Historischer Brahms

 

Im engeren Sinne handelt es sich bei der Neuveröffentlichung der 6 CDs umfassenden Brahms-Box mit Aufnahmen von Wilhelm Furtwängler bei Warner Classics um keine Neuheit. Alle enthaltenen Sinfonien, Konzerte, sonstigen Orchesterwerke sowie das Deutsche Requiem sind dem Sammler seit langem geläufig. Muss man sie also haben? Zumindest die Aufmachung macht tatsächlich einiges her. Für die CD-Hüllen wurden ursprüngliche LP-Cover verwendet, wie man es in Boxen dieser Art in den letzten Jahren häufig beobachten konnte.

Enthalten sind insbesondere Live-Aufnahmen, was im Falle Furtwänglers meist von Vorteil ist, konnte dieser große Künstler seine volle Kreativität doch selten in der Sterilität eines Aufnahmestudios entfalten. Bei der klanglichen Qualität sind darob indes Einschränkungen hinzunehmen. Doch seien wir ehrlich: Wer sich mit Furtwängler beschäftigt, für den muss der Klang ohnehin zweitrangig sein, gibt es doch keine einzige Stereoaufnahme dieses Dirigenten.

Es sind vier Orchester beteiligt: Die Berliner und die Wiener Philharmoniker, das Luzerner Festspielorchester sowie die Stockholmer Philharmoniker. Abgesehen von den Schweden arbeitete Furtwängler mit den genannten Klangkörpern häufig, insbesondere freilich mit „seinen“ Berlinern und mit den Wienern, denen er jahrelang als Abonnement- und später führender Gastdirigent eine Zeitlang praktisch vorstand.

Die großartige erste Sinfonie, von Hans von Bülow euphorisch als „Beethovens Zehnte“ gefeiert, liegt hier in einem Mitschnitt aus dem Wiener Musikverein vom 27. Jänner 1952 vor. Der Furtwängler-Kenner weiß, dass der Maestro die Erste häufiger als die anderen drei Sinfonien dirigierte und sich nicht weniger als elf Aufnahmen erhalten haben. Sieht man von einem Mitschnitt des letzten Satzes vom 23. Jänner 1945 aus Berlin ab, handelt es sich kurioserweise ausschließlich um Nachkriegsaufnahmen. Warner entschied sich wohl ganz bewusst nicht für die Wiener Studioeinspielung vom November 1947. In Fachkreisen gilt gerade der Mitschnitt mit dem NWDR-Sinfonieorchester vom 27. Oktober 1951 aus Hamburg als Furtwänglers genialste Interpretation. Nichtsdestotrotz darf der hier inkludierte Mitschnitt als typisch eigenwillig und furios bezeichnet werden.

Hinsichtlich der zweiten Sinfonie ist die Auswahl von in Frage kommenden Aufnahmen Furtwänglers weit geringer. Gerade einmal vier haben sich erhalten, zwei davon aus Kriegstagen, zwei aus der Zeit danach. Dass man sich für den Live-Mitschnitt mit den Berliner Philharmonikern aus dem Deutschen Museum in München vom 7. Mai 1952 entschied, ist bereits der Tatsache geschuldet, dass die Rechte der 1948 entstandenen Londoner Studioaufnahme bei der Decca liegen (die Kriegsaufnahme von 1943 befindet sich im Übrigen in Privatbesitz und wurde bis dato nicht veröffentlicht). Die Frage, ob Furtwänglers subjektives Pathos diesem pastoralen Werk entgegenkommt, stellt sich spätestens im Finalsatz nicht mehr.

Auch bei der dritten Sinfonie gibt es nur vier erhaltene Furtwängler-Aufnahmen (interessanterweise sämtlich mit den Berliner Philharmonikern). Warner gab der RIAS-Produktion vom 18. Dezember 1949 und somit der ältesten Aufnahme den Vorzug. Die an sich lyrisch angelegte Dritte erklingt hier ungewohnt monumental. Bei der Vierten schließlich liegen nominell sieben Tondokumente Furtwänglers vor, wobei auch hier eines bislang unveröffentlicht blieb. Entschieden hat man sich für diejenige Aufnahme vom 24. Oktober 1948 aus dem Berliner Titania-Palast. Wieder kam das Berliner Philharmonische Orchester zum Zuge. Die Dramatik der vierten Sinfonie kommt Furtwänglers Lesart natürlich besonders entgegen.

Hinsichtlich der Konzerte sind in der Box das zweite Klavierkonzert (mit den Berliner Philharmonikern), das Violinkonzert (mit dem Luzerner Festspielorchester) sowie das Doppelkonzert (mit den Wiener Philharmonikern) inkludiert. Leider hat sich kein Mitschnitt vom ersten Klavierkonzert erhalten. Die Solisten lesen sich wie das Who is who der damligen Musikszene: Beim zweiten Klavierkonzert – übrigens der ältesten Aufnahme aus der Box (8./9. November 1942) – handelt es sich um Edwin Fischer, beim Violinkonzert um Yehudi Menuhin und beim Doppelkonzert schließlich um Willi Boskovsky und Emmanuel Brabec. Diese Aufnahmen bezeugen, dass sich Furtwängler auch als exzellenter Begleiter erwies, der sich nicht unnötig in den Vordergrund drängte. Sie vermitteln, wie bereits die Sinfonien, ein Brahms-Bild, das man so heutzutage nicht mehr vorfindet.

Abgerundet werden die Orchesterwerke durch die Haydn-Variationen und die orchestrierten Ungarischen Tänze Nr. 1, 3 und 10. Es handelt sich um Studioproduktionen aus Wien, die am 30. März bzw. am 4. April 1949 im Musikvereinssaal entstanden. Kurioserweise spielte Furtwängler ausgerechnet den fünften Ungarischen Tanz, den wohl populärsten unter allen, nicht für die Schallplatte ein.

Auf der letzten CD schließlich findet man Ein Deutsches Requiem, somit das einzige Vokalwerk dieser Kassette. Dafür konnte auf einen Mitschnitt von Sveriges Radio zurückgegriffen werden, der am 19. November 1948 im Konserthus in Stockholm zustande kam. Daneben gibt es noch zwei weitere Aufnahmen dieses Werkes unter Furtwänglers Stabführung: 1947 aus Luzern und 1951 aus Wien (aber mit den Wiener Symphonikern). Als Solisten fungierten in der hier vorliegenden Aufnahme: Kerstin Lindberg-Torlind (Sopran) sowie Bernhard Sönnerstedt (Bariton). Hinzu kamen der Chor und das Philharmonische Orchester Stockholm. Eine tief spirituelle Auseinandersetzung mit dem gewaltigen Opus, das dem Dirigenten einiges bedeutet zu haben scheint.

Abschließend doch noch ein Wort zur Tonqualität: Diese ist von für Monoverhältnisse und für das Alter angemessen bis hin zu gerade noch erträglich (Deutsches Requiem). Die Studioproduktionen klingen tendenziell etwas besser. Dies sollte indes niemanden ernsthaft davon abhalten, diese interpretatorisch und aus  historischen Gesichtspunkten höchst bedeutenden Aufnahmen besitzen zu wollen. Daniel Hauser