Anton Rubinsteins „Moses“

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Anton Rubinstein gehört zu den interessanten, aber im ganzen wenig bekannten Komponisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, im Schatten von Chopin und Liszt stehend, von der politischen Wirklichkeit seiner Zeit des russischen Riesenreichs und der Zerstückelung Polens  betroffen, zwischen beiden Ländern als Nationalkomponist reklamiert (wobei sein Grab in St. Petersburg liegt), im westlichen Einfluss Deutschlands und Frankreichs ausgebildet und sozialisiert und in Russland verankert, zählt er zu den kosmopolitischsten Künstlern seiner Epoche. Seine Oper Der Dämon hat sich bis heute gehalten und wurde in der jüngsten Vergangenheit manche Male aufgeführt (so Moskau 1950 mit Kozlowski bei Melodya, 1971 RAI mit Rossi Lemeni und Zeani, 1974 Moskau bei Meolodya, Wexford bei Naxos, 1997 Bregenz mit Silins bei Koch, Paris 2003, Moskau 2015, Brüssel 2016, Barcelona 2018). Rubinsteins Klavierkonzerte hört man gelegentlich im Rundfunk und findet sie auf CD, seine Klaviermusik zählt zu der technisch anspruchsvollsten.

Rubinsteins „Moses“ bei Warner Classics (3 CD 190295583439)

Nun hat überraschend Warner Classics Polen eine Live-Aufnahme von 2017 der Geistlichen Oper in acht Bildern, Moses, herausgebracht  (3 CD 190295583439) sogar in der originalen deutschen Sprache auf das Libretto von Hermann Levi Mosenthal, dem Librettisten auch von Goldmarks Königin von Saba). Michael Jurowski dirigiert seine Herzensangelegenheit, für die er Jahre gekämpft hat. Es spielt das Polish Sinfonia Iuventus  Orchestra (ein Universitätsorchester) und es singt der Warschauer Philharmonische Chor. Zu den Solisten zählen Torsten Kerl, Stanisław Kuflyuk, Evelina Dobraceva, Małgorzata Walewska und auch ein paar übrige deutsche Kräfte. Dass aus Polen eine weitere original deutschsprachige Aufnahme kommt und man nicht beim traditionell polonisierten Text geblieben ist, überrascht und erfreut, das war bis vor sehr kurzem nicht so. Man denke an Paderewkis Manru aus Breslau bei Dux, der einer dringenden sprachlichen Revision ins deutschsprachige Original bedarf und auf eine Neuaufnahme wartet..

Wir finden das Werk so eindrucksvoll wie Quo vadis von Feliks Nowowiejski, das wir kürzlich in den beiden Aufnahmen von Dux (erstaunlicher Weise ebenfalls im originalen Deutsch) und cpo (im traditionellen Polnisch, die Dinge bewegen sich eben) vorgestellt hatten. Und beide Opern sind sich auch ähnlich in Duktus und Musiksprache. Den nachstehenden Artikel von Piotr Maculewiz  zu dieser interessanten biblischen Oper  entnahmen wir der dünnen Beilage zur 3-CD-Ausgabe bei Warner in unserer eigenen Übersetzung durch Daniel Hauser, eine Besprechung folgt.

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Rubinstein: „Moses“/ Michail Jurowsky erfüllte sich einen Herzenswunsch/ Warner

Als PS muss angefügt werden, dass die Sache mit dem verfügbaren Libretto eine ärgerliche ist. Offenbar wurde versäumt, auf der letzten Beilagen-Seite dem Hinweis zum Downloaden des dreisprachigen Librettos (immerhin original deutsch, polnisch und englisch) die Netzadresse folgen zu lassen. Man sucht sich blind. Dafür findet man nach einiger Zeit einen QR auf der Rückseite der Box aufgeklebt, also einen elektronischen Hinweis, den man einscannen soll (vorher eine app herunterladen), um dann endlich auf die Warner-Seite des Librettos zu gelangen. Da ist was schief gelaufen. Was macht die kirchengläubige alte Frau, wie ich ohne ein smart, nun? Man fragt da besser den pickligen Ekel oder einen  fortschrittlichen Freund. Und vielleicht entbehrt auch bezeichnender Weise dann Hermann Levi Mosenthal seines „Levi“ beim Auffinden des Librettos, er wird zum schlichten H. Mosenthal …. G. H.

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Hier nun die Rezension der Aufnahme von Daniel Hauser: Zu Lebzeiten des Komponisten Anton Rubinstein (1829-1894) gab es lediglich eine verbürgte konzertante Aufführung seiner geistlichen Oper Moses, der letzten in einer Art biblischen Tetralogie (neben Der Thurm zu Babel, Sulamith und Christus); auf die Bühne brachte es das Werk nie, doch war genau dies die Intention Rubinsteins. Die seltsame Werkklassifizierung zeugt hiervon, handelt es sich doch auf den ersten Blick vielmehr um ein Oratorium. Die Nähe zu den großen Oratorien Händels und Mendelssohns ist unverkennbar. Thematisch hat ersterer mit dem „Choratorium“ Israel in Egypt bereits 1739 einen Vorläufer geschaffen. Beiden gemein ist die zu ihrer Zeit sehr verhaltene Aufnahme durch das Publikum.

Dass Moses nun nach über einem Jahrhundert des Dornröschenschlafes doch wieder ins öffentliche Bewusstsein rückt und von Warner sogar als 2017 entstandene Einspielung vorgelegt wird, ist in erster Linie dem jahrelangen Engagement des russischen Dirigenten Michail Jurowski (dem Vater von Wladimir Jurowski) zu verdanken. Vielleicht musste es ein Russe sein, der seinem Landsmann Rubinstein damit späte Anerkennung verschafft.  Indem es vornehmlich polnische Kräfte sind, mit denen das Vorhaben schließlich umgesetzt werden konnte, wird auch ein wenig Völkerverständigung betrieben. Keineswegs selbstverständlich, dass diese Oper nun in der deutschen Originalsprache erklingt.

Das Polish Sinfonia Iuventus Orchestra (also ein Jugendorchester) und der Warschauer Philhamonische Chor meistern ihre Aufgabe vorzüglich – soweit sich dies mangels Vergleichsmöglichkeiten überhaupt seriös sagen lässt. Unter den Solisten ragen der noble Bariton Stanislaw Kuflyuk in der Titelrolle, der im Wagner- und Strauss-Fach beschlagene Tenor Torsten Kerl als Pharao und Stimme Gottes, die unter anderem am Bolschoi-Theater heimische Sopranistin Evelina Dobraceva als Königstochter Asnath sowie die international angesehene Mezzosopranistin Malgorzata Walweska als Mutter des Moses hervor.

Trotz der spätromantischen Klangpracht sollte indes nicht verschwiegen werden, dass das fast dreieinhalbstündige Werke (das sich folglich auf drei CDs verteilt) in seiner relativen Statik doch eher an ein Oratorium denn eine lebendige Oper erinnert. Gewisse Längen sind unvermeidlich. Die megalomanischen Dimensionen des Werkes werden bereits durch die mehr als zwanzig Gesangspartien und die zwei eingesetzten Chöre deutlich. Ein Eingang ins Standardrepertoire ist insofern schon aufgrund der gewaltigen aufführungstechnischen Anforderungen mehr als fraglich. Hat man es hier mit einem Oratorium vom selben Range wie jene Händels und Mendelssohns zu tun? Eher nein.

Freilich ist diese Produktion gleichwohl eine wichtige Bereicherung der überschaubaren Diskographie Anton Rubinsteins und führt dessen Verwurzelung in der deutschen Romantik vor Augen, wovon Anklänge an Mendelssohn, Schumann und auch Brahms zeugen. Dem Vernehmen nach plant Jurowski bereits weitere Projekte, die idealerweise ebenfalls in Aufnahmen dokumentiert werden sollen.

Trotz diverser Einschränkungen, die weniger an der engagierten Aufführung als vielmehr am Werk selbst liegen, ist diese Weltersteinspielung also zu begrüßen. Sie dürfte auf absehbare Zeit die einzige des Rubinstein‘schen Moses bleiben (Polish Sinfonia Iuventus Orchestra/Michail Jurowski Aufnahme: 2017, Erscheinungsdatum: 2018; Warner Classics 3 CD 190295583439 ). Daniel Hauser

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Anton Rubinstein (rechts) mit seinem Bruder Nikolai, 1862/ Wikipedia

Nun also der Artikel von Piotr Maculewiz  zu Werk und Verbreitung: Anton Rubinstein (1829-1894) war eine der prominentesten Figuren der russischen und internationalen Musikszene im 19. Jahrhundert. Geboren in eine assimilierte jüdische Familie, war der Pianist, Dirigent und Lehrer (unter anderem war er der Gründer des Petersburger Konservatoriums, wo Peter Tschaikowski zu seinen Schülern gehörte) auch ein produktiver und sehr populärer Komponist seiner Ära, der sich seine Zeit aufteilte zwischen Russland und den westeuropäischen Ländern. Seine Klavierkonzerte (insbesondere das Klavierkonzert Nr. 4) und Opern wurden sehr geschätzt; seine Oper Der Dämon aus dem Jahre 1871, welche auf einem Gedicht von Lermontow basierte, erlangte vor allem in seiner Heimat Russland anhaltende Popularität. Rubinsteins Reihe biblischer Opern mit Themen aus dem Alten und Neuen Testament ist interessant und originell; die Serie umfasst Der Thurm zu Babel, Sulamith, Moses und Christus. Die Entstehung dieses Interesses ist einerseits mit der Faszination für die romantischen Oratorien von Mendelssohn (Paulus, Elias) verbunden und andererseits mit der Renaissance ähnlicher Werke von Georg Friedrich Händel, der sich ebenfalls alttestamentarischer Narrative bediente. Zu dieser Zeit fanden die monumentalen Editionen in Deutschland in deutscher Fassung Verbreitung (die Originale waren sämtlich in englischer Sprache), was die breite Öffentlichkeit begeisterte. Der große Pianist zeigte viel Interesse am musikalischen Historizismus (der zu seiner Zeit nicht oft gesehen wurde) und gab Rezitals von Werken früherer Komponisten – daher seine Bewunderung für und seine unzweifelhafte Inspiration durch barocke Oratorien mit ihrer vollen Klangpracht, vorgesehen für größere Besetzungen. Eine spannende Eigenschaft von Rubinsteins ästhetischer Haltung war sein Widerstand gegen den modernistischen Trend innerhalb der deutschen Kunst jener Zeit, repräsentiert durch die Kunst der „neuen deutschen“ Komponisten, hauptsächlich Liszt und Wagner (zusätzlich distanzierte er sich auch vom nationalen Trend der russischen Musik, was ihm Kritik in seinem Heimatland einbrachte). Trotz seiner Freundschaft mit Liszt verfolgte der russische Komponist keinen ähnlichen Weg, sondern berief sich eher auf das klassische und klassizistische Erbe der Romantiker (wie Brahms). Die Idee einer „religiösen Oper“ wurde gleichsam im Gegensatz zum Konzept von Wagners Musikdrama geboren. Der Wunsch des Komponisten war es, dem biblischen Inhalt einen ebenso eindrucksvollen theatralischen Ausdruck zu verleihen – er hielt konzertante Aufführungen in zeitgenössischen Kostümen, ohne Bühnenhandlung und Dekoration für nicht kommunikativ genug und als unzulänglich für diese erhabenen Themen. Er erwog sogar ein spezielles Theater für diese Bedürfnisse errichten zu lassen, gewissermaßen den „Tempel“ Wagners ausgleichend.

Der junge Anton Rubinstein spielt für den Zaren/ Gemälde von Francis Luis Mora/ American Gallery

Moses entstand zwischen 1884 und 1891 nach einem Libretto von Salomon Hermann Mosenthal. Der österreichische Dramatiker ist heute vor allen Dingen als Librettist von Otto Nicolais komischer Oper Die lustigen Weiber von Windsor nach Shakespeares gleichnamigem Stück in Erinnerung geblieben. Der Erfolg dieser Arbeit brachte dem Schriftsteller auch Ruhm; er arbeitete mehrmals mit dem russischen Komponisten Rubinstein zusammen (einschließlich Die Makkabäer von 1874, was in Russland und Deutschland sehr erfolgreich war); die Musik zu Moses wurde nach Mosenthals Tod komponiert. Die Oper erzählt die Geschichte des Propheten in acht suggestiven Bildern, mit einem enormen Aufführungsapparat (zuvor wurde sie auf der Bühne von Rossini präsentiert, später von Arnold Schönberg; der Prophet war auch der Protagonist zahlreicher Oratorien, so Händels Israel in Egypt und zeitgenössisch mit Rubinsteins Werk in einer 1895 entstandenen Komposition von Max Bruch, die ebenfalls vergessen wurde). Im expressiven, neoromantischen Stil gehalten, enthält Moses viele großartige Arien, besonders in den beeindruckenden Massenszenen, welche die berühmten dramatischen Episoden darstellen, die im biblischen Pentateuch beschrieben werden. Die Last der musikalischen Erzählung ruht auf dem Titelcharakter (Bariton), der hauptsächlich in feierlichen Begleitrezitativen und Ariosi auftritt. Die Chöre repräsentieren eine Gruppe – das Volk von Israel (wie auch die Ägypter) – und stellen einen besonders wichtigen Partner für ihn dar. Unter den zahlreichen dramatischen Personen der biblischen Erzählung (20 Soloparts) ist die Stimme Gottes (Tenor) hervorzuheben, die in der Bühnenmusik viele Präzedenzfälle hat und in einer besonders eindrucksvollen Szene die Gesetze übergibt. Eine spezielle Rolle hat das große Orchester, das auf besonders farbenfrohe Weise behandelt wird und sehr wirkungsvoll (mit einer interessanten Nachahmung des antiken Instrumentariums) wichtige Szenen illustriert – die ägyptischen Plagen, die Durchquerung des Roten Meeres, Jahwes Erscheinung im brennenden Dornbusch und andere.

Rubinsteins Grab in St. Petersburg/ Wikipedia

Moses wurde niemals auf der Bühne aufgeführt, obwohl eine Aufführung am Neuen Deutschen Theater in Prag (der späteren Státní Opera) 1892 vorbereitet wurde. Die Generalprobe hatte bereits stattgefunden, als die Aufführungen abgesagt wurden – offiziell aus finanziellen Gründen, aber es hätte auch Probleme mit der Zensur geben können. Es war eine Zeit wachsender Bestrebungen einer tschechischen Unabhängigkeit und die Echos der Geschichte von einem kleinen tapferen Volk, das sich „von der Macht des Pharaos“ befreit, hätte Wien erschüttern können. Wir wissen, dass es 1894 eine konzertante Aufführung des Moses in Riga gab, später in mehreren anderen Zentren (höchstwahrscheinlich wurden jedes Mal lediglich Fragmente aufgeführt), und dann verschwand er von den Bühnen und aus dem Bewusstsein des Publikums für über ein Jahrhundert. Ein Grund dafür waren die enormen Kosten für die Inszenierung eines Werkes mit einer solch großen Besetzung, aber auch die Tatsache, dass die Mode für „Sakralopern“ seinerzeit bereits vorüber war. Der Tod des Autors kurz nach dem Komponisten bedeutete auch, dass das Werk ziemlich schnell in Vergessenheit geriet.

Das prestigeträchtige Konzert unter der Schirmherrschaft des Polnischen Komitees für die UNESCO und des Ministeriums für Kultur und nationales Erbe, das am 15. Oktober 2017 in der Nationalen Philharmonie stattfand (vorangegangen war eine für die Veröffentlichung bestimmte Aufnahme des Werkes mit derselben Besetzung), war vermutlich die Uraufführung der gesamten, integralen Oper, welche über hundert Jahre auf ihre Wiedergutmachung gewartet hatte. Möglich wurde dies durch das persönliche Engagement von Michail Jurowski, der viele Jahre der Vorbereitung der Aufführung dieses Werkes widmete und vom Polish Sinfonia Iuventus Orchestra Unterstützung für dieses Projekt erhielt. Maestro Jurowskis Traum ist es, dass dieses außergewöhnliche künstlerische Unterfangen eine weitere Renaissance dieses interessanten und schönen, zu Unrecht vergessenen Werkes einer der originellsten Figuren der Musikszene des 19. Jahrhunderts beflügelt. Piotr Maculewiz (Übersetzung Daniel Hauser)

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.