Nur nostalgische Opernfans werden mit dem Namen Dusolina Giannini etwas anfangen können (Dezember 19, 1902 – Juni 29, 1986), aber die vielen Dokumente lassen eine italienisch geschulte, volle und dem Verismo verpflichtete, robuste Sopranstimme hören, die allerdings – zu meiner Überraschung, als ich sie 1983 in Berlin kennenlernte – in Berlin bei Marcella Sembrich ausgebildet wurde. Ich hatte die Ehre, ihr Tischherr bei einem Diner zu Ihren Ehren sein zu dürfen, dass die West-Berliner Hochschule für Musik und der dto. Senat gaben, als sie 1983 ihre musikalische Hinterlassenschaften der HdK stiftete und dafür nach Berlin angereist war, einundachtzigjährig. Die bezaubernde Dame mit dem beblümten Kapotthütchen sprach fließend Deutsch und war von außerordentlicher Lebendigkeit. Bei Suppe und Riesling schwatzen wir über ihre Karriere, ihr Leben, ihre Ansichten zur Kunst und zur Opernlandschaft jener Tage. „Alles beruht auf einer guten Technik, ich könnte heute noch singen!“ „Da glaub ich nicht!“ platzte ich ungläubig und etwas ungezogen (ah Jugend!) heraus. Sie lächelte erneut, klopfte mit dem Löffel ans Glas um Ruhe zu bitten. Ihr Gesicht straffte sich, und das Wunder der Verwandlung ließ durch das Anspannen der nötigen Muskulatur sie nun um vierzig Jahre jünger aussehen: Sie setzte – mit den ersten paar Tönen noch etwas zitterig – zur Nilarie an, a capella, aus dem Stand/Sitz, die Suppe vor sich. Die ganz hohen Noten tippte sie nur an, aber der Ton war noch immer voll, unverkennbar sie, unglaublich. Ich fiel fast vom Stuhl. „Geht doch noch!“ sagte sie zufrieden und strahlte mich an. Im allgemeinen Beifall freute sie sich über meine Sprachlosigkeit. Was für eine Frau.
Im Folgenden gibt es eine Zusammenfassung unseres Gespräches von 1983, die Ingrid Wanja liebenswürdiger Weise besorgt hat, während mein Dank auch an Wolfgang Denker für seine bewährte Archivarbeit geht. G. H.
Von Dusolina Giannini sagte Arturo Toscanini enthusiastisch: ,,E la musica in persona, nella sua bellezza, nella sua sincerita e nella sua purezza.“ Um diese „bellezza“ meinte eine damals bekannte Sängerin angesichts der andächtig lauschenden Noch-nicht-einmal-Debütantin Giannini sich sorgen zu müssen, als sie bedauernd deren Lehrerin Marcella Sembrich zurief: ,,Questa bella faccia innocente – in questa professione! Peccato!“
Die „sincerità“ feierte ihren größten Triumph, als Dusolina Giannini ihre Zuneigung gegenüber dem deutschen Publikum auch unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg selbst gegenüber den Vorwürfen immerhin eines Arthur Rubinstein nicht verleugnete. Sie war unter den ersten, die im Titaniapalast in Berlin heute legendäre Konzerte gaben. Die „purezza“ drückte sich rührend aus in der Scheu der Sängerin, die schon mit 12 Jahren die Azucena sang und eine überzeugende Santuzza jugendlichsten Alters darstellte, sich privat jedoch nicht zu fragen getraute, was für ein schreckliches Unrecht ihr Turiddu denn angetan habe.
Gründe, meinte sie, gab es für sie schon genug, nicht selbstgefällig, aber zufrieden in den Spiegel schauen zu können und zu ihrem Spiegelbild zu sagen: ,,Dusolina, du hast deine Sache gut gemacht“ , ein Selbstlob, das aus einer Bescheidenheit erwächst, die die Sängerin nie den spektakulär-triumphalen Opernerfolg suchen; sondern das sich liebevolle Bemühen vor allem um das deutsche Lied vorrangig sein ließ; aus einer Redlichkeit heraus, die ihr Auftreten an der Mailänder Scala scheitern ließ, weil sie sowohl dem üblichen Bestechen der Kritiker wie dem Anheuern einer Claque abhold war. Nicht als Opernsängerin, auch nicht als Sängerin, sondern als Künstlerin bezeichnete sie sich.
Ihre farbigen und temperamentvoll erzählten Erinnerungen reichen weit zurück. Mit drei Jahren wahrscheinlich hatte sie ihren ersten Auftritt als Sängerin: auf einem Tisch inmitten einer Menschengruppe, deren Bitten um eine Darbietung sie erst nachgab, als man ihr auch ihr heißgeliebtes rotes Stühlchen hinaufgereicht hatte „Erblich belastet“ war sie von beiden Eltern her. Die Mutter war als Geigerin Mitglied eines Kammerorchesters und spielte auch Mandoline. Der Vater, Ferruccio Giannini, war ein recht bekannter Tenor, der den ersten amerikanischen Turiddu sang und den ersten Faust kreierte. Ein Großonkel war Dirigent eines Orchesters von ebenso musikalischen Onkeln und Tanten, eine Schwester wurde eine bekannte Gesangslehrerin, ein Bruder zeitweise erfolgreicher Komponist, dessen Oper „The Scarlet Letter“ sie 1936 bei der Uraufführung mit zum Erfolg verhalf. Es gab also in ihrem Leben von Kindesbeinen an „Musik, Musik und nur Musik“.
Der Vater war ein überaus unternehmender Mann, der zeitweise eine „banda concertante“ leitete, einer der ersten Sänger auf Schallplatten war, der in Philadelphia ein Theater gründete, in dem nicht nur Opern, sondern auch Stücke der Commedia dell’Arte aufgeführt wurden . Die ganze Familie, deren musikalische Grundausbildung die Mutter besorgte, wurde für dieses Unternehmen eingespannt, so dass die l2jährige Dusolina (,,Ich glaube, ich habe in der Schule nichts gelernt, ich habe nur gesungen.“) unter dem Gelächter des Publikums den tenorsingenden Vater als „figlio“ Manrico bei dem schon erwähnten Trovatore in den Arme schließen musste. Auch eine Aida mit der älteren Schwester in der Titelrolle, mit dem Vater als Radames und ihr selbst als Amneris stand auf dem Programm; der Vater überwachte die Entwicklung der Stimme seiner Tochter mit Sorgfalt, und als er die 15jährige zu der bekannten Gesangspädagogin Marcella Sembrich brachte, meinte diese abwehrend: ,,Was wollen Sie denn bei mir? Die Stimme sitzt doch.“ Der Vater bestand auf einer „seriösen“ Ausbildung, auf der Vermittlung der „Frauenfinessen“ durch eine weibliche Lehrerin. Ein Bekannter, Besitzer einer Zigarrenfabrik, finanzierte das Studium, das von Dusolina und ihrer sie begleitenden Schwester in einer kärglichen New Yorker Umgebung mit großem Ernst absolviert wurde. Sie fühlte sich der geliebten Lehrerin gegenüber verpflichtet: ,,Sie war auch eine große Frau, nicht nur eine große Künstlerin. Sie liebte mich sehr, und ich liebte sie. Ich wollte sie nicht enttäuschen.“
So konnte die Giannini , als die große Chance kam, kühn, aber wahrheitsgemäß behaupten: „Ich bin bereit.“ Es ging um das Einspringen bei einem Konzert in der New Yorker Carnegie Hall, nach dem die Zeitungen einmütig schrieben: ,,A new star is born.“ Agenten stürmten die Garderobe, und die Einundzwanzigjährige stand vor der Entscheidung: ,,In three years I will make you a rich girl“ oder „I’ll make you a worldcarreer“. Sie wählte das letztere, aber trotz der nun folgenden Engagements nahm sie weiter Unterricht. Im Herbst 1923 sang sie unter Bruno Walter Dvoráks „Zigeunerlieder“, im Herbst 1924 Arien aus Oberon und Figaros Hochzeit.
Mit dem Versprechen des Berliner Agenten Erik Simon (,,You must come to Berlin, you will have Berlin at your feet“) begann die Zeit, die die Sängerin heute als die glücklichsten Jahre ihrer Karriere bezeichnet. ,,Berlin hat mich an sein Herz genommen“, stellte sie nach den beiden ersten Konzerten hier beglückt fest.
Eine andere große Liebe brachte zunächst Tränen. ,,Ich weiß nicht, diese Lieder, diese Lieder…“, mit diesen nur gestammelten Worten war sie schluchzend weggelaufen, nachdem sie zum ersten Mal Lieder von Schubert und Schumann gehört hatte. Sie konnte nur erklären: ,,Ich weiß nicht, was es ist, aber diese Lieder sind mein eigenes Ich.“ Der Liedgesang sollte ihre gesamte Karriere hindurch einen Vorrang einnehmen, auch als sie nun in Hamburg ihre erste Bühnenpartie, die Aida, sang; Tosca, Recha, Forza-Leonora, Donna Anna und andere Rollen folgten. Die berühmtesten Dirigenten verpflichteten sie immer wieder: Toscanini, Furtwängler, Blech, Busch, Kleiber, Stokowski und immer wieder Bruno Walter, Pierre Monteux und Ernest Ansermet, die sie besonders liebten. 1938 erreichte sie auf einer Schiffsreise ein Telegramm Winifred Wagners mit dem Angebot, im Sommer 1939 in Bayreuth die Kundry zu singen. Obwohl die amerikanischen Agenten, in der Mehrzahl Juden, sie zu einer Absage drängten, nahm sie das Angebot an, denn in Bayreuth zu singen, war für eine. Künstlerin ihrer Generation und ihres Formats der Traum schlechthin. Der Krieg zerschlug ihre Pläne und bewahrte sie vielleicht vor einem Schicksal ähnlich dem der Französin Germaine Lubin. Eine gewisse Entschädigung für Dusolina Giannini war später in San Francisco der konzertante Parsifal unter Ansermet.
Schon 194 7 kam Dusolina Giannini wieder nach Europa, erst 1949 durfte sie nach Berlin (hier fehlte eine nähere Begründung, aber ihre politische Vergangenheit blieb unerwähnt und im Dunkel/G. H.), wo sie es durchsetzte, dass der immer noch belastete Michael Raucheisen sie am Klavier begleitete. Auf der Fahrt durch die zerbombte Stadt weinte sie fassungslos. Aber ihr Wunsch hatte sich erfüllt: wieder in Deutschland zu singen.
Um Politik hatte sie sich nie gekümmert – sie hatte die Deutschen als Musikliebhaber lieben gelernt. 1956 dann gab sie allein in Berlin fünf Abschiedskonzerte, wollte sich ganz aus dem musikalischen Leben zurückziehen und wurde doch rückfällig, als Herbert Graf ihr 1962 die Leitung des Zürcher Opernstudios anbot. ,,Nur wer ,es‘ gehabt hat, kann ,es‘ verstehen„, sagte sie im Rückblick auf ihre Karriere. Und um ,es‘ zu haben, musste man zweierlei auf bringen, was sie dann schmerzlich vermisst: „Andacht und Besessenheit!“ Sie fühlte sich als ,,Dienerin der Musik“. Viele der heutigen „Stars“, die vielleicht eine schöne Stimme haben, aber keine Sänger sind, empfand sie als „Schwindler“, die in ihren Augen nie das erreichten, was ein Aureliano Pertile verkörperte, der „keine Mätzchen“ kannte, oder ein Hans Beirer , der nur deshalb noch singen konnte, weil er „echt ist, weil er sich selbst treu geblieben ist“!
Sie bedauerte die heutige Generation, weil sie nicht mehr die Mutter kennt, die am Herd steht, wenn das Kind nach Hause kommt, und sich geduldig seine Sorgen anhört; nicht mehr den Vater, der die Prinzipien einer konsequenten Erziehung vertritt, nach denen sie sich selber zeitlebens richten konnte. Die Sänger von heute aber hatten ihr Mitgefühl, weil sie des übereifrigen Regisseurs nicht zuletzt deshalb bedürfen, weil sie nicht mehr den Mut haben, sich allein von der Musik inspirieren zu lassen, eben weil sie nicht mehr zu hören vermochten. (Dies 1983!)
Hinsichtlich der Dokumente verweise ich auf die 2 LPs bei Preiser und die CD bei Naxos: eine wunderschöne, frische Norma von 1931, Arien aus Aida, Forza, eine hinreißende Carmen, Santuzza und Manon, sowie zwei italienische canzoni; dann weitere Arien aus Forza, Otello, jeweils Arien und Duette aus Butterfly (mit Marcel Wittrisch) sowie Tostis Dauerbrenner „Mattinata“. Lieder von Brahms und Strauss – diese sind ein Muss für Fans des Liedgesangs und demonstrieren (schon aufgrund der Begleitung von Michael Raucheisen) die bemerkenswerte Kunst der Giannini. Als Aida hört man sie dann noch in der Gesamtaufnahme bei EM Italiana, auf der sie neben Aureliano Pertile, Irene Minghini-Cattaneo (der Ricordi-Gattin) u.a. unter Carlo Sabajno ihren Verdi-Gesang dokumentiert. Aber es gibt noch mehr. G. H.