der das unverzichtbare Aufblühen der Stimme in der Höhe nicht verweigert. Ein Gewinn für die Produktion ist auch der Marcello von Mariusz Kwiecien mit höchst angenehm timbriertem Bariton von betörendem Ebenmaß. Uncharmant muss sich die Musetta von Simona Mihai geben, dazu kommt eine zu kleine Stimme, die dem berühmten Walzer Eleganz und erotisches Flair verweigert. Ein verhaltenes, anrührendes Mantellied singt Luca Tittoto als Colline, dunkler als bei der Partie gewohnt und im Verhältnis zum Marcello ist der Bariton von Florian Sempey für den Schaunard. Den Chor in der turbulenten Weihnachtsszene gut zusammen hält der von Berlin nach London gewechselte Chorleiter William Spaulding in der Produktion, die während dreier Vorstellungen im Herbst 2017 aufgezeichnet wurde,  2018 auf den Markt gekommen  und eine Co-Produktion mit Madrid und Chicago ist (Opus Arte 1272 D/ 2018). Ingrid Wanja     

Anton Rubinsteins „Moses“

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Anton Rubinstein gehört zu den interessanten, aber im ganzen wenig bekannten Komponisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, im Schatten von Chopin und Liszt stehend, von der politischen Wirklichkeit seiner Zeit des russischen Riesenreichs und der Zerstückelung Polens  betroffen, zwischen beiden Ländern als Nationalkomponist reklamiert (wobei sein Grab in St. Petersburg liegt), im westlichen Einfluss Deutschlands und Frankreichs ausgebildet und sozialisiert und in Russland verankert, zählt er zu den kosmopolitischsten Künstlern seiner Epoche. Seine Oper Der Dämon hat sich bis heute gehalten und wurde in der jüngsten Vergangenheit manche Male aufgeführt (so Moskau 1950 mit Kozlowski bei Melodya, 1971 RAI mit Rossi Lemeni und Zeani, 1974 Moskau bei Meolodya, Wexford bei Naxos, 1997 Bregenz mit Silins bei Koch, Paris 2003, Moskau 2015, Brüssel 2016, Barcelona 2018). Rubinsteins Klavierkonzerte hört man gelegentlich im Rundfunk und findet sie auf CD, seine Klaviermusik zählt zu der technisch anspruchsvollsten.

Rubinsteins „Moses“ bei Warner Classics (3 CD 190295583439)

Nun hat überraschend Warner Classics Polen eine Live-Aufnahme von 2017 der Geistlichen Oper in acht Bildern, Moses, herausgebracht  (3 CD 190295583439) sogar in der originalen deutschen Sprache auf das Libretto von Hermann Levi Mosenthal, dem Librettisten auch von Goldmarks Königin von Saba). Michael Jurowski dirigiert seine Herzensangelegenheit, für die er Jahre gekämpft hat. Es spielt das Polish Sinfonia Iuventus  Orchestra (ein Universitätsorchester) und es singt der Warschauer Philharmonische Chor. Zu den Solisten zählen Torsten Kerl, Stanisław Kuflyuk, Evelina Dobraceva, Małgorzata Walewska und auch ein paar übrige deutsche Kräfte. Dass aus Polen eine weitere original deutschsprachige Aufnahme kommt und man nicht beim traditionell polonisierten Text geblieben ist, überrascht und erfreut, das war bis vor sehr kurzem nicht so. Man denke an Paderewkis Manru aus Breslau bei Dux, der einer dringenden sprachlichen Revision ins deutschsprachige Original bedarf und auf eine Neuaufnahme wartet..

Wir finden das Werk so eindrucksvoll wie Quo vadis von Feliks Nowowiejski, das wir kürzlich in den beiden Aufnahmen von Dux (erstaunlicher Weise ebenfalls im originalen Deutsch) und cpo (im traditionellen Polnisch, die Dinge bewegen sich eben) vorgestellt hatten. Und beide Opern sind sich auch ähnlich in Duktus und Musiksprache. Den nachstehenden Artikel von Piotr Maculewiz  zu dieser interessanten biblischen Oper  entnahmen wir der dünnen Beilage zur 3-CD-Ausgabe bei Warner in unserer eigenen Übersetzung durch Daniel Hauser, eine Besprechung folgt.

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Rubinstein: „Moses“/ Michail Jurowsky erfüllte sich einen Herzenswunsch/ Warner

Als PS muss angefügt werden, dass die Sache mit dem verfügbaren Libretto eine ärgerliche ist. Offenbar wurde versäumt, auf der letzten Beilagen-Seite dem Hinweis zum Downloaden des dreisprachigen Librettos (immerhin original deutsch, polnisch und englisch) die Netzadresse folgen zu lassen. Man sucht sich blind. Dafür findet man nach einiger Zeit einen QR auf der Rückseite der Box aufgeklebt, also einen elektronischen Hinweis, den man einscannen soll (vorher eine app herunterladen), um dann endlich auf die Warner-Seite des Librettos zu gelangen. Da ist was schief gelaufen. Was macht die kirchengläubige alte Frau, wie ich ohne ein smart, nun? Man fragt da besser den pickligen Ekel oder einen  fortschrittlichen Freund. Und vielleicht entbehrt auch bezeichnender Weise dann Hermann Levi Mosenthal seines „Levi“ beim Auffinden des Librettos, er wird zum schlichten H. Mosenthal …. G. H.

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Hier nun die Rezension der Aufnahme von Daniel Hauser: Zu Lebzeiten des Komponisten Anton Rubinstein (1829-1894) gab es lediglich eine verbürgte konzertante Aufführung seiner geistlichen Oper Moses, der letzten in einer Art biblischen Tetralogie (neben Der Thurm zu Babel, Sulamith und Christus); auf die Bühne brachte es das Werk nie, doch war genau dies die Intention Rubinsteins. Die seltsame Werkklassifizierung zeugt hiervon, handelt es sich doch auf den ersten Blick vielmehr um ein Oratorium. Die Nähe zu den großen Oratorien Händels und Mendelssohns ist unverkennbar. Thematisch hat ersterer mit dem „Choratorium“ Israel in Egypt bereits 1739 einen Vorläufer geschaffen. Beiden gemein ist die zu ihrer Zeit sehr verhaltene Aufnahme durch das Publikum.

Dass Moses nun nach über einem Jahrhundert des Dornröschenschlafes doch wieder ins öffentliche Bewusstsein rückt und von Warner sogar als 2017 entstandene Einspielung vorgelegt wird, ist in erster Linie dem jahrelangen Engagement des russischen Dirigenten Michail Jurowski (dem Vater von Wladimir Jurowski) zu verdanken. Vielleicht musste es ein Russe sein, der seinem Landsmann Rubinstein damit späte Anerkennung verschafft.  Indem es vornehmlich polnische Kräfte sind, mit denen das Vorhaben schließlich umgesetzt werden konnte, wird auch ein wenig Völkerverständigung betrieben. Keineswegs selbstverständlich, dass diese Oper nun in der deutschen Originalsprache erklingt.

Das Polish Sinfonia Iuventus Orchestra (also ein Jugendorchester) und der Warschauer Philhamonische Chor meistern ihre Aufgabe vorzüglich – soweit sich dies mangels Vergleichsmöglichkeiten überhaupt seriös sagen lässt. Unter den Solisten ragen der noble Bariton Stanislaw Kuflyuk in der Titelrolle, der im Wagner- und Strauss-Fach beschlagene Tenor Torsten Kerl als Pharao und Stimme Gottes, die unter anderem am Bolschoi-Theater heimische Sopranistin Evelina Dobraceva als Königstochter Asnath sowie die international angesehene Mezzosopranistin Malgorzata Walweska als Mutter des Moses hervor.

Trotz der spätromantischen Klangpracht sollte indes nicht verschwiegen werden, dass das fast dreieinhalbstündige Werke (das sich folglich auf drei CDs verteilt) in seiner relativen Statik doch eher an ein Oratorium denn eine lebendige Oper erinnert. Gewisse Längen sind unvermeidlich. Die megalomanischen Dimensionen des Werkes werden bereits durch die mehr als zwanzig Gesangspartien und die zwei eingesetzten Chöre deutlich. Ein Eingang ins Standardrepertoire ist insofern schon aufgrund der gewaltigen aufführungstechnischen Anforderungen mehr als fraglich. Hat man es hier mit einem Oratorium vom selben Range wie jene Händels und Mendelssohns zu tun? Eher nein.

Freilich ist diese Produktion gleichwohl eine wichtige Bereicherung der überschaubaren Diskographie Anton Rubinsteins und führt dessen Verwurzelung in der deutschen Romantik vor Augen, wovon Anklänge an Mendelssohn, Schumann und auch Brahms zeugen. Dem Vernehmen nach plant Jurowski bereits weitere Projekte, die idealerweise ebenfalls in Aufnahmen dokumentiert werden sollen.

Trotz diverser Einschränkungen, die weniger an der engagierten Aufführung als vielmehr am Werk selbst liegen, ist diese Weltersteinspielung also zu begrüßen. Sie dürfte auf absehbare Zeit die einzige des Rubinstein‘schen Moses bleiben (Polish Sinfonia Iuventus Orchestra/Michail Jurowski Aufnahme: 2017, Erscheinungsdatum: 2018; Warner Classics 3 CD 190295583439 ). Daniel Hauser

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Anton Rubinstein (rechts) mit seinem Bruder Nikolai, 1862/ Wikipedia

Nun also der Artikel von Piotr Maculewiz  zu Werk und Verbreitung: Anton Rubinstein (1829-1894) war eine der prominentesten Figuren der russischen und internationalen Musikszene im 19. Jahrhundert. Geboren in eine assimilierte jüdische Familie, war der Pianist, Dirigent und Lehrer (unter anderem war er der Gründer des Petersburger Konservatoriums, wo Peter Tschaikowski zu seinen Schülern gehörte) auch ein produktiver und sehr populärer Komponist seiner Ära, der sich seine Zeit aufteilte zwischen Russland und den westeuropäischen Ländern. Seine Klavierkonzerte (insbesondere das Klavierkonzert Nr. 4) und Opern wurden sehr geschätzt; seine Oper Der Dämon aus dem Jahre 1871, welche auf einem Gedicht von Lermontow basierte, erlangte vor allem in seiner Heimat Russland anhaltende Popularität. Rubinsteins Reihe biblischer Opern mit Themen aus dem Alten und Neuen Testament ist interessant und originell; die Serie umfasst Der Thurm zu Babel, Sulamith, Moses und Christus. Die Entstehung dieses Interesses ist einerseits mit der Faszination für die romantischen Oratorien von Mendelssohn (Paulus, Elias) verbunden und andererseits mit der Renaissance ähnlicher Werke von Georg Friedrich Händel, der sich ebenfalls alttestamentarischer Narrative bediente. Zu dieser Zeit fanden die monumentalen Editionen in Deutschland in deutscher Fassung Verbreitung (die Originale waren sämtlich in englischer Sprache), was die breite Öffentlichkeit begeisterte. Der große Pianist zeigte viel Interesse am musikalischen Historizismus (der zu seiner Zeit nicht oft gesehen wurde) und gab Rezitals von Werken früherer Komponisten – daher seine Bewunderung für und seine unzweifelhafte Inspiration durch barocke Oratorien mit ihrer vollen Klangpracht, vorgesehen für größere Besetzungen. Eine spannende Eigenschaft von Rubinsteins ästhetischer Haltung war sein Widerstand gegen den modernistischen Trend innerhalb der deutschen Kunst jener Zeit, repräsentiert durch die Kunst der „neuen deutschen“ Komponisten, hauptsächlich Liszt und Wagner (zusätzlich distanzierte er sich auch vom nationalen Trend der russischen Musik, was ihm Kritik in seinem Heimatland einbrachte). Trotz seiner Freundschaft mit Liszt verfolgte der russische Komponist keinen ähnlichen Weg, sondern berief sich eher auf das klassische und klassizistische Erbe der Romantiker (wie Brahms). Die Idee einer „religiösen Oper“ wurde gleichsam im Gegensatz zum Konzept von Wagners Musikdrama geboren. Der Wunsch des Komponisten war es, dem biblischen Inhalt einen ebenso eindrucksvollen theatralischen Ausdruck zu verleihen – er hielt konzertante Aufführungen in zeitgenössischen Kostümen, ohne Bühnenhandlung und Dekoration für nicht kommunikativ genug und als unzulänglich für diese erhabenen Themen. Er erwog sogar ein spezielles Theater für diese Bedürfnisse errichten zu lassen, gewissermaßen den „Tempel“ Wagners ausgleichend.

Der junge Anton Rubinstein spielt für den Zaren/ Gemälde von Francis Luis Mora/ American Gallery

Moses entstand zwischen 1884 und 1891 nach einem Libretto von Salomon Hermann Mosenthal. Der österreichische Dramatiker ist heute vor allen Dingen als Librettist von Otto Nicolais komischer Oper Die lustigen Weiber von Windsor nach Shakespeares gleichnamigem Stück in Erinnerung geblieben. Der Erfolg dieser Arbeit brachte dem Schriftsteller auch Ruhm; er arbeitete mehrmals mit dem russischen Komponisten Rubinstein zusammen (einschließlich Die Makkabäer von 1874, was in Russland und Deutschland sehr erfolgreich war); die Musik zu Moses wurde nach Mosenthals Tod komponiert. Die Oper erzählt die Geschichte des Propheten in acht suggestiven Bildern, mit einem enormen Aufführungsapparat (zuvor wurde sie auf der Bühne von Rossini präsentiert, später von Arnold Schönberg; der Prophet war auch der Protagonist zahlreicher Oratorien, so Händels Israel in Egypt und zeitgenössisch mit Rubinsteins Werk in einer 1895 entstandenen Komposition von Max Bruch, die ebenfalls vergessen wurde). Im expressiven, neoromantischen Stil gehalten, enthält Moses viele großartige Arien, besonders in den beeindruckenden Massenszenen, welche die berühmten dramatischen Episoden darstellen, die im biblischen Pentateuch beschrieben werden. Die Last der musikalischen Erzählung ruht auf dem Titelcharakter (Bariton), der hauptsächlich in feierlichen Begleitrezitativen und Ariosi auftritt. Die Chöre repräsentieren eine Gruppe – das Volk von Israel (wie auch die Ägypter) – und stellen einen besonders wichtigen Partner für ihn dar. Unter den zahlreichen dramatischen Personen der biblischen Erzählung (20 Soloparts) ist die Stimme Gottes (Tenor) hervorzuheben, die in der Bühnenmusik viele Präzedenzfälle hat und in einer besonders eindrucksvollen Szene die Gesetze übergibt. Eine spezielle Rolle hat das große Orchester, das auf besonders farbenfrohe Weise behandelt wird und sehr wirkungsvoll (mit einer interessanten Nachahmung des antiken Instrumentariums) wichtige Szenen illustriert – die ägyptischen Plagen, die Durchquerung des Roten Meeres, Jahwes Erscheinung im brennenden Dornbusch und andere.

Rubinsteins Grab in St. Petersburg/ Wikipedia

Moses wurde niemals auf der Bühne aufgeführt, obwohl eine Aufführung am Neuen Deutschen Theater in Prag (der späteren Státní Opera) 1892 vorbereitet wurde. Die Generalprobe hatte bereits stattgefunden, als die Aufführungen abgesagt wurden – offiziell aus finanziellen Gründen, aber es hätte auch Probleme mit der Zensur geben können. Es war eine Zeit wachsender Bestrebungen einer tschechischen Unabhängigkeit und die Echos der Geschichte von einem kleinen tapferen Volk, das sich „von der Macht des Pharaos“ befreit, hätte Wien erschüttern können. Wir wissen, dass es 1894 eine konzertante Aufführung des Moses in Riga gab, später in mehreren anderen Zentren (höchstwahrscheinlich wurden jedes Mal lediglich Fragmente aufgeführt), und dann verschwand er von den Bühnen und aus dem Bewusstsein des Publikums für über ein Jahrhundert. Ein Grund dafür waren die enormen Kosten für die Inszenierung eines Werkes mit einer solch großen Besetzung, aber auch die Tatsache, dass die Mode für „Sakralopern“ seinerzeit bereits vorüber war. Der Tod des Autors kurz nach dem Komponisten bedeutete auch, dass das Werk ziemlich schnell in Vergessenheit geriet.

Das prestigeträchtige Konzert unter der Schirmherrschaft des Polnischen Komitees für die UNESCO und des Ministeriums für Kultur und nationales Erbe, das am 15. Oktober 2017 in der Nationalen Philharmonie stattfand (vorangegangen war eine für die Veröffentlichung bestimmte Aufnahme des Werkes mit derselben Besetzung), war vermutlich die Uraufführung der gesamten, integralen Oper, welche über hundert Jahre auf ihre Wiedergutmachung gewartet hatte. Möglich wurde dies durch das persönliche Engagement von Michail Jurowski, der viele Jahre der Vorbereitung der Aufführung dieses Werkes widmete und vom Polish Sinfonia Iuventus Orchestra Unterstützung für dieses Projekt erhielt. Maestro Jurowskis Traum ist es, dass dieses außergewöhnliche künstlerische Unterfangen eine weitere Renaissance dieses interessanten und schönen, zu Unrecht vergessenen Werkes einer der originellsten Figuren der Musikszene des 19. Jahrhunderts beflügelt. Piotr Maculewiz (Übersetzung Daniel Hauser)

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Genialer Dirigent

 

Emmerich Kálmán gehört zu den bekanntesten Operettenkomponisten des 20. Jahrhunderts – doch wir verbinden seinen Namen meist nur mit seinen beiden großen Kassenschlagern: Die Czardasfürstin und Gräfin Mariza. Jetzt ist beim Label cpo eine vergessene Operette erschienen: Kaiserin Josephine. Emmerich Kálmán war sehr produktiv, neben einigen kleineren Possen und Einaktern hat er immerhin 15 abendfüllende Operetten und drei Musicals komponiert. Paradoxerweise sind ausgerechnet die konservativeren Stücke von ihm Dauerbrenner, in denen er sich auf altbewährte Operettenrezepte verlassen hat. Doch Kálmán war ständig auf der Suche nach neuen Ausdrucksmitteln in seinem Genre, er hat mit Jazzelementen ebenso experimentiert wie mit Exotismen und opernnahen Strukturen. Sicher ist er da manchmal zu exzentrisch gewesen, um ein großes Publikum glücklich zu machen. Wie in Kaiserin Josephine, wo er sehr mit der großen Oper kokettiert.

Das Ganze ist eine Historien-Operette, die sich um die oft romantisierte Liebes-Geschichte Napoleons dreht. Die Gestalt Josephines gäbe einiges her. Daraus hätte man durchaus eine schöne Geschichte stricken können – aber dies hier ist dann doch eher eine recht zusammenhangslose kitschige Revue, die sich über ein Jahrzehnt und acht zähe Bilder erstreckt und die mit der Krönung endet – eigentlich schade, denn das historisch interessanteste an dieser Ehe war nicht die Krönung, sondern die Scheidung, die erste moderne der Neuzeit überhaupt (Napoleon hatte die neuen liberalen Gesetze dafür praktischerweise kurz vorher selbst erlassen.) Das wäre ein toller potenzieller Operettenstoff, der hier gar nicht genutzt wurde. Sehr merkwürdigist, dass Kálmán stattdessen für seine letzte echte Operette so ein verzwicktes und humorloses Libretto gewählt hat – und es dann musikalisch sehr unentschlossen zwischen großer Ausstattungsoper und Musical angesiedelt hat. Große, etwas steif durchkomponierte Tableaus und Melodramen dominieren, und nur hin und wieder blitzt etwas von Kálmáns altem Charme auf.

Verpatzte Chance in den Hauptrollen: Wenn man dieses opernhafteste Werk Kálmáns schon ausgräbt, müsste man es auch groß besetzen. Um die enormen Anforderungen an die Hauptakteuere Napoleon und Josephine souverän umsetzen zu können, bräuchte es eigentlich ein Paar vom Schlage Diana Damrau / Jonas Kaufmann. Vincent Schirrmacher als Napoleon ist eine ordentliche Tenorbesetzung, er hat sogar beachtlich sinnliche Momente – aber wenn die Partie nicht mit Leichtigkeit und Anmut serviert wird, fällt die Musik zusammen wie ein misslungenes Soufflée. Miriam Portmann als Josephine versetzt dem Werk endgültig den Todesstoß. Sie ist weder textlich zu verstehen (was allerdings auch am tontechnisch unausgewogenen Mitschnitt liegen kann), noch gelingt es ihr, die Partie mit Charme und Delikatesse zu zelebrieren.

Genialer Dirigent: Das ist doppelt bedauerlich, denn ich werde nicht müde zu betonen, dass der wohl beste österreichische Operettendirigent der Gegenwart Marius Burkert heißt. Er müht sich nach Kräften, sein Ensemble aufzuwerten (übrigens gibt es in den kleineren Rollen auch gut besetzte Sänger wie Roman Martin) und stimmliche Mattheit durch orchestrale Brillanz wettzumachen. Auch diesmal ist das Franz Lehár-Orchester unter seiner Leutung absolut überzeugend; zu schade, dass Burkerts Talent dort wirklich nicht gut eingerahmt ist. Aber so bekommt man wenigstens eine Ahnung, wie elegant und mondän Kálmáns großartige Instrumentierung klingt (mit Vincent Schirrmacher, Mirjam Portmann, Theresa Grabner, Roman Martin; Chor des Lehár Festivals Bad Ischl, Franz Lehár-Orchester; Leitung Marius Burkert; cpo 2 CD 555136-2). Matthias Käther

Historischer Brahms

 

Im engeren Sinne handelt es sich bei der Neuveröffentlichung der 6 CDs umfassenden Brahms-Box mit Aufnahmen von Wilhelm Furtwängler bei Warner Classics um keine Neuheit. Alle enthaltenen Sinfonien, Konzerte, sonstigen Orchesterwerke sowie das Deutsche Requiem sind dem Sammler seit langem geläufig. Muss man sie also haben? Zumindest die Aufmachung macht tatsächlich einiges her. Für die CD-Hüllen wurden ursprüngliche LP-Cover verwendet, wie man es in Boxen dieser Art in den letzten Jahren häufig beobachten konnte.

Enthalten sind insbesondere Live-Aufnahmen, was im Falle Furtwänglers meist von Vorteil ist, konnte dieser große Künstler seine volle Kreativität doch selten in der Sterilität eines Aufnahmestudios entfalten. Bei der klanglichen Qualität sind darob indes Einschränkungen hinzunehmen. Doch seien wir ehrlich: Wer sich mit Furtwängler beschäftigt, für den muss der Klang ohnehin zweitrangig sein, gibt es doch keine einzige Stereoaufnahme dieses Dirigenten.

Es sind vier Orchester beteiligt: Die Berliner und die Wiener Philharmoniker, das Luzerner Festspielorchester sowie die Stockholmer Philharmoniker. Abgesehen von den Schweden arbeitete Furtwängler mit den genannten Klangkörpern häufig, insbesondere freilich mit „seinen“ Berlinern und mit den Wienern, denen er jahrelang als Abonnement- und später führender Gastdirigent eine Zeitlang praktisch vorstand.

Die großartige erste Sinfonie, von Hans von Bülow euphorisch als „Beethovens Zehnte“ gefeiert, liegt hier in einem Mitschnitt aus dem Wiener Musikverein vom 27. Jänner 1952 vor. Der Furtwängler-Kenner weiß, dass der Maestro die Erste häufiger als die anderen drei Sinfonien dirigierte und sich nicht weniger als elf Aufnahmen erhalten haben. Sieht man von einem Mitschnitt des letzten Satzes vom 23. Jänner 1945 aus Berlin ab, handelt es sich kurioserweise ausschließlich um Nachkriegsaufnahmen. Warner entschied sich wohl ganz bewusst nicht für die Wiener Studioeinspielung vom November 1947. In Fachkreisen gilt gerade der Mitschnitt mit dem NWDR-Sinfonieorchester vom 27. Oktober 1951 aus Hamburg als Furtwänglers genialste Interpretation. Nichtsdestotrotz darf der hier inkludierte Mitschnitt als typisch eigenwillig und furios bezeichnet werden.

Hinsichtlich der zweiten Sinfonie ist die Auswahl von in Frage kommenden Aufnahmen Furtwänglers weit geringer. Gerade einmal vier haben sich erhalten, zwei davon aus Kriegstagen, zwei aus der Zeit danach. Dass man sich für den Live-Mitschnitt mit den Berliner Philharmonikern aus dem Deutschen Museum in München vom 7. Mai 1952 entschied, ist bereits der Tatsache geschuldet, dass die Rechte der 1948 entstandenen Londoner Studioaufnahme bei der Decca liegen (die Kriegsaufnahme von 1943 befindet sich im Übrigen in Privatbesitz und wurde bis dato nicht veröffentlicht). Die Frage, ob Furtwänglers subjektives Pathos diesem pastoralen Werk entgegenkommt, stellt sich spätestens im Finalsatz nicht mehr.

Auch bei der dritten Sinfonie gibt es nur vier erhaltene Furtwängler-Aufnahmen (interessanterweise sämtlich mit den Berliner Philharmonikern). Warner gab der RIAS-Produktion vom 18. Dezember 1949 und somit der ältesten Aufnahme den Vorzug. Die an sich lyrisch angelegte Dritte erklingt hier ungewohnt monumental. Bei der Vierten schließlich liegen nominell sieben Tondokumente Furtwänglers vor, wobei auch hier eines bislang unveröffentlicht blieb. Entschieden hat man sich für diejenige Aufnahme vom 24. Oktober 1948 aus dem Berliner Titania-Palast. Wieder kam das Berliner Philharmonische Orchester zum Zuge. Die Dramatik der vierten Sinfonie kommt Furtwänglers Lesart natürlich besonders entgegen.

Hinsichtlich der Konzerte sind in der Box das zweite Klavierkonzert (mit den Berliner Philharmonikern), das Violinkonzert (mit dem Luzerner Festspielorchester) sowie das Doppelkonzert (mit den Wiener Philharmonikern) inkludiert. Leider hat sich kein Mitschnitt vom ersten Klavierkonzert erhalten. Die Solisten lesen sich wie das Who is who der damligen Musikszene: Beim zweiten Klavierkonzert – übrigens der ältesten Aufnahme aus der Box (8./9. November 1942) – handelt es sich um Edwin Fischer, beim Violinkonzert um Yehudi Menuhin und beim Doppelkonzert schließlich um Willi Boskovsky und Emmanuel Brabec. Diese Aufnahmen bezeugen, dass sich Furtwängler auch als exzellenter Begleiter erwies, der sich nicht unnötig in den Vordergrund drängte. Sie vermitteln, wie bereits die Sinfonien, ein Brahms-Bild, das man so heutzutage nicht mehr vorfindet.

Abgerundet werden die Orchesterwerke durch die Haydn-Variationen und die orchestrierten Ungarischen Tänze Nr. 1, 3 und 10. Es handelt sich um Studioproduktionen aus Wien, die am 30. März bzw. am 4. April 1949 im Musikvereinssaal entstanden. Kurioserweise spielte Furtwängler ausgerechnet den fünften Ungarischen Tanz, den wohl populärsten unter allen, nicht für die Schallplatte ein.

Auf der letzten CD schließlich findet man Ein Deutsches Requiem, somit das einzige Vokalwerk dieser Kassette. Dafür konnte auf einen Mitschnitt von Sveriges Radio zurückgegriffen werden, der am 19. November 1948 im Konserthus in Stockholm zustande kam. Daneben gibt es noch zwei weitere Aufnahmen dieses Werkes unter Furtwänglers Stabführung: 1947 aus Luzern und 1951 aus Wien (aber mit den Wiener Symphonikern). Als Solisten fungierten in der hier vorliegenden Aufnahme: Kerstin Lindberg-Torlind (Sopran) sowie Bernhard Sönnerstedt (Bariton). Hinzu kamen der Chor und das Philharmonische Orchester Stockholm. Eine tief spirituelle Auseinandersetzung mit dem gewaltigen Opus, das dem Dirigenten einiges bedeutet zu haben scheint.

Abschließend doch noch ein Wort zur Tonqualität: Diese ist von für Monoverhältnisse und für das Alter angemessen bis hin zu gerade noch erträglich (Deutsches Requiem). Die Studioproduktionen klingen tendenziell etwas besser. Dies sollte indes niemanden ernsthaft davon abhalten, diese interpretatorisch und aus  historischen Gesichtspunkten höchst bedeutenden Aufnahmen besitzen zu wollen. Daniel Hauser

Marinella, Marinella …

 

An Montserrat Caballé, die mit 85 Jahren am 6. Oktober in Barcelona verstarb, erinnere ich mich genau. Ich ging noch zur Schule, kurz vor dem Abitur in unserer Kleinstadt in der Nähe von Bremen, und mein Vater hatte ein Abonnement für die Familie am dortigen Theater, wo die Caballé mit der rothaarigen Kollegin Lore Paul in der Lustigen Witwe alternierte. Lore Paul gefiel mir mehr. Die aber landete später als Souffleuse im Graben, während Montserrat Caballé ihren internationalen Durchbruch in New York als Ersatz für die schwangere Horne  (ihrerseits Ersatz für die Scotto) in Donizettis Lucrezia Borgia neben Alain Vanzo verbuchen konnte. Der Rest ist Geschichte, auch „Barcelona“ 1992 mit Freddy Mercury bei den Olympischen Spielen.

Nachstehend noch einmal eine Zusammenfassung ihrer glanzvollen Karriere, von der ich immer wieder ein Stück miterleben konnte, mal in London, mal in Barcelona, mal in München, auch in Berlin in der legendären konzertanten Semiramide neben der Horne (die Sache mit der Fliege…) oder bei der Tosca mit dem Slow-motion-Finale. Aber eben leider auch in der ebenso legendären Ermione 1987 in Pesaro erneut neben der Horne, wo sie dem Buhorkan des aufgebrachten Publikums die Dirigierpartitur Gustav Kuhns entgegen hielt und behauptete, sie haben alle diese kleinen schwarzen Noten gesungen. Hatte sie nicht, beziehungsweise hatte sie für sich neu entdeckt. 1994  sang sie wieder in Bremen ohne nachhaltigen Erfolg (wie sich der Kollege Wolfgang Denker erinnert), auch wenn die angereisten Fans das anders sahen. Und mehrere Jahre später  erlebte (muss man sagen) ich sie mit ihrer ellenlangen Tochter beim open-air-Konzert an den Docks von Bremerhaven, wo der aufkommende Wind nicht nur den Musikern die Blätter von den Pulten riss und man nur ahnen konnte, welcher Kunst man beiwohnte. Sie hat einfach zu lange ihren eigenen Zirkus mitgemacht.

De mortui nihil nisi bene – sie war eine große Sängerin, in Bestzeiten mit einer stupenden Singtechnik, den berühmten gefloateten Topnoten unglaublicher Süße. Und als ihre ersten LPs bei RCA erschienen, die mit den Zarzuela-Ausschnitten und dem geheimnisvollen Foto hinter dem schwarzen Fächer, danach die Rossini- und Bellini-Arien, da raunte die Fachwelt und wir Opernliebhaber. Wer war sie? Weder die Scotto noch die Callas hatten diese Stimme, auch die Sutherland und natürlich die Sills nicht. Wir waren verzaubert. Schnell machte die Caballé Karriere und unendlich viele Schallplatten. Sie hat vielen, vielen Bewunderern wirklich ein Paradies auf Erden bereitet. Sie ist um die Welt gereist, hat unendlich viele Menschen erreicht, hat mit ihrem sprichwörtlichen Lächeln und grenzenlosen Humor Oper von einer menschlichen Seite kommuniziert. Daran wird man sich erinnern. Nicht an die hässlichen Steuerprobleme der jüngsten Zeit, nicht an die Gerüchte über die mafiösen Methoden ihres Bruders, der eine Welt-beherrschende Künstleragentur betrieb. Nicht an die vergeblichen Versuche, ihre singende Tochter in Engagements zu bringen. Auch nicht daran, dass sie vielleicht letzten Endes zu groß gesungen hat und beim Belcanto hätte bleiben sollen. In Erinnerung bleibt eine generöse, freundliche, äußerst humorvolle füllige Frau mit dem großen Lächeln und der in Bestzeiten wirklich wunderbaren Stimme. Und ihre erste LP mit den Zarzuela-Arien, immer noch ihre beste (trotz der aufregenden DVD ihrer Norma aus Orange) lässt für uns noch immer diesen Hauch von Zitrus und heißer spanischer Ebene  herüber wehen. „Marinella“, „Marinella“ –  eine bedeutende Stimme ist verstummt. Gracias, Senora. G. H.

 

Dazu ein originaler Auszug  aus dem unersetzlichen Sängerlexikon von Kutsch&/Riemens: Caballé, Montserrat, Sopran, * 12.4.1933 Barcelona; ihre Ausbildung erfolgte am Conservatorio di Liceo in Barcelona bei Eugenia Kemmeny, Napoleone Annavazzi und Conchita Badia und wurde in Mailand abgeschlossen. 1956 Bühnendebüt am Stadttheater von Basel (Mimi in »La Bohème«), dem sie bis 1959 angehörte. 1959-62 war sie am Stadttheater von Bremen engagiert; 1962-63 unternahm sie eine Konzerttournee durch Mexiko und gastierte an der Oper von Mexico City als Manon von Massenet, 1963 sehr erfolgreiches Gastspiel in ihrer Heimatstadt Barcelona. 1965 ersetzte sie in New York ohne vorherige Probe Marilyn Horne in einer konzertanten Aufführung von Donizettis »Lucrezia Borgia« in der dortigen Carnegie Hall. Sie sang 1965 bei den Festspielen von Glyndebourne die Gräfin in »Figaros Hochzeit« und die Marschallin im »Rosenkavalier«. 1965 folgte sie einem Ruf an die Metropolitan Oper New York, an der sie als Marguerite im »Faust« von Gounod debütierte. Seitdem feierte sie an diesem traditionsreichen Opernhaus wie an allen großen Bühnen der Welt ihre Triumphe. In der unerschöpflichen Vielseitigkeit ihres Rollenrepertoires wie in der souveränen Beherrschung der Gesangstechnik, verbunden mit einer ungewöhnli chen Dramatik des Vortrages, erwies sie sich als wirkliche Nachfolgerin der großen Maria Callas. 1967 feierte man sie an der Metropolitan Oper als Traviata; Gastspiele an der Covent Garden Oper London (1972 als Traviata, seit 1975 regelmäßig dort aufgetreten), an der Grand Opéra Paris, am Teatro Colón von Buenos Aires, an der Oper von Rio de Janeiro, am Teatro Liceo von Barcelona und am Teatro San Carlos von Lissabon brachten ihr glänzende Erfolge ein. Sie gastierte weiter seit 1969 regelmäßig an der Mailänder Scala und an den führenden Operntheatern Italiens, an der Staatsoper von Wien, seit 1971 auch an der Staatsoper von Hamburg, an der Oper von Mexico City, in San Francisco und Chicago, wo sie 1970 als Traviata debütierte, und wo man sie 1973 in der Titelpartie der Oper »Maria Stuarda« von Donizetti erlebte, dazu am Bolschoj Theater Moskau, in Zürich, Genf und Budapest. Ihre viel bewunderten Kreationen an der Scala waren vor allem die Norma, die Tosca und die Titelheldinnen in den Donizetti- Opern »Lucrezia Borgia« und »Maria Stuarda«. Sie erwarb sich große Verdienste um die Wiederbelebung der gesangstechnisch schwierigen, vergessenen Belcanto-Opern von Bellini, Rossini, Donizetti und einiger Verdi-Opern. 1974 große Erfolge bei den Festspielen von Orange als Norma, 1979 an der Metropolitan Oper in der Titelrolle von Cileas »Adriana Le couvreur«. Sie sang sogar Wagner-Partien wie die Sieglinde in der »Walküre«. 1983 war sie beim Festival von Perugia die Hypermestra in »Les Danaïdes« von A. Salieri, 1986 bei den Festspielen von Verona die Maddalena in »Andrea Chénier« von Giordano, 1986 in Rom die Titelfigur in »Agnese di Hohenstaufen« von Spontini. 1987 hörte man sie in Pesaro in »Ermione« von Rossini, ebenfalls 1987 in Barcelona als Saffo in der klassischen Oper gleichen Namens von G. Pacini. 1988 gastierte sie an der Wiener Staatsoper wie 1992 an der Covent Garden Oper London als Mme Cortese in der wieder neu entdeckten Rossini-Oper »Il Viaggio a Reims«. 1990 sang sie in Barcelona in »La Fiamma« von O. Respighi, 1991 in einer speziell für sie eingerichteten Inszenierung der Richard Strauss-Oper »Salome« die Titelrolle, die sie bereits 1959 an der Wiener Staatsoper vorgetragen hatte. 1992 hörte man sie bei den spektakulären Eröffnungskonzerten der Weltausstellung von Sevilla und der Olympiade in Barcelona. Auch als Lieder- und Oratoriensängerin hatte sie eine glanzvolle Karriere. So gab sie u.a. 1987 einen Liederabend bei den Festspielen von Salzburg. 1994 sang sie im Vatikan in Rom in einem Konzert vor Papst Johannes Paul II. Die Leuchtkraft ihrer Stimme, die hohe Musikalität der Stimmführung und eine souveräne Beherrschung der Gesangstechnik kennzeichneten jede ihrer Inter pretationen. Dabei ist die Vielseitigkeit ihres künstlerischen Gestaltungsvermögens immer wieder bewundert worden. – Verheiratet mit dem spanischen Tenor Bernabé Martí (* 1934), auch ihre Tochter Montserrat Martí trat als Sängerin (u.a. 1995-96 in Konzerten zusammen mit ihrer Mutter) auf.

 

Lit: R. Pullen & St. Taylor: »Montserrat Caballé. Casta Diva« (1994); G. Farret: »Montserrat Caballé« (Paris, 1980). Zahlreiche Aufnahmen auf den Marken Vergana (spanische Zarzuelas), RCA (integrale Opern »Lucrezia Borgia«, »Norma«, »La Traviata«, Titelheldin in »Salome«, »Bajazzo«, »Ein Deutsches Requiem« von Brahms), HMV-Electrola (»Giovanna d’Arco« von Verdi, »Don Carlos«, »Manon Lescaut« von Puccini, »Wilhelm Tell« von Rossini, »Cavalleria rusticana«) CBS (»Gemma di Vergy« von Donizetti, »Aroldo« von Verdi), Philips (»I Masnadieri« von Verdi), Decca (»Mefistofele« von Boito, »Andrea Chénier« von Giordano, Adalgisa in »Norma« mit Joan Sutherland in der Titelpartie), Alhambra (»Madame Butterfly« zusammen mit ihrem Gatten B. Martí), Harmonia mundi (»Caterina Cornaro« von Donizetti). Viele Mitschnitte von Opern u.a. auf Memories (»Agnese di Hohenstaufen«), auf Foyer (»La Traviata«, »Armida« von Dvořák, eine frühe Aufnahme aus den sechziger Jahren) und auf HRE (»L’Africaine« von Meyerbeer). Die Künstlerin ist so reichhaltig auf Schallplatten vertreten, daß eine auch nur annähernde vollständige Übersicht nicht möglich ist.

 

[Nachtrag] Caballé, Montserrat; 1958 sang sie am Stadttheater von Basel in der Uraufführung der Oper »Tilman Riemenschneider« von Kasimir von Paszthory. In Basel sang sie in drei Jahren eine Vielzahl von Partien, darunter die Pamina in der »Zauberflöte«, die Aida, die Tosca, die Martha in »Tiefland« von d’Albert, die Arabella von R. Strauss, die Chrysothemis in »Elektra« und die Salome, ebenfalls von R. Strauss. In Bremen fügte sie die Traviata, die Tatjana im »Eugen Onegin«, die Titelrollen in den Opern »Armida« und »Rusalka« von Dvořák hinzu. 1960 trat sie erstmals an der Mailänder Scala als Blumenmädchen im »Parsifal« auf. 1998 sang sie in Barcelona die Titelrolle in Massenets »La Vierge«. – Lit: F.G. Barker: Montserrat Caballé (in »Opera«, 1975). [Lexikon: Caballé, Montserrat. Großes Sängerlexikon, S. 3481 (vgl. Sängerlex. Bd. 1, S. 520; Sängerlex. Bd. 6, S. 265) (c) Verlag K.G. Saur]

 

Auf den Spuren Claudels & Rodins

 

Ein anspruchsvolles Programm hat JoyceDiDonato für ihren Liederabend am 21. Dezember 2017 des vergangenen Jahres in der Londoner Wigmore Hall gewählt, den die Stammfirma der Sängerin, Erato, jetzt auf CD herausgebracht hat (0190295642198). Into the Fire“ ist ihr Titel, der einem Liederzyklus von Jake Heggie entnommen ist, welchen die Solistin am Ende des Programms vorstellt. Für sie und das Alexander String Quartet hat der amerikanische Komponist das Werk geschrieben und sie haben es 2012 in San Francisco auch uraufgeführt. Die genaue Bezeichnung des Zyklus mit seinen acht Teilen ist „Camille Claudel: Into the Fire“. Im Mittelpunkt stehen die französische Bildhauerin und ihre Beziehung zu Auguste Rodin.

Am Beginn steht ein zunächst introvertiertes, sich dann steigerndes Vorspiel nur für das Streichquartett. Die folgenden, zumeist meditativen Lieder spiegeln Claudels bewegtes Leben wider – die Liebe zu Rodin, dem gleich der erste Titel gewidmet ist, die Trennung von ihm und die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt, in der sie bis zu ihrem Tode 1943 blieb. Im Charakter fallen „La Valse“ durch den erregten Duktus und  „Shakuntala“, was Bezug nimmt auf Claudels Marmorskulptur im Pariser Musée Rodin, durch den virtuosen Anspruch an die Sängerin und das Ensemble heraus. Ergreifend gestaltet DiDonato das nächste Lied, „La Petite Chatelaine“, das von einem verlorenen Kind erzählt und Claudels Gefühle nach einer Abtreibung aufgreift. An die Minimal Music von Reich und Glass erinnert die nervöse Begleitung der Stimme bei „The Gossips“, das Claudels zunehmend verwirrten Geisteszustand beschreibt. Der Epilog („Jessie Lipscomb visits Camille Caudel, Montdevergues Asylum, 1929“) bezieht sich auf den Besuch jener Künstlerfreundin in der Anstalt, mit der sie sich früher ein Atelier geteilt hatte. Heggie schildert sie ganz bei sich, klar,  aufgeräumt, heiter, was ihr tragisches Schicksal umso deutlicher macht. Joyce DiDonato kann hier noch einmal ihre große, ergreifende Gestaltungskunst einbringen.

Begonnen hatte der Abend mit einer Auswahl von Strauss-Liedern, für die Begleitung des Brentano String Quartet arrangiert von Misha Amory und Mark Steinberg. Die amerikanische Mezzosopranistin hatte schon im letzten Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker Lieder dieses Komponisten gesungen, allerdings komplett andere Titel als in London. Wieder wird deutlich, dass sie zu seiner Musik eine starke Affinität besitzt, sich in deren Stimmung, Melos und Struktur perfekt einfühlen kann. Eine exemplarische Diktion verleiht ihrer Interpretation noch ein zusätzliches Gütesiegel.

Aus op. 21 erklingen drei Stücke – als Auftakt das träumerisch-innig vorgetragene „Du meines Herzens Krönelein“, gefolgt vom munteren„All mein’ Gedanken“ und später dem schmerzlichen „Ach Lieb, ich muß nun scheiden“. Ergänzt wird die Auswahl durch „Die Nacht“, op. 10/3 und „Traum durch die Dämmerung“, op. 29/1 – beide von entrücktem Ausdruck und mit fein gesponnenen Linien.

Danach sorgt das begleitende Quartett für einen instrumentalen Beitrag – das „Molto adagio“ aus einem Streichquartett des belgischen Tonsetzers Guillaume Lekeu, der von 1870 bis 1894 lebte. Das Werk des 17jährigen ist ein schwermütiges Stück voller Todessehnsucht, was sich auch dem vorangestellten Zitat aus dem „Matthäus-Evangelium“ („Meine Seele ist betrübt“) schließen lässt. Es ist eine stimmige Überleitung zu den folgenden „Trois chansons de Bilitis“ von Claude Debussy, bei denen die Interpretin auch ihre Liebe zum französischen Repertoire beweisen kann. Träumerische Gespinste und delikateste Tongebung machen „La Flute de Pan“, „La Chevelure“ und „Le Tombeau des Naïdes“ zu Preziosen. Und zu solchen darf man auch die beiden Zugaben rechnen – zuerst noch einmal Strauss mit „Morgen!“, op.27/4 in seiner träumerischen Stimmung und danach, dem Konzerttermin kurz vor Weihnachten geschuldet, Grubers „Silent Night“, ganz zurückgenommen und in inniger Verhaltenheit. Das sonst so zurückhaltende Londoner Publikum überschüttete die Künstler mit lautstarken Ovationen. Bernd Hoppe

Herta Talmar

 

Sonntags, wenn nach dem Essen sich die Familie zum Mittagsschlaf niederlegte, schlich ich mich an mein neues Radio und hörte – Norddeutsche werden schmunzeln – die Bremer Sendung „Herr Sanders öffnet seinen Schallplattenschrank“. Ein Cornocupium an Melodien ergoss sich dann, meistens der leichten Muse. Ich lernte mein Operetten- (und auch Opern-)Handwerk am Loewe Opta Gerät, das mit dem Stoffbezug und dem grünen Auge in der Mitte. Herta Talmar war eine der wunderbaren Stimmen die dort in Potpourris und Querschnitten erklang, Maria Mucke eine andere, Peter Alexander, Willy Hofmann, Rita Bartos, Franz Fehringer und was die Rundfunanstalten der Zeit (namentlich aus Bremen, Hamburg und Köln) mit und ohne Franz Marszalek aufgenommen hatten. Nostalgie pur, wenn ich daran denke. Um so glücklicher bin ich, dass Wolfgang Denker meine Erinnerungen teilt und einen Artikel für unsere Serie „Wer war doch noch…“ zusammengestellt hat. Ah, memories G. H.

 

Herta Talmar mit Sandor Konya bei Radio-Aufnahmen/ Foto Denker

Sie war in den fünfziger und sechziger Jahren die Operettendiva schlechthin. Es dürfte kaum einen westdeutschen Rundfunkhörer der damaligen Zeit geben, der nicht die Stimme von Herta Talmar kannte. Herta Talmar wurde am 4. Juli 1920 in Salzburg geboren und begeisterte sich schon als kleines Kind für Musik. Bereits im Alter von elf Jahren stand sie (als kleine Prinzessin in der Fall-Operette „Die Kaiserin“) auf der Bühne des Landestheaters Salzburg. Die Eltern ermöglichten ihr eine vierjährige Ausbildung am Salzburger Mozarteum. Es folgten zwei Jahre Schauspielunterricht am Reinhardt-Seminar sowie mehrere Jahre an der Wiener Staatsakademie. Mit ihrer Heirat schienen die Karriereträume zunächst beendet. Sie synchronisierte nur gelegentlich in den Wiener Filmateliers. Doch dann zog es sie doch zur Bühne und sie trat in einer Wiener Revue auf. Nach einem Jahresvertrag in Baden-Baden holte sie das Salzburger Landestheater, wo sie zunächst 1952 gastierte und dann bis 1957 als festes Ensemblemitglied blieb. Dort war die Operette ihre Domäne: Sie sang in „Die goldene Meisterin“ (E. Eysler), „Abschiedswalzer“ (L. Schmidseder), „Marietta“ (W. Kollo), „Der letzte Walzer“ (O. Straus), „Der Sohn des Mikado“ (F.Reinl), war aber auch als Anna Elisa in „Paganini“ und als Partnerin von Johannes Heesters in der „Lustigen Witwe“ (1956) zu erleben.

Herta Talmar/ Foto privat

Ihre eigentliche Karriere hat Herta Talmar aber im Rundfunk gemacht. Der Dirigent Franz Marszalek holte sie an den Westdeutschen Rundfunk für seine vielen, vielen Operettenproduktionen, die bis heute der Maßstab in Sachen Operette geblieben sind. Parallel zu den Rundfunkaufnahmen entstanden auch unzählige Querschnitte für die Schallplatte, die damals allesamt auf Polydor erschienen sind. Marszalek, der größte Operettendirigent des Rundfunks, hatte für seine Aufnahmen ein einzigartiges Sängerensemble zur Verfügung. Neben Herta Talmar gehörten u.a. Anny Schlemm, Rita Bartos, Peter Anders, Franz Fehringer, Sándor Kónya, Fritz Wunderlich, Willy Hofmann und Peter Alexander dazu. Auch beim Bayrischen Rundfunk hat sie einige Aufnahmen gemacht, darunter „Das kleine Café“ von Robert Stolz (mit Peter Alexander).

In allen Aufnahmen wird deutlich: Herta Talmar hatte mit ihrem erfrischenden, nie zum Sentimentalen neigenden Gesang das „gewisse Etwas“ für die Operette. Sie konnte die richtige Operettenatmosphäre mühelos herbeizaubern und hatte immer etwas von einem feschen, forschen Wiener Mädel. Die Tränendrüse bemühte sie nie. Auch die Dialoge, die sie in den Gesamtaufnahmen als gelernte Schauspielerin selber sprach, zeichneten sich durch Charme und Natürlichkeit aus. Mit ihr machte Operette einfach Spaß.

Mitte der sechziger Jahre beendete sie ihre Gesangslaufbahn, trat aber u.a. noch 1968 als Schauspielerin am Münchner Volkstheater auf. Zuletzt lebte Herta Talmar in Salzburg, wo sie am 24. Juni 2010 wenige Tage vor ihrem 90. Geburtstag starb.

Vor allem beim Hamburger Archiv für Gesangskunst sind viele der Rundfunkaufnahmen, darunter auch viele ausgefallene Werke, in Ausschnitten oder komplett erschienen, wobei es oft die alten Polydor-Querschnitte als Bonus gibt. Ebenso findet man hier viele Einzelaufnahmen und Melodiefolgen sowie eine Aufnahme von „My Fair Lady“ unter Kurt Edelhagen (mit Peter Alexander und Sándor Kónya). Nachstehend sind die beim Hamburger Archiv für Gesangskunst erschienen Gesamtaufnahmen des WDR unter Franz Marszalek aufgelistet:

Benes: Auf der grünen Wiese (mit Franz Fehringer, Rita Bartos)/ Dostal: Die ungarische Hochzeit (mit Franz Fehringer, Anny Schlemm)/ Fall: Die Dollarprinzessin (mit Hernert Ernst Groh, Rita Bartos)/ Fall: Der fidele Bauer (mit Herbert Ernst Groh, Willy Hofmann)/ Fall: Die geschiedene Frau (mit Reinhold Bartel, Rita Bartos)/ Goetze: Adrienne (mit Franz Fehringer, Lore Lorentz)/ Jarno: Die Försterchristel (mit Franz Fehringer, Peter Alexander)/ Jessel: Schwarzwaldmädel (mit Franz Fehringer, Antonia Fahberg)/ Kalman: Das Hollandweibchen (mit Herbert Ernst Groh, Willy Hofmann)/ Künneke: Der Vetter aus Dingsda (mit Franz Fehringer, Brigitte Mira)/ Künneke: Wenn Liebe erwacht (mit Franz Fehringer, Renate Holm)/ Lehar: Der Graf von Luxemburg (mit Maurice Bsancon, Benno Kusche)/ Lehar: Paganini (mit Sándor Kónya, Rita Bartos)/ Millöcker: Gasparone (mit Josef Metternich, Anny Schlemm)/ Stolz: Himmelblaue Träume (mit Peter Alexander, Maria Mucke)/ Straus: Ein Walzertraum (mit Herbert Ernst Groh, Peter Alexander)/ Strauß: Jabuka (mit Franz Fehringer, Anny Schlemm).  Alle Aufnahmen sind in sehr guter Klangqualität und erfreuen mit liebevoller Ausstattung.  Wolfgang Denker

Cherubinis „Ali-Baba“

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Als ich zum ersten Mal hörte, dass Cherubini einen Ali-Baba komponiert hat, kam mir das so vor, als gäbe es von Wagner einen Gestiefelten Kater. Ich Kleingläubiger. Und nun zeigt die Scala in Mailand das Werk nach 55 Jahren Pause wieder (Première am 1.9., besuchte Vorstellung am 9.9.) – wie schon 1963 in italienischer Übersetzung. Denn auch Cherubinis letzte Oper ist natürlich für Paris entstanden, 1833, unter Verwendung des 40 Jahre zuvor komponierten Materials seines unvollendeten Koukourgi. Ursprünglich war Ali-Baba für die Opéra Comique gedacht, aber Cherubini begann, dem künstlerischen Niveau des Hauses zu misstrauen, arbeitete atypisch langsam an der Oper und brachte sie schließlich an der Académie Royale de Musique (vulgo: der Opéra) unter. Und so kommt es, dass Ali-Baba als komische Oper Cherubinis längste geworden ist (2h 15 reine Spielzeit in Milano), keine Sprechteile enthält, dafür aber aus der Grand Opéra bekannte Elemente wie große Chorszenen oder zwei Ballette enthält.

Cherubinis Verhältnis zu seinem musikdramatischen Nesthäkchen scheint zumindest durchzogen gewesen zu sein: Er wohnte der Generalprobe bei, aber keiner der elf Aufführungen. Halévy berichtet in seinen Mémoiren, der Komponist habe über die Oper gesagt: „Sie ist zu alt für ein langes Leben – sie ist schon vierzigjährig zur Welt gekommen.“ Und in der Tat – nach drei Produktionen in den 1830erjahren in Deutschland blieb Ali-Baba bis zur erwähnten Scala-Serie von vier Aufführungen 1963 ungespielt; 2010 gab’s an der Opéra du Rhin eine auf eine knappe Stunde gekürzte Kinderopernversion, in der sich das Werk nur schemenhaft erahnen ließ. Die Aufnahme der Uraufführung, wie man aus dem ausgesprochen gelungenen Programmheft der Scala erfährt,  war so negativ auch wieder nicht; allgemein wurde offenbar die Produktion sehr gelobt, die mit einer Starbesetzung prunken konnte (darunter Rossinis Erfolgstenor Adolphe Nourrit und die nachmals legendäre Marie-Cornélie Falcon noch in der Dienerinnenrolle), während die Musik (wie auch 1963) eher lauwarm aufgenommen wurde. Einerseits wurde sie als altmodisch empfunden; Mendelssohn andererseits bemängelte, dass Cherubini dem leichten Grundton lärmige Schlüsse und dramatische Wendungen nach Manier der aufkommenden Grand Opéra aufgepfropft habe. Auch „eine komische Oper, der es von Anfang bis Ende an Komik mangelt“ konnte man in einer Rezension von 1963 lesen.

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Cherubinis „Ali Baba“ an der Mailänder Scala/ Szene/ Foto wie auch oben © Marco Brescia & Rudy Amisano Teatro alla Scala

Ich konnte diese Vorbehalte im Verlaufe des Abends zwar nachvollziehen, aber dennoch hinterließ die (von Strasbourg abgesehen) Erstbegegnung mit Ali-Baba bei mir einen richtig guten Eindruck. Zwar hab ich hinterher keine Melodie daraus auf der Straße gesummt (pfeifen kann ich ohnehin nicht), aber ich habe eine beschwingte, abwechslungsreiche Oper gehört, deren Musik in ihren Stimmungen und Umschwüngen der Handlung folgt. In dramatischen und bedrohlichen Momenten, die es in dem nicht so harmlosen Märchen ja durchaus gibt, erinnert man sich leicht daran, dass die Medea vom selben Komponisten stammt, ansonsten herrscht ein anderer, heiterer Stil vor. Auch scheint mir (ich bin freilich kein Spezialist fürs frühe 19. Jahrhundert), dass das Stück sich stilistisch im Umfeld von Auber oder Lortzing gar nicht so fremd und altmodisch ausmacht. In formaler Hinsicht finde ich es sogar verblüffend modern für seine Zeit: Es gibt außer je einer Arie für den Tenor im Prolog und einer sehr schönen für den Sopran im 3. Akt kaum Solonummern (eine Soloszene für den Titelhelden in der Schatzhöhle, die das Modell Cavatina-Caballetta noch durchschimmern lässt). Der Rest besteht größtenteils aus ineinander übergehenden Duo- bis Ensembleszenen als Bauteilen, ist also eher schon durchkomponiert. Wie hier längere Szenen musikdramaturgisch gebaut sind, ist überraschend nahe etwa bei Teilen von Falstaff oder beim Momusakt der Bohème, bei allen stilistischen Unterschieden. So kommt auch die Handlung meist effizient voran, obgleich retardierende Momente wie die Ballette vorhanden sind. Besonders originell ist der Beginn des 3. Aktes in der Schatzhöhle: Ein Trio dreier Räuber, die im Schlaf sprechen (fast muss man an die Turandot-Minister denken – ist es Zufall, dass einer der Räuber – Calaf heißt?).

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Das Libretto unterscheidet sich von der bekannten Geschichte in einigen Punkten. Mélesville und (natürlich) Scribe haben den Märchenhelden Ali Baba aufgeteilt: Der arme verliebte junge Mann, der per Zufall Zeuge der Zauberhöhlenöffnung wird, heißt Nadir und ist selbstverständlich Tenor. Ali-Baba ist Bass, reicher Händler und der Vater von Nadirs geliebter Delia. Erst als Nadir urplötzlich sagenhaft reich ist, willigt Ali-Baba in die Heirat ein – jedenfalls vorübergehend, denn eigentlich wollte er Delia dem Zollkommandanten Aboul-Hassan zur Frau geben, damit der beim Kaffeeschmuggel des Schwiegervaters beide Augen zudrückt. In der Oper ist es also Ali-Baba, der Nadir das Geheimnis abringt und bei seinem Eindringen in die Schatzhöhle das Zauberwort vergisst (und den Zettel, auf dem er es notiert hat, als Fackel anzündet). Anders als den gierigen Stiefbruder im Märchen bringen ihn die heimkehrenden Räuber aber nicht um, sondern „begleiten“ ihn in seinen Palast zu seinen Schätzen. Am Ende bleibt doch etwas von der originalen Brutalität erhalten: Die Räuber lassen sich in Kaffeesäcken in den Palast schmuggeln – Aboul-Hassan rächt sich aus Wut darüber, dass er Delia nicht heiraten kann, indem er diese Säcke als vermeintliche Schmuggelware verbrennt.

Cherubinis „Ali Baba“ an der Mailänder Scala/ Szene/ Foto wie auch oben © Marco Brescia & Rudy Amisano Teatro alla Scala

Für die diesjährige Opernproduktion der Accademia Teatro alla Scala wurde mit Liliana Cavani wieder eine renommierte Regisseurin engagiert, die die Rarität librettogetreu, mit dichter, frischer Personenregie weitgehend frei von leeren Posen inszeniert hat. Ein Coup gelingt ihr schon bei der Ouvertüre – da hebt sich der Vorhang über einem altehrwürdigen Bibliothekslesesaal, grüne Pultlampen inclusive, drei heutige Studenten in Studien vertieft (nachmals Nadir, Ali-Baba und Aboul-Hassan), bis der Auftritt einer Studentin (Delia) Unruhe in den Raum bringt. Nadir liest „Ali Baba“, was ihr Interesse weckt. Die folgenden vier Akte samt Prolog spielen dann in zeitlos orientalischer Kulisse (nur die Höhle ist ein geheimnisvoller perlweißer Würfel in der Wüste, der Sesam-Mechanismus also von Menschenhand). Allen diesen Bühnenbildern von Leila Fteita ist ihre große Schönheit gemeinsam, ich konnte mich nicht satt sehen – und die Kostüme von Irene Monti stehen ihnen nicht nach. Der Bogen zur Bibliothek ist geschlagen, wenn am Ende das junge Paar in heutiger Kleidung auf dem Motorrad ins neue Glück davon fährt. Einzig der letzte Akt weist ein paar kleinere Längen und lose Enden auf – das zweite Ballett ist aber immerhin kurz und hier mit Wassermelonen erfrischend gestaltet. Was genau mit den drei Chefräubern geschieht, die nicht in den Säcken waren, blieb für mich unklar, sie gehen links ab, aber ob sie gefasst werden, konnte man zumindest von meinem Platz aus nicht sehen.

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Angemessen im Zentrum des spielfreudigen Ensembles (mit Ausnahme von Aboul-Hassan die Alternativbesetzung zur Première) steht Paolo Ingrasciotta als liebenswürdiges Schlitzohr Ali-Baba, dessen Geldgier seiner Intelligenz gern ein Bein stellt – wenn er z.B. selbst unter Todesgefahr den Räubern noch den mittellosen Familienvater vorzuspielen versucht. Ausgesprochen natürliches Spiel reich an richtig dosierten kleinen Gesten und nie aufgesetzter Komik verbindet sich mit einem warmen, kantabel und wendig geführten Bass von guter Diktion zu einem überaus gelungenen Rollenportrait. Ebenbürtiger Buffopartner ist ihm Eugenio di Lieto als Aboul-Hassan, der den Kontrast zwischen der Autorität seiner Uniform und seinen persönlichen Missgeschicken und -erfolgen köstlich ausspielt – ist einer von den beiden auf der Bühne, ist er das Zentrum des Geschehens, sind sie beide da, sprühen die Funken zwischen ihnen, höchst vergnüglich! In der Höhe wirkt Di Lietos ebenfalls schöntimbrierter Bass noch etwas hohl-dröhnend, was aber auch nicht weiter stört.

Enkeleda Kamani ist Delias großer Arie als Gefangene der Räuber sowohl musikalisch-technisch als auch im Ausdruck gewachsen und führt ihren leuchtenden Sopran auch sonst souverän durch die Partie. Sowohl dem ausgeglichenen Timbre als auch der Figur kann sie genug Biss beimischen, dass die Tochter und Geliebte im Geschehen präsent bleibt – das Libretto gäbe ihr eben abgesehen von der verzweifelten Arie eher wenig Profil oder gar Gelegenheit zur Komik, diese Sängerin weiß sich da aber zu helfen und erfreut darstellerisch schon im Bibliotheksvorspiel.

Hun Kim gefällt als ihr geliebter Nadir mit hellem, zwar nicht farbenreichem, aber schön gerundetem Tenor, den er mit der geforderten Virtuosität, aber auch mit berührendem Ausdruck führen kann; einzig in der unteren hohen Lage büßt der Klang gelegentlich etwas an Stabilität ein, die Extremhöhe sitzt aber wieder sicher und mit Schmelz. Besonders zu loben ist die gute Verständlichkeit. Szenisch ist er so liebenswert und witzig, dass man Delia gut verstehen kann, wenn sie ihn dem traditioneller „männlichen“ Aboul-Hassan vorzieht; den Niedergeschlagenen spielt er mit einer feinen Balance aus Komik und Schmerz, den Entschlossenen nimmt man ihm auch ab. Einzig im 2. Akt beim Aufruf zur Befreiung seiner Geliebten fehlt es ihm vielleicht etwas an Körperspannung – aber er glaubt da ja auch noch, sie sei nur von Aboul-Hassan entführt worden, nicht von den Räubern.

Auch wenn die Rollen unterschiedlich groß sind, kann doch jeder und jede wenigstens ein-, zweimal die Stimme zeigen. Docente preparatore della compagnia di canto ist, nach Beendigung ihrer eigenen großen Karriere, Luciana D’Intino, und das Niveau der diesjährigen Accademia ist zweifellos ausgezeichnet.

Unter den Räubern hat Rocco Cavalluzzi das nötige Charisma für den Hauptmann Ours-Kan und einen entsprechend potenten Bass, der nur in der Höhe etwas aus dem Fokus rutschen kann; ausgezeichnet auch seine beiden Adlaten, der baumlange Thamar von Gustavo Castillo, der mit seinem spektakulären schwarzen Bass verblüffend mühelos in die sehr hohen Regionen des Sesamo, apriti steigt, und der kleinere Chuan Wang als schmieriger Calaf mit präsentem Tenor und vor allem lebendigem Spiel, dem es auch gelingt, seine wankende Loyalität Ours-Kan gegenüber plastisch auszuspielen. Marika Spadafino bringt rollendeckend als Delias Sklavin Morgiane herbere Töne und engagiertes Spiel ein; am wenigsten zu singen hat Ramiro Maturana als Majordomus Phaor, aber auch das klingt gut. Der Coro dell’accademia Teatro alla Scala unter Alberto Malazzi ist ebenfalls eine Hörfreude und hat (wenigstens die Männer) einen Umzugsbonus verdient.

Auch das Orchester setzt sich aus Mitgliedern der Accademia zusammen, was mir erst bei der nochmaligen Besetzungslektüre nach der Aufführung aufgefallen ist. Paolo Carignani am Pult führt mit ihnen ein beredtes Plaidoyer für die Musik, betont die abwechslungsreiche Instrumentation (inclusive dezenter Orientalismen wie dem Triangel) und begleitet in der Regel sorgsam die Sängerinnen und Sänger; die Ouvertüre kommt hier schon als Überwältigungsstrategie daher, schmissig und straff-brillant – was mir dabei (und das gilt für den ganzen Abend) aber etwas auf der Strecke zu bleiben scheint, ist Eleganz, die Cherubinis Musik, so scheint mir, auch besäße. Sei’s drum, so bleibt für ein nächstes Theater, das sich das Stück vornimmt, noch Verbesserungspotential. Samuel Zinsli

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Kontraste

 

Das beiden Einaktern gemeinsame Thema lässt das Programm schlüssig,  die besonders durch den Dirigenten interessante Ausführung lässt die DVD aus dem Teatro Real von Madrid, woher in letzter Zeit bereits viele bedeutende Produktionen zu erleben waren, als wertvollen Beitrag zum Opernerleben erscheinen. In Tschaikowskis Oper Iolanta geht es um eine blinde Prinzessin, der nach dem Willen des Vaters vorenthalten werden soll, dass sie anders ist als ihre Mitmenschen. Erst das traurige Wissen darum aber macht den Weg zur Heilung frei.  In Strawinskys Perséphone um die Tochter der Göttin Demeter, die das Reich des Lichts verlässt, um den in ewiger Dunkelheit weilenden Toten nahe zu sein. Der Weg, den beide Frauen gehen, könnte also unterschiedlicher nicht sein, so wie es auch die Musik ist.

Der junge griechische, aber in Russland ausgebildete Dirigent Teodor Currentzis wird sowohl der hochromantischen Musik Tschaikowskis wie der strengeren, herberen Strawinskys in höchstem Maße gerecht, was der Regie von Peter Sellars weit weniger gelingt, der allerdings schon einmal durch die Einheitsbühne von George Tsypin gehandicapt ist, der einige Torbögen, auf denen den Gesetzen der Schwerkraft trotzende Tierköpfe (?) mit leeren Augenhöhlen thronen, auf die Bühne gestellt hat, während die Lichtregie von James F. Ingalis die Bühne gern in tiefes Blau taucht, aber je nach Stimmung auch in eine der anderen Grundfarben. Die Kostüme von Martin Pakledinaz sind für Chor und Träger der kleineren Rollen schwarz, selten weiß, für die beiden Protagonistinnen blau und in zeitlosem Stil.

Natürlich passt die streng stilisierte Bühne weit besser zum zweiten der beiden Werke, bildet zur Musik des ersten eher einen Kontrast und unterstützt so die Mitwirkenden in ihrem Streben danach, dem Zuhörer das Geschehen nahe zu bringen, nicht. Dabei hätten die sich jede Unterstützung verdient. Ekaterina Scherbachenko ist eine optisch mehr als ansprechende, mit einem geschmeidigen, silbrig klingenden, fein schimmernden  Sopran ausgestattete Titelfigur, Dmitry Ulianov spielt den Vater anrührend und singt ihn mit profundem Bass. Die beiden Freunde Robert und Vaudémont sind optisch ideal besetzt mit Alexej Markov mit hellem Lenski-Tenor und Pavel Cernoch mit hoch kultiviertem Bariton. Etwas zu dröhnend gibt Willard White den Allah anrufenden heilenden Arzt, was die restlichen Anwesenden aber nicht daran hindert, schließlich dem Christengott nach geglückter Kur ausdauernd Dankgesänge gen Himmel zu schicken. Ekaterina Semenchuk muss sich mit der kleineren Partie der Amme begnügen.

In Strawinskys Werk gibt es nur einen Sänger, der mit Paul Groves gleich mehrere Rollen ausfüllt. Die Titelfigur ist mit der Schauspielerin Dominique Blanc besetzt, die bereits etwas zu reif für die Rolle ist. Sie wird von einer Tänzerin gedoubelt, so wie alle anderen Figuren durch sehr anmutige, grazile Kambodschanerinnen tanzend verkörpert werden, die in all ihrer Lieblichkeit und frohen Farbigkeit nicht recht zur Musik zu passen scheinen. Am eindrucksvollsten sind hier die Chöre, auch die von Kindern, für die Andrés Máspero verantwortlich zeichnet (Euroarts 2084828). Ingrid Wanja    

Rautendelein und der Glockengießer

 

Seit Schneider-Siemssens und Everdings Rusalka hat man solch einen naturalistisch gepinselten Wald mit Wasserfall und Erdhöhle nicht mehr auf dem Theater gesehen. Kein Wunder, das Wesen mit Blumenkrönlein, welches sich die langen Haare kämmt, dabei sehr langweilt, mit Bienlein und Sonnenvögeln spricht, vom Gänserich und der Großmutter, die Tannenzapfen sucht, erzählt, ist eine Verwandte der Wassernixe. Es ist das Rautendelein, das selbst nicht ahnt, ob es Zauberfee oder Nymphlein ist. Im Teatro Lirico di Cagliari, von wo in schöner Regelmäßigkeit irgendwelche Raritäten kommen, hat Pier Francesco Maestrini diese Vorgaben alle eins zu eins auf Bühne gebracht, den echsenhaften Wassermann, den Faun, halb Bock, halb Mensch, samt seinen Begleitern. Selten genug, erhält ein Regisseur die Möglichkeit, Ottorino Respighis La Campana sommersa und das Elfenreich des ersten Aktes auf die Bühne zu bringen. Maestrini hält sich genau an die Szenenvorgabe, wie man es schon vor 90 Jahren gemacht haben mag, taucht den Wald im grünes, sonniges Licht, trübt die Naturidylle beim Eindringen der Dörfler, des Schulmeisters und des Pfarrers, und vor allem des Glockengießers Enrico, bedrohlich fahl ein.

 

Keinem sagt der Titel heute noch etwas. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Gerhard Hauptmanns Versdrama Die versunkene Glocke von 1896 ein Hit. Als Respighis Oper 1927 in Hamburg immerhin mit Gunnar Graarud uraufgeführt wurde  – Berg hatte kurzeitig erwogen Und Pippa tanzt zu vertonen – war die Zeit über solche Märchenstoffe gegangen, wenngleich sie Tullio Serafin in der folgenden Saison mit einer Starbesetzung (Rethberg, Martinelli, Pinza und de Luca) an der Met dirigierte und sich auch noch mehrere italienische Bühnen, darunter die Scala mit Aureliano Pertile, daran erfreuten. Zemlinskys Traumgörge von 1906 erzählt von der Begegnung eines Müllerburschen mit seiner Traumprinzessin, mehrere Opern Franz Schrekers aus den 1920er Jahren spielen im Grenzbereich zwischen dumpfer Wirklichkeit und Traum, Künstlertum und Realität. Bei Respighi, wie bereits bei Hauptmann, wirkt das symbolistische Märchen von dem an sich zweifelnden Glockengießer Heinrich, Enrico, dessen Glocke in den See versunken ist, und der dem Rautendelein verfällt, der Widerstreit zwischen Natur und kreativer Schaffenskraft wie ein Maeterlinck aus zweiter Hand, wie Biedermeier dritte Zeit. Gerettet wird die vieraktige Oper durch Respighis Musik. Respighi ist ein großartiger Instrumentator, wie es die sinfonischen Dichtungen der trilogia romana beweisen, durch die man ihn zu Unrecht zum musikalischen Illustrator der faschistischen Wiederbelebung des antiken Roms, der romanità, abstempelte; man denkt bei seiner Versunkenen Glocke an Strauss, an Rimsky-Korsakow, auch an Franco Alfano und dessen Üppigkeit in der 2006 von Gelmetti in Rom geretteten Sakuntala, wenngleich Respighis Vokalstil weniger hymnisch, vielleicht auch nicht sonderlich individuell, dafür recht strapaziös ist. Wagners Rheintöchter sind in Gestalt von Rautendeleins Gespielinnen gegenwärtig. Ibsens Baumeister Solness wirkt im Heinrich nach. Das Rautendelein ist ein gläserner Koloratursopran, ihre Gegenspielerin Magda ein lyrischer Sopran, Enrico ein strammer Spintotenor, die Hexe eine böse Mezzosopranistin.

 

Die Aufführung aus Cagliari, die erste in Italien, nachdem Triest 1981 die Glocke mit Zambon und Casolla gehoben hatte, ist etwas zum Schauen (Naxos, BluRay NBD0072V. Mit sehr gutem Einführungstext, doch ohne Inhaltsangabe oder gar Libretto); Montpellier gab die Oper 2004 unter Friedemann Layer konzertant.

Ein Weihnachtsmärchen im Frühjahr (Cagliari März/ April 2016). Donato Renzetti fängt mit dem auffallend klangvoll spielenden Orchester des Opernhauses das Fluidum dieser nicht mehr impressionistischen, auch nicht neoklassizistischen Musik (wie sie Respighis Zeitgenossen Malipiero, Pizzetti oder Casella praktizierten), doch sehr eigenständigen Musik und ihr Ausdrucksspektrum gut ein. Die Rumänin Valentina Farcas hat für das Rautendelein einen runden Koloratursopran mit bedeutenden lyrischen Qualitäten, Maria Luigia Borsi ist als Gegenspielerin eine recht unattraktiv strengstimmige Magda, Angelo Villari stellt sich mit veristisch angepeiltem Tenor und nicht immer genauem Ton wacker seinen heldischen Aufgaben. Pralle Figuren stellen der vielseitige Thomas Gazheli als Wassermann und Filippo Adami als Faun auf die Bühne; wenig macht Agostina Smimmero aus der Hexe. Das ist alles hinreichend gut gesungen, so dass die von Juan Guillermo Nova in den bürgerlichen Binnenakten in eine biedermeierlich romantisch Dunkelromantik gefasste Aufführung weit mehr als nur Informationswert besitzt.   Rolf Fath

Der Star ist das Haus

 

Wegweisung zum „Welterbe Opernhaus“. Nein, diesmal ist nicht das Festspielhaus oben auf dem Grünen Hügel gemeint, sondern die kleine 500-Plätze Preziose in der Innenstadt. Seit 2012 ist Bayreuth um eine von der UNESCO offiziell als Weltkulturerbe anerkannte Attraktion reicher. Kenner wussten freilich schon immer, dass das Markgräfliche Opernhaus die anderen erhaltenen Barocktheater in Deutschland, die Schlosstheater in Ludwigsburg und Sanssouci und das Eckhof-Theater, an theatralischer Pracht und feierlicher Vornehmheit übertrifft. Sofort wurde Giuseppe Galli Bibienas Opernhaus einer umfassenden, sechs Jahre dauernden Resaturierung unterzogen, in deren Verlauf für 30 Millionen Euro u.a. die Holzkonstruktion von den vielen Farb- und Lackschichten frei gelegt die bei der letzten Sanierung vor fast 80 Jahren mit falschen Lacken und Schutzmitteln begangenen Fehler behoben und in den Originalzustand von vor 270 Jahren versetzt wurde, als das Haus 1748 mit Hasses Artaserse eröffnet wurde. 30 Millionen. 90 Prozent Original.

Fast unmittelbar nach der Fertigstellung und der Wiedereröffnung mit Hasses Artaserse durch die Münchner Everding Theaterakademie wurde das Markgräfliche Opernhaus am 1. Mai 2018 zum Austragungsort des Europakonzerts der Berliner Philharmoniker, in dessen Rahmen die bereits 2013 zu Wagners 200. Geburtstag zu Gala-Ehren gekommene Eva-Maria Westbroek zu Beethovens Leonoren-Ouvertüre Nr. 3, der Vierten und Die Geschöpfe des Prometheus die Wesendonck-Lieder beisteuerte, alles dirigiert von Paavo Järvi. Wer das nicht alles bereits im Fernsehen sah, kann es nun auf Bluray (Euroarts 2064504) nachholen.

Die Mitwirkenden werden verschmerzen, dass jeder nur auf das Theater, den Innenraum, den Stuck und die Malerei achtet, die sich die Schwester Friedrichs II., Wilhelmine von Preußen, in die fränkische Provinz bauen ließ. Überhaupt hat die Markgräfin dem Ort viel stärker den Stempel aufgedrückt als Richard Wagner, der das Theater im April 1871 erstmals besichtigte. Und sich dagegen entschied. Das im feinen Bayreuther Rokoko dekorierte Stadtschloss, die Eremitage samt Orangerie stammen von der kunstbeflissenen Dame, so erfahren wir aus dem touristischen Werbefilm, der dem Konzert nebst Interviews mit Westbroek und Järvi beigegeben ist. Darin erfahren wir noch mehr von Bayreuther Traditionspflege, beispielsweise von dem in 5. Generation geführten Becher-Bräu und der fast ebenso lange wie das Opernhaus existierenden Bäckerei Lang, die auch in der 13. Generation die alten Rezepte wie die gehaltvollen Kretzaweckla aus Hefeteig hochhält.

Im anthrazitfarbenen Paillettenkleid wetteifert Westbroeck mit den Lüstern an den Logenbrüstungen. Sie singt angemessen und passioniert, der Ton ist zu wuchtig, der Ansatz ungenau und die Diktion könnte feiner sein. Geschliffen in ihrer lichten Heiterkeit erklingt die Vierte, elegant abgehorcht in ihrer motivischen und rhythmischen Leichtigkeit. Doch der Star bleibt das Haus, das Wunder aus Holz und Leinwand. Da muss man hin. Derzeit sind nicht viele Veranstaltungen angesetzt. Dann eben zu Lang (Foto oben Wikipedia). Rolf Fath

Optisch überzeugender

 

Verzückte Mienen, selig entrückt und sichtbar aus dem regnerischen Berlin (gab es neben viel Sonne auch 2018) in angenehmere Gefilde versetzt, konnte man als Besucher des Waldbühnenkonzerts 2018, aber auch als Betrachter der dort entstandenen DVD (Sony Blu-ray 19075879329zuhauf im Publikum entdecken, und dieser glückliche Seelenzustand war sicherlich der den Ohren bereiteten, aber auch den Augen gebotenen Lust zu verdanken. Die Wirkung von Jonas Kaufmann zumindest auf das weibliche Publikum ist sicherlich zu einem guten Teil seiner optischen Ausstrahlung geschuldet, und auch den männlichen Besuchern wurde in der Waldbühne mit den Auftritten seiner Partnerin Anita Rachvelishvili, einer üppigen georgischen Schönheit, viel geschenkt.

Aber nicht nur deswegen ist es eigenartig, dass man nur eine CD auf den Markt gebracht hat, zudem eine, die in großen Teilen identisch ist mit  Dolce Vita, vor gar nicht langer Zeit erschienen, und auch die Opernteile sind bereits von anderen CDs bekannt. Auch der Mezzosopran hat bereits bei Sony ein Album eingespielt. Zur Verwunderung Anlass gibt ebenso das Missverhältnis zwischen Oper und Canzone, auf der CD noch krasser zu Ungunsten der Oper, da ohne die einleitende Sinfonia zur Sizilianischen Vesper, ausfallend, während die relativ wenigen Auftritte von Rachvelishvili sicherlich der Tatsache geschuldet sind, dass man vor allem wegen Kaufmanns in das Konzert gekommen war. So trat dann die Sängerin vor allem in Duetten mit ihm auf und konnte als Santuzza der Cavalleria Rusticana mit stets weich und füllig und üppig bleibender Stimme auch in den Verzweiflungsausbrüchen erfreuen. Wundervoll zart und zärtlich setzte sie ihre Überredungskünste gegenüber dem ungetreuen Geliebten ein. In den als Duetten gesungenen Canzonen hingegen blieb der Mezzo hinter seinen Möglichkeiten zurück, war vielleicht die gewählte Tessitura nicht die optimale. Am besten gelang der Sängerin das vom Klavier begleitete Caruso.

Der Tenor hingegen zeigt sich in prachtvoller Verfassung, stark im Forte und sich in der auch mal zusätzlichen Höhe von enormer Sicherheit erweisend. Im einleitenden Cielo e mar frönte er seiner, manche meinen Unart, reichlich, indem er auch willkürlich viel Agogik einsetzte. Bewundernswert war das Crescendo auf dem abschließenden „Vien“, so wie im Addio alla mamma die Fermate auf „tornassi“.

In den Canzoni ist der Sänger mit auch hörbarer Lust und Laune am Werk, hat die Leichtigkeit im Presto von Voglio vivere così, viel Geschmeidigkeit für Parlami d’amore, Mariù, und lässt es hochdramatisch werden im Torna a Surriento, zudem hat er den Mut zum extremen, wenn auch nicht optimal gestütztem Piano in Parla piano. Catari wird vom Publikum schon bei den ersten Tönen mit Beifall begrüßt, und nach Nessun dorma mit tollem Spitzenton gibt es kein Halten mehr.

Mit ähnlicher Lust, mit der Sänger und Publikum bei der Sache sind, werfen sich auch die Mitglieder des nur auf der CD-Rückseite erwähnten Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin unter Jochen Rieder ins Zeug (Sony 19075895152). Ingrid Wanja