Französischer Klangrausch mit Raritäten

 

Am 6. November 1968 starb der bedeutende Dirigent Charles Munch im Alter von 77 Jahren. Dieses Datum jährt sich in Kürze zum 50. Male. Charles Münch, 1891 im damals zum Deutschen Reich gehörigen Elsass geboren, verkörperte wie kein anderer Dirigent die nicht immer einfachen deutsch-französischen Beziehungen, kämpfte im Ersten Weltkrieg auf Seiten Deutschlands und unterstützte im Zweiten Weltkrieg als Direktor des berühmten Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire die französische Résistance. Seinen größten Ruhm erlangte er zweifellos während seiner 13-jährigen Amtszeit als Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra zwischen 1949 und 1962, in der zahllose heute legendäre Einspielungen für RCA entstanden. Erst im hohen Alter kehrte er wieder nach Frankreich zurück, gründete noch 1967 das Orchestre de Paris und stand diesem bis zu seinem überraschenden Ableben im Folgejahr während einer Amerika-Tournee vor.

Warner ehrt Munch nun (2018) mit einer nicht weniger als 13 CDs umfassenden Box (0190295611989), welche sämtliche für EMI und Erato entstandenen Einspielungen zwischen 1935 und 1968 enthält. Es sind insgesamt vier Orchester beteiligt, allesamt französisch: Neben dem 1967 aufgelösten Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire und dem im selben Jahr daraus weitgehend hervorgegangenen Orchestre de Paris handelt es sich um das Orchestre National de la Radiodiffusion Française bzw. de’l O.R.T.F. (so seit 1964) sowie das seinerzeit berühmte Orchestre des Concerts Lamoureux.

Die ersten sechs CDs versammeln Stereoaufnahmen der ganz späten Lebensjahre Munchs von 1965 bis 1968. Die CDs Nr. 1 bis 3 werden vom Orchestre de Paris, die CDs Nr. 4 bis 6 vom Orchestre Lamoureux bestritten; lediglich Honeggers vierte Sinfonie „Deliciae Basiliensis“ auf CD 6 steuert das O.R.T.F.-Orchester bei. Eröffnet wird die Box mit der 1967 im Salle Wagram eingespielten Symphonie fantastique von Berlioz, die als fast einziges Werk doppelt vorliegt (so auch von 1949 mit dem Rundfunkorchester). Es handelte sich hierbei um das allererste Zusammentreten des neugegründeten Orchestre de Paris. Die Symphonie fantastique lag Munch sehr am Herzen: Neben den beiden hier enthaltenen Aufnahmen gibt es nicht weniger als drei weitere Studioeinspielungen (1954 und 1962 aus Boston und 1966 aus Ungarn). Gemeinhin gilt die ’54er Living Stereo-Einspielung von RCA Victor als der Klassiker, während die Pariser Aufnahme altersweiser daherkommt. Die Tempi sind in den Altersaufnahmen gemäßigter, in sich ruhender, ohne aber an Intensität einzubüßen – ein Grundmerkmal der späten Interpretationen dieses Dirigenten, welches auch beim Ravel’schen Boléro zu Tage tritt. Dieser wurde wenige Wochen vor Munchs Tod Ende September/Anfang Oktober 1968 in Paris eingespielt und ist mit gut 17 Minuten deutlich getragener (und m. E. auch überzeugender) als die gehetzt wirkende Bostoner Aufnahme aus den 50er Jahren (13:49); Ravel selbst übrigens sah ein zu schnelles Tempo für das Stück als ruinös an. Auch in den übrigen enthaltenen Ravel-Werken (die Suite Nr. 2 aus Daphnis et Chloé, die Pavane pour une infante défunte, die Rapsodie espagnole und das Klavierkonzert G-Dur mit Nicole Henriot-Schweitzer) beweist Munch seine Meisterschaft.

Auf der dritten CD befindet sich eine der herausragendsten Aufnahmen der ersten Sinfonie von Brahms, die für Geld zu haben ist. Im Jänner 1968 ebenfalls im Pariser Salle Wagram eingespielt, nimmt sich Munch beinahe 50 Minuten Zeit, in denen er die monumentale Größe dieser gewichtigen Sinfonie betont. Vom pochenden Anfang des Kopfsatzes über das tief empfundene Andante sostenuto und das hier wirklich graziöse Scherzo bis hin zum apotheotischen Finalsatz. Dort vergehen sage und schreibe sechs spannungsgeladene Minuten, ehe das weltbekannte und hymnusartige Hauptthema erklingt. Dass Munch trotz solcher Tendenzen sein französisches Temperament keinesfalls verloren hat, kann man in der abschließenden Coda mustergültig miterleben: mehr à la française kann das eigentlich kaum klingen. Der typisch französische Klang der Blechbläser, der ein wenig an die Marseillaise denken lässt, verrät die illustre Tradition des Orchestre de Paris, die im dortigen Konservatorium seit dem frühen 19. Jahrhundert gepflegt wurde. Ein Wermutstropfen bleibt indes: Leider bediente sich Warner nicht des überlegenen japanischen Remasterings, das dem hier vorliegenden hörbar vorzuziehen sind.

Das heutzutage etwas im Schatten stehende Orchestre Lamoureux erlebte seine große Zeit in den 1950er und frühen 60er Jahren unter den Chefdirigenten Jean Martinon und Igor Markevitch, als es zu zahlreichen bedeutenden Produktionen herangezogen wurde (darunter Markevitchs spektakuläre Einspielung der Symphonie fantastique, die m. M. n. sogar jene Munchs noch übertrifft). Auch wenn dieser Klangkörper nicht ganz die Spielkultur anderer Orchester aufweist, so nimmt einen der wahrlich gallisch zu nennende Elan mit. In der vorliegenden Box werden in der Hauptsache das Cellokonzert Nr. 1 von Saint-Saens und das Cellokonzert d-Moll von Lalo (mit André Navarra) sowie die Sinfonien Nr. 3 und 4 von Roussel vom Lamoureux bestritten. Von Charles Munchs Einsatz auch für zeitgenössische Komponisten zeugt die zusätzlich inkludierte zweite Sinfonie von Henri Dutilleux, die dieser 1959 dem 75. Jubiläum des Boston Symphony Orchestra widmete – für den damaligen Chefdirigenten Munch also gleichsam eine Pflichtübung. Interpretatorisch überzeugender wird man all die genannten Werke schwerlich zu Gehör bekommen. Dies gilt genauso für die beiden Sinfonien von Arthur Honegger, die zweite und die vierte, die Warner in die Kassette gepackt hat (es spielen das Orchestre de Paris bzw. das Orchestre National de l’O.R.T.F.).

Mit der siebten CD verlässt man das Stereozeitalter und macht eine Zeitreise in die 1930er Jahre. Das vierte Klavierkonzert von Saint-Saens mit keinem geringeren Solisten als Alfred Cortot von 1935 eröffnet den Reigen. Munchs enorme Bandbreite erkennt man, wenn hier auf das Violinkonzert D-Dur von Vivaldi die Berceuse von Gabriel Fauré (mit Denise Soriano) und das Violinkonzert von Ernest Bloch (mit Joseph Szigeti) folgen. Auch das in Stereo nicht vorliegende Klavierkonzert für die linke Hand von Ravel ist hier in Mono versammelt (zweifach; wiederum mit Cortot sowie mit Jacques Février), ferner unter anderem die jeweils ersten Klavierkonzerte von Tschaikowski und Liszt (mit Kostia Konstantinow und Joseph Benvenuti). Hier findet man auch die dritte Dopplung, nämlich die Pavane pour une infante défunte, diesmal von 1942. Selbst eine Bach-Kantate wurde ausgegraben: „Meine Seele rühmt und preist“ BWV 189 mit dem Bariton Pierre Bernac.

Eine besondere Liebe verband Charles Munch mit der Wiener Klassik, die durch das fünfte und siebte Violinkonzert sowie das zwanzigste Klavierkonzert von Mozart (Solisten: Jacques Thibaud, Denise Soriano und Jean Doyen) sowie das „Kaiser-Konzert“ von Beethoven (mit Marguerite Long am Piano) angemessen repräsentiert ist. Weitere Lücken in der Munch-Diskographie können ebenfalls durch hochbetagte Einspielungen geschlossen werden, darunter Debussys La Mer und Ravels La Valse. Nahezu alle dieser zwischen 1935 und 1949 entstandenen Mono-Produktionen werden vom Orchester des Pariser Konservatoriums übernommen; einzig die ’49er Symphonie fantastique (Orchestre National de la Radiodiffusion Française), die genannte Bach-Kantate (ungenau als „Kammerorchester“ bezeichnet) sowie das Klavierkonzert Nr. 4 von Saint-Saens (genauso nichtssagend schlicht „Orchester“ genannt) entstanden mit anderen Klangkörpern.

Richtet sich die erste Hälfte dieser Box mit seinen gut klingenden Stereoaufnahmen aus den 1960ern also an die breite Öffentlichkeit, ist die zweite Hälfte mit den Monoeinspielungen aus den 1930ern und 40ern aufgrund der nicht zu leugnenden klanglichen Einschränkungen und trotz des hohen künstlerischen Wertes eher für den Munch-Sammler geeignet. So sind zwei sehr unterschiedliche Abschnitte im langen Dirigentenleben von Charles Munch aufnahmetechnisch festgehalten, was sich auch im jeweiligen Stil zeigt. Zeichnen sich die frühen Einspielungen durch Spritzigkeit und meist flotte Tempi aus, erlebt man in den späten Tondokumenten den reifen und abgeklärten Munch, der nach seinem Indian Summer in Boston einen markanten Altersstil entwickelte, der sich selbst von jenem der späten 50er und frühen 60er Jahre deutlich unterscheidet. Da die Warner-Box gewissermaßen die Bostoner Jahre zeitlich umschließt und nur den „jungen“ und „ganz alten“ Munch abdeckt, empfiehlt es sich, die bei RCA zumeist bereits in ausgezeichneter Stereophonie dokumentierten Einspielungen seiner besten Jahre zusätzlich kennenzulernen (Charles Munch/Boston Symphony Orchestra – The Complete RCA Album Collection, 86 CDs). Daniel Hauser