Puschen-Oper

 

Es ist ein verführerischer Titel: „Das Wohnzimmer als Loge“. So heißt das neue Buch, das Matthias Henke und Sara Beimdieke beim Verlag Königshausen & Neumann (230 Seiten, 38 Euro, ISBN 978-3-8260-5942-1) herausgegeben haben. Untertitel: „Von der Fernsehoper zum medialen Musiktheater“. Ich gestehe, dass die Publikation mich überrascht hat, weil sie nicht davon handelt, was ich erwartet hatte, nämlich einer Analyse der aktuelle Situation, in der immer mehr Menschen Opernaufführungen nicht live im Theater sehen, sondern im Kino in Form von Broadcasts aus der Met oder Covent Garden, im Fernsehen bei arte, 3sat & Co, oder neuerdings auch einfach am Computer als Live-Stream im Internet bei OperaVision und ähnlichen Portalen. Wie gesagt, von all dem handelt „Das Wohnzimmer als Loge“ nicht. Vielmehr geht es primär um eigenständige Opern oder Musikwerke, die direkt fürs Fernsehen geschrieben wurden. Den Auftakt machte 1951 Gian Carlo Menottis Amahl and the Night Visitor, für den Sender NBC erschaffen und von diesem erstausgestrahlt. Seither gab es zirka 140 Produktionen von vergleichbaren Fernsehopern, u.a. Bohuslav Martinůs The Marriage von 1953 oder Rainer J. Schwobs Paßkontrolle, 1958 vom ORF produziert.

Das sind – allesamt – keine Stücktitel, die einem breiten Publikum bekannt sind; sie werden vermutlich nicht einmal eingefleischten Opernfans sonderlich vertraut sein. D.h. man kann in diesem Buch mit elf Essays viel Neues entdecken und kennenlernen. Dazu gehört auch das Phänomen „Fernsehoper in Japan“ zwischen 1959 und 1989, Kazusa Haii stellt diese in einem Beitrag vor. Ob die Werke von Komponist Osamu Shinmizu (1911-1986) hierzulande eine echte Chance haben, Interesse zu erregen: etwa seine Fernsehoper Shuzenji Monigatari (englisch: Tale of Shuzenji) von 1959? (Ich wage das zu bezweifeln.)

Persönlich am spannendsten fand ich Kurt Hickethiers Beitrag „Fernsehspiel und Fernsehoper: Von der Bühne zum Studio“, weil er darin von TV-Aufzeichnungen von bekannten Opern spricht und Mitwirkenden, die den meisten Opernfans vertraut sein werden. Hickethier holt historisch aus und beginnt in der Nazi-Zeit. Denn die Anfänge des Fernsehspiels im Dritten Reich, im Fernsehprogramm des Senders „Paul Nipkow“ in Berlin-Witzleben ab 1935, fallen zusammen mit verschiedenen Formen des musikalischen Fernsehspiels: der „Musikalischen Filmgroteske“, dem „Musikalischen Schattenspiel“ und dem „Musikalischen Lustspiel“. Zur letzten Kategorie gehört „Herzen auf Urlaub“ von Peter Arnold, Musik von Dolf Brandmeyer, am 22. Juni 1040 ausgestrahlt. Es war eine durchkomponierte Operette, die so erfolgreich war, dass sie im Winter 1941 en suite elf Mal wiederholt wurde, d.h. sie wurde weitere elf Mal live aufgeführt und ausgestrahlt; andere technische Möglichkeiten gab es damals nicht, elektronische Aufzeichnungen kannte man noch nicht.

Die erste wirkliche Fernsehoper im deutschen Fernsehen war 1940 die Abu Hassan von Carl Maria von Weber, Regie führte Günter Stenzel, Bühnenbilder von Karl Joksch, der in den 1950er Jahren für den NWDR arbeitete. Die Bearbeitung der Weber-Oper stammte von Herman Roemmer, der als Librettist und Schriftsteller 1935 für Eduard Künneke die opulente Operette Die große Sünderin geschaffen hatte, an der Berliner Staatsoper uraufgeführt mit Tiana Lemnitz und Helge Rosvaenge.

Aufgrund der Kriegsbedingungen – es gab die Verpflichtung zur Verdunkelung – gelangte die Weber-Oper nachmittags von 15 bis 16.15 Uhr zur Aufführung, danach am gleichen Tag nochmal von 18 bis 19.15 Uhr. In der Rolle der Fatima konnte man die junge Elisabeth Schwarzkopf bewundern, die 1938 am Deutschen Opernhaus in Charlottenburg debütiert hatte; 1942 holte Karl Böhm sie an die Wiener Staatsoper als ‚rising star‘.

Dieser Abu Hassan war so erfolgreich, dass er bis Juni 1940 noch acht Mal im Fernsehen zu sehen war. Mit Schwarzkopf entstand 1944 auch eine Radioaufnahme, darin singt Erich Witte den Abu Hassan und Michael Bohnen den Omar, Leopold Ludwig dirigiert das Berliner Rundfunk-Sinfonie-Orchester. Leider geht Knut Hickethier auf diese Aufnahme nicht ein, so wie er auch sonst nicht auf die musikalischen Qualitäten (oder Nichtqualitäten) der Fernsehopern eingeht oder darauf, wie sie bei Opernfans heute in Erinnerung geblieben sein könnten.

Immerhin erwähnt er, dass das Fernsehen der frühen 1950er Jahre stark „von ehemaligen Mitarbeitern des NS-Fernsehens geprägt wurde“. Er erwähnt als erste ‚große‘ Oper im bundesdeutschen Fernsehen La Traviata“am 9. Dezember 1953, als Live-Übertragung in der Fernsehregie von Herbert Junkers (auch er hatte schon im NS-Fernsehen Regie geführt). Über die Besetzung erfährt man nichts; leider. Im Januar des gleichen Jahres war bereits „Amahl und die nächtlichen Besucher“ zu sehen, als Gastspiel einer holländischen Truppe.

Spannend fand ich den Hinweis auf eine Übertragung der Lustigen Witwe zu Ostern 1953; sie schrieb Programmgeschichte, weil die Live-Sendung aus dem Operettentheater in Hamburg-St- Pauli abgebrochen werden musste: das Publikum hatte gegen die anwesenden Kameras protestiert und fühlte sich dermaßen gestört, dass das TV-Team mitten in der Aufführung abziehen musste! Trotzdem gab es danach immer wieder Übertragungen aus Opernhäusern, weil die Theater damit ihre Bekanntheit und ihr Renommee bei einer breiten Öffentlichkeit erhöhen konnten. Auf die diversen inzwischen auf DVD erhältlichen Aufzeichnungen, beispielsweise aus der Deutschen Oper Berlin, geht der Artikel nicht ein. Dafür auf die 1961 produzierte Serie von zwölf Fernsehoperetten, die Regisseur Kurt Wilhelm kostengünstig en bloc herstellte. Aber auch hier erfährt man nicht, welche zwölf Titel das sind und auch nicht, ob es diese heute irgendwo zu sehen gibt, bei YouTube oder auf DVD.

Wie gesagt, wer sich auf eher unbekanntes Repertoire einlassen möchte, ist mit diesem Essay-Band gut bedient. Wer etwas zum Wandel in der Rezeption von Oper vom Theater hin zu TV, Kino und Internet erfahren möchte, wird hier nur begingt fündig. Das kann man bedauern, aber auch als Chance zur Horizonterweiterung verstehen. Der Band ist übrigens nur begrenzt bebildert, so dass man von vielen der diskutierten Fernsehopern nur bedingt einen Eindruck bekommt. Kevin Clarke