Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Ausdruck des Leids

 

Der tschechische Komponist Josef Suk (1874-1935) steht auch heute noch im Schatten seines Schwiegervaters Antonín Dvorák. Suks wohl bekanntestes Werk ist gleichwohl untrennbar mit diesem verbunden, widmete Suk seine 1905/06 entstandene und Asrael betitelte Sinfonie c-Moll op. 27 doch ausdrücklich Dem Andenken Antonín Dvoráks und seiner Tochter, meiner Gattin Ottilie. Unglücklicherweise starb nämlich auch Suks Gemahlin, kurz nach dem Ableben ihres Vaters, während er noch über der Komposition des Werkes saß. Man kann sich den furchtbaren Schmerz Suks vorstellen. Dass er die Sinfonie nach dem unbarmherzigen alttestamentarischen Todesengel benannte, mutet insofern gleichsam folgerichtig an. Der Tod ist das Leitmotiv des Werkes.

Die Sinfonie ist fünfsätzig und ist trotz des Namens im Titel keine Programm-Sinfonie im engeren Sinne, haben die einzelnen Sätze doch keine programmatischen Überschreibungen. Trotz einiger (sicherlich beabsichtigter) Dvorák-Zitate kann doch von einer ganz eigenen Tonsprache Suks gesprochen werden. Der dritte, also der im Zentrum stehende Satz, ist ein unheimliches, ein wenig an Mahler gemahnendes Scherzo, eine Art Totentanz, der von den übrigen Sätzen eingerahmt wird. Gar zwei Adagios beenden die Komposition, was ziemlich einzigartig sein dürfte und den tieftraurigen Klagecharakter noch unterstreicht. Und doch klingt die Asrael-Sinfonie versöhnlich und ohne aufgesetzte Theatralik aus.

Die Diskographie des Werkes ist umfangreicher, als man auf den ersten Blick glauben möchte. Bereits Václav Talich spielte es 1952 mit der Tschechischen Philharmonie erstmals ein. Es folgten ihm vor allen Dingen Dirigenten aus der damaligen Tschechoslowakei: Karel Ancerl (1967), Jiri Waldhans (1968), Rafael Kubelík (1981), Václav Neumann (1983), Libor Pesek (1990) und Jiri Belohlávek (1991 und nochmal 2008). Sogar Jewgeni Swetlanow legte eine Interpretation vor (1993). Erst seit diesem Jahrtausend erscheint Asrael auch häufiger bei Dirigenten außerhalb Tschechiens, darunter Kirill Petrenko (2002), Sir Charles Mackerras (2007) und Claus Peter Flor (2008). Tomás Netopils Einspielung von 2016 bildet derzeit den Abschluss (Erscheinungsdatum 2017).

Es ist nicht ganz einfach, sie im Vergleich zu vorhergehenden Aufnahmen zu bewerten, handelt es sich doch um ein letztlich doch eher sperriges Werk, das sich beim ersten Hören nicht unbedingt erschließt. Das orchestrale Niveau der international wenig bekannten Essener Philharmoniker ist jedenfalls tadellos, genauso die Akustik des Alfried-Krupp-Saales der Philharmonie Essen, welche nahe am Optimum ist. Gerade aus diesem Grunde ist die Neueinspielung auch demjenigen zu empfehlen, der bereits die eine oder andere ältere Aufnahme dieses Requiems ohne Vokalisten besitzt. Ob Netopil nun genauso herausragend interpretiert wie einst Talich und Kubelík, muss jeder für sich selbst entscheiden. Die Spielzeiten des etwa einstündigen Werkes unterscheiden sich nur unwesentlich von den früheren Lesarten: 15:20 – 7:33 – 11:57 – 10:57 – 14:04. Bereits Talich schlug weiland sehr ähnliche Zeitmaße an.

Hervorzuheben ist gerade die Transparenz, die Netopil erzielt, weit entfernt davon Gefahr zu laufen, von den Klangmassen erschlagen zu werden. Womöglich wird man den spezifischen böhmischen Klang, der in den genannten älteren Einspielungen vorhanden ist, hier nicht vorfinden, doch wer bereit ist, sich ein wenig abseits des Idioms zu bewegen, hat mit dieser Neuaufnahme eine vorzügliche Möglichkeit dazu (Oehms Classics OC1865). Daniel Hauser

Qual tenero diletto

 

Stopp. Da stimmt doch etwas nicht. „Die kritische Ausgabe seiner Werke durch die Fondazione Rossini in Pesaro“, schreibt der im Vorjahr verstorbene Rossini-Kenner und Liebhaber Philip Gossett im Vorwort der 50 CDs umfassenden Rossini-Edition von Warner (weitgehend aus den Beständen der EMI und Erato), „hat mittlerweile mehr als die Hälfte seiner Opern, besonders die ernsten, der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht“. Sind es nicht weit mehr? Gossett hatte das vor einem Vierteljahrhundert geschrieben. Eine kleine Aktualisierung hätte dem anspruchsvollen Unterfangen gut getan. Je umfangreicher die Edition, desto schmaler das Beiheft. Ein Opfer, das man bei der spottbilligen Edition bringen muss. Das Beiheft reiht die Besetzungen aneinander, bietet nach Gossetts Einführung (dt., engl. franz.), immerhin auf Englisch den Inhalt der Opern. Mehr nicht. Die Papphüllen der Einzel-CDs erinnern mit den Abbildungen der Originalcover an die unterschiedlichen Quellen der Warner Classics-Edition wie Erato, Fonit Cetra und EMI, auf der Rückseite komplette Tracklisten, Interpreten, Aufnahme-Informationen. Sehr sparsam, für eine Edition die Aufnahmen aus mehr als sechs Jahrzehnten von den 1950er Jahren (1953 La Cenerentola) bis 2015 (Marie-Nicole Lemieux auf CD 43) versammelt.

Wo anfangen? Auf CD 49 findet sich Sir Eugene Goossens’ hinreißende, aus Rossinis Klavierstücken kompilierte Ballettmusik La Boutique fantastique mit dem Royal Philharmonic Orchestra von 1957. Es hätte sich mühelos eine neuere Einspielung finden lassen, doch Goossens, der das Werk zwanzig Jahre zuvor schon einmal eingespielt hatte, hatte eng mit den Ballets Russes zusammengearbeitet, die das Ballett 1919 kreierten. Die Edition erweist sich als Boutique fantastique, als Zauberladen, die mehrere solcher Raritäten feilbietet. Darunter (auf CD 47) Georges bzw. György Cziffras Aufnahmen (ebenfalls aus 1957) seiner Paraphrasen und Transkriptionen von La danza und über die Ouvertüre zu Guillaume Tell. Aus der hinteren Ladenecke kommen wir zu den Neuheiten. 2010 und 2012 nahm Antonio Pappano in Rom das Stabat Mater und die Petite Messe solennelle auf (CD 45/46). Im Stabat Mater singt Lawrence Brownlee das Cujus animam gar nicht arienhaft auftrumpfend, auch wenn er es sicher könnte, sondern so behutsam, wie es dem Text zukommt, und auch Anna Netrebko und Joyce DiDonato nehmen bei der Frage Quis est homo ihre kostbaren Stimmen wie Klosterschülerinnen zurück, worauf auch Ildebrando D’ Arcangelo ihrem Beispiel folgt. Hoch besetzt mit Marina Rebeka, Sara Mingardo, Francesco Meli und Alex Esposito auch die Petite Messe solennelle. Zwanzig Jahre zuvor standen Salvatore Accardo für die Messa di Gloria immerhin die in den frühen Jahren ihre Karriere im Belcanto- und Rossini-Repertoire geschätzte Anna Caterina Antonacci zur Verfügung – dazu Bernadette Manca di Nissa, Francisco Araiza, Robert Gambill, Pietro Spagnoli. Erstaunlich, wie wenige Doubletten es bei der reichen Besetzung mit den im gleichen Repertoire rivalisierenden Horne, DiDonato, Larmore usw. bei den diversen Sänger-Aufnahmen gibt. Freilich, einige CDs sind aus diversen Recitals zusammengestückelt, so finden sich Horne, Cuberli, Serra, Schwarzkopf, de los Angeles und Ludwig friedlich vereint über die Jahrzehnte auf einer CD (42) oder Ramey, Cencic, Lemieux (43), Jennifer Larmore teilt sich auf CD 44 den Platz mit Carlo Maria Giulini, Sir Thomas Beecham , Claudio Scimone, aber auch Lamberto Gardelli, zu dessen Solisten in Dal tuo stellato soglio kurioserweise Pauline Tinsley gehören (Robert Lloyd ist der hagere Mosé), und Thomas Hampson, der ein steifes L’ ultimo ricordo hinterherschickt. Max Emanuel Cencic singt Rossinis einzige Kastratenpartie, den von Giovanni Battista Velluti 1813 an der Mailänder Scala kreierten Arsace aus Aureliano in Palmira (CD 43), Lemieux steuert den Pippo und die Clarice aus La gazza ladra und La pietra del paragone bei, Wolfgang Meyer schließt seine Klarinetten-Variationen an. Majestätisch, eine Klasse für sich, ist immer noch Marilyn Horne. Da läuft man Gefahr, sich „festzuhören“, immer wieder ihre Szenen und Arien aus Semiramide, Tancredi,  Zelmira usw. hören zu wollen, die sie Anfang der 80er Jahre mit Alberto Zedda aufnahm. Das sind immer noch Referenzaufnahmen. Welch immenser Ausdruck, welche runde, reiche und schöne Stimme, welch kluger und verschwenderischer Einsatz (CD 41/42). Da reicht nur Joyce DiDonato heran, die 2009 in Rom mit Edoardo Müller ins Studio ging und auf dem hier komplett integrierten Album Colbran, the Muse die Arien der Armida, Elena, Desdemona, Semiramide, Anna und Elisabetta sang. Gleich drei Alben von Rockwell Blake sind dabei, The Rossini Tenor (1987), Encore: Rosini (1989) und Rossini: Mélodies (1995, mit Pappano am Klavier), die seinerzeit ebenso Aufmerksamkeit fanden wie Hornes Rossini, auch wenn man ihn heute etwas eng und manchmal quäkig findet; wirklich schön war Blakes Tenor, der brillanter Touren fähig war, nie. Horne und Blake fassen sich nochmals bei der New Yorker Rossini Gala anlässlich seines 200. Geburtstag 1992 an den Händen. Dabei ist auch Chris Merritt, Blakes Mitstreiter der frühen Jahre des Rossinis Festivals in Pesaro, als glorioser Arnoldo; Fredrica von Stade ist das Aschenputtel, Hampson der Barbier, Samuel Ramey der Mahomet in La siege de Corinthe, und alle – dazu u.a. Doborah Voigt, Kathleen Kuhlmann – singen das 14stimmige Gran Pezzo concertato aus Il viaggio a Reims.

Zu den Opern. Vom Lachen der Schwestern Clorinda und Tisbe lässt man sich gerne anstecken. Vittorio Guis Glyndebourne-Produktion der Cenerentola versprüht auch noch in den berühmten Studios in der Abbey Road, wo sie im Herbst 1953 aufgenommen wurde, eine blitzende Bühnenpräsenz. Gui hat die Partitur bestens im Griff und verblendet die Stimmen in den Ensembles perfekt, ohne ihnen ihre Individualität zu nehmen. Die Cenerentola ist die älteste der 14 Opern auf den ersten 33 CDs. Sie besitzt aber Dichte und rhythmischen Elan, Farben und Ausgewogenheit, Oberfläche und Tiefe, wodurch sie auch angesichts späterer Aufnahmen unter Abbado, Ferro oder Chailly immer noch bestehen kann. Sesto Bruscantini und Juan Oncina als Dandini und Ramiro sind köstlich, Ian Wallace ist ein mehr sprechender als singender Komödiant alten Stils, die Spanierin Marina de Gabarain ist als mütterlich reife, technisch steife Cenerentola der Schwachpunkt der Aufführung (CD 13/14). In den gleichen Studios wiederholte Gui seinen Glyndebourne Erfolg mit Le comte Ory. Auch das ist eine gewitzte Aufführungen, wenngleich mit einigen Ausfällen in der Besetzung, wozu nicht nur der seltsame Michel Roux als Raimbaud gehört, aber der damals 35jährige Juan Oncina, einer der führenden tenore di grazia jener Zeit, ist, nachdem man sich an sein Timbre gewöhnt hat, ein witzig schelmischer und sinnlicher Ory. In vokaler Hinsicht teilweise fitter zeigt sich die junge Garde. Beispielweise 1996 auf Marc Minkowskis L’ inganno felice, mit der die Edition beginnt, mit dem  hinreißenden Raúl Giménez, der mit Bertrandos Arie „Qual tenero diletto“ quasi das Motto der Edition vorgibt, dazu Annick Massis, Lorenzo Regazzo, Pietro Spagnoli und Rodney Gilfry oder 1988 in Bologna in La scala di seta unter Gabriele Ferro (CD 2/3) mit den Damen Cecilia Bartoli und Serra und den Herren Matteuzzi, di Credico, de Carolis und Coviello. Bei den komischen Opern prallen der 1954 in der Mailänder Scala aufgenommene Turco in Italia unter Gavazzeni mit der Callas und Gedda (CD 9/10) beispielsweise auf Scimones L’ Italiana in Algeri von 1980 (CD 7/8), wo sich Horne und Ramey einen wunderbaren Schlagabtausch liefern, oder auf James Levines 1975 in London entstanden Barbiere di Siviglia, der von Anfang an im Abseits stand: für Gedda kam der Almaviva zu spät, Beverly Sills und Sherrill Milnes sind nicht nur Geschmacksache, Raimondi als Basilio, Capecchi als Bartolo und Barbieri als Berta sind schöne Besetzungsideen (CD 11/12), die ausführlichen Rezitative sind kein Gewinn. Im Jahr zuvor hatte Sills eine ihrer berühmtesten Partien ebenfalls in London aufgenommen, die Pamira in L’assedio di Corinto (CD 25-27), mehr oder weniger die italienische Rückübersetzung von Le siège de Corinthe, mit der sie sich 1969 an der Scala vorgestellt hatte. Die Aufnahme unter Thomas Schippers erhält ihre Hauptattraktion durch den Neocle der Shirley Verrett. Gedda ist 1972 (die CDs geben 1982 an) als Arnold in Guillaume Tell (CD 30-33) unter Lamberto Gardelli, der anders als Chailly bei Decca das französische Original einspielte, sehr überzeugend, wie auch die dramatisch schillernde Montserrat Caballé und der väterliche Bacquier. Die ernsten Opern sind neueren Datums. Ihre Zeit bricht in den 1970er Jahren an. Der erste Tancredi entstand 1978 überraschenderweise in Köln (bei der Firma Italia/ Cetra), später Warner), wo Gabriele Ferro die Cappella Coloniensis, das auf historischen Instrumenten spielende Orchester des WDR, dirigierte. Fiorenza Cossotto ist überraschend sicher in der Titelrolle, Lella Cuberli steht als Amenaide am Anfang ihrer Rossini-Karriere; wenige Jahre später nahm sie die Partei an der Seite von Marilyn Horne für CBS auf. Neben Katia Ricciarelli begegnen wir Horne neuerlich in Bianca e Falliero 1986 vom Rossini Opera Festival in Pesaro (CD 17-19) von wo auch Semiramide (CD 22-24) stammt, die Alberto Zedda 1992 (mit Iano Tamar, Gloria Scalchi, Gregory Kunde und Michele Pertusi) meisterhaft ausbreitete – später aber an der Vlaamse Opera noch besser wiederholte. Aus Vicenzas Teatro Olimpico stammt Rossinis letzte Oper für Neapel, Zelmira (CD 20/21), 1989 unter Claudio Scimone, mit der milden Cecilia Gasdia, der zupackenden Bernarda Fink, dem brillanten William Matteuzzi und dem adäquaten Chris Merritt. Ähnlich besetzt – Gasdia, Margarita Zimmermann, Ernesto Palacio, Merritt, Matteuzzi – war Scimones Ermione 1986 in Monte-Carlo (ex Erato CD 15/ 16). Jeder wird hier fündig (Warner Classics 0190295611156 ).   Rolf Fath

Edda Moser zum 80.

 

Auch an Edda Moser erinnere ich mich genau. Sie war ein überwältigendes Bühnenereignis – ich denke, man wird der unglaublichen Wucht ihrer Stimme, aber auch deren Zartheiten und Nuancen darin nur gerecht, wenn man sie auf der Bühne erlebt hat. Sie war ein „Theatertier“. Zudem hatte ich das Glück, sie noch in ihrer früheren Phase der Siebziger zu erleben, als unglaublich intensive Donna Anna an der Deutschen Oper Berlin, bei deren Ausbrüchen die Bühne wackelte und die eine Furie der der Gekränktheit abgab (der Loosey-Film hat diese Interpretation ja eingefangen). Zudem war sie optisch eine schöne, stolze Frau und eine sensationelle Schauspielerin. Als Idomeneo-Elettra werde ich sie nicht aus meinem Kopf los, einer Furie gleich ging sie Peter Seifert an, gekränkt, rachsüchtig, verbittert. Was für eine Besetzung damals an der DOB. Aber – und das war die andere Seite ihrer Kunst – als Gilda, als Cardillac-Tochter und vor allem als Violetta (in Hannover) überraschte sie mit unendlicher Zartheit, mit vielen kleinen Nuancen und vor allem – wie auf allen ihren Einspielungen – mit vorbildlicher Diktion. Ich habe kaum je eine andere Künstlerin mit einem solchen Gewicht auf Sprache erlebt, ob nun im Italienischen oder im Deutschen.

Edda Moser: Meisterklasse 2016 bei der Bertelsmann-Stiftung/ youtube

Was ihren vielen Liederaufnahmen zu Gute kam. Liederabende habe ich einige von ihr live erlebt und mich an ihrer Sprachdeutlichkeit erfreut. Ihren letzten Wagner-Abend in Berlin im reiferen Alter habe ich verdrängt. Das war kein Vergnügen. Aber sie ist unendlich klug,  zog sich auf das Unterrichten zurück und hat sich als ganz exzellente Pädagogin einen bedeutenden Namen gemacht.

So vital und beredt wie sie, ist mag man ihr ihre 80 (am 27. Oktober 2018) nicht glauben, zumal sie auf ihren unendlich vielen EMI-Electrola-Einspielungen ganzer Opern, vieler Querschnitte und vor allem Liedplatten zu einem Haushaltswort wie die Callas geworden ist.

Deshalb ist es uns eine Freude, im Anschluss das kurze Interview mit und von Thomas Voigt zu bringen, selber Musikjournalist von Rang und Lesern von operalounge.de nun wirklich kein Unbekannter, dessen Gesprächs-Buch mit Edda Moser „Ersungenes Glück“ gerade wieder neu im Henschel-Verlag aufgelegt worden ist.

2013 erschien eine CD-Box von Edda Moser bei der damaligen EMI/Electrola („Edda Moser – Electrola-Recitals/ Oper & Lied“), aus deren Beilagen wir das nachstehende Interview entnommen haben – mit Dank an Thomas Voigt. G. H.

 

Gerade wieder aufgelegt: „Ersungenes Glück“ – Edda Moser im Gespräch mit Thomas Voigt im Henschel Verlag/ ISBN ISBN 978-3-89487-671-5

Edda Moser im Gespräch mit Thomas Voigt: Edda Moser und EMI Electrola – das ist ein besonderes Kapitel Plattengeschichte. Den Beginn dieser Zusammenarbeit markieren zwei Mozart-Aufnahmen: Die komplette Zauberflöte unter Wolfgang Sawallisch und das RezitaI mit Opern- und Konzertarien unter Leopold Hager. Wäre es eine amerikanische Produktion gewesen, hätte die Soloplatte sicher den Titel „Coloratura spectacular“ gehabt. Stattdessen sieht man auf dem Cover eine Sängerin, die sich vor dem Genie Mozart verbeugt... Ich fühlte mich nicht als Primadonna, sondern als Dienerin des Komponisten, und mir war es wichtig, dass das auf dem Cover zum Ausdruck kommt.

Obwohl die Stücke ja zum großen Teil der Stoff sind, aus dem die Primadonnenroben gewirkt werden – Feuerwerke der Koloratur. Und dann dieser spektakuläre „stunt“ beim Aufstieg auf das dreigestrichene C in der Konzertarie „Popoli di Tessaglia“. Sicher, deshalb hieß das Album auch „Virtuose Arien von W. A. Mozart“. Dennoch ging es mir in erster Linie darum, den unterschiedlichsten Charakteren und den extremen gesanglichen Anforderungen gerecht zu werden. Das stand im Vordergrund – und nicht die Virtuosin. Übrigens zähle ich die Zusammenarbeit mit Leopold Hager zu den glücklichsten Erfahrungen meines Sängerlebens, im Studio wie auch im Konzertsaal. Es gab Momente, da sind wir ineinander versunken in der Seligkeit des Musizierens.

Sie sind die einzige Sopranistin, deren Stimme durch den Weltraum kreist. Ihre Aufnahme von „Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“ befindet sich an Bord der beiden inter­stellaren Raumsonden Voyager I und Voyager II, die 1977 in Cape Canaveral gestartet wurden. Die Arie ist auf „Voyager Golden Record“ gespeichert. Mir wurde erklärt, dass die Scheibe aussieht wie eine vergoldete LP. Und wenn man auf den Knopf drückt, fängt sie an zu spielen. Wie das konstruiert ist, weiß ich nicht. Geschätzte Lebensdauer: 500 Millionen Jahre. So viel zur Frage, die sich jeder Künstler stellt, nämlich: „Was bleibt?“ (lacht) Dass etwas bleibt, zeigt schon diese CD-Box, die ja mein Platten-Vermächtnis darstellt. „Der Hölle Rache“ entstand übrigens in einem Rutsch, morgens um zehn. „Wollen Sie einen Probelauf, oder nehmen wir gleich auf?„, fragte Wolfgang Sawallisch. „Von mir aus gleich Aufnahme!“ Dann legte ich los – und das war’s. Ein Take.

Edda Moser: als Königin der Nacht im ZDF-Konzert, wiederholt auf 3Sat/ youtube

Der Produzent dieser Aufnahmen war meist Helmut Storjohann, und zu ihm hatten Sie offenbar einen sehr guten Draht. Wir kamen wunderbar miteinander aus. Und er hat mir bei meinen Solo-LPs viel Freiheit gelassen. Zum Beispiel durfte ich mir für meine erste Liedplatte das Programm und den Begleiter aussuchen. Also habe ich mir als erstes Lieder von Strauss und Pfitzner gewünscht, mit Erik Werba als Partner am Klavier.

Warum gerade Pfitzner? Seine Lieder werden bis heute unterschätzt, zumal im Vergleich zu Strauss. Er gehört zu den Komponisten, bei denen sich alte Vorurteile hartnäckig gehalten haben. Als ich zum Beispiel den Managern der Mailänder Scala mein Programm für den Liederabend vorstellte, sagten sie sofort: Bloß keinen Pfitzner!“ Aber das hat mich nur darin bestärkt, seine Lieder zu singen. Außerdem war er ein Freund meines Vaters.

… des Musikwissenschafliers und Sängers Hans Joachim Moser. Vaters Gesang war mein Schlüsselerlebnis in Sachen Lied. Deshalb ist mein emotio­nales Verhältnis zum Lied auch viel älter als meine Beziehung zur Oper.

Wie war die Arbeit mit Erik Werba? Das war das Beste, was mir als Liedsängerin passieren konnte. Ich habe sehr viel von ihm gelernt; er hat ja alle großen Liedsänger begleitet und beraten, und wenn er einen begleitete, hatte er eine unglaubliche Ausstrahlung. Mit ihm hatte ich auch meinen ersten großen Liederabend im Wiener Musikverein. Danach habe ich oft und gern mit Christoph Eschenbach gesungen; auch Dalton Baldwin und Leonard Hokanson darf ich zu meinen Wegbegleitern zählen.

Edda Moser mit Nicolai Gedda in „Don Giovanni“ an der Met/ Met Opera Archive

Mit Hokanson haben Sie ein Schubert-Rezital aufgenommen, elf Jahre nach Ihrer ersten Liedplatte. Warum haben Sie so lange mit Schubert gewartet? Aus Respekt und aus Sorge, seiner Musik nicht gerecht werden zu können. Schubert hat in vielen seiner Lieder eine Tessitura, die für Soprane unbequem ist.

Sie haben einmal gesagt, dass die Kunst des Liedgesangs immer mehr verloren geht. Nicht bei Festivals, aber im täglichen Musikleben. Da droht das Lied immer mehr zu einem Nischenprodukt für Liebhaber und Experten zu werden. Als ich in Berlin stu­dierte, waren Liederabende selbstverständlicher Teil des musikalischen Alltags. Da verging keine Woche ohne einen Liederabend, und man hörte regelmäßig die Besten des Metiers: Fischer-Dieskau, Grümmer, Seefried, Prey, Schwarzkopf, Rothenberger, Streich und viele andere.

Fischer-Dieskau hat die Hörgewohnheiten ganzer Generationen geprägt, er war ein Freund Ihres Vaters – hat das irgendeinen Einfluss auf Ihre Liedinterpretationen gehabt? Sagen wir so: Wer sich ernsthaft mit dem Liedgesang beschäftigte, konnte ihn gar nicht umgehen. Er war eine solche Autorität und Größe auf diesem Gebiet, und wer wie wir in Berlin wohnte, war froh und dankbar, ihn regelmäßig mit Liederabenden zu hören. Sicher hat das unterschwellig auch Einfluss auf mich gehabt, zum Beispiel in der Artikulation.

Was kann man tun, damit Liederabende wieder zum musikalischen Alltag gehören und nicht Sonderveranstaltungen für Spezialisten bleiben? Tja … da müsste man fast schon in der Schule ansetzen und versuchen, die Lust an Musik und Poesie zu wecken. Natürlich ist das eine harte Arbeit: Welches Kind hat schon Lust, sich mit Gedichten zu befassen? Wir wären ja auch lieber spielen gegangen. Aber wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Es hat uns auch gezeigt, dass es noch etwas an­deres gibt als das Nützliche und Materielle, dass der Mensch nicht nur von Essen und Trinken lebt, dass es auch eine seelische und geistige Nahrung gibt. Wenn wir uns das bewusst machen, ist der erste Schritt getan. ©Thomas Voigt, 2013

 

Edda Moser als Violetta im bereits erwähnten ZDF-Konzert, das später von 3Sat wiederholt  wurde/ youtube

Als Erinnerungsstütze hier noch ein Auszug aus dem unersetzlichen Kutsch/Riemens  (Großes Sängerlexikon): Moser, Edda, Sopran, * 27.10.1938 Berlin; Tochter des Musikwissenschaftlers Hans Joachim Moser (1889-1967). Gesangstudium bei Hermann Weißenborn und bei Gerty König in Berlin. 1962 debütierte sie als Kate Pinkerton in »Madame Butterfly« am Deutschen Opernhaus Berlin. Sie sang ein Jahr lang als Choristin am Stadttheater von Würzburg und war seit 1964 nacheinander an den Stadttheatern von Hagen (Westfalen) und Bielefeld sowie am Theater des Westens in Berlin tätig. 1967 begegnete sie bei einem Gastspiel am Staatstheater von Braunschweig dem Komponisten Hans Werner Henze, der sie veranlasste, bei einem Konzert in London die Soli in zwei seiner Kantaten zu singen. 1971 wirkte sie in Wien in der Uraufführung des Oratoriums »Das Floß der Medusa« von H.W. Henze mit. 1968 wurde sie durch Herbert von Karajan für die Salzburger Osterfestspiele als Wellgunde im »Rheingold« verpflichtet. Die gleiche Partie sang sie bei einem Gastspiel des Salzburger Ensembles im November 1968 an der Metropolitan Oper New York. Es folgten Gastspiele an den Opernhäusern von Frankfurt a.M., Hamburg, Paris (1977 Königin der Nacht an der Grand Opéra) und am Grand Théâtre in Genf. Im Konzertsaal schätzte man sie vor allem als Bach-Sängerin und als Interpretin zeitgenössischer Meister. 1970 bewunderte man  sie an der Metropolitan Oper New York als Königin der Nacht in der »Zauberflöte«, ihrer besonderen Glanzrolle; sie sang an der Metropolitan Oper während einer Reihe von Jahren u.a. die Donna Anna im »Don Giovanni«, die Konstanze in der »Entführung aus dem Serail«, die Musetta in »La Bohème« die Liu in Puccinis »Turandot« und mit besonderem Erfolg 1984 die Armida in »Rinaldo« von Händel. 1978 gastierte sie in Moskau, Kiew, Odessa und Tallinn (Reval). Bei den Salzburger Festspielen sang sie 1971 die Aspasia in Mozarts »Mithridate«, 1978 die Donna Anna im »Don Giovanni«, 1979-82 die vier Frauenrollen in »Hoffmanns Erzählungen«, 1981-84 die 1. Dame in der »Zauberflöte« und trat 1970-89 dort immer wieder in Konzertveranstaltungen auf. Beim Festival von Aix-en-Provence hörte man sie als Donna Anna im »Don Giovanni«. 1971 feierte man sie an der Wiener Staatsoper als Konstanze in der »Entführung aus dem Serail«, als Königin der Nacht und in anderen Partien für Koloratursopran; sie blieb dann Mitglied dieses Opernhauses. Durch Gastspielverträge war sie den Staatsopern von München und Hamburg verbunden. In Hamburg hatte sie 1974 spektakuläre Erfolge als Lucia di Lammermoor. 1972 sang sie in London in einer konzertanten Aufführung von »Le Rossignol« von Strawinsky. 1974 gab sie Konzerte in der New Yorker Carnegie Hall. Sie wechselte dann vom lyrischen und vom Koloraturfach in den Bereich des dramatischen Soprans und sang an der Deutschen Oper Berlin und an weiteren Bühnen (u.a. in Bonn und Leipzig) Rollen wie die Senta im »Fliegenden Holländer«, die Leonore im »Fidelio«, die Titelpartie in »Salome« und die Marschallin im »Rosenkavalier« von Richard Strauss. 1988 Gastspiel in Rio de Janeiro als Ariadne in »Ariadne auf Naxos« von R. Strauss, 1989 am Teatro Valli in Reggio Emilia als Marie im »Wozzeck« von A. Berg. Tourneen, bei denen sie sich auch als große Liedersängerin präsentierte, führten sie nach Südamerika, Italien, Frankreich, Belgien und Dänemark. Sie war dazu pädagogisch tätig.

 

Edda Mosers „Vermächtnis“, wie sie selbst im Gespräch hier sagt: Electrola/EMI-Recitals/ Oper & Lied

Zahlreiche Schallplatten der Marken Electrola/ EMI (»Idomeneo« von Mozart, »Die Zauberflöte«, »Paradies und die Peri« von Schumann, Leonore in der Ur-Fassung von Beethovens »Fidelio«, »Abu Hassan« von Weber, »Der häusliche Krieg« von Schubert, »Genoveva« von Schumann, »Die Abreise« von d’Albert, Mozart- Arien; Operetten- und vortreffliche Lied-Aufnahmen) und DGG (Ring-Zyklus aus Salzburg, »Orpheus« von Gluck, »Rappresentatione di Anima e di Corpo« von Cavalieri, »Das Floß der Medusa« von Henze), CBS (»Don Giovanni« als CD und Film), Calig-Verlag (1. Akt »Walküre«, Aufnahme einer konzertanten Aufführung vom Juni 1994 in Schwerin).

[Nachtrag] Moser, Edda; sie war 1968-71 am Opernhaus von Frankfurt a.M. engagiert. An der Metropolitan Oper New York sang sie seit 1968 acht Rollen in neun Spielzeiten (Debüt als Wellgunde im »Rheingold«), 1972, 1975, 1979-80, 1981-82 und 1983-84; man hörte sie dort als Königin der Nacht in der »Zauberflöte«, als Donna Anna im »Don Giovanni« (48mal), als Musetta in »La Bohème«, als Liu in Puccinis »Turandot«, als Nedda im »Bajazzo« und als Armida in »Rinaldo« von Händel. Bereits 1973 unternahm sie eine sehr erfolgreiche Rußland-Tournee mit Auftritten in Moskau, Leningrad und Riga. An der Oper von Marseille gastierte sie 1981 als Gräfin in »Figaros Hochzeit«, an der Staatsoper von Wien sang sie noch 1994 die Salome in der gleichnamigen Oper von R. Strauss. Ihr Vater Hans Joachim Moser (1889-1967) war auch als Konzertsänger tätig und nahm auf der Marke Parlophon-Schallplatten mit Musik des Mittelalters auf. Ihr Halbbruder Wolf-Hildebrand Moser (* 1943 Berlin) wurde ebenfalls als Sänger bekannt. [Lexikon: Moser, Edda. Großes Sängerlexikon, S. 17119 (vgl. Sängerlex. Bd. 4, S. 2442; Sängerlex. Bd. 6, S. 540) (c) Verlag K.G. Saur] (Foto oben: Edda Moser: als Donna Anna in Joseph Looseys-Verfilmung von „Don Giovanni“ 1979/ kinozeit.de)

 

Leselust

 

Unaufgeregt, als handle es sich um eine gemütliche Plauderei beim Wiener Heurigen, liest sich das neue Buch des  nunmehr 88jährigen Otto Schenk, das er sicherlich zur Freude aller seiner vielen Anhänger zwei Jahre nach dem bereits nach Abschied klingenden „Ich kann‘s nicht lassen“ und vier Jahre nach dem ebenfalls sich nach Epilog anhörenden „Ich bleib noch ein bissl“ unter dem Titel Wer’s hört, wird selig“ geschrieben hat. Und natürlich erhofft man nach so häufigem im Geiste Abschiednehmen auch noch mindestens ein weiteres Buch zum Neunzigsten im Jahre 2020.

Was macht die Werke Otto Schenks zu einem so angenehmen Lesevergnügen, dass man seine Bücher meistens in einem Zug hintereinander weg liest? Zu ihren Tugenden gehören ganz sicherlich die Untertreibung, der Humor, die grenzenlose Gelassenheit. Da stutzt man, wenn man über das Jahr 38 liest, dass man von da an „nicht mehr in die Oper durfte“, sieht bei Wikipedia nach und stellt fest, dass der Verfasser Halbjude und deshalb den antisemitischen Schikanen der Hitlerzeit unterworfen war. Da möchte man nicht glauben, dass, wie es ein wiederholtes Bekenntnis glauben machen soll, Otto Schenk unmusikalisch sein soll, da staunt man über den Mut desjenigen, der Opern mit antiken Bauwerken gleichsetzt, die man ja auch nicht plötzlich farbig verrückt anstreicht, sondern so bewundert, wie sie der Nachwelt hinterlassen wurden. Er, dem das ganze moderne Regietheater ein Graus sein muss, ist die personifizierte Dezenz und enthält sich jeder negativen Kritik, lässt Kritisches nur im Lob für das, was dem Regietheater die Stirn bietet, anklingen. Das Lob für die „Glaubhaftigkeitsgierigen“ unter den Sängern und Sätze wie „Ich bin kein hypochondrischer Langprobierer“ lassen ihn durchaus Position beziehen, ihn, der  vom Publikum geliebt und vom Feuilleton eher belächelt wird für seine ewig lebendig bleibenden Inszenierungen. Von denen gibt es auch einige Eindrücke durch die zahlreichen Fotos.

Otto Schenk liebt die Sänger und das beruht offensichtlich auf Gegenseitigkeit und verwundert nicht. Eher schon, aber nur für einen Moment, dass Wieland Wagner ihm Anja Silja anvertraute für die Partien, die sie nicht mit ihm selbst einstudieren konnte. Keine ideologisch befrachteten Regiekonzepte sind seine Stärke, sondern das Bestreben, Sänger vor dem „Hausmeisterschmerz“, der falschen, auf tragisch machenden Pose zu bewahren, was sogar einen sonst gern Proben schwänzenden Corelli zum Probenfanatiker  machte. Lang ist die Liste der Sänger, mit Anekdoten gewürzt, die sich auf seine Hilfestellung als Regisseur verlassen konnten, und sei es die mit der Bratpfanne zuschlagende Norina Netrebko an der Met.

Auch über sinfonische Musik hat sich Schenk Gedanken gemacht, über die Eigenarten von Dirigenten, mit denen er zusammen gearbeitet hat oder von denen er bedauert, dass es nie zu einer Zusammenarbeit kam, so wie er es sich nach Thielemanns Götterdämmerung wegen dessen „überströmender Suggestionskraft“ gewünscht hätte. Zur künstlerischen Freundschaft, die ihn mit Levine verbindet, bekennt sich der Autor auch heute noch, wo viele Ex-Freunde um den Namen lieber einen Bogen machen.

Oft gibt es etwas zu lachen, wenn mit weanerischem Sprachduktus vom Leiden der Tänzer bei den übertriebenen Ritardandi von Robert Stolz oder von der Lust Karajans an den Dirigentenparodien des Verfassers berichtet wird.

Man kann nur hoffen, dass die von Otto Schenk als ungebrochene Schaffenskraft gepriesene Rüstigkeit zu weiteren Büchern und vielleicht sogar zu einer Inszenierung gemeinsam mit Thielemann führt (240 Seiten, Amalthea Verlag Wien 2018, ISBN 9783 99050 139 9). Ingrid Wanja

 

Sehens-, hörens- und bedenkenswert

 

Gleichermaßen zum Entzücken für Ohr, Gemüt und Intellekt sind die beiden DVDs mit den Titeln Richard Strauss Gala und My Richard Strauss, die ein Konzert mit ausschließlich Werken des bayerischen Komponisten und einen Essay über denselben, ausgehend vom Verhältnis des Berliner Dirigenten Christian Thielemann zu seinem zweiten Hausgott (Es gab bereits eine CD mit dem Titel Mein Wagner.) anbieten. Wer könnte berufener sein als die Dresdner Staatskapelle, die neun der Opern Strauss‘ uraufführte und in ihrem Archiv, wundersamer Weise durch den Krieg gerettet, die Partituren mit den Anmerkungen des Komponisten bewahrt.

2014 wurde das Konzert, in dem Konzertstücke und Arien einander abwechseln, aufgenommen, die DVD kam 2015 auf den Markt. Drei namhafte Strauss-Sängerinnen bestreiten die Solonummern. Christine Goerke singt den Beginn von Elektra und den Schluss von Salome, in rotschwarzem Kleid wohl Sünde und Tod gleichermaßen verdeutlichend, aber doch eher wie Carmen gewandet erscheinend. Ganz und gar Strauss aber ist ihr Gesang mit rundem, warmem Sopran, der auch an den exponiertesten Stellen nie schrill wird,  einer Stimme, die in der Höhe aufblüht, für die Salome ein anrührendes Erstaunen und für Elektra und ihre Rufe nach dem Vater einen gewollt hohlen Klang in der Stimme hat. Das Piano am Schluss kommt ohne jeden Farbverlust daher, ein feines Flirren im Sopran kennzeichnet das „Geheimnis der Liebe“ und für “was soll’s“ gibt es einen schönen Schwellton. Mit nur einem Stück ist Anja Harteros vertreten, die Arabellas „Mein Elemer!“ mit leuchtendem Sopran singt, so dass man wie bei ihren italienischen Partien meint, sie sei gerade und ganz besonders für dieses Repertoire geschaffen. Die Gefühlsschwankungen, in denen sich Arabella bewegt, werden wunderbar nachgezeichnet, die Stimme ist in allen Lagen gleich stark präsent. Der dritte Sopran, ebenso rollendeckend wie der ihrer beiden Vorgängerinnen eingesetzt, ist Camilla Nylund in der Zweiten Brautnacht der Ägyptischen Helena und im Schlussgesang der Daphne, deren Charakter der silbrig schimmernde Sopran ganz besonders gut entspricht. Die erfahrenere Helena wird passend im roten, die keusche Daphne im blauen Gewand vorgestellt.

Das Besondere dieses Konzertes ist es, dass auch weniger bekannte Musik vorgestellt wird, neben der Zweiten Brautnacht vor allem in den Orchesterstücken. Zwar darf der Rosenkavalier-Walzer nicht fehlen, aber auch Die schweigsame Frau, Feuersnot und Intermezzo werden vom Orchester und seinem Dirigenten mal in funkelnder Pracht, mal in feiner Innigkeit zu Gehör gebracht.

Nicht weniger interessant als das Konzert ist der Essay über Thielemann und seinen Lieblingskomponisten, der Originalaufnahmen mit Strauss, viel Wissenswertes auch aus dem Mund des britischen Musikwissenschaftlers Bryan Gilliam („Die Deutschen haben einen Erbsündekomplex und meinen deshalb Strauss hassen zu müssen.“) und natürlich viel mit Thielemann wie Probenausschnitte und Reflexionen über die Musik des Meisters bringt. Als zwischen Skatspiel und Dämonenbekämpfung lebend wird der Komponist charakterisiert, und es bleibt dem Zuschauer- und -hörer manch Nachdenkenswertes im Gedächtnis wie :“Das Schönste ist das Unausgesprochene.“ (C-Major728908/ Foto oben: Richard Strauss gemalt von Max Liebermann/ Foto Wikipedia. nl ). Ingrid Wanja

Seelenzustände

 

Den jungen polnischen Countertenor Jakub Józef Orlinski stellt Erato/Warner mit seinem ersten Soloalbum vor (0190295633745), für das der Sänger ein ungewöhnliches Programm zusammengestellt hat. Musikalisch beraten wurde er dabei von Yannis François, der auch die kritischen Editionen der Stücke erstellte. „Anima sacra“ ist der Titel dieser Anthologie mit geistlichen Werken von der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis zur Vorklassik. Darunter finden sich acht Weltersteinspielungen, was Sammler stets zu schätzen wissen. Die künstlerische Bedeutung des Albums resultiert zudem aus der Mitwirkung des renommierten, auf Barockmusik spezialisierten Ensembles il pomo d’oro unter Leitung des in diesem Repertoire versierten Dirigenten Maxim Emel Yanchev.

Die älteste Komposition stammt aus der Feder von Nicola Fago (1677 – 1745) und dessen Oratorium Il Faraone sommerso (1709). Es ist die erste Arie des Aronne, „Alla gente a Dio diletta“, die eine große Feierlichkeit und Ruhe verströmt, welche Aarons unerschütterlichen Glauben widerspiegelt. Der Sänger lässt seine Stimme ausgeglichen und gerundet ertönen, sie klingt keusch, aber nicht anämisch. Es folgt ein sakrales Werk dieses Meisters als Weltpremiere, die Motette Confitebor tibi, Domine. Die sieben Sätze sind von starken Kontrasten und der Interpret hat hier Gelegenheit, die verschiedenen Stimmungen wach werden zu lassen. Später gibt es von Fago noch dessen geistliche Kantate „Tam non splendet sol creatus“, welche die Geburt Jesu preist und mit einem virtuosen „Alleluja“ endet.

Ein Dresdner Werk ist Johann David Heinichens Motette „Alma Redemptoris Mater“ von 1726, welche in drei Sätzen dem Marienkult huldigt. Der erste zeichnet sich durch liebliches Melos aus und  verlangt dem Interpreten schwebende Töne ab. Auch im zweiten kann er die Schönheit seiner Stimme ausstellen. Dagegen ist der Finalteil in seinem Duktus tänzerisch orientiert. Danach erklingt ein Ausschnitt („Donec ponam“) aus dem Dixit Dominus des katalanischen Komponisten Domènec Terradellas. Er studierte in Neapel bei Francesco Durante, dessen kurze, virtuose Arie „Domine Fili unigenite“ aus der Messa a 5 voci das Programm der CD beschließt.

Eine Größe der neapolitanischen Musik ist Domenico Sarro (1679 – 1744), der mit einem „Laudamus te“ aus seiner Messa a 5 voci vertreten ist. Mit seinem inbrünstigen Vortrag kann Orlinski ebenso überzeugen wie mit den virtuosen Verzierungen. Gleichfalls aus Neapel stammt Francesco Feo (1691 – 1761), der bei Fago Unterricht nahm und in seiner Hymne Dies irae die Schrecken des Jüngsten Gerichts schildert. Daraus hat der Countertenor die Arie „Juste Judex ultionis“ ausgewählt, in der Gott um Milde angefleht wird. Aus dem Jahre 1735 stammt Gaetano Maria Schiassis Oratorium Maria Vergine al Calvario, aus dem die Arie des Giovanni, „L’agnelletta timidetta“ ertönt, in welcher Johannes sich mit einem verschüchterten Lamm vergleicht, was der Sänger mit besonders zarter Tongebung ausdrückt.

Für den Dresdner Hof schrieb Jan Dismas Zelenka (1679 – 1761) Gesù al Calvario, das er selbst als componimento sacro bezeichnete. Daraus stellt Orlinski eine Arie mit Rezitativ vor: „Smanie di dolci affetti“/„S’una sol lagrima“. Sie ist von getragenem Duktus und feierlichem Ernst. Nach Dresden führt auch die „jüngste“ Komposition der Auswahl. Sie stammt aus Johann Adolf Hasses Oratorium Sanctus Petrus et Sancta Maria Magdalena von 1758. In der Arie „Mea tormenta, properate!“ schildert Petrus seinen seelischen Aufruhr beim Anblick des gekreuzigten Christus. In seinem furiosen Rhythmus und Tempo ähnelt das Stück einer dramatischen  opera seria-Arie und Orlinski kann hier einen bravourösen Schlusspunkt setzen. Bernd Hoppe

 

SINGEN IN DER POST-UND POSTPOSTMODERNE

 

Singen in der Oper, als Therapie und in der Post- und Postpostmoderne: Die Farbe ungebändigter Zornesröte ergießt sich über das vom Autor des Buches Singen selbst gestaltete Cover, und Bernd Weikl hat allen Grund, wie immer und notorisch wütend zu sein, denn was sein Lebensinhalt während seiner Sängerlaufbahn und auch jetzt noch ist, die Oper und das Singen allgemein, haben in den letzten Jahrzehnten einen bedauerlichen Wandel vollzogen. Die Werke der Opernliteratur werden durch die Anhänger des Regietheaters bis manchmal zur Unkenntlichkeit entstellt, und das Singen, sieht man von Fußballstadiongebrülle und Happy birthday for you  einmal ab, ist fast ganz verschwunden, Volks-, Kirchen- oder Weihnachtsliedersingen gehören nicht mehr zum selbstverständlichen Zeitvertreib und damit allgemein verbreiteten Kulturgut in deutschen Landen.

Weikls Buch nähert sich nach einem Vorwort, einer Widmung und einem Geleitwort seinem eigentlichen Thema. Im Vorwort hebt ein befreundeter Akademiker die Vielseitigkeit des Autors und damit des vorliegenden Werks hervor, die Widmung durch den Autor gilt dessen langjährigem Freund Adolph Kurt Böhm, das Geleitwort bezieht sich auf eine Aufführung von Mendelssohn-Bartholdys Elias unter Mitwirkung des Baritons 1988 anlässlich des vierzigsten Jahrestags des Bestehens des Staates Israel. Der Prolog schließlich bietet eine Vorausschau auf die Themen, die den Autor beschäftigen: Ist er Künstler oder Entertainer, gilt im Opernhaus die Partitur oder der Regisseur als das A und O aller Dinge, worin besteht der Bildungsauftrag der staatlich bezuschussten Künste, und was kann Singen bei bewusster Atmung bei Patienten der Psychiatrie bewirken?

Letzteres wird als Ergebnis einer Untersuchung in einer Münchner Klinik umfangreich und mit vielen Graphiken zum besseren Verständnis beitragend, dargeboten. Das Fazit ist der Nachweis, dass das Singen und das „angewandte Atmen“ sich positiv auf Stimmung und Haltung der Patienten auswirken.

Etwas überraschend geht es dann mit einem knappen Blick auf den Ursprung der Oper weiter, um danach sich mit den unterschiedlichen Aufgaben von rechter und linker Gehirnhälfte zu befassen. Wie zu einer Art Refrain kehrt Weikl zu den Auswüchsen des Regietheaters, das sein Verdammungsurteil über „Wiedererkennung und Wohlfühlen“  als Teil des Operngenusses gesprochen hat, ja das Ende der Oper mit diesen verbindet, erneut zurück.

Man hat oft den Eindruck, den Verfasser übermanne der Zorn über die heutigen Verhältnisse und hindere ihn daran, kontinuierlich zu einem Thema Stellung zu beziehen, führe ihn immer wieder zu den bevorzugten Themen Regieuntaten, Verfall des musikalischen Lebens in Deutschland zurück, wobei manches wohl zu schwarz gesehen wird, so mit der Behauptung, es gebe keinen Musikunterricht in den Schulen mehr oder es habe ein Orchestersterben eingesetzt. So mag die Tatsache, dass zur Zeit der Wende  43 % der deutschen Orchester sich auf dem Gebiet der DDR befanden, auch bedeuten, dass es dort ein Überangebot gab. Fast leere Parsifalvorstellungen an der Berliner Staatsoper ließen bei der Rezensentin einst diesen Gedanken aufkommen.

Praktisch für werdende Sänger könnte das Kapitel über den „menschlichen Körper als Instrument“ sein, über den Vokalausgleich und die optimale Atmung. Ein weiterer Aspekt, die Interessen und Vorhaben Bernd Weikls betreffend, sind dessen Versuch, Männer aus der Wirtschaft  zu einer erhöhten „kulturellen Kompetenz“ zu verhelfen, das schwedische Königshaus für sein Ideen zu begeistern oder Kritik und Publikum in Tokio für nazifreie Meistersinger. Ein gerichtliches Vorgehen gegen die Vergasung von Juden in einer Tannhäuser-Inszenierung endet ohne den erwünschten Erfolg, und die vom Autor für kommende Zeiten vorhergesehenen Scheußlichkeiten auf deutschen Opernbühnen kann man bereits jetzt besichtigen. Welch großer Unterschied besteht schließlich zwischen einem von Weikl in zukünftigen Zeiten angesiedelten Florestan, der am Ende erschossen wird, und einem , so bereits in Salzburg zu sehen gewesen, der als psychisches Wack am Boden kauert?!

Kleine Ungenauigkeiten wie „Staatspräsident“ anstelle von „Bundespräsident“ oder „Va pensiero sull’allo dorato“ hätten durch ein aufmerksames Lektorat vermieden werden können.

Kann man mit einem so vehementen, leidenschaftlichen Kampf gegen das moderne Regietheater etwas bewirken, oder wird man zu einer Art Don Quichotte im Kampf gegen übermächtige Windmühlenflügel? Man kann sich zum Kämpfer berufen fühlen und sich  das Leben damit selbst schwerer machen als notwendig, oder man erfreut sich an den wunderbaren Aufnahmen, die es zum Glück in großer Zahl gibt, zum Beispiel an einem Sachs oder Wolfram von Bernd Weikl (135 Seiten, Leipziger Universitätsverlag 2018; ISBN 978 3 96023 129 5). Ingrid Wanja

Saint-Saens: „ASCANIO“

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Opernfans werden aufjauchzen, dass die von Samuel Zinsli so hymnisch besprochene Aufführung des Ascanio von Camille Saint-Saens aus dem Grand Théâtre de Genève 2017 nun auch als CD erschienen ist, in einer etwas freudlos-schwarz-weißen, aber recht informativ ausgestatten Buch-CD-Edition bei der franzöischen Firma B Records (LBM 013/ 3 CDs mit französisch-englischem Libretto und vielen Aufsätzen in beiden Sprachen, wirklich vorbildlich). Der nachfolgende Bericht von Samuel Zinsli über die konzertante Aufführung in Genf im September 2017 (in diesem Zeitraum wurde auch die Einspielung vorgenommen) deckt sich auch mit dem Eindruck, den die drei CDs beim Hörer hinterlassen, also bringen wir seine Rezensionhier einleitend.

Der Komponist des „Ascanio“, Camille Saint-Saens/ Wiki

Im Anschluss kommt der Dirigent Giullaume Tourniaire selbst zu Wort, der viele Jahre an einer Realisierung dieser vergessenen Oper gearbeitet hat (man kannte nur eine Arie daraus, die Régine Crespin auf ihrem Decca-Album mit französischen Arien singt, dazu ein paar Schellack-Dokumente historischer französischer Sänger, als die Oper selbst noch in Frankreich gegeben wurde). Das große Werk nun mit so hervorragenden Interpreten aus Genf und vor allem unter der leidenschaftlichen Leitung von Guillaume Tourniare am Pult der Genfer Kräfte zu hören ist  für Freunde der französischen Oper ein Erlebnis der besonderen Art. G. H.

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Samuel Zinzli schreibt: Der Titel von Saint-Saëns‚ 1890 uraufgeführtem Ascanio könnte an eine Fortsetzung von Berlioz‘ Troyens denken lassen. Der Titelheld ist zwar tatsächlich auch in Berlioz‘ Œuvre zu finden, es handelt sich aber nicht um Aeneas‘ Sohn, sondern um den gleichnamigen historischen Schüler Benvenuto Cellinis, der ihm nicht nur in Rom (wie bei Berlioz) zur Hand geht, sondern ihn auch nach Frankreich begleitet. Einige Geschehnisse in Paris, die Cellini in seiner Autobiographie schilderte, inspirierten Dumas senior zu einem Roman, auf dem wiederum ein Theaterstück von Paul Meurice beruht, aus welchem Louis Gallet für Saint-Saëns das Libretto formte. Dass Ascanio im Titel figuriert, dürfte wohl darauf zurückgehen, dass direkte Konkurrenz mit Berlioz vermieden werden sollte – denn auch in Saint-Saëns‘ Oper ist Cellini die noch etwas zentralere Gestalt, und er beschließt die Oper auch mit seinem bitteren Fazit aus dem Geschehen.

„Ascanio“ von Saint-Saens/ zeitgenössische Illustration von Adrien-Marie Scozzaone/ Bibliotheque National de l´Opéra

Die Musik: Saint-Saëns‘ Musik ist überaus inspiriert und abwechslungsreich, anders als Samson et Dalila durchkomponiert. Wagners Einfluss ist da offensichtlich, denn Leitmotive spielen eine große Rolle und prägen einzelne Szenen oft stärker im Orchester als in der Gesangslinie, die über weite Strecken melodiös-expressives, Handlung und Stimmungen minutiös folgendes Rezitativ ist. Kleine Soli sind in großer Zahl eingelegt, eher Szenen und Monologe als Arien, kaum je in ABA-Form – was mich insgesamt musikdramaturgisch mehr an den Verismo etwa der sechs Jahre jüngeren Bohème erinnert als an Wagner. Manche Abschnitte sind stilistisch eine Art Neobarock avant la lettre – oder sogar eher Neorenaissance? Sagen wir: dans le style antique – alles, was innerhalb der Handlung auch tatsächlich Musik ist, die Ballettmusik etwa, Scozzones Lied nach einer echten Canzone aus dem 16. Jahrhundert oder Colombes A-cappella-Canzone (ausnahmsweise mit partieller Wiederholung des A-Teils), aber auch andere Momente wie das Auftrittssolo des Königs. Die polyphone, effektvolle Schreibweise der (insgesamt kurzen) Chorbeiträge verrät unschwer den Autor des Samson oder des Oratoriums Le Déluge; die Orchesterbehandlung vereint französische Delikatesse mit klanglicher Üppigkeit (ohne in die „orientalisierenden“ Extreme zu gehen wie im Bacchanal des Samson oder dem 5. Klavierkonzert). In Bacchus‘ Auftritt im Ballett hört man ikonographisch akkurat Tambourine und die Glöckchen des Thyrsosstabs und schon in der Ouvertüre das Hämmern  aus der Werkstatt Cellinis, was ebenso bewusste Hommage an Berlioz sein dürfte wie die fallende Eselsoktave (I-ah!), wenn d’Estourville und d’Orbec die Duchesse d’Étampes als ihre Schutzherrin beschwören. Auch die Ballettmusik (ein Panorama der griechischen Götterwelt) fällt musikalisch nicht ab, sondern setzt auf größtmögliche Kontraste und melodische Einfälle. Nur die Mythologie ist etwas seltsam, wenn man den Übertiteln trauen darf – Phoebus und Apollo sind ein und derselbe Gott, und die Hesperiden hüten mehr als einen goldenen Apfel in ihrem Garten, von denen aber keiner der Zankapfel beim Schönheitswettbewerb der Göttinnen war – und bedenkt man, dass dieser Wettbewerb dank dem Parisurteil den trojanischen Krieg ausgelöst hat, ist die Überreichung des Apfels an die Duchesse d’Étampes durch Amor ein beunruhigendes Omen… Saint-Saëns beweist mehrmals raffiniertes Geschick dafür, Personen mit ganz unterschiedlichen Gefühlszuständen in Duetten oder Ensembles musikalisch und im Ausdruck überzeugend zusammenzufügen – im Quartett zwischen den Verliebten Colombe und Ascanio und den sie belauschenden eifer- resp. rachsüchtigen Scozzone und Cellini zum Beispiel.

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Zum Inhalt: Und diese Musik geht einher mit einem qualitativ hochstehenden, spannenden Libretto, das keine simple Dreiecksgeschichte bietet, sondern (darin an Don Carlos gemahnend) mindestens sechs wichtige Figuren mit jeweils eigenen Agenden und Gefühlslagen zeigt, die sich verquicken und zu dramatischen Ereignissen führen: Benvenuto Cellini erfährt von der in ihn verliebten Scozzone, dass die Duchesse d’Étampes, die Maitresse François‘ I., ein Auge auf seinen Lieblingsschüler Ascanio geworfen hat – was gefährlich ist, weil der König mögliche Nebenbuhler kurzerhand beseitigen lässt. Cellini will Ascanio schützen und brüskiert zu diesem Zweck die verkleidet zu einem Rendez-vous erscheinende Duchesse, womit er sich deren Hass zuzieht. Einen weiteren Feind macht er sich im Prévôt der Stadt Paris, d’Estourville, als der König ihm dessen Stadtpalais Grand Nesle als Werkstatt fürs Gießen einer goldenen Jupiterstatue zuweist. Verkompliziert wird das zudem durch die Tochter d’Estourvilles, Colombe, in die sich sowohl Ascanio als auch Cellini verlieben.

„Ascanio“ von Saint-Saens/ Fondeur/ Figurine 1890/ Entwurf von Charles Bianchini/ Bibliotheque National de l´Opera

Als die Duchesse Cellini beim König anschwärzt und erwirkt, dass er zwar die Statue fertigstellen, aber dem Monarchen nicht mehr unter die Augen treten darf, schleicht der Bildhauer sich unter dem Schutz des auf Staatsbesuch weilenden spanischen Königs Karl V. in den Hof ein und erwirkt das königlich-französische Pardon, als er tollkühn verspricht, die Statue in drei Tagen zu gießen. Die Duchesse kontert, indem sie vom König die Erlaubnis erbittet, schon am nächsten Tag Colombe mit d’Estourvilles Protégé d’Orbec verheiraten zu dürfen.

Nun wird’s etwas kriminalistisch: Ascanio plant, Colombe in einem Reliquienschrein, der aus Cellinis Werkstatt an ein Nonnenkloster geliefert werden soll, dem Zugriff der Duchesse und d’Estourvilles zu entziehen. Pagolo, ein auf ihn neidischer anderer Cellinilehrling, bekommt davon zufällig Wind und rennt damit zur Duchesse und Scozzone. Die Drei vereinen ihre Rachegelüste: Die Duchesse wird das Reliquiar auf dem Weg ins Kloster abfangen und im Louvre aufstellen lassen, offiziell, um es dem König zu zeigen, tatsächlich, um Colombe darin ersticken zu lassen. Scozzone hinterbringt Cellini Ascanios Plan – so hofft sie den Bildhauer zurückzugewinnen. Die beiden belauschen das Liebespaar (in dem besagten Quartett). Von der tiefen Liebe der jungen Leute bewegt, verzichtet aber Cellini auf Colombe und bittet Scozzone um Verzeihung. Die wird nun von Gewissensbissen überwältigt und opfert sich im letzten Moment, indem sie an Colombes Stelle in das Reliquiar steigt, während Colombe den Schrein verkleidet zu den Nonnen begleitet. Im letzten Bild wird im Louvre die Jupiterstatue enthüllt, und als Belohnung fordert Cellini Colombe nun nicht mehr für sich selbst, sondern für Ascanio. Als die Braut erscheint, wird Scozzones Leichnam entdeckt, die Duchesse bricht zusammen, die Menge bejubelt den König, und Cellini nimmt verzweifelt Abschied von Scozzone, seinem Frohsinn und seiner Jugend.

Camille Saint-Saëns: „Ascanio“ – Guillaume Tourniaire, De La Haute École de Musique de Genève (2018) B Records LBM013

Und der Abend selbst: Das rein frankophone (!) Ensemble setzt sich aus renommierten Solistinnen und Solisten und ebenso handverlesenen Absolvent/-innen und Studierenden der Haute École de Musique de Genève zusammen. Bernard Richter ist perfekt für die Titelrolle. Sein heller, schmelzreicher lyrischer Tenor entspricht ganz dem jungen Künstler Ascanio; in den letzten Jahren hat die Stimme aber auch an Volumen und Metall gewonnen, was in manchen Momenten für diese Rolle auch von Nöten ist. Beglückt lauscht man auch der eleganten Phrasierung, klaren Diktion und intelligenten Textbehandlung. (Nebenbei vermerkt ist auch Saint-Saëns‘ Prosodie von einer Sorgfalt, die man nicht bei allen seinen frankophonen Kollegen findet – bis hin zu den bewahrten italienischen Wortakzenten in Eigennamen) Die Fähigkeit, Gesang und Text zu einer mühelos verständlichen Einheit zu verschmelzen, teilt Richter mit dem Cellini von Jean-François Lapointe. In den Konversationsszenen des Anfangs scheint der sich noch aufzuwärmen, klingt sogar noch etwas matt, aber wie er bald darauf in emphatischeren Kantilenen die Bögen spannt, nie um Atem verlegen, und in den Spitzentönen mit kernigem Klang immer noch etwas zulegen kann, so musikalisch wie präzise, ist höchst eindrücklich. Frappant der Kontrast: Lapointe bleibt in der konzertanten Situation ganz Sänger, ganz privat mit Lesebrille und die Gesangslinie mit den Händen modellierend – und bietet ein saftiges vokales Portrait Cellinis in all seiner ungebärdigen Vitalität. Aber auch Sensibilität. Einer der berückendsten Momente der Partitur ist Cellinis Entschluss zum Verzicht auf Colombe, nur mit leisem Pizzicato begleitet, was für die Koordination sehr schwierig sein muss – am 24.11. hatte da selbst Lapointe einen kleinen Hänger.

Karina Gauvin, die macchiavellistische Duchesse, ist ein Fall für sich. Mit fruchtigem und mächtigem Sopran gibt sie der Figur, einer Schwester im Geiste Abigailles und der Princesse de Bouillon, vom ersten Ton an Profil, kann den Sarkasmus der Figur verblüffend in den Gesang legen, wirft sich furcht- und schonungslos in die Partie. Immer wieder hört man aber, dass sie viel Barock singt: Wie in manchen „historischen“ Gesangsschulen üblich zieht sie leise (v.a. hohe) Töne nach hinten, was bei Saint-Saëns nun stilistisch meiner Meinung nach gar nicht passt – und prompt brechen ihr solche Hochtöne auch mehrfach weg. Wo sie mit voller Stimme und Rundung singt, passiert ihr das nie. Dennoch: Was für ein Rollenportrait, was für ein Biest, das man mit Vergnügen hasst und auf dessen ätzende, girrende und tobende Töne man sich schon im Voraus freut.

„Ascanio“: Illustrationen zur Oper von Gillot Charles/ BNO

Ève-Maud Hubeaux als Cellinis verhärmte, abgelegte Muse und Geliebte Scozzone ist sogar noch bei der Selbstopferung glaubwürdig. Stimmlich wurde ich (der Ordnung halber sei’s gesagt: im Unterschied zur Mehrheit des Publikums) mit ihr nicht so recht warm: Sie singt engagiert und akkurat, mit der notwendigen Attacke und Leichtigkeit (für die erwähnte Canzone); ihr sicher und wendig geführter Mezzo ist gradlinig, im Timbre eher gaumig (es rutschen auch gelegentlich Töne in den Hals) und besitzt eine für meinem Geschmack etwas säuerliche Schärfe, die den dramatischen Momenten zu Gute kommt – aber ich wurde den Eindruck nicht los, dass sie meist an der oberen Grenze der für die momentane Stimmgröße möglichen Dramatik singt, keine Reserven übriglässt. Clémence Tilquin als liebenswürdige Colombe ließ einen leuchtenden lyrischen Sopran hören, samten in den ruhigen Momenten, intensiver ohne zu verhärten in den Ekstasen ihrer beiden Duette mit Ascanio – da bleibt kein Wunsch offen.

Jean Teitgen kann seinen ausnehmend schönen, dunklen Bass für François I. in Aggregats-Zuständen von Samt bis Marmor einsetzen und auch im hohen Register noch feine Töne produzieren. Mit raumgreifender Resonanz und natürlichem Fluss verbreitet er vokal wie szenisch Noblesse und erinnert nur hin und wieder mit einem schärferen Ton daran, dass der König auch eifersüchtig und gefährlich sein kann.

Nennen wir unter den jungen Solist/-innen aus der Region als ersten seinen königlich-spanischen Kollegen: Raphaël Hardmeyer kann als Charles-Quint mit ähnlich imposantem Volumen punkten; was für eine Begegnung auf ganz gleicher Augenhöhe noch fehlt, ist mehr Kern (und eine königlichere Stehhaltung, aber wir sind ja im Konzert) – aber die Süffisanz des Schlagabtauschs über Cellini servieren die beiden genüsslich. Joé Bertili als auf Ascanio neidischer Lehrling Pagolo besitzt ebenfalls einen sonoren Bassbariton, den er im oberen Register enger führt; auch er macht seine Figur lebendig und ist gut zu verstehen. Mohammed Haidar lässt als Mendiant (Bettler) einen angenehmen, im Moment noch nicht sehr kernigen Bariton hören, aber mit welcher expressiven Wärme segnet er Colombe und Ascanio… Maxence Billiemaz formt die undankbare Rolle des ungewollten Bräutigams d’Orbec stimmlich wie im szenischen Ausdruck markant; Olivia Doutney als Ursuline singt nur in einem großen Ensemble mit Chor im 5. Akt mit und entzieht sich daher der Beurteilung. Einzig Bastien Combe als d’Estourville ist seiner Partie sängerisch (noch) nicht gewachsen; er skizziert die Figur überzeugend, bei Linie und Intonation müssen aber Abstriche gemacht werden.

„Ascanio“: Jean-Louis Lasalle sang den ersten Cellini/ Jean Lassalle, en costume de Henry VIII, photo publiée dans Paris-Artiste, n°18, mai 1884. Photographe benque et Cie/ ipernity

Die Chöre des Grand Théâtre de Genève und der Haute École de Musique unter Alan Woodbridge sind trotz langer Pausen stets hellwach und vielfarbig bei der Sache. Das Orchester ist ebenfalls jenes der Haute École de Musique de Genève. Bedenkt man, dass es sich da nicht um einen über Jahre zusammengewachsenen und geformten Klangkörper handelt, der mit einer Partitur ohne Aufnahmen oder Aufführungstradition konfrontiert ist, kann man nur den Hut ziehen. Natürlich gibt es hie und da kleine Unsicherheiten und zaghafte Einstiege, aber ist das bei den „Großen“ denn wirklich immer anders? Ja, in einem kleinen Marsch in der 2. Szene erklingen im Blech wohl kühnere Harmonien, als Saint-Saëns sie sich vorgestellt hatte. Aber das wird mehr als aufgewogen mit der zu Recht gefeierten hochvirtuosen Flötensolistin in der Variation d’Amour des Balletts (Joidy Blanco). Saint-Saëns‘ Orchestration bietet jedem Instrument dankbare Passagen, und das Orchester dankt ihm das mit Hingabe und höchster Konzentration.

Dank gebührt da dem Grand Théâtre – eine solche Zusammenarbeit mit einer Musikhochschule ist nicht selbstverständlich, doch das Ergebnis spricht für sich. Und hat zudem den Effekt, dass der Altersdurchschnitt im Foyer massiv sinkt.

Am Pult steht Guillaume Tourniaire, der Spiritus rector des ganzen Projekts, der 10 Jahre darauf hingearbeitet hat, Ascanio endlich erklingen zu lassen, und dafür allein gebühren ihm schon höchstes Lob und Dank. Er betont die lyrischen Farben des Stücks, packt aber auch beherzt zu, wenn’s unzweifelhaft dramatisch wird. Die Liebe zu Saint-Saëns‘ Oper und die Energie und Begeisterung, die er dem Ensemble einflößt, sieht man ihm auch am Rücken an. Samuel Zinsli

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„Ascanio“: der Dirigent Guillaume Tourniaire/ Grand Opéra de Geneve

Zur Oper und der Entstehungs-Geschichte schreibt der Dirigent Guillaume Tourniaire:  „Es wird berichtet, dass Haydn, als er einmal Mozart eine seiner eigenen Kompositionen spielen hörte, gesagt haben soll: „Dieser junge Mann ist der größte Musiker, den ich kenne!“ Ja, und was würde er heute sagen …? Schhh! Ich habe überhaupt nichts gesagt … (Charles Gounod: „Ascanio von Saint-Saens“.)

Die Komposition von Ascanio begann am 17. November 1887 in Algier und wurde am 28. September 1888 in Paris vollendet. Was das Ballett anbelangt, wurde dieses 1889 in Saint-German-en-Laye geschrieben, dem Jahr der Weltausstellung, in dem die Oper uraufgeführt werden sollte. Nach verschiedenen Vorfällen fand die Premiere schließlich am 21. März 1890 an der Pariser Oper statt, aber in Abwesenheit von Saint-Saëns, der wegen eines schweren Nervenzusammenbruches infolge des Todes seiner Mutter die Proben verlassen musste. Bevor er abreiste, rief er den Komponisten Ernest Guiraud, den Librettisten Louis Gallet und seinen Verleger Auguste Durand zur Zusammenarbeit auf und gab ihnen zahlreiche Anweisungen für die bevorstehenden Proben und die ausdrückliche Anweisung, die Partitur nicht zu verändern. Bei seiner Rückkehr jedoch erwarteten ihn einige Überraschungen. „Als ich im Frühjahr 1890 nach Paris zurückkam (1), spielte man Ascanio nach wie vor und ich besuchte daher das Opernhaus. Trotz der Vorsichtsmaßnahmen, die ich getroffen hatte, bevor ich Paris verließ, bemerkte ich Veränderungen, die mir nicht gefielen, und ich musste Berichtigungen vornehmen.“ Er bedauerte auch die Änderung der Besetzung: „Die bedeutende Rolle von Scozzone war für Mademoiselle Richard bestimmt gewesen. Als sie die Oper verlassen hatte, nutzte das Management meine Abwesenheit aus, um sich die Kosten für die Anstellung einer weiteren Altistin zu sparen und gab die Rolle Mademoiselle Bosman, die ziemlich reizend war; aber diese Änderung verdarb die Rolle, entfernte ihren Charakter und beeinträchtigte die Gesamtstruktur der Arbeit.“

Auf diese Weise war die Rolle des eifersüchtigen Liebhabers, für den sich Saint-Saëns die tiefgründigen, verzaubernden und sinnlichen Farben vorgestellt hatte, in denen er Dalila bereits geschmückt hatte, von Ernest Guiraud für eine Sopranistin übernommen worden. Das ergab überhaupt keinen Sinn, da die drei weiblichen Hauptrollen nun in derselben Gesangslage sangen. Als er eine mögliche Reprise in Betracht zog, schrieb der Komponist 1893 an seinen Verleger: „Wenn die Zeit gekommen ist, sollten Sie wissen, dass ich es zur absoluten Bedingung mache, dass die Rolle von Scozzone von einer Altistin gesungen wird. Ich weiß, dass Gailhard dieses Bedürfnis nicht hat, und deshalb bestehe ich darauf. Es gibt niemals mehr die Zustimmung zu dieser Umsetzung, die der Arbeit als Ganzes enorm abträglich ist.“(2)

„Ascanio“: Emile Cossira sang den ersten Ascanio, hier als Pylade von Gluck Paris 1930/ ipernity

Zu Beginn der Proben wurde ein erstes vollständig handgeschriebenes Orchestermaterial angefertigt. Es entsprach in jeder Hinsicht dem Autographen, und zu dieser Zeit bestand die Oper aus fünf Akten und sieben Tableaus. Im Laufe der Arbeit und dann bei den Aufführungen wurde das Stück jedoch erheblich überarbeitet (wie alle Änderungen an den Noten in der Museumsbibliothek der Pariser Oper bezeugen).

Wenn all diese Dokumente genau studiert werden, kann man sogar sehen, dass die Partitur mehr als zwanzig Schritte durchlaufen musste! Einige davon wurden nach der letzten Generalprobe als Reaktion auf die als frostig geltende Rezeption des Publikums als dringlich beschlossen. So konnte man in La Revue d’Art Dramatique lesen: „Das Stück erschien zu lang: Wir haben zwei Bilder zu einem zusammengefügt; drei ziemlich schwachen Szenen, die im Louvre spielen, herausgeschnitten; ein Duett vom Louvre nach Fontainebleau verlegt, das nach Streichung der Antwort der Herzogin zu einem einfachen Madrigal wird, welches von der Königin gesungen wird; schließlich wurde das Ballett verkürzt … Zusammenfassend ist das Ergebnis, das wir erhalten haben, überaus zufriedenstellend, und das ist schön.“(3)

Der Komponist teilte diese Meinung mitnichten, und einige Jahre später, als er noch einmal das Thema einer möglichen Wiederaufnahme der Oper aufgriff, schrieb er an Jacques Rouché (6): „Ich muss den letzten Akt mit Ihnen besprechen. Ich hatte ursprünglich eine ziemlich bedeutungsvolle vokale und chorale Entwicklung eingebaut, die etwas an den letzten Akt von Fidelio erinnert, in dem jeder zu singen beginnt, wenn das Stück fertig ist. Auf diese Weise gewann der letzte Akt mehr Gewicht und Interesse. Monsieur Gailhard fand den Aufzug zu lang – ganz sicher war er es nicht –, und da ich abwesend war und mein Verleger daran gewöhnt, mich zu widerlegen, wurde der letzte Akt nach dem Geschmack von Monsieur Gailhard arrangiert. Das Arrangement war verabscheuungswürdig; bei meiner Rückkehr nach Paris beeilte ich mich, den Originaltext, von dem Monsieur Gailhard (4) nichts wissen wollte, nicht wiederherzustellen, sondern ein anderes Arrangement, das zumindest vorzeigbar war. Der Aufzug ist jedoch zu kurz und von zu geringem musikalischen Interesse. Es ist nicht weniger als die Auflösung des Stückes. Mir ist aufgefallen, dass der Originaltext bei Monsieur Durand vollständig erhalten ist. Ich werde es Ihnen vorstellen und zweifle nicht daran, dass Sie der Notwendigkeit zustimmen werden, es wiederherzustellen.“ (7) Dieser erstaunliche Bericht könnte nicht erleuchtender sein! Die Originalfassung (in fünf Akten und sieben Tableaus) war zwar beim Verleger erhalten, aber mit Ausnahme einer 1890 veröffentlichten Klavierstimme wurden weder die Partitur des Dirigenten noch die Orchesterstimmen veröffentlicht. Es war jedoch eine modifizierte Version mit „vorzeigbaren“ Anpassungen, aber „von nicht genügend musikalischem Interesse“ (in fünf Akten und sechs Tableaus), für die sich Durand für den Druck der ersten vollständigen Edition des Ascanio von 1893 entschied. (5)

„Ascanio“: Rosa Bosman war die erste Scozzone/ Rosa Bosman as Rafaela Patrie Paladilhe ROSA BOSMAN (Bruxelles, 29 décembre 1857 – 1930). Belguim Soprano/ ipernity

Eine erschöpfende Darstellung aller Kürzungen würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, aber es ist wichtig, einige zu kommentieren, einschließlich des Schnittes an den Tableaus, die „verschmolzen“ wurden, wie im oben zitierten Artikel erwähnt. In der Originalfassung schließt der zweite Akt mit einer der dramatischsten Szenen des Werkes: dem Trio, in dem sich Ascanio und Colombe gegenseitig ihre Liebe erklären zum Trotze der Herzogin von Étampes, die sich vor Eifersucht für Rache entscheidet (Akt II, Tableau II, Szene IV). Diese außerordentlich leidenschaftliche Szene (Ascanio: „Möge meine verzückte Seele in dir bleiben …“) beschließt den Akt in einem Spannungsbogen, der die Wut der Herzogin auslöst, die entschlossen ist, Colombe loszuwerden („Vergeltung! Liefere diese Frau eines Tages meinem triumphierenden Zorn aus!“). Dennoch wurde beschlossen, sowohl dieses Trio als auch einen guten Teil des vorherigen Duetts (Akt II, Tableau II, Szene III) zu streichen, was Ascanio die Gelegenheit gegeben hatte, der Herzogin das von ihr in Auftrag gegebene Schmuckstück zu bringen. Auf diese Weise verlor die Partitur nicht nur einen ihrer intensivsten Momente, auch das Libretto wurde unverständlich. Saint-Saëns war ebenfalls über diesen Schnitt traurig und schrieb: „Es ist jedoch absolut notwendig, die Szene zwischen der Herzogin und Ascanio – für das Stück unentbehrlich und wegen nicht adäquater Leistungen gestrichen – wiederherzustellen.“ Aber das ist nicht alles … Da die eingesparten Takte dieses Duetts das Tableau II (das selbst zu kurz geworden war) keinesfalls schließen konnten, waren sie unmittelbar mit dem Beginn von Akt III verbunden. Die monumentale Ouvertüre, welche die Ankunft von Kaiser Karl V. und König Franz I. in den Gärten von Fontainebleau ankündigt, ließ nun den gesamten französischen Hof mit all seinem Pomp unverhofft in den Gemächern der Herzogin erscheinen!

In dem zuvor zitierten Brief sprach Saint-Saëns von „weniger als ausreichenden Aufführungen“. Die Nachrichtenkolumne L’Événement äußerte sich deutlich zu diesem „großen Trio, das in letzter Minute geschnitten wurde und das einen der schönsten Teile des Ascanio beinhaltete, der aber geopfert werden musste, um die Kraft einer der überaus müden weiblichen Darstellerinnen zu bewahren.“ Es gab jedoch kein Problem mit dem Sänger des Benvenuto Cellini. Im Gegenteil, Jean Lassalle triumphierte in der Rolle, die zweifellos eine der besten (und längsten!) im Repertoire der französischen Romantik darstellt. Obwohl Benvenuto in der dreistündigen Partitur von Anfang bis Ende singt, hat er nur eine einzige Arie in der Szene, in der er die Statue von Hebe formt (Akt II, Tableau I, Szene III). Diese Arie, deren außergewöhnlicher Geist die Faszination des Bildhauers widerspiegelt, der von der Schönheit seines Modells fasziniert ist, erfüllte Saint-Saëns mit glücklichen Erinnerungen. Er schrieb darüber: „Ich habe dieses Werk in Algier geschrieben; diese Stadt, in die ich so oft gegangen bin, um die Sonne zu suchen, die ich brauchte. Ich hatte damals eine gute Stimme und erinnere mich, wie sehr ich es genossen habe, die Arie von Benvenuto zu singen, als er die Statue von Hebe malte! Ich ging mit ganzem Herzen daran, mit der ganzen Kraft meiner Stimme, die nicht mit jener von Monsieur Journet (8) vergleichbar war, mit der ich aber zurechtkam, da mir keine andere zur Verfügung stand …“ Was Charles Gounod angeht, hat er diese Arie auch mit Lob überschüttet: „Dieses Stück ist bewundernswert. Die Beredsamkeit des Enthusiasmus, die Leidenschaft des Bildhauers, das strahlende Fieber, das ihn ergreift, wenn er seinem Ideal begegnet: all dies wird mit einer seltenen Schönheit von Form und Farbe gefühlt und wiedergegeben. Die Instrumentierung ist warm, abwechselnd zärtlich und kraftvoll, und der letzte Satz: ‚Verbrenne mich, Flamme des Genies!‘ krönt dieses meisterhafte Zwischenspiel herrlich.“ (9) Es ist jedoch verblüffend zu bemerken, dass wir genau in diesem Moment, als Benvenuto „Verbrenne mich …“ singt und Saint-Saëns‘ Musik das Göttliche erreicht, lesen: „Gehen Sie in der Oper zu Seite 174“, gedruckt in der von Durand veröffentlichten Orchesterpartitur (d. h. ans Ende der Arie!). Dieser Ausschnitt muss zumindest denjenigen „Monsieur de l’Orchestre“ (jemanden im Orchester) erfreut haben, der sich über diese Szene in Le Figaro lustig machte: „Lassalle, der sich übrigens nicht des Wissens um die Skulptur rühmt, arbeitet an einer bereits modellierten Figur, aber mit einer solchen Natürlichkeit, oder sollte ich Naturalismus sagen, dass die Illusion vollständig ist. Er arbeitet und antwortet Scozzone, während er seine mit Lehm bedeckten Hände wäscht. Das ist die ‚Stoff‘-Szene. So etwas haben wir noch nie in der Oper gesehen – gegenüber einem Bariton zu spielen, der seine Waschung macht.“

„Ascanio“, opera en cinq actes et six tableaux, poeme de L. Gallet, musique de C. Saint-Saens Dessin de Parys/ BNO

Die Kantilene, gesungen im zweiten Akt von Ascanio (Akt II, Tableau I, Szene I), spielte auch eine prominente Rolle in diesen Kürzungen, die, um es milde auszudrücken, ungereimt waren. Camille Bellaigue (10) schrieb zu diesem Thema Folgendes: „Oh, das entzückende Liebeslied, von Ascanio geseufzt, als er von Colombe träumte, die er gesehen hatte! Ja, Liebeslied; der Begriff mag lächerlich sein, aber die Sache, auf die er sich bezieht, ist es sicherlich nicht. ‚À l’ombre des noires tours, dans le jardin plein de roses!‘ (Im Schatten der dunklen Türme, im Garten voller Rosen). Es scheint, dass dieses Lied von himmlischer Emotion und fester Form, wie auch immer es definiert wurde, nicht verstanden wurde. Es wurde kritisiert (also, lassen Sie es uns wahrheitsgemäß als Pedant verteidigen, da es auf diese Weise angegriffen wurde), da es auf einer Terz endet. (11) Der expressive und musikalische Wert dieses Endes ist jedoch genau auf diese Unsicherheit zurückzuführen. ‚Là bas passent mes amours!‘ („Dort drüben geht meine Liebe!“). Das sind die letzten Worte des jungen Mannes. Da geht meine Geliebte – muss Ascanio sie nicht mit einem anhaltenden Blick beobachten, der sich verflüchtigt?“ (12) Diese Arie, die Gounod als „bezaubernde Träumerei“ beschrieb, scheint den „Pedanten“ missfallen zu haben, so dass sie später entfernt wurde, zusammen mit ihrer großartigen Streichereinleitung.

Saint-Saëns war fasziniert von Geschichte und antiker Kultur. Er bemühte sich immer darum, jeder seiner Opern eine bestimmte musikalische Farbe zu verleihen. Ascanios Handlung spielt 1539 am französischen Hofe und ist voller Referenzen, die den musikalischen Bereich der französischen Renaissance widerspiegeln. „Es ist nützlich zu wissen, dass die Ballettmusik teilweise aus dem 16. Jahrhundert stammt, zahlreiche Stücke aus dieser Zeit, die ich in der Nationalbibliothek fand, die eine Fülle sehr umfangreicher Dokumente dieses Typus darstellen und von höchstem Interesse sind.“ (13)

„Ascanio“ von Saint-Saens/ Fondeur/ Figurine 1890/ Entwurf von Charles Bianchini/ Bibliotheque National de l´Opera

Wie bei den zwölf Ballettstücken ist das musikalische Thema, das mit Franz I. verbunden ist, von dieser Epoche genährt, und jede Erscheinung des Königs wird durch ein Menuett von außerordentlicher Anmut angekündigt. Das Madrigal, das er an die Herzogin von Étampes singt, „Adieu, beauté, ma mie, ma vie!“ (Auf Wiedersehen, Schönheit, mein Schatz, mein Leben!) – Akt II, Tableau II, Szene I – ist ein Wunder der Höflichkeit, alles murmelt und streichelt. Während der König ihre bevorstehende Abreise beklagt und die untreue Herzogin Traurigkeit vortäuscht, erinnert das Orchester so an die Zartheit des Augenblickes, dass es zu schweben scheint, bis seltsame melodische Anklänge in den Flöten die Zweideutigkeit dieses Abschieds beschließen. Aber, wie L’Événement sich freute, „hatten sie Recht, das letzte Duettino zu streichen, das zu ungeschickt gesungen wurde“, und in dem Moment, als die Herzogin den König ansprechen sollte, „L’instant qui nous séoare“ (Der Augenblick, der uns trennt …), ging es in der Oper direkt weiter mit der nächsten Szene …

Wie König Franz, so werden in Ascanio alle Protagonisten mit musikalischen Themen in Verbindung gebracht, die im Stile der wagnerischen Leitmotive behandelt werden: „Alle meine Opern sind nach der gleichen Methode geschrieben, die weitgehend aus wagnerischen Techniken besteht, die sich leicht integrieren lassen in meiner Disposition, wobei ich in vielerlei Hinsicht meine Anschauung und vor allem meinen eigenen Stil, soweit möglich, beibehalten habe.“ (14) Zu den Motiven, die Scozzone zugehörig sind, gehört die fieberhafte Melodie in Des-Dur, die die Leidenschaft für Cellini charakterisiert. Das ist dieselbe Tonart wie für Dalilas Arie („Mon coeur s’ouvre à ta voix“) – mein Herz öffnet sich deiner Stimme – im zweiten Akt von Samson oder im langsamen Satz der Orgelsinfonie. Einige von Saint-Saëns‘ erhabenster Musik ist in dieser Farbe drapiert; eine Art tonales Leitmotiv der Inbrunst oder des Gebetes … Scozzones Motiv, das schon mehrfach in der Oper gehört wurde, eröffnet Akt V. Die Herzogin ist allein in ihren Gemächern, entsetzt über das Verbrechen, das sie gerade begangen hat. Sie glaubt, dass Colombe erstickt ist und tot im Reliquiar liegt. Sie freut sich in einer entsetzlichen Szene des Wahnsinns. Bevor sie ihren Monolog beginnt („Drei Tage! … Es ist alles vorbei!“), beschwört eine erschütternde orchestrale Ouvertüre den lauernden Geist von Scozzone, der heimlich Colombes Platz einnimmt, und entfaltet eine Variation ihres Motivs in seiner emblematischen Tonart … Gleichwohl wird die Ouvertüre in der Oper nach sieben Akkorden des Orchesters geschnitten und springt direkt in den Monolog …

„Ascanio“ von Saint-Saens/ Fondeur/ Figurine 1890/ Entwurf von Charles Bianchini/ Christian Richet

Unter anderen gestrichenen Seiten sollte auch die Eliminierung mehrerer Chorszenen erwähnt werden, deren Lebendigkeit der Partitur ein paar brillante Momente von Energie und Leichtigkeit verlieh. Der Verlust eines Teils des Streits zwischen Cellini und der Herzogin, „Genug! Welches Recht habt Ihr, mein Leben zu kontrollieren?“ (Akt I, Tableau II, Szene VIII), verwässerte die erste dramatische Szene in der Oper und ihr allgemeines Gleichgewicht wurde dadurch verdorben. Das Orgelsolo, welches das Ende des Gottesdienstes ankündigt, zwei Ballettstücke und mehrere stimmungsvolle Kontrabasstakte trugen ebenso die Hauptlast dieser Schnitte …

Während der Proben, wie René de Récy in der Chronique Musicale feststellte, „sagte jeder, dass das Stück in jeder Hinsicht strahlend, vibrierend und exquisit sei. Dieser Eindruck bestätigte sich bei der Lektüre des Werkes.“ Dann fügte er hinzu: „In der Generalprobe gab es auf der ganzen Linie eine Veränderung: wegen zwei überlanger Intervalle, ein paar überschüssigen sauren Noten von Madame Adiny und zwei oder drei Fehlern, mehr oder weniger durch den Dirigenten, wurde gesagt, dass alles verloren sei, das Stück untauglich oder die Musik bedeutungslos.“ In seiner Notice sur Ascanio schrieb Charles Malherbe, Fétis zitierend, (15) über diese Veränderung der Sichtweise: „Die Vielfalt der Meinungen über ein gespieltes Werk ist keine Negation ihres wahren Wertes. Der Wert wird auf verschiedene Weise beobachtet, aber immer mit Hilfe der Zeit, die einerseits rücksichtslosen Enthusiasmus beseitigt und andererseits zu schroffe und absolute Kritik entfernt.“ Hinsichtlich der „Verschmelzung“ des vierten Tableaus hat er bereits begonnen, die Relevanz der Kürzungen in Frage zu stellen. „Aus Gründen, die ohne Diskussion unbekannt sind, wurde dieses Tableau vor der Premiere der Oper geschnitten. Ein paar Minuten einzusparen ist ein mittelmäßiger Gewinn, der den Verlust einer doppelt wichtigen Szene nicht ausgleicht … Die thematische Analyse kann sich einer solchen Streichung nicht anpassen, und die Pflicht eines Kritikers besteht darin, trotzdem weiterzumachen, als wäre dies nur temporär.“

Für den Rest seines Lebens hat Saint-Saëns nicht aufgehört zu hoffen, dass diese Kürzungen nur vorübergehend sein würden! Doch obwohl er damit getröstet wurde, Ascanio in seiner ursprünglich beabsichtigten Besetzung mit einer Altstimme zu hören, war es immer die sechs Tableaus umfassende Version, die gespielt wurde, so in Toulouse (1897), Rouen (1898), Bordeau (1911) oder, während der letzten Reprise, in Paris (1921). Und für die einzige Aufführung, die jemals für das Ausland vorgesehen war, schrieb Saint-Saëns: „Das New Yorker Grand Metropolitan Theatre beauftragte das gesamte Ensemble, Ascanio zu spielen, aber gerade als dies ein Erfolg zu werden schien, brannte das Theater ab und Ascanio wurde niemals in Amerika gespielt.“ (16)

„Ascanio“: Probe mit Guillaume Tourniare/ Foto Grand Opéra de Geneve/ B-Records

Nach der frostigen Rezeption der Generalprobe wurde die Premiere ein Triumph, der mit sieben Zugaben gekrönt wurde! Le Gaulois teilte den allgemeinen Enthusiasmus: „Es gab ekstatischen Applaus … Der Vorhang wurde am Ende jedes Tableaus aufgezogen. Monsieur Lassalle, Madame Bosman und Monsieur Plançon wurden alle für Zugaben herausgerufen …“ L’Écho de Paris war amüsiert über den Erfolg: „Es ist nicht so, dass Saint-Saëns‘ Stil irgendwie an Offenbach oder Lecocq erinnert, aber die Zahl an Zugaben, die an der Nationalen Musikakademie so selten sind, haben Ähnlichkeiten mit den Uraufführungen von La Vie Parisienne und Le Petit Duc, die in dieser Hinsicht berühmt geworden sind.“ Die Chronique Musicale lobte die neue Partitur in den Himmel, darin möglicherweise das „emanzipatorische Werk“ erblickend, auf das die französische Oper gewartet habe. Allerdings war L’Événement nicht dieser Meinung: „Nicht einmal der Schatten einer Emotion in den fünf massiven Akten. Nicht einmal ein Schatten! …“, bevor ergänzend hinzugefügt wird: „Mehr noch, es muss betont werden: Kein Schatten von Wagnerismus.“ La Gaoulois bezweifelte die Meinung, dass es „den Leitmotiven an Originalität fehle“. La Gironde zeigte eine objektive Darstellung: „Man spürt, dass man auf einen Erfolg zusteuert trotz des Widerstandes einiger Zoiluses, die Monsieur Saint-Saëns niemals verzeihen werden, einer der größten Meister dieser Ära zu sein.“

Der kürzliche Erfolg der Orgelsinfonie (1886) hatte gerade noch einmal gezeigt, dass Saint-Saëns einer der Meister der französischen Schule war. Dennoch, nach dem Krieg von 1870 litten seine Opern in Frankreich weiterhin als Folge seiner Bewunderung für Wagner. So schrieb er 1891 Folgendes: „Ich wurde beschuldigt, wagnerianisch zu sein, so wie ich heute kritisiert werden, dass ich nicht wagnerianisch genug sei, und dies alles führt mich zu dem, was ich sagen wollte: dass ich es bedauere, wenn ich sehe, dass die Kritik nunmehr soweit gekommen ist, dass sie Richard Wagner alles zuschreibt, ähnlich wie christliche Polemiker alles der Doktrin zuschreiben; eine Methode, die so praktisch wie ungenau ist, indem sie Studium und Analyse durch eine vorgefertigte Bewertung ersetzt, die den Tod der Kritik bedeutet, wenn sie nicht vorsichtig ist.“(17)

„Ascanio“: Emma Eames sang die erste Colombe d´Estourville/ hier als Aida/Victrola Book of Opera

Saint-Saëns war auf dem Höhepunkt seiner Kunst (seine Sonate für Violine und Klavier op. 75 und Der Karneval der Tiere stammen ebenfalls aus dieser Zeit), mit Ascanio lieferte er sein ambitioniertestes Werk. Dieser „Strom der Musik“ an der Kreuzung der französischen Grand opéra, der komischen Oper, des wagnerianischen Einflusses und der italienischen Lyrik öffnete auch die Türen zum Impressionismus und Musiktheater. In der Abwesenheit des Komponisten wurden die Menschen durch die Ausmaße des Werkes, seine große Originalität, die stimmlichen Schwierigkeiten einiger Sänger und den Sarkasmus der Polemiker eingeschüchtert.  Wie bei einem Schmuckstück von Cellini ist die Partitur jedoch von tausend Diamanten besetzt, die niemals so sehr oder besser glänzen werden, als wenn sie alle an ihrem Platze sind. Welche Verfeinerung von Klangfarben und Harmonien gibt es im Streichquartett der Herzogin, die Ascanio zu verführen sucht: „Seht Ihr, ob es mir gut passt?“ (Akt I, Tableau I, Szene IV)! Alles ist Gnade im Segen des Bettlers: „Ich sehe einen Priester in diesem alten Mann“ (Akt I, Tableau II, Szene II)! Welcher Rausch kommt aus dem Tamburin in „Bacchus und die Bacchantinnen“ (Ballett Nr. 4)! Was für eine Verzauberung ist die Pavane, in der „Phoebus, Apollo und die neun Musen“ auftreten (Ballett Nr. 5)! Alles ist Emotion im Quartett des vierten Aktes „Beuge dich über, meine Lilie!“ (Akt IV, Szene IV)! Was für ein Rausch der Energie weht aus dem Werk des Bildhauers: „Ehre sei dem triumphierenden Jupiter!“ (Akt IV, Szene V)! Was für ein Wunder ist der Chor, der vom Himmel herabsteigt, um die Düsternis des Monologes der Herzogin zu zerstreuen: „In seiner anhaltenden Pracht …“ (Akt V, Szene II)!

Saint-Saens: „Ascanio“/ B Records LBM 013/ 3 CD

Als die Wiederaufnahme von Ascanio 1911 in Bordeaux stattfand, sah La France de Bordeaux et du Sud-Ouest die Kontroversen, die durch die Premiere ausgelöst worden waren, bereits relativiert: „Zu dieser Zeit war die Meyerbeer’sche Opernformel als einziger Typus von unseren Landsleuten akzeptiert, denen der Wagnerismus als radikal inkompatibel mit ihren Gewohnheiten und Melodien erschien. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Saint-Saëns‘ Arbeit je nach der jeweiligen Schule, mit der die Kritiker verbunden waren, sehr unterschiedlich beurteilt wurde. Einige rügen den Komponisten, weil er die vokale Deklamation geopfert hatte, und andere beklagen die Tatsache, dass sie zu viele exzessive Zugeständnisse an traditionelle Methoden fanden. Außerdem hatte jeder in diesem Streit einen Punkt, der von einem Werk aufgewühlt wurde, das niemand mit solcher Leidenschaft diskutiert hätte, wenn es nicht durch seine unbestreitbare Eigenwilligkeit des Stils hervorgetreten wäre.“ Doch obwohl L’Éclair bereits 1890 begriffen hatte, wie ursprünglich die Partitur war: „Wir stellen ihn [Ascanio] weit über Étienne Marcel, Le Timbre d’argent und sogar Samson et Dalila, das soeben als bisher wichtigstes Werk des Meisters aufgeführt wurde“, waren die Kontroversen um Saint-Saëns weit davon entfernt, ausgestorben zu sein, als Ascanio zum letzten Male 1921 an der Oper aufgeführt wurde.  In einem polemischen Traktat, das am 7. Dezember 1921 von Le Temps veröffentlicht wurde, konnte man Folgendes lesen: „Im gesamten dramatischen Schaffen von Monsieur Saint-Saëns, in welchem allein Samson lebendig und gut ist – und dies ist der unbedeutendste Teil seines Werkes –, ist nichts toter als Ascanio.“ Mit einer grausamen Ironie sollte Ascanio an diesem Abend aus der Erinnerung verblassen und Saint-Saëns wenige Tage später [16. Dezember 1921] sterben, ohne jemals seine Oper in ihrer Originalfassung gehört zu haben.

Es war, weil wir, genau wie Yves Gérard, „von der außergewöhnlichen Bedeutung der Partitur überzeugt waren, nicht nur als Teil von Saint-Saëns‘ lyrischem Werk, sondern auch als sinnbildliches Werk in der französischen dramatischen Kunst“, dass wir davon träumten, Ascanio wiederzubeleben. Wir haben die Neugier der Haute École de Musique und des Grand Théâtre de Genève geweckt und, nachdem wir ihre Unterstützung erhalten hatten, die fehlenden Passagen aus der Ausgabe von 1893 wiederhergestellt. So wurde Ascanio schließlich Realität und feierte am 24. November 2017 seine Uraufführung in der vollständigen Originalversion, die dem Autographen von Saint-Saëns entspricht.

Guillaume Tourniaire schreibt zudem: Wir möchten uns herzlich bedanken bei Messrs Luc Bourrousse, Rémy Campos, Quentin Gailhac und Aurélien Poidevin sowie bei den Mitgliedern und Freunden der Association Ascanio für ihre unschätzbare Hilfe. Die erwähnten Briefe und Texte von Saint-Saëns wurden in Büchern von Marie-Gabrielle Soret veröffentlicht, die den Schriften und der Korrespondenz des Komponisten gewidmet sind.

Matériel complémentaire réalisé par Guillaume Tourniaire pour reconstituer la version intégrale originale de 1888 en 5 Actes et 7 Tableaux, conforme au manuscrit autographe de Saint-Saëns

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(Abbildung oben: Zu „Ascanio“,/Dessin de Parys/ Iluustration zur Uraufführung/ Ausschnitt/ BNF. Wir bedanken uns bei Guillaume Tourniare für die Genehmigung zur Übernahme seines Artikels aus der Beilage zur neuen Aufnahme bei B-Records. Übersetzung Daniel Hauser.)

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Anmerkungen: 1. Ascanio was performed thirty-three times at the Paris Opera in 1890, three times in 1891, and six in 1921 before definitively disappearing from the billboard./ 2. Quelques Souvenirs de M. C. Saint-Saëns sur Ascanio. Text published in Excelsior, 1921./ 3. Letter to Gabriel Bender, published in Le Guide du concert, 1921./ 4. Pedro Gailhard (1848-1918): opera singer (bass), Director of the Paris Opera from 1884 to 1891and from 1893 to 1907. He staged Ascanio’s premiere performance./ 5. Letter to Auguste Durand, Algiers, 1893./ 6. Jacques Rouché (1862-1957): Patron and Director of the Paris Opera from 1914 to 1945./ 7. Letter to Jacques Rouché, 1918./ 8. Marcel Journet (1868-1933) played the role of Benvenuto in 1921 at the Opera./ 9. Charles Gounod – Ascanio de Saint-Saëns -1890./ 10. Camille Bellaigue (1858-1930) Musicologist and music critic./ 11. “Ascanio’s love song has grace and sensitivity but it/ ends on a third, in the middle of an unfinished phrase/ and the effect is lost.” Le Figaro, 1890./ 12. Ascanio de M. Saint-Saëns à l’Opéra – Camille Bellaigue – La Revue des Deux-Mondes, 1890./ 13. A systematic analysis of these driving motifs was carried out by musicologist Charles Malherbe (1835-1911) – Notice sur Ascanio 1890./14. Text published in La Tribune de Genève, 1892. 15. François-Joseph Fétis (1784-1871): composer and music critic, founder of La Revue Musicale./ 16. Avant la Reprise d’Ascanio, text published in Le Monde Illustré, 1921./ 17. Excerpt of a letter received on the 29th of November,/ 2017, from musicologist Yves Gérard.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Überfrachtet

 

Ob die beiden die Titelfigur umwieselnden Tänzerinnen Kunst oder Kitsch sind, darüber lässt sich streiten, nicht aber darüber, dass die in immer schneller werdendem Tempo zwischen ihre Schlussarie eingestreuten Aufnahmen von Flüchtlingskindern übelster Agitprop sind, der mit dem Werk absolut nichts zu tun hat. Schon Verdi ist mit Schillers Die Jungfrau von Orleans rücksichtslos umgegangen, indem er für Giovanna d’Arco aus 27 Personen fünf werden ließ, in den Mittelpunkt die angebliche Liebe der Jungfrau zum König stellte, den Vater zu einem Eckpunkt der Dreiecksgeschichte werden  und Johanna auf dem Schlachtfeld statt auf dem Scheiterhaufen sterben ließ. Die Regisseurin Saskia Boddeke und ihr Mitregisseur Peter Greenaway setzen im wunderschönen Arkaden-Teatro Farnese von Parma mit Hilfe von Bühnenbildnerin Annette Mosk auf Videoprojektionen und Choreographie (Lara Giudetti) anstelle einer ausgefeilten Personenregie und schaffen zum Teil sehr schöne Bilder, werten aber auch die Sänger, was die Optik betrifft, erheblich ab, denn mit den zahllosen wunderschönen Madonnenportraits oder den Hunderten von Papierschmetterlingen kann kein Solist konkurrieren, und ob die beiden zusätzlichen Jungfrauen, die kindliche Giovanna innocente mit Krone und die reifere Giovanna guerriera mit Schwert, den Sopran eher irritieren als unterstützen, ist nicht auszumachen. Am Schluss gibt es einen grandiosen Aufmarsch der Symbole aller bekannten Religionen, und man wartet nur noch auf ein „Seid umschlungen, Millionen“ als akustische Zugabe. Da wollte einmal mehr ein Regieteam zu viel und erstickte die gerade bei Verdi ja sehr private Geschichte um jungfräuliche Reinheit oder Verlust derselben in einem Wust von weltanschaulicher und tagespolitischer Problematik. Cornelja Doornekamp kleidete Solisten und Chor vorwiegend in Weiß, dazu kommen Farbtupfer in Blau für die Franzosen und in Rot für die Engländer.

Der vorzügliche Chor unter Martino Faggiani stammt vom benachbarten Teatro Regio di Parma, das Orchester I Virtuosi Italiani schlägt sich unter Ramon Tebar ebenso wacker. Luciano Ganci ist ein in Italien vielbeschäftigter Tenor, der den Re Carlo auch in Berlin bei der Operngruppe gesungen hat. Er verfügt über ein farbiges, nobles Timbre, auch die Höhe zeigt eine sichere Präsenz, und erst ganz zuletzt klingt der Tenor etwas spröder. Schon ganz große Partien wie Lady Macbeth oder Aida hat Vittoria Yeo gesungen, ist ebenfalls vor allem in Italien zu erleben und verfügt über einen frischen, klaren Sopran, der in der Höhe manchmal leicht klirrt. Die Mittellage ist noch ausbaufähig, schöne Schwelltöne zeugen von einer guten Technik, aber ein tatsächlich jungfräulich anmutendes Timbre lässt ihr derzeitiges Repertoire als noch zu gewagt erscheinen. Eher am Material als an der Technik und am Wissen um guten Verdigesang, im 2. Akt zu hören, mangelt es beim Giacomo von Vittorio Vitelli, dessen Bariton in der Höhe schütter und ansonsten spröde klingt.

Das holländisch anmutende Regieteam weist darauf hin, dass nicht Parma allein, sondern zudem Amsterdam für die Produktion verantwortlich ist, die 2016 in Italien zu erleben war und die 2018 bei C-major erschienen ist (C-Major 745608/ 2016). Ingrid Wanja

Irmgard Jacobeit

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Unser Freund Hartmut Kühnel schreibt uns: Ein trauriger Tag. Ich komme gerade von der Beerdigung meiner alten Gesangslehrerin, Irmgard Jacobeit, die am 14. Oktober 2018 im Alter von fast 89 Jahren verstorben war. 1987 hatte ich angefangen, bei ihr Unterricht zu nehmen, selbst kein „Youngster“ mehr und ohne berufliche Ambitionen. Sie war eine hervorragende Lehrerin, streng in der Sache aber immer freundlich im Ton und nie verletzend. Und sie war eine ausgesprochen liebe Person, die zur Freundin wurde und das auch bleib nachdem ich mit dem Unterricht irgendwann aufgehört hatte (auch wenn man sich vergleichsweise selten sprach oder sah). Das letzte Mal getroffen habe ich sie im August 2017, physisch schon stark angegriffen aber geistig in alter Frische.

Sie studierte an der Hamburger Musikhochschule (damaliger Direktor Philip Jarnach) bei Lilli Schmitt-de Georgi und wäre danach gerne zum Theater gegangen, doch unterblieb dieser Schritt aus privaten Gründen. Ich glaube, sie hat dem ein leben lang nachgetrauert, denn noch 2017 war das ein Thema.

Stattdessen wurde sie langjähriges Mitglied des NDR-Chores, trat aber auch häufig als Solistin sowohl auf dem Konzertpodium (vorwiegend in Werken von Schütz, Bach. Mozart und deren Zeitgenossen aber auch mit moderner Musik) als auch im Studio in Erscheinung. Ihre Aufnahmen entstanden zumeist für die Telefunken-Reihe „Das alte Werk“ in den 60ern. Operngesamtaufnahmen kenne ich nur eine einzige, Zar und Zimmermann beim bayerischen Rundfunk mit Prey und Kurt Böhme (inzwischen als CD veröffentlicht).

Als Choristin sang sie in diversen Uraufführungen mit, Schönbergs „Moses und Aron“ 1954 in der Hamburger Musikhalle (ebenfalls auf CD erhältlich), Strawinskys „Threni“ und Bussottis „Lorenzaccio“  in Venedig und in Werken von Stockhausen und anderen zu zeiten, als Rundfunkanstalten noch Kompositionsaufträge erteilten. Ich werde sie nicht vergessen, möge sie in Frieden ruhen.

Dazu auch ein Lebenslauf von der website Bach-Cantatas: Irmgard Jacobeit (1929-2018): Wie wir kürzlich erfahren mussten, ist die Sopranistin Irmgard Jacobeit, geboren am 25. November 1929 in Hamburg, wenige Wochen vor ihrem 89. Geburtstag verstorben. Bereits im Alter von elf Jahren begann ihr Interesse am Singen. Sie trat einem Mädchenchor bei und wurde dank der Fürsprache des Baritons Georg Mund mit sechzehn Schülerin von Lilly Schmitt-de Georgi. 1948 schrieb sie sich an der Staatlichen Hochschule für Musik und Theater in Hamburg ein und war bis zu ihrem Abschluss in der Meisterklasse von Schmitt-de Georgi. Obwohl Irmgard Jacobeit bis 1953 noch keine praktische Erfahrung als Opernsängerin hatte sammeln können, wurde sie bei den Eutiner Sommerfestspielen als Marie in Albert Lortzings Der Waffenschmied engagiert. In späteren Jahren sang sie die andere Marie in Lortzings Opern beim Bayerischen Rundfunk in München, nämlich in einer Aufnahme von Zar und Zimmermann. Ihre hervorragende Technik erlaubte es ihr, die gesamte Rolle mit erstaunlicher Leichtigkeit zu meistern. Ob in lyrischen Phrasen oder soubrettenartigen Passagen, brillierte sie in einer Rolle, die größere Anforderungen stellt, als man denkt. Dieses Engagement erfolgte, nachdem die Jacobeit den Part der leeren Seele in Werner Egks Irischer Legende unter Leitung des Komponisten selbst beim BR gesungen hatte.

Irmgard Jacobeit nahm nur vereinzelt an Opernproduktionen teil. Stattdessen verfolgte sie ihre Karriere vornehmlich als Konzertsängerin. Ihr Repertoire umfasste die beiden Passionen von Johann Sebastian Bach, seine h-Moll Messe und sein Weihnachtsoratorium. Sie spielte zahlreiche Bach-Kantaten für die Telefunken-Serie Das Alte Werk ein (auf youtube gibt es zudem einige Aufnahmen von ihr). Daneben wirkte sie in Aufführungen von Händels Messias, Mozarts Requiem, Krönungsmesse und Exsultate, jubilate mit. Des Weiteren gehörten die beiden großen Haydn-Oratorien Die Schöpfung und Die Jahreszeiten zu ihrem Repertoire. Komponisten, die sie ferner aufführte, waren u. a. Beethoven, Brahms, Bruckner, Buxtehude, Cornelius, Mendelssohn, Schubert, Schumann sowie R. Strauss. Bis ins hohe Alter als Gesangslehrerin tätig, lebte Irmgard Jacobeit zuletzt in ihrer Geburtsstadt Hamburg. Übersetzung Daniel Hauser/ Foto Bach Cantatas/ Manfred Krugmann

Utopie und Realität

 

Erst auf Seite 122 wird das Rätsel des wild-genialischen Kringels auf dem Cover des gerade erschienenen Buch von Daniel Barenboim und Michael Naumann gelöst: Es handelt sich um die entschlossene Abkehr des Architekten Frank Gehry vom vorgesehenen rechteckigen Entwurf für den Berliner  Pierre Boulez Saal der Barenboim – Said Akademie, den sich der Dirigent jedoch als Ellipse vorgestellt hatte. Der Klang der Utopie ist der Titel des Buches, der von der Einsicht spricht, dass man allein mit Musik nichts an den vertrackten Verhältnissen im Nahen Osten ändern kann, was nichts daran ändert, dass immerhin das nun schon Jahre dauernde gemeinsame Orchesterspiel im West-Eastern Divan Orchestra zumindest das Erhaschen eines Zipfels dieser Utopie vom friedlichen Zusammenleben bedeutet.

Das Buch zeichnet mit vielen attraktiven Fotos und angenehm kurzen, aber aussagestarken Artikeln den Weg von der Idee zu einem Orchester aus Israelis und Arabern bis zur Gründung einer Akademie, auf der diese ausgebildet werden, nach, dazu kommt die Geschichte des Gebäudes, das sich in unmittelbarer Nähe zur Staatsoper  als deren einstiges Depot befindet. Mitautor neben Barenboim ist der Gründungs- und jetzige Rektor der Barenboim-Said-Akademie, auf der seit 2016 in einem vierjährigen Studiengang junge Musiker nicht nur in ihrem Metier, sondern auch in Geisteswissenschaften, alles in englischer Sprache, unterrichtet werden.

Das Buch gliedert sich in vier Abschnitte, beginnend mit Wie alles begann, als nämlich Barenboim und Said sich zufällig in der Lobby eines Londoner Hotels begegneten, fortfahrend mit dem Bau des Gebäudes in den Jahren 2012 bis 2016 und Die Akademie im Jahre 2016 und schließlich endend mit Der Pierre Boulez Saal 2017.

Wie die Studentenschaft kommen die beiden Gründer des Unternehmens aus den beiden feindlichen Lagern, mit dem Unterschied zu vielen anderen, dass sie auch dem Gegenüber das Recht auf einen eigenen Staat stets zubilligten. Bereits 1999 veranstalteten sie in der damaligen Kulturhauptstadt Weimar Workshops für Israelis und Araber, das Orchester wurde geboren, und Geburtswehen stellten sich immer wieder ein, wie zahlreiche kurze Aussagen der jungen Leute von den Skrupeln und Vorurteilen künden, die es auf beiden Seiten gab, insbesondere dann, wenn die politische Lage sich zuspitzte wie während des zweiten Libanon-Kriegs. Das Ramallah-Konzert und die Frage, ob man Wagners Musik spielen dürfe, werden berücksichtigt.

Im zweiten Abschnitt geht es um die pädagogischen Projekte, zu denen nicht nur Musikinstitute in Ramallah und Nazareth, sondern auch ein Musikkindergarten in Berlin zählt, dem Ziel verpflichtet, durch die Musik zum Leben zu bringen.

Das dritte Kapitel schließlich befasst sich mit der Barenboim-Said-Akademie, einer Geschichte vom Kampf gegen vielerlei Widerstände, nicht zuletzt von der Berliner Bürokratie verantwortet und mit viel Humor verarbeitet. Ein Drittel der Studienzeit fällt auf eine humanistische Ausbildung mit dem Ideal multipler Identitätsflüsse.

Das vierte und letzte Kapitel widmet sich dem Pierre Boulez Saal, berichtet von der Freundschaft, die sich zwischen Boulez und Barenboim seit 1964 entwickelte, von der Gründung des Boulez Ensembles durch Daniel Barenboim, aber auch vom Architekten Frank Gehry, dem nicht nur der Kringel zu verdanken ist, der den Einband des interessanten und angenehm klar gegliederten Buches schmückt.

Das Buch zieht Bilanz und gestattet zugleich einen Blick in eine vielleicht doch durch die Wirkung der Musik und das gemeinsame Musizieren von Israelis und Arabern etwas friedlicher gewordene Welt (224 Seiten, Henschel Verlag 2018; ISBN 978-3-89487-799-6). Ingrid Wanja

Gre Brouwenstijn

 

Gre Brouwenstijn (geboren als Gerda Demphina: 26 August 1915 in Den Helder – 14 December 1999 in Amsterdam) hat mir mit ihrem Fidelio einen tiefen Eindruck hinterlassen. Ich sah sie in den späten frühen Siebzigern an der Deutschen Oper Berlin im Tandem mit Hans Beirer (neben der notorisch munteren Lisa Otto), beide nicht unstatiös und figürlich quasi ineinander passend, zumal keine dramatische Sängerin im kurzen Lederwams der Kuchta attraktive Figur machte. Aber die leuchtende, wirklich vor Emotionen vibrierende große Stimme der Brouwenstijn, ihr dramatischer Ausdruck, ihre völlige Verinnerlichung der Leonore wirkten im wahrsten Sinne mesmerisierend. Ich war völlig gebannt von ihrer Verkörperung und vergaß alles Drumherum. Ihre große Arie geriet zu einer Hymne an die Freiheit, ihr Duett mit dem wie stets tapferen Beirer zu einem Fanal der Gattenliebe.

Ihre Aufnahmen geben diese magische Wirkung nur in Teilen wieder, dann fand ich sie ein wenig zu oft recht „atmig“, manchmal auch zu bürgerlich im Ausdruck. Aber die gerühmte Don-Carlos-Aufführung aus London oder die Sieglinde auf der Leinsdorf-Einspielung sind wirklich unerreicht und wunderbar. Im Folgenden ein Porträt der großen holländische Sängerin von Paul Korenhoff von 1991, das wir mit seiner freundlichen Genehmigung hier wiederholen. G. H.

 

Im Juli 1954, als die Proben für die vierten Bayreuther Festspiele nach dem Kriege in vollem Gange waren, sah man vor allem der Tannhäuser-­lnszenierung von Wieland Wagner mit Spannung entgegen. Zum einen war der „Tannhäuser“ in Bayreuth zuvor nur selten zu sehen gewesen, zum anderen wuchs die Überzeugung, dass Wielands Regiestil Neu-Bayreuth einen ganz eigenen Stempel aufdrücken würde. Im Verlauf der Proben begann sich die Neugier der bekannten Bayreuther Gerüchteküche auf die Solisten zu konzentrieren. Der Heldentenor Ramon Vinay aus Chile war in Bayreuth kein Unbekannter mehr, und dem Bariton Dietrich Fischer-Dieskau war sein Ruhm bereits vorausgeeilt. Besonders gespannt war man auf die neue Elisabeth, eine holländische Sopranistin, die den Gerüchten zufolge eine warme, strahlende lyrische Stimme mit dem Äußeren des Filmstars Ingrid Bergman vereinte Bis dahin war die Karriere der 1915 im holländischen Den Helder geborenen Sängerin ruhig  verlaufen.  Die Kriegsjahre hatten ihr einen frühen Start verwehrt, und während der ersten Jahre danach sang Gre Brouwenstijn hauptsächlich in den Niederlanden und in England (vor allem Verdi: Aida, Trovatore-Leonora, Ballo-­Amelia, Desdemona; aber auch Mozart und Beethoven ).

Ihr Bayreuther Debüt stellte den Beginn einer bedeutenden Wagner-Karriere dar. So wurde sie bei den Festspielen von 1956 als Freia, Sieglinde, Gutrune und Eva gefeiert. Ihre Senta und Elsa, Rollen, die sie anderswo mit großem Erfolg sang, sollte Bayreuth nie zu hören bekommen. Ihre Gelassenheit und der Verzicht auf eine Karriere um jeden Preis, eben Eigenschaften, die schon die vorangegangenen Jahre geprägt hatten, führten 1957 nämlich zu einem Bruch zwischen ihr und der Familie Wagner. In diesem Jahr hatte sie auch anderweitige Verpflichtungen, so zum Beispiel beim Holland-Festival, das traditionellerweise bis in die Mitte des Juli hineinreicht, und deshalb nahm sie die Einladung zu den Wagner-Festspielen nicht an. Ein solches Verhalten wurde in Bayreuth nicht gern gesehen. Die halbe Welt mochte der Holländerin Gre Brouwenstijn als einem der wenigen bedeutenden jugendlich-dramatischen Soprane zujubeln – wer es in dieser Zeit wagte, ein Engagement nach Bayreuth auszuschlagen, brauchte sich keine Hoffnung mehr auf eine erneute Einladung machen. Es hat Gre Brouwenstijn nicht geschadet, und über viele Jahre hin war sie an der Wiener Staatsoper einer der von Karajan am meisten geschätzten Wagner-Soprane. Die Brüder Wagner konnten ganz ohne sie auch nicht auskommen, denn obwohl sie in Bayreuth nie mehr sang, hat Wieland Wagner sie später doch für Produktionen verpflichtet, die er außerhalb Bayreuths inszenierte.

Vier Jahre nach ihrem sensationellen Bayreuther Debüt bot sich Gre Brouwenstijn eine neue große Aufgabe: 1958 sang sie am Londoner Opernhaus von Covent Garden eine Reihe von Vorstellungen von Verdis Don Carlo unter der Leitung von Carlo Maria Giulini in der legendären Inszenierung von Luchino Visconti. Zu diesem Zeitpunkt war sie schon lange keine Unbekannte mehr. Sie besaß internationale Anerkennung als Verdi­-Sopran, nicht nur aufgrund ihrer stimmlichen Mittel, sondern auch weil sie über ein bemerkenswertes Stilgefühl und eine große Schauspieler-Persönlichkeit verfügte. Ihr Auftreten wirkte gelegentlich statuarisch, aber von dem Moment an, da sie mit ihrer eleganten Erscheinung die Bühne betrat, strahlte sie Persönlichkeit und Wärme aus und wurde – wenn es die Szene erforderte – zum Mittelpunkt der Handlung. Deshalb war sie besonders als Aida und Amelia erfolgreich. Noch deutlicher zeigte sich ihre Stärke jedoch in Rollen, die grundsätzlich einen passiven Charakter besitzen, so zum Beispiel bei Verdis beiden Leonoren und Desdemona. Als Zeitgenossin einer Callas, Olivero, Rysanek, Varnay und Mödl und unter dem Einfluss vieler großer Dirigenten und Regisseure der fünfziger Jahre begriff sie, dass schönes Singen allein keine Oper macht, dass vielmehr der Gesang aus der darzustellenden Persönlichkeit hervorgehen muss. So konnte sie sogenannte Passivität in eine begreifbare und nachvollziehbare Charaktereigenschaft umwandeln und der Tragik dieser von ihr gespielten Persönlichkeiten eine tiefere Dimension verleihen. In dieser Beziehung erreichte sie ihren Höhepunkt mit der Darstellung der Elisabetta im Londoner Don Carlo neben solchen Größen der damaligen Zeit wie Fedora Barbieri, Jon Vickers, Tito Gobbi und Boris Christoff. Die großartigen Kostüme Viscontis passten perfekt zu ihrer Bühnenerscheinung, und der Charakter einer Königin, die ihre unglückliche Ehe als Gefängnis erlebt, aber dennoch gegen die Liebe zu einem anderen Mann ankämpft, war wie für sie geschaffen. In dieser Rolle fand sie die für sie ideale Verbindung von innerem Adel, Herzenswärme und Opferbereitschaft.

Die Rolle, in der diese Elemente am idealsten verkörpert sind und die deshalb auch ihre großartigste war, ist die Leonore im Fidelio. Zum ersten Mal sang sie die Titelpartie in dieser Oper am 15. November 1949 – im Februar 1971 nahm sie mit ihr Abschied von der Bühne. Während all dieser Jahre hat sie die Musik Beethovens immer wieder gesungen, und nach Ablauf einiger Zeit galt sie von Berlin bis Buenos Aires als die ideale Fidelio-Interpretin. Vier Jahre nach dem Londoner Don Carlo eröffnete sich ihr mit der Plattenaufnahme ein neuer Horizont. Nach einer Vorstellung des Ballo in San Francisco fand sie in ihrem Hotelzimmer ein Telegramm des bejahrten Bruno Walter vor, mit der Bitte, ihn am folgenden Morgen in Beverly Hills aufzusuchen. Der Grund wurde bald deutlich: Walter wollte eine Aufnahme des Fidelio machen und suchte dafür eine Leonore. Zusammen gingen sie die gesamte Partie durch, und danach war die Unterzeichnung des Vertrages nur noch eine Formalität. Einen Monat später traf jedoch die Mitteilung ein, dass Bruno Walter gestorben sei, und Gre Brouwenstijn kam nie dazu, ihre Glanzrolle im Schallplattenstudio einzuspielen (Aber zahllose „graue“ Aufnahmen mit ihr in dieser Partie ebenso wie Verdis Elisabetta aus London und viele mehr belegen ihren Rang/ G. H.).

Es hat wenig Sinn zu bedauern, dass ihr Fidelio nie offiziell auf Schallplatte festgehalten wurde, so wie es auch keinen Zweck hat darüber nachzugrübeln, wie ihre Karriere wohl verlaufen wäre, wenn sie 1957 in Bayreuth nicht abgesagt hätte oder wenn sie zu dieser Zeit Rollenangebote von der Met oder der Scala angenommen hätte. Für die, die sie noch im Theater oder Konzertsaal erlebt haben, bleiben Erinnerungen im Übermaß; an ihre Rollen in Opern von Wagner, Verdi und Beethoven, aber Gre Brouwenstijnauch an ihre Verkörperung der Jenufa, Tosca, Marta (Tiefland), Agathe, Tatjana oder Chrysothemis und sicher nicht zuletzt an die vielen Male, da sie die Sopranpartie im Verdi-Requiem oder in der Neunten Symphonie von Beethoven (namentlich letztere unter Furtwängler anlässlich der Bayreuther Festspiele im Jahre 1954) gesungen hat. Das größte Kompliment, das man Gre Brouwenstijn zurückblickend machen kann, ist vielleicht, dass sie nicht nur als Sängerin, sondern vor allem als beeindruckende Charakterdarstellerin in Erinnerung bleibt. Paul Korenhof/Übersetzung. Barbara Geßler/Textred. G. H.)

 

Paul Korenhof war der Chefredakteur des holländischen Opernmagazins Opera Scala und der Schallplattenzeitschrift Luister, er hat zudem ein Recital von Gre Brouwenstijn bei Philips mit Arien von Beethoven, Weber, Verdi und Wagner herausgeben, dem der vorliegende Artikel entnommen ist; gleichzeitig ist bei DECCA die Leinsdorf-Walküre wieder erschienen. In einer Sonderedition hat zudem Covent Garden bei opus arte ihren Don Carlos als CD herausgebracht.  Berliner Opernbesuchern wird ihr Fidelio in Erinnerung bleiben! Foto oben: Gre Brouwenstijn als Sieglinde in San Francisco/ Künstlerpostkarte/ Korenhof

Teodulo Mabellini

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Wer war Teodulo Mabellini? Sein Name ist den wenigsten Musikfreunden präsent, vielleicht aber zumindest denen, die eine Aufnahme der Messa per Rossini besitzen, die seine Komponisten-Kollegen aus Anlass dessen Todes mit ihren Beiträgen verfasst haben, darunter Namen wie Verdi, Coccia, Ricci, Rossi und eben Mabellini (der das Lux aeterna beisteuerte).   Alex Weatherson schreibt in seiner Kritk zum neu erschienenen Buch von Claudio Paradiso (Teodulo Mabellini: Maestro dell´Ottocento musicale fiorentino): With an index finger poised above the heart of his world – that is, above Firenze – this fundamental collection of essays triumphantly exceeds the sum of all its parts, only very rarely do the most qualified come together to celebrate a long lost musical magnet from an obliterated past and seldom do they do it with the distinction they do here but the hopelessly neglected pistoiese composer Teodulo Mabellini has long been a candidate for such a scholarly endorsement. That the most fascinating musicisti slip out of sight and sound is a factor underscored on a daily basis in our digital ears, Mabellini (1817-1897) was not just a musical metronome holding up his conductor’s baton ticking away the enlightened culture of his sovereign haven, but was fated to be discarded during the patriotic upheaval of his mid-career and dropped like a stone into an abyss putting an end to all past, present and future potential.

Dass der Zeitgenosse und Kollege Giuseppe Verdis zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist, belegt auch die soeben veröffentlichte Neuausgabe einer seiner bedeutendsten Kompositionen, seines Requiem. Grund für eine Begegnung mit eben diesem unbekannten Komponisten, die uns  Guido Johannes Joerg vermittelt, der dieses bedeutende geistliche Werk im Verlag Christoph Dohr herausgegeben hat.

Teodulo Mabellini um 1897 in einer Fotografie von Giacomo Brogi/ OBA

Teodulo Mabellini (1817–1897) war zu seinen Lebzeiten nicht nur einer der bedeutendsten Orchesterdirigenten in Italien; seine Opern, seine Oratorien und Festkantaten, seine Kirchenmusik, seine Lieder und Instrumentalkompositionen waren äußerst beliebt und brachten es auf eine ansehnliche Zahl an Aufführungen. Das Musik- und Kulturleben von Florenz prägte er für mehr als fünfzig Jahre. Vergessen wurde er einmal wegen der Dominanz der Musik und Persönlichkeit Verdis (ähnlich erging es Dutzenden von fleißigen und begabten Zeitgenossen und deren Musik) und weil er die Ochsentour eines italienischen Opernkomponisten wegen seiner sehr respektablen Festanstellungen nicht mitmachen musste: jenes typische Leben eines von Theater zu Theater reisenden Freischaffenden, das seinerzeit als notwendiges Übel verstanden wurde, um zu Erfolg und Ruhm zu gelangen.

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Eine typische Komponistenlaufbahn… Teodulo Mabellini wurde am 2. April 1817 als Sohn eines Instrumentenbauers in Pistoia nahe Florenz geboren. Er wuchs in einfachen Verhältnissen auf; der Vater lehrte ihn musikalische Grundlagen. Als Neunjähriger trat Teodulo bereits öffentlich als Flötist und Pianist auf; er spielte in Musikkapellen und im Ballett- und Opernorchester und sang im Chor der Kathedrale von Pistoia, wo er auch Unterricht in Harmonielehre und Kontrapunk erhielt. 1832 wurden seine frühesten Kompositionen aufgeführt. 1836, nach erfolgreichem Abschluss eines dreijährigen Musikstudiums in Florenz, brachte das dortige Teatro Alfieri seine erste Oper Matilde e Toledo heraus, die gut aufgenommen wurde. (Zur gleichen Zeit bemühte sich der 1813 geborene Giuseppe Verdi – dreieinhalb Jahre älter als Mabellini – vergeblich um die Organistenstelle in Busseto; seine erste Oper Oberto, conte di San Bonifacio sollte erst 1839 am Mailänder Teatro alla Scala herausgebracht werden.) Der Erfolg seiner Oper brachte Mabellini ein Stipendium des Großherzogs der Toskana ein, so dass der Zwanzigjährige im Mai 1837 für dreieinhalb Jahre nach Novara gehen konnte, um bei Saverio Mercadante, einem der fruchtbarsten Opernkomponisten jener Zeit, zu studieren. Für den Dom von Novara entstanden zwei Messen, für den Florentiner Hof Kantaten – und am 12. November 1840 erlebte der gerade einmal 23jährige Komponist seinen ersten nachhaltigen Erfolg mit seiner am Teatro Carignano in Turin uraufgeführten Oper Rolla, die sogleich vom Mailänder Musikverlag Ricordi veröffentlicht wurde. Das tragische Werk um einen fiktiven Renaissancebildhauer erlebte anschließend zahlreiche Wiederholungen in ganz Italien und auch im Ausland. Bevor Mabellini seine Studien bei Mercadante beendete, wurde am 13. November 1841 – ziemlich genau ein Jahr nach der erfolgreichen Premiere seines Rolla und wieder in Turin – seine Oper Ginevra di Firenze (auch Ginevra degli Almieri) herausgebracht.

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MabellinI: Kostumentwurf für die Oper „Rolla“ (1841) von Filippo del Buono (im Archiv des Conservatorio di San Majella, Florenz)/ Wiki

…mit untypischer Fortsetzung: Bis hierher war die Laufbahn Mabellinis typisch für die eines italienischen Komponisten des frühen 19. Jahrhunderts. – Doch anstelle der Ochsentour, die einen Opernkomponisten von Stadt zu Stadt und Theater zu Theater, zwischen Erfolgen und Fiaskos bevorstand, konnte er sich ein solides Auskommen in Florenz sichern. In der Hauptstadt der Toskana gab es ein lebendiges kulturelles Leben unter einer liberalen Regierung; freilich war Florenz alles andere als der Nabel der Musikwelt. – Der Erfolg seiner am 4. Juni 1843 am Teatro della Pergola in Florenz uraufgeführten Oper Il conte di Lavagna sorgte dafür, dass ihm die Leitung des Orchesters der Società filarmonica di Firenze übertragen wurde. Als Orchesterdirigent gelang es ihm im Verlauf etlicher Jahrzehnte, seine Landsleute mit dem Kernrepertoire der internationalen, vor allem der deutsch-österreichischen klassischen und romantischen Instrumentalmusik bekannt zu machen – auf höchstem interpretatorischen Niveau. (In Italien wird er bis heute für diese Leistungen geschätzt, während man ihn als Komponisten auch dort vergessen hat.) Mabellini schrieb weiterhin Opern; der Schwerpunkt seiner kompositorischen Arbeit verlagerte sich aber auf die Ausgestaltung großer offizieller Feierlichkeiten der Stadt Florenz und des Großherzogtums Toskana, wo Festkantaten und abendfüllende Oratorien Tradition hatten. Am 22. Juni 1845 wurde im repräsentablen Saal der Fünfhundert im Palazzo Vecchio in Florenz das „geistliche Drama“ Eudossia e Paolo o I martiri uraufgeführt – das erste einer Reihe von Werken, wie sie seinerzeit beliebt waren: einer Mischform aus Oratorium und sakraler Oper, die auch Rossini mit seinem Mosè in Egitto bedient hatte. Mabellinis Oratorien erlebten eine Vielzahl an Aufführungen; einige ihrer Titel wurden aufgrund der nicht eindeutig zuzuordnenden Gattung auch als Opern verstanden.

Dirigent und Komponist: Nachdem Mabellini Anfang 1848 zum Kapellmeister der Florentiner Hofkapelle bestellt wurde, konnte er sich weiter für das deutsch-österreichische Repertoire einsetzen, wie es am Hof des Habsburgisch-Lothringischen Großherzogs gepflegt wurde. Kurz darauf wurde er noch zum Operndirigenten des Teatro della Pergola berufen, an dem er ebenfalls mehrere Jahrzehnte lang wirken sollte. Er war einer der ersten italienischen Orchesterleiter, der nicht als Instrumentalmusiker begonnen hatte; zusammen mit dem bedeutenden italienischen Kapellmeister und Orchesterleiter Angelo Mariani begründete Mabellini das Berufsbild des modernen Dirigenten. Er wurde geschätzt für seine Werktreue, mit welcher er klassische und zeitgenössische Werke aufführte, und für seine Bescheidenheit im Umgang mit den Zeitgenossen.

Mabellini: Titelblatt für das Libretto von „Il conte di Lavagna“/ OBA

Mabellini war nicht einmal dreißig Jahre alt, als er sich sowohl als Komponist von Bühnenwerken, repräsentativen Kantaten und Kirchenmusik wie auch als Dirigent mit respektablen Festanstellungen hatte etablieren können: er hatte erfolgreich die Gattung der Oper bedient, die wichtigste Form im italienischen Musikleben – und sogar an wichtigen Opernhäusern; seine Musik hatte sich zum wesentlichen Bestandteil der Repräsentationen des Toskanischen Hofes entwickelt. Das Orchester der Società filarmonica konnte er rasch zu einem der wichtigsten Klangkörper in Italien formen. 1846 heiratete er die Tochter eines Florentiner Apothekers; aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor. Mabellini hatte sich musikalisch wie gesellschaftlich bestens positioniert.

Kirchenmusikalisches Hauptwerk: Mehrere Messen und Motetten waren seit der Studienzeit in Novara entstanden; die 1847 entstandenen Responsori per la settimana santa wurden in den nachfolgenden Jahrzehnten in der Florentiner Hofkapelle jeweils während der Karwoche musiziert. Ein Werk aber war es vor allen anderen seiner Kompositionen, das ihm zu seinen Lebzeiten größten Erfolg und Ruhm in Italien und ganz Europa einbrachte: seine Grande Messa di Requiem von 1850/51, die Vorbild und Modell für alle nachfolgenden Totenmessen im 19. und frühen 20. Jahrhundert sein sollte – einschließlich Verdis Messa da Requiem von 1874. Mabellinis Requiem c-Moll für Solostimmen, Chor und großes Orchester ergänzte und vervollständigte er 1856 um eine Vertonung des Responsoriums Libera me, Domine. Bei der Uraufführung des Requiems am 15. Mai 1851 in der Kirche San Gaetano in Florenz war Gioachino Rossini anwesend, der den „echten liturgischen Stil“ der Totenmesse lobte und einen Vergleich mit Mozarts Requiem anstellte: während die Deutschen jenes rühmten, würden die Italiener ab sofort dasjenige Mabellinis bevorzugen.

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Mabellini: Für die „Messa per Rossini“ steuerte er das „Lux aeterna“ bei, hier die Aufname unter Helmut Rilling bei Hänssler Profil

Der Vergleich war nicht überzogen. Mabellinis Requiem war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa die am meisten aufgeführte Totenmesse – vor denjenigen Mozarts oder Cherubinis. Nicht von ungefähr bat Verdi den Kollegen Ende 1868, sich an der Gemeinschaftsarbeit einer Messa per Rossini zu beteiligen, die am ersten Todestag Rossinis am 13. November 1869 in Bologna musiziert werden sollte, deren Aufführung aber schließlich nicht zustande kam. (Erst in den 1970er Jahren konnten die verloren geglaubten Autographe wieder aufgefunden und 1980 die Messa per Rossini zur Uraufführung gebracht werden.) Mabellini vertonte in dieser Totenmesse, bei deren Struktur sich Verdi an Mabellinis Vorbild orientiert hatte, das Lux aeterna – seine einzige Komposition übrigens, von der bislang eine Schallplattenaufnahme vorliegt. (Nachdem die Aufführung nicht zustande gekommen war, überarbeitete Mabellini seinen Beitrag 1880 zu einer Festkantate, die anlässlich der Enthüllung einer Büste Palestrinas in Rom aufgeführt wurde.) Und selbst in Verdis eigener Messa da Requiem von 1874 finden sich – abgesehen von der formalen Anlage und der ähnlichen Orchesterbesetzung – deutliche Hinweise darauf, dass Verdi die 24 Jahre vorher entstandene Totenmesse seines Zeitgenossen bestens kannte und schätzte: manche Abschnitte weisen ganz eindeutig auf dieses Vorbild hin, gelegentlich hat Verdi sogar thematische und formale Strukturen übernommen und dann seinem Stil angeglichen.

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Lange Jahre hatte es die anfänglich eher als modernistisch verstandene Messa da Requiem Verdis schwer, sich gegen Mabellinis Meisterwerk durchzusetzen. Die italienischen Komponisten des letzten Jahrhundertviertels orientierten sich noch sehr an Mabellinis Requiem; erst spät nahm man sich dasjenige Verdis als Vorbild für eigenes kirchenmusikalisches Schaffen. Nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde Mabellinis Grande Messa di Requiem freilich kaum mehr aufgeführt. Und dass es zum Doppeljubiläum 2017 – dem 200sten Geburts- und 120sten Todesjahr des Komponisten – in seiner Heimatstadt Pistoia und in Florenz zu keinen Aufführungen seiner bedeutenderen Werke kam, war unter anderem auch dem Fehlen von brauchbarem Notenmaterial geschuldet.

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Mabellini: Sein „Requiem“ wurde von Guido Johannes Joerg im Verlag Chrstoph Dohr herausgegeben

Kompositorische Meisterschaft: Als Komponist hatte Mabellini zahlreiche hervorragende Qualitäten: er hatte eine hervorragende Ausbildung, er arbeitete erfolgreich in verschiedenen Gattungen, er beherrschte meisterhaft Kontrapunkt und Instrumentation, war technisch sicher und souverän und er baute auf einer gründlichen Kenntnis der europäischen klassischen Musik auf. Sein Personalstil unterscheidet sich deutlich von Mercadante oder Verdi; er verbindet den italienischen belcanto mit den Traditionen der deutsch-österreichischen Instrumentalmusik. Seine Opern- und seine Kirchenmusik unterscheiden sich deutlich. Die großen Fugen und Doppelfugen seiner Messen und seines Requiems sind nicht nur kontrapunktische Meisterwerke; sie sind auch glänzend instrumentiert. Gut möglich, dass selbst Johannes Brahms Mabellinis Requiem gekannt hat – sein Deutsches Requiem von 1868/69 weist sehr ähnlich strukturierte und orchestrierte Fugen auf.

Mabellini hinterließ acht Opern (Matilde e Toledo, Rolla, Ginevra di Firenze, Il conte di Lavagna, I veneziani a Constantinopoli, Maria di Francia, Il venturiero und Fiammetta), vier Opern-Oratorien (Eudossia e Paolo, L’ultimo giorno di Gerusalemme, Il convinto di Baldassarre und Elima il mago) sowie zahlreiche Festkantaten und –chöre. Seine Kirchenmusik beinhaltet neben dem Requiem neun große Messen und zahlreiche Motetten – zumeist mit Orchesterbegleitung. Er schuf etliche Klavierlieder (romanze) und patriotische Lieder, Klavierstücke, instrumentale Kammermusik, mehrere Konzerte für Blasinstrumente mit Orchester und einige Werke für Orchester und Blasorchester (banda).

Ausführlichere Biographien liegen bislang ausschließlich in italienischer Sprache vor. Empfehlenswert ist der von Claudio Paradiso herausgegebene Sammelband Teodulo Mabellini – Maestro dell’Ottocento musicale fiorentino (Rom, Società Editrice di Musicologia, 2017), den man unter www.sedm.it als Printausgabe bestellen oder als pdf-Datei herunterladen kann. Der Band beinhaltet unter anderem eine ausführliche Biographie und ein detailliertes Werkverzeichnis. Auch der italienische und ins Englische übersetzte Wikipedia-Artikel ist recht sorgfältig und aktuell.

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„Teodulo Mabellini: Maestro dell ‚Ottocento musicale fiorentino“ a cura di Claudio Paradiso, Societa Editrice di Musicologia, Roma 2017 Saggi, Prefazione di Marcello de Angelis, 551pp; ISBN 978-88-85780-03-3 (gebunden)

Musikkritische Neuausgabe des Requiems: Mabellinis Grande Messa di Requiem von 1850/51 zusammen mit dem Libera me, Domine von 1856 liegt nun in einer von dem Musikwissenschaftler Guido Johannes Joerg nach den originalen Quellen erarbeiteten musikkritischen Ausgabe vor, die der Musikverlag Christoph Dohr in Köln veröffentlicht hat. Die Partitur ist am 21. August erschienen, Klavierauszug und Aufführungsmaterial (Orchesterstimmen und Dirigierpartitur) folgen in Kürze. – Die Neuausgabe basiert auf den originalen Handschriften des Komponisten, welche die Musik eindeutig wiedergeben, während die 1853 respektive 1856 in Paris erschienenen Erstdruckausgaben zahlreiche Fehler aufweisen: der Notenstecher war mit Handschriften italienischer Komponisten ebenso wenig vertraut, wie mit den Eigenarten von Mabellinis Notenschrift, und traf falsche Entscheidungen; das Material wurde außerdem sehr übereilt hergestellt. Überhaupt sind Druckausgaben aus jener Zeit heutzutage kaum brauchbar: sie sind unübersichtlich aufgebaut, die Systeme liegen zu eng beisammen und überschneiden sich fast, die Solo- und Chorstimmen sind in alten Schlüsseln notiert, und es hat kein Orchesterstimmensatz überlebt.

Da das sakrale Hauptwerk des Komponisten Teodulo Mabellini nun in einer modernen Notenausgabe vorliegt, besteht neben der Möglichkeit, zahlreiche immer wiederholte Vorurteile endlich – anhand des Notenbilds – schlüssig zu widerlegen, auch die Grundlage zu ersten Aufführungen und Einspielungen nach immerhin fast 120 Jahren. Sämtliche Artikel in den einschlägigen Musiklexika sind befangen, denn ihre Autoren haben stets nur die gleiche ungerechte Beurteilung eines Musikhistorikers wiederholt, anstatt sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen und sich von der augenfälligen Qualität der Kompositionen überzeugen zu lassen. Man mag ihnen zugestehen, dass es nicht einfach war, an das Notenmaterial heranzukommen. Doch nun besteht die Möglichkeit und außerdem die Verpflichtung, Vorurteile zu revidieren und ein gerechteres Urteil zu fällen. Und gewiss werden sich bald auch die Konzertbesucher einen lebendigen Höreindruck machen können.

Mabellini – der Autor dieses Artikels: Guido Johannes Joerg/ facebook

Zwei kleinere Werke Mabellinis, die vorab in der Edition Dohr vorgelegt wurden, sind von Musikern und Kritikern sehr gut aufgenommen worden; weitere Erst- und Neuausgaben sind in Vorbereitung. Möge sich alsbald ein experimentierfreudiges Theater finden, das auch eine Oper Mabellinis wiederbelebt – sein Rolla etwa hat einiges Potential. Es gilt, einen zu Unrecht vergessenen Komponisten des 19. Jahrhunderts wiederzuentdecken, der meisterliche und dabei durchaus eingängige Musik geschaffen hat, der in allen wesentlichen Gattungen arbeitete, und dessen Musik auf der Opernbühne, in der Kirchen oder auf dem Konzertpodium bestens funktionieren dürfte und einen wichtigen Beitrag zur Bereicherung des Repertoires leisten kann. Guido Johannes Joerg

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Der Musikwissenschaftler Guido Johannes Joerg ist als Herausgeber an der Edizione critica delle opere di Goachino Rossini beteiligt und hat etliche Werke von Rossini, Hermann Bendix, Francesco Florimo, Eugen Lasch, Johann Martin Friedrich Nisle, Georg Schmitt oder Guido Tacchinardi beim Carus-Verlag und beim Musikverlag Christoph Dohr veröffentlicht. Außerdem zählt er zu den Mitautoren des Verdi- und des Puccini-Handbuchs (Metzler/Bärenreiter). Mabellinis Requiem ist beim Musikverlag Christoph Dohr in Köln erschienen (http://www.dohr.de/autor/mabellini.htm) erschienen.

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Foto oben: Büste von Teodulo Mabellini/ Foto Massimo Luca Carradori/ linealibera. Die Aufnahme entstand anlässlich der Feierlichkeiten zum 100. Todestag des Komponisten 2017 in Pistoia durch die Aktivitäten der Scuola di Mabellini. Gleichzeitig würdigte eine Ausstellung im Dom zu Pistoia eine Reihe von wieder aufgefundenen Gipsbüsten („I busti ritrovati“) von vergangenen Honoratioren der Stadt, zu denen auch die von Mabellini zählt. Der Fotograf hat liebenswürdiger Weise die Verwendung seines Fotos gestattet, ihm und Davide De Crescenzo, dem Chefredakteur der italienischen online-Zeitung into toscana, danken wir besonders.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie hier

Hildegard Hillebrecht

 

Operngängern in München, aber auch in Stuttgart und vor allem in Berlin erinnern sich natürlich an Hildegard Hillebrecht (-Stöhr offiziell geboren 1927/ laut des Datums in ihrer Todesanzeige bereits 1925  – gest. 2018) mit zahllosen Rollen und Einspringern wie Ariadne, Küsterin, Kaiserin oder sogar Donna Anna. Gerade an der Deutschen Oper Berlin ist sie ein häufiger Gast gewesen und hat manche Vorstellung gerettet – auch mit unterschiedlichen Reaktionen, zumal man oft in den späteren Jahren Tüchtigkeit vor Klangschönheit konstatieren musste. Aber aus der deutschen Opernlandschaft der sechziger und siebziger Jahre war sie nicht wegzudenken, und ihre zahllosen Dokumente, offzielle wie live, belegen ihre stets verfügbare Präsenz im Opernleben jener Jahre. Am 7. Oktober 2018 starb sie – bemerkenswerter Weise fast im Geheimen und ohne öffentliche Beachtung. Beigesetzt wurde sie auf dem Friedhof in München-Vaterstetten, wie die karge Todesanzeige in der Süddeutschen Zeitung vom 19. 10. 2018 belegt. Offenbar stand sie der Petrigemeinde Baldham in Vaterstetten nahe.

 

Recht lakonisch und auf der Homepage der Bayerischen Staatsoper auch nicht auffindbar (die Rubrik Biographie öffnete sich nicht) hier erst einmal ein lapidarer Nachruf (nebst einigen Rollenfotos) der Bayerischen Staatsoper als Eintrag auf deren offiziellen Facebook-Seite. Wir trauern um die Bayerische Kammersängerin Hildegard Hillebrecht-Stöhr. Sie verstarb am 7. Oktober 2018. Die Sopranistin verkörperte eine Vielzahl an Rollen an der Bayerischen Staatsoper und in der ganzen Welt. Hildegard Hillebrecht-Stöhr wurde am 26. November 1927 in Hannover geboren. Sie studierte zunächst Medizin, widmete sich dann aber der Gesangskarriere.

 

Da greift man doch lieber auf den wie stets sehr ausführlichen Kutsch/Riemens zurück: Hillebrecht, Hildegard, Sopran, * 26.11.1927 Hannover; sie studierte zuerst Medizin, dann wechselte sie zur Gesangausbildung. Sie war hier Schülerin von Margarethe von Winterfeldt, von Franziska Martienssen-Lohmann und von Paul Lohmann. Debüt 1951 in Freiburg i. Br. als Leonore im »Troubadour«. Sie war dann 1951-54 am Opernhaus von Zürich engagiert; hier sang sie am 20.6.1952 in der Uraufführung der Neufassung von Hindemiths »Cardillac«. Dann sang sie 1954-59 an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg, 1956-61 am Opernhaus von Köln. Seit 1961 hatte sie eine große Karriere an der Staatsoper von München; regelmäßig gastierte sie an den Staatsopern von Wien und Hamburg. Seit 1972 wieder Mitglied des Opernhauses von Zürich. Ebenfalls seit 1954 langjähriges Mitglied der Städtischen Oper Berlin (seit 1961 Deutsches Opernhaus Berlin), deren Ehrenmitglied sie wurde. Hier sang sie u.a. am 29.9.1968 in der Uraufführung der Oper »Ulisse« von Luigi Dallapiccola. 1962 übernahm sie bei den Festspielen von Bayreuth die Elsa im »Lohengrin«. Man hörte sie bei den Festspielen von Salzburg (1956 Ilia in »Idomeneo« von Mozart, 1964-65 Chrysothemis in »Elektra« und Titelheldin in »Ariadne auf Naxos« von R. Strauss) und München, beim Holland Festival, an der Covent Garden Oper London (1967 als Kaise rin in der »Frau ohne Schatten« von Richard Strauss), an der Berliner Staatsoper, in Rio de Janeiro, Tunis, Paris und Rom. In der Spielzeit 1968-69 trat sie an der Metropolitan Oper New York auf. Weitere Gastspiele am Teatro Colón Buenos Aires, an den Opern von San Francisco, Bordeaux und Nizza, bei den Festspielen von Edinburgh, in Kopenhagen, Amsterdam, Venedig, Barcelona, am Théâtre de la Monnaie Brüssel, in Dresden und Prag. Auch als Konzertsolistin hatte sie eine internationale Karriere. – Schön gebildete, ausdrucksvolle Stimme von ungewöhnlicher Tonfülle, vor allem in Opern von Verdi, Puccini (»Tosca«), Mozart, Wagner und Richard Strauss bewundert.

Schallplatten der Sängerin bei Electrola (Querschnitt »Don Giovanni«), Eurodisc (Santuzza in vollständiger »Cavalleria rusticana«, Querschnitte »Don Carlos«, »Maskenball« und »La forza del destino« von Verdi, komplette Aufnahme »Rosenkavalier« von R. Strauss), DGG (»Ariadne auf Naxos« von R. Strauss, »Don Giovanni«, »Doktor Faust« von Busoni, »Zauberflöte«) sowie ein »Tannhäuser«-Querschnitt auf Opera.

[Nachtrag] Hillebrecht, Hildegard; sie war 1954-62 an der Deutschen Oper am Rhein, 1959-63 am Opernhaus von Köln engagiert. Sie blieb seit 1961  ein gefeiertes Mitglied der Münchner Staatsoper. Durch Gastverträge war sie lange Jahre hindurch mit der Staatsoper Stuttgart, seit 1972 auch mit dem Opernhaus von Zürich verbunden. 1959-61 und 1965-76 war sie dazu an der Städtischen Oper Berlin verpflichtet. 1977 verabschiedete sie sich in München als 2. Norn in der »Götterdämmerung« von der Bühne. Aus der Vielzahl ihrer Gastspiele sind zu nennen: Metropolitan Oper New York (1968-69, 1970-71 als Sieglinde, Chrysothemis in »Elektra« von R. Strauss und Leonore im »Fidelio«), Covent Garden Oper London (1967 und 1969 als Kaiserin in der »Frau ohne Schatten« von R. Strauss, eine ihrer großen Partien), Teatro Colón Buenos Aires (1964 als Ariadne auf Naxos von R. Strauss, 1966 als Fidelio und Chrysothemis), San Francisco Opera (1965 Elsa und Ariadne), Staatsoper Wien (1960-85 u.a. als Elisabetta im »Don Carlos« von Verdi und als Donna Anna im »Don Giovanni«), Oper von Rio de Janeiro (1954 als Eva in den »Meistersingern«), Osterfestspiele Salzburg (1967 Sieglinde), Staatsoper Dresden (1967), Holland Festival (1958), Teatro Liceo Barcelona (1962), Königliche Oper Kopenhagen, Nationaltheater Prag, Teatro Fenice Venedig (1969 als Chrysothemis), Oper von Rom (1968), Oper von Bordeaux, Staatsoper Berlin, Festspiele Edinburgh (1966 als Elsa im »Lohengrin«), Opernhäuser von Straßburg (1962 als Sieglinde), Los Angeles (1964), Helsinki und Genf. Auf der Bühne trug sie ein sehr umfangreiches Repertoire vor. Daraus seien genannt: die Abigaille in Verdis »Nabuccco«, die Elena in der »Sizilianischen Vesper« vom gleichen Komponisten, die Amelia im »Maskenball«, die Leonore in der »Macht des Schicksals«, die Aida, die Desdemona im »Othello« und die Alice Ford im »Falstaff« von Verdi, die Santuzza in »Cavalleria rusticana«, die Agathe im »Freischütz«, die Elisabeth im »Tannhäuser«, die Isolde im »Tristan«, die Gutrune in der »Götterdämmerung«, die Kundry im »Parsifal«, die Arabella in der Oper gleichen Namens von R. Strauss, die Marschallin im »Rosenkavalier«, die Gräfin im »Capriccio« von R. Strauss, die Jenufa (eine ihrer erfolgreichsten Kreationen), die Katja Kabanowa und die Emilia Marty in »Die Sache Makropoulos« von Janáček, die Rosalinde in der »Fledermaus«, die Ursula in »Mathis der Maler« von Hindemith, die Maria in »Der Friedenstag« von R. Strauss, die Giulietta in »Hoffmanns Erzählungen«, die Ninabella in »Die Zaubergeige« von W. Egk und die Elisabeth in »Elisabeth Tudor« von W. Fortner. [Lexikon: Hillebrecht, Hildegard. Großes Sängerlexikon, S. 10858; (vgl. Sängerlex. Bd. 6, S. 375-376) (c) Verlag K.G. Saur] mit Dank!

Una voce molto fa‘

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Es hatte sich bei Opernfreunden in Ost- wie West-Berlin wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass beim heißumlagerten Gastsspiel der Römischen Oper mit ihrer muffigen Pappe-Produktion des Barbiere di Siviglia 1987 eine junge, unbekannte Sängerin auftreten würde, die Anlass zu größten Hoffnungen geben sollte. Und wer eine Karte legal oder eher noch auf dem illegalen Markt ergattern konnte, sang nach der Vorstellung ihr Lob in den allerhöchsten Tönen: Cecilia Bartoli. Damals noch mit bezauberndem Mädchenspeck, mit großen schwarzen Kulleraugen und einer schauspielerischen Mimik, dass man vor Vergnügen fast  die Sitze der ehrwürdigen,  rappelvollen Komischen Oper ruinierte. Was haben wir gelacht! Und  was haben wir auch gestaunt ob der Kunst, der Frische, der Neuheit dieses unverbrauchten Mezzos, ob dieser schieren Lust am Bühnenleben. Es war wirklich – so abgedroschen das klingen mag – ein mir bis heute unvergessliches Erlebnis (nachzuholen auf dem reizenden Video aus Schwetzingen aus diesen Jahren, wo sie in Hampes Inszenierung von kongenialen Kollegen umgeben ist).

Rossini: Becilia Bartoli als Rosina im „Barbiere di Siviglia“: hier mit Carlos Feller in der köstlichen Michael-Hampe-Produktion in Schwetzingen 1988/ nun bei Euroarts 200118

Ich lernte sie während dieses erwähnten Berliner Gastspiels kennen und traf sie noch einmal später in Paris im Apartment einer Freundin,  und war bezaubert von ihrem Charme, ihrem Witz, ihrer verbalen Kannonade in mehreren Sprachen  – hingerissen von eben ihrer unverwechselbaren Persönlichkeit.

Sie steckte damals in ihren internationalen Anfängen. 1988 gab es einen Rossini-Versuchsballon unter Patané bei Decca, dann kam sie wegen Barenboim zur Erato, wo es eine ganz wunderbare Mozart-CD von ihr gibt (eine Zusammenstellung mit anderen Erato/Teldec-Künstlern 1996) neben Barenboim-Gesamtaufnahmen von Don Giovann/Zerlina und Cosi fan tutte/Dorabella (beide 1990; aus Zürich gibt es auf DVD – Arthaus und andere – noch einmal Mozarts Cosi fan tutte von 2001). Dann nahm sie Decca-Produzent Christopher Raeburn exklusiv  unter seine Fittiche, und ihr kometenhafter Aufstieg bei der und vor allem auch durch die Decca begann, fast beispiellos für eine nicht sehr große Stimme, die sich schnell im Settecento etablierte und namentlich mit Rossini ihr Zentrum fand (trotz Raeburns Drängen widerstand sie klugerweise der Italiana im Studio und bis zum letzten Sommer auf der Bühne in Salzburg). Wovon die vielen Einspielungen zeugen, die die Decca nun in einer goldenen, hochluxuriösen, limitierten Box herausgebracht hat. Auf 15 CDs und 5 DVD sowie einer Interview-DVD sind hier viele der bekannten Decca-Zeugnisse von Cecilia Bartolis Umgang mit Freund Gioachino versammelt. Was für eine Leistung, was für ein Kompendium, was für eine Künstlerin. Brava veramente! G. H.

 

Dazu Rossini- (und Bartoli-) Langzeit-Bewunderer Bernd Hoppe mit seinem Dauer-Abonnement in Pesaro: Eine opulente Luxuskassette von goldener Pracht mit 15 CDs und 6 DVDs (483 3936) widmet Decca ihrem Exklusivstar Cecilia Bartoli anlässlich der 30jährigen Zugehörigkeit zu diesem Plattenlabel. 1987 hatte die Mezzosopranistin ihr Gesangsstudium in der italienischen Hauptstadt beendet und danach sofort als Rosina in Rossinis Barbiere di Siviglia auf der Bühne der Römischen Oper debütiert. Es war die Vorbereitung für das Gastspiel des Institutes an der Ostberliner Komischen Oper anlässlich der 750-Jahrfeier Berlins. Die Intendanz hatte viel Vertrauen und große Hoffnung in die junge Anfängerin gesetzt, ihr eine solch exponierte Rolle anzuvertrauen. Der stürmische Erfolg rechtfertigte die riskante Besetzung – ein neuer Stern am Rossini-Himmel war geboren. Denn diesem Komponisten galt von nun an Cecilia Bartolis musikalisches Interesse und künstlerisches Wirken. Daher bedeutet Deccas Würdigung der Sängerin anlässlich ihres Jubiläums gleichzeitig auch eine verdienstvolle Hommage für den Schwan von Pesaro anlässlich seines 150. Todestages.

In der Geburtsstadt des Komponisten an der italienischen Adria ist Cecilia Bartoli bislang nur ein einziges Mal aufgetreten. Das verwundert, gilt die Sängerin doch als Rossini-Interpretin par excellence. Aber man muss bedenken, dass sie seine heroischen  Mezzorollen bisher nicht in Angriff genommen hat – weder Tancredi noch Arsace in der Semiramide, weder Calbo in Maometto secondo oder Malcolm in der Donna del lago befinden sich in ihrem Repertoire. Das schränkt  natürlich die Einsatzmöglichkeiten auch beim Rossini Opera Festival ein. Der einmalige Auftritt war 1988, als sie im Auditorio Pedrotti del Conversatorio Rossini die relativ kleine Partie der Lucilla in der Farsa comica La scala di seta sang. Fonit Cetra hatte den Mitschnitt 1989 auf CD veröffentlicht und dieser wurde nun von Decca in die Jubiläumsbox integriert. In Lucillas munterer Arie „Sento taler nell’ anima“ hört man schon das Versprechen für die Zukunft – von individuellem Reiz das Timbre, kokett der Vortrag, eloquent der Gesang.

Bereits ein Jahr nach dem Debüt als Rosina nahm die Decca Cecilia Bartoli unter Vertrag, produzierte mit ihr Gesamtaufnahmen, Arien und Lieder aus dem Oeuvre des italienischen Komponisten. Als Auftakt – natürlich – die Rosina des Barbiere di Siviglia, die in der vorliegenden Sammlung sogar doppelt vertreten ist. Die frühe CD-Gesamtaufnahme entstand im Juni 1988 im Teatro Comunale di Bologna und wurde 1989 veröffentlicht. Giuseppe Patané dirigiert und prominente Partner stehen der Anfängerin zur Seite. Leo Nucci singt den Figaro mit der ganzen virilen Pracht seines Baritons, William Matteuzzi bringt für den Conte d’Almaviva seine reichen Rossini-Erfahrungen ein, verzichtet allerdings auf die Bravourarie im letzten Akt „Cessa di più resistere“. Auch Enrico Fissore als Bartolo ist stilistisch mit diesem Idiom bestens vertraut. Einzig Paata Burchuladze mit seinem urigen slawischen Bass ist eine ungewöhnliche Wahl für den Basilio. Als Rosina verströmt Bartoli den ganzen Zauber ihrer Jugend, die Stimme klingt weich, gerundet  und ausgeglichen. Auffällig ist bereits hier das hohe Maß an Raffinement, das die Sängerin fortan immer wieder in ihre Rolleninterpretationen einfließen lassen sollte. Da die Stimme nicht übermäßig groß ist, nimmt Bartoli sie eher noch zurück, singt vieles verhalten, wo andere Interpretinnen ihr Organ groß auffahren, punktet aber dafür mit sublimen Nuancen und feinsten Details.

Als DVD liegt der Box ein Mitschnitt von den Festspielen in Schwetzingen 1988 bei, wo Bartoli unter Gabriele Ferro singt und in Gino Quilico als vokal umwerfendem Figaro einen charismatischen Partner zur Seite hat. Auch David Kuebler als Conte, Carlos Feller als Bartolo und Robert Lloyd als Basilio sind erste Wahl in dieser zauberhaften Inszenierung von Michael Hampe. Bartoli überrascht schon in ihrer Auftrittskavatine und auch in den folgenden Nummern mit neuen Verzierungen, was für ihre Phantasie spricht, aus der sie bis heute künstlerisches Kapital für ihre Rolleninterpretationen schlägt.

Auch die Cenerentola ist zweifach vorhanden in der Anthologie, zum einen als CD-Einspielung von 1992 (wiederum aus Bologna) mit Riccardo Chailly am Pult, zum anderen als DVD mit der Aufzeichnung einer Inszenierung aus der Houston Grand Opera drei Jahre später unter Bruno Camanella. In Bologna ist William Matteuzzi wie so oft in diesen Jahren der Tenorheld an ihrer Seite; gestandene Buffa-Kämpen wie Enzo Dara als Don Magnifico, Alessandro Corbelli als Dandini und Michele Pertusi als Alidoro sichern das hohe Niveau der Aufnahme. Alle drei Bassbaritone standen auch in Houston in der entzückenden Inszenierung von Fabio Sparvoli (ausgeborgt aus Bologna) auf der Bühne, wo die Bartoli mit ihrem Charme und den hinreißenden Kulleraugen bezaubert. Lediglich Raúl Giménez als aristokratischer Don Ramiro mit schwärmerischem Tenor ist ein neuer Name in der Besetzung – aber auch er stilistisch erfahren in diesem Idiom und mit seinem eleganten Auftreten zudem optisch ein Gewinn. Später, im Juni 1995, sollte Bartoli mit ihm sowie Luba Orgonasova und Roberto Scandiuzzi unter Myung-Whun Chung am Pult der Wiener Philharmoniker das Stabat Mater aufnehmen, das sich auch in der Sammlung findet. Die Angelina in der Cenerentola ist hinsichtlich der Virtuosität ein Prüfstein für jede Interpretin. Aber es kommt auch auf die menschliche Gestaltung der Figur an, deren Warmherzigkeit, Güte, Bescheidenheit. Im berühmten Schlussrondo „Naqui all’affano“ mit dem effektvollen Schlussteil „Non più mesta“ demonstriert Bartoli ein Feuerwerk an Bravour und führt die Partie mehrere Jahre als ihre signature role im Repertoire.

Die dritte Doublette betrifft den Turco in Italia, in welchem Bartoli als Fiorilla eine veritable Sopranpartie zu singen hat. Die CD-Produktion stammt aus Mailand von 1997 und wird dirigiert von Riccardo Chailly, die DVD hält eine bonbonbunte Aufführung mit  poppiger Dekoration aus dem Opernhaus Zürich von Cesare Lievi (2002) unter Franz Welser-Möst fest, die bei Arthaus Musik erschienen war. Hier ist Ruggero Raimondo der stimmlich etwas ausgetrocknete Selim, dem Bartoli als Donna Fiorilla resolut Paroli bietet, im Duett mit ihm („Tu m’ami, lo vedi“) aber auch verliebt gurren kann. In der Tenorpartie des Don Narciso steht mit Reinaldo Macias ein Sänger auf der Bühne, der mit angenehmem Timbre und emphatischem Gesang für sich einnimmt. Bartoli bewältigt ihre Arie am Ende („Squallida veste“) souverän, singt mit feinen, leuchtenden Tönen und kantabler Linie, um dann im virtuosen Schluss („Caro padre“) neben robusten Effekten in der Tiefe mit Koloraturgirlanden und schwebenden Trillern zu brillieren.

Im Dezember 2011 und im März 2012 entstanden, gleichfalls im Opernhaus Zürich, das wegen seiner mittleren Größe zu ihren bevorzugten Häusern gehört, zwei DVD-Aufnahmen, in denen Bartoli jeweils ein Rollendebüt gab. In der französischsprachigen Opéra Le Comte Ory war sie wieder in einer Sopranpartie, der Comtesse Adèle, zu hören. In der witzigen Inszenierung von Moshe Leiser & Patrice Caurier erscheint sie in damenhafter Eleganz von strenger Aura mit Brille und Hochsteckfrisur, kann hier eine ganz andere Facette ihres schauspielerischen Könnens ausspielen. Ihre Gesangslinien sind besonders fein gesponnen und delikat. Die brustigen Töne in der Tiefe wirken da umso stärker im Kontrast. Dass Orchestra La Scintilla schlägt unter Muhai Tang ein rasantes Tempo an und Bartoli wirbelt  wie im Sturm mit ihren halsbrecherischen Koloraturläufen. Dann wieder tippt sie graziös die staccati oder schlägt im pathetischen Finale heroische Töne an. Als Titelheld hat sie in Javier Camarena einen aufstrebenden Tenor aus Mexiko zur Seite, der soeben bei Decca sein erstes Soloalbum mit einer Hommage an Manuel García vorlegt, bei dem ihn Cecila Bartoli künstlerisch betreut und damit eine neue Serie bei der Firma (Mentored by Bartoli) eröffnet hat. Sie selbst singt mit ihm ein Duett aus Armida und wagt sich damit in neue Soprangefilde vor. (Eine Besprechung folgt.)

Die andere neue Rolle ist die hybride Partie der Desdemona aus der Tragedia  lirica Otello, die von den Regisseuren Moshe Leiser und Patrice Caurier, mit denen die Sängerin oft und offenbar gern zusammenarbeitet, in der Gegenwart verortet wird. Wieder steht Javier Camarena neben ihr auf der Bühne – als Rodrigo hat er im 2. Akt die Arie „Che ascolto?“ zu singen, deren bravouröser Schlussteil später (neben Zitaten von Musik anderer Komponisten) als Vorlage für das Duetto buffo di due gatti diente. Attraktion der Besetzung mit ihrer Tenor-Phalanx ist John Osborn als Titelheld – einer der heute führenden Sänger im heroischen Rossini-Repertoire und dem der französischen Grand opéra. Fulminant trumpft er auf im Duett mit Jago (Edgardo Rocha) und dem nachfolgenden Terzett mit Rodrigo und Desdemona; mit rasendem Furor stattet er die letzte Auseinandersetzung mit Desdemona vor dem Mord aus. Bartoli in einer ernsten, tragischen Rossini-Partie zu erleben, ist eine Seltenheit. Im kleinen Schwarzen ist sie optisch eher unauffällig, aber bei den Close-ups sieht man, wie sie in der Rolle lebt, der Figur intensiven Ausdruck verleiht und ihr das Mitgefühl des Zuschauers sichert. Höhepunkt ihrer bewegenden Darstellung ist nach dem dramatischen Finale des 2. Aktes mit ihrem Vater Elmiro das innige Lied von der Weide („Assisa a’ piè d’un salice“) im 3. Akt. In der letzten Szene mit Otello erreicht ihre stimmliche und gestalterische Interpretation eine existentielle Dimension.

Die Anthologie wird ergänzt durch einige Recitals – Rossini Arias unter Patané von 1988, Rossini Heroines unter Ion Marin von 1991, wo sie sich auch einigen jener Partien (Malcolm, Tancredi) nähert, die sie sich live bisher versagt hat, sowie ein Recital mit 19 Songs und der Cantata Giovanna d’Arco mit Charles Spencer am Flügel von 1990. In einer Zusammenstellung mit Highlights und Rarities aus den Jahren 1991 bis 2018 finden sich Auszüge aus der CD von 1999 Cecilia & Bryn, wo der walisische Bassbariton der Mezzosopranistin als Figaro und Taddeo zur Seite steht. Sie ist hier als Rosina und Isabella besonders kokett und von unglaublicher Eloquenz in den Koloraturrouladen. In der Zusammenstellung befinden sich auch einige Erstveröffentlichungen auf CD bzw.  first-ever releases, wie eine weitere Interpretation der Giovanna d’Arco-Kantate mit dem Orchestra Filarmonica della Scala unter Riccardo Chailly.

Schließlich bringt die Sammlung auch das DVD-Portrait von 1992, das, aufgenommen in Rom und im La Fenice von Venedig, Cecilias frühe Jahre spiegelt – in ihrer eigenen temperamentvollen Schilderung, in Berichten ihrer Mutter oder Beiträgen von Decca-Produzent Christopher Raeburn – und ergänzt wird durch den Mitschnitt eines Konzertes im Londoner Savoy Hotel mit György Fischer am Flügel.

Die Decca-Box als attraktive Hommage an Cecilia Bartoli ist eine Fundgrube vor allem für jene Musikfreunde, die für sich den Kosmos Rossini entdecken wollen. An ältere Sammler, die bereits fast alles im Regal stehen haben, richtet sie sich weniger, zumal die einzelnen Scheiben auf den Papphüllen nur sparsame Angaben enthalten. Und man wird die bereits angeschafften Ausgaben schon wegen ihrer reich ausgestatteten Booklets nicht weggeben. Auch der neuen Veröffentlichung liegt ein dickes Buch bei, das interessant und lohnend ist durch die enthaltenen Artikel prominenter Rossini- und Opern-Experten wie Philip Gossett, Alberto Zedda und William Weaver. Bernd Hoppe

Sie selbst schreibt im Vorwort des dicken Booklets: Mir wird ganz schwindlig, wenn ich diese gewaltige Kollektion voller CDs und DVDs erblicke, die anlässlich des 150. Todestages von Rossini wiederveröffentlicht werden. Diese Musik spiegelt in der Tat meine vollständige Karriere und künstlerische Laufbahn wider. Ich erkenne, dass mir Rossini während meiner Arbeit während der letzten dreißig Jahre ein treuer Freund war und ich ihn noch mehr liebe als je zuvor. Grazie, carissimo Gioachino!

Nachstehend bringen wir zur Goldenen Box einen Artikel vom renommierten Musikwissenschaftler Sergio Ragni (der in Neapel ein eigenes musikalisches Museum, die Casa-Museo Sergio Ragni unterhält) und Ilaria Narici, der akademischen Direktorin der Fondazione G. Rossini, die sich beide in der beeindruckenden Beilage zu Rossini und Cecilia Bartoli äußern. Daniel Hauser hat uns die Übersetzung gemacht. Grazie tutti!

Inhalt: Il Barbiere di Siviglia (Gesamtaufnahme); La Cenerentola (Gesamtaufnahme); Il Turco in Italia (Gesamtaufnahme); La Scala di Seta (Gesamtaufnahme); Stabat Mater; 19 Klavierlieder; Kantate „Giovanni d’Arco“ (in der originalen Klavierfassung und der Orchesterfassung von Sciarrino, eingespielt mit Riccardo Chailly) +Cecilia Bartoli singt Rossini-Arien aus Italiana in Algeri, Donna del Lago, Tancredi, Otello, Stabat Mater, Pietra del Paragone, Cenerentola (Cecilia Bartoli, Arnold Schoenberg Chor, Orchester der Wiener Volksoper, Giuseppe Patane / 1988) +„Rossini Heroines“ – Arien aus Semiramide, Donna del Lago, Elisabetta, Zelmira, Maometto II (Cecilia Bartoli, Orchestra del Teatro La Fenice, Ion Marin / 1991) +Opern-Inszenierungen auf DVD: La Cenerentola (Cecilia Bartoli, Raul Gimenez, Alessandro Corbelli, Enzo Dara, Michele Pertusi, Houston Symphony Orchestra, Bruno Campanella / Houston Grand Opera, 1995);  Le Comte Ory (Cecilia Bartoli, Javier Camerena, Orchestra La Scintilla, Muhai Tang / Opernhaus Zürich, 2012); Otello (Cecilia Bartoli, John Osborn, Peter Kalman, Javier Camarena, Orchestra La Scintilla, Muhai Tang / Opernhaus Zürich, 2012); Il Barbiere di Siviglia (Cecilia Bartoli, Gino Quilico, Carlos Feller, Robert Lloyd, Paul Kappeler, Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, Gabriele Ferro / Oper Stuttgart, 1988); (Cecilia Bartoli, Ruggero Raimondi, Oliver Widmer, Opernorchester Zürich, Franz Welser-Möst / Opernhaus Zürch, 2002); Künstler: Cecilia Bartoli, Luba Orgonasova, Raul Gimenez, Ramon Vargas, Roberto Scandiuzzi, Michele Pertusi, Leo Nucci, Libero Arbace, Enrico Fissore, William Matteuzzi, Enzo Dara, Alessandro Corbelli, Oslavio di Credico, Luciana Serra, Chor der Wiener Staatsoper, Wiener Philharmoniker, Orchestra del Teatro Comunale di Bologna, La Scala Orchestra, Myung-Whun Chung, Giuseppe Patane, Riccardo Chailly, Gabriele Ferro (jpc mit Dank)

Deccas Rossini-Box: der Autor und Musikwissenschaftler Sergio Ragni/ Rai tv

Sergio Ragni  schreibt: Wenn Rossinis Musik eine Einschränkung hat, dann ist es die, dass sie perfekt aufgeführt werden muss, um sie vollumfänglich zu schätzen. Einzig eine ausgezeichnete Interpretation wird ihre wahre Größe enthüllen.

Die Beziehung zwischen Cecilia Bartoli und Rossini beruht auf Gegenseitigkeit. Während bei der Sängerin damit gerechnet werden kann, Aufführungen von höchster Authentizität zu geben, die es dem Zuhörer ermöglichen, die Wichtigkeit des betreffenden Werkes wahrzunehmen, ist es Rossini, der sie dazu geführt hat, die Bedeutung der Musik zu entdecken und ihr die interpretative Erkenntnis zu geben, die ihre Arbeit seit dem Beginn ihrer Karriere auszeichnet.

Rossini definiert die Ideale des Belcanto in seinen Schriften durch ein Zitat von Petrarca: „Das Lied, das erklingt, klingelt in deiner Seele.“ Seine Musik muss mit einer Kombination aus Können und Leidenschaft gesungen werden, welche die Grenzen des Textes überschreiten. „Musik“, sagt Rossini, „hat ein höheres, expansiveres und abstrakteres Ziel. Es ist, sollte ich beinahe sagen, die moralische Atmosphäre, die den Raum füllt, in dem die Figuren in einer Oper die Handlung darstellen. Es drückt das Schicksal aus, das sie verfolgt; die Hoffnung, die sie anspornt; das Glück, das sie umgibt; das Entzücken, das sie erwartet; den Abgrund, in den sie fallen werden; und es tut all dies auf eine Weise, die unbestimmbar ist, aber so verführerisch und durchdringend, dass es alles übertrifft, was durch die Gestik oder das Wort vermittelt werden kann.“

Cecilia hat diese Idee schon von klein auf beibehalten. Der Belcanto-Stil, den Rossini seinen Sängern vorschreibt und den sie meisterlich beherrscht, ist eine Sprache, die keine Übersetzung benötigt: Sie geht direkt ins Herz des Zuhörers, um eine emotionale Reaktion auszulösen. Seine schillernden Rouladen können, wenn sie mit der richtigen Energie ausgeführt werden, selbst in seinen komischen Opern atemberaubend sein.

Es ist Cecilias hervorragende technische Fähigkeit, der Schlüssel für das Singen des Rossini’schen Belcanto, der ihre Rollenwahl bestimmt und zu einer Erweiterung ihres Repertoires geführt hat. Es ist kein Zufall, dass Rossini die Gesangstechnik der Kastraten als die beste Form der Ausbildung für Sänger ansah, oder dass seine Frau Isabella Colbran – für ihn die größte Sängerin ihres Zeitalters – die Lieblingsschülerin des großartigen Kastraten Girolamo Crescentini war. Dank der akrobatischen Virtuosität, die Rossinis Musik einfordert, war Cecilia in der Lage, die anspruchsvollsten Partituren aufzunehmen, die eigens geschaffen wurden, um die fast übermenschlichen Gaben jener Sänger hervorzuheben, die wir aus mehr als einem Grunde als die „höchsten Virtuosen“ bezeichnen könnten.

Rossini: Cecilia Bartoli als Cenerentola in Monte-Carlo/ Foto Alain Hanel/ Opéra de Monte-Carlo

Sie hat die Stimme und die Ausdrucksfähigkeit, um ziemlich unerwartete moderne Interpretationen von Werken zu geben, die für Broschi, Rauzzini, Carestini und ihre Kollegen geschrieben wurden; Interpretationen, die das Publikum an andere Hörerlebnisse gewöhnten. Obwohl sie „Crossover“-Techniken misstrauisch meidet, die darauf abzielen, ein weniger zugängliches Genre zu popularisieren, ist sie Königin der Musik, an die sie glaubt, und erfolgreich darin, ein neues Publikum zu erreichen und zu erobern – ein breiteres, jüngeres Publikum, dessen Angehörige es eher gewohnt sind, ihren musikalischen Nervenkitzel anderswo zu suchen.

Wer Cecilia zuhört, wird sofort den unglaublichen natürlichen Instinkt erkennen, der so untrennbar mit ihrer musikalischen Expertise verbunden ist – eine Mischung aus scheinbar widersprüchlichen Elementen. Ihr Gesang wird immer von großer Leidenschaft beflügelt, doch bleibt sie gleichwohl innerhalb der strengen Grenzen des Belcanto, die darauf abzielen, formale Schönheit und Ausgewogenheit zu erreichen, Elemente, die ganz zentral sind für Rossinis Musik und alle Werke, die sie aufführt. Bartoli gehört seit Jahrzehnten zu den herausragendsten Stars der internationalen Musikszene, und dennoch erweitert und belebt sie ihre erstaunliche Karriere, indem sie ihre Zeit und Energie der musikwissenschaftlichen Forschung widmet und neue Rollen studiert. Jede neue Aufführung, jede neue Produktion fügt ihrer Kunst eine weitere Facette hinzu.

Sie fordert sich ständig heraus, wobei jede neue Unternehmung über die Grenzen hinausgeht, die sie sich selbst gesetzt hat, und neue stilistische und vokale Parameter etabliert.

Der einzige Weg, um solche Ergebnisse zu erzielen, besteht darin, einen ganz anderen Ansatz zu wählen, als den, der normalerweise von Sängern erwartet wird. Ihre Aufgabe ist es, die vom Dirigenten zugewiesene Rolle zu singen, während sich letzterer mit den technischen Aspekten der Partitur befasst und sicherstellt, dass alle Beteiligten einen dem Komponisten und dem Zeitraum des Werkes angemessenen Stil einhalten. Mit anderen Worten: Es ist der Dirigent, der dafür verantwortlich ist, die tiefsitzende Bedeutung der Musik, die gespielt wird, hervorzuheben.
Wenn Cecilia jedoch an einer Partitur arbeitet, behält sie ein höheres Maß an Kontrolle für sich selbst, angetrieben von der Notwendigkeit, über eine Aufführungspraxis hinauszugehen, die allzu oft von der Tradition kompromittiert wird. Mit ihrem absoluten Respekt für die wissenschaftlichen Kriterien, die sie als eine wesentliche Grundlage für jede moderne Aufführung ansieht, arbeitet sie in aktiver Partnerschaft mit dem Dirigenten und den anderen Künstlern und ist bereit, den besten Weg vorzuschlagen, um die gedruckten Noten zu interpretieren, mit der Absicht, eine wohlüberlegtere und authentischere Aufführung zu erzielen.

Rossini: Cecilia Bartoli bei den Aufnahmen zu „Heroines“ unter Ion Marin bei Decca/ Foto Decca Booklet

Die Palette der Werke in dieser Kollektion ist ein unwiderlegbarer Beweis für Cecilias Genie in Sachen Rossini. Die schiere Menge seiner Musik, die sie aufführte und/oder aufnahm, zeigt ihr beständiges Interesse und Engagement für den Komponisten.

Als sie 1988, sehr früh in ihrer Karriere, ihr Rollendebüt als Clarice in La pietra del paragone in Catania gab, sprachen die Rossini-Liebhaber und die anspruchsvollsten Opernfans von einem Wunder. Die Gewissheit, mit der sie sich durch die anspruchsvolle Partitur navigierte, die für Marietta Marcolini, eine von Rossinis Lieblingsaltistinnen, geschrieben worden war, markierte den Beginn eines neuen Kapitels im Rossini-Revival.

Nach der legendären Marilyn Horne, die mehr als einmal davon gesprochen hat, Cecilia einen symbolischen Taktstock zu geben, erhellte eine neue junge Sängerin die Opernbühne und brachte Rossinis unglaubliche Musik nicht nur mit einer vorbildlichen Koloraturtechnik, sondern auch mit dem Geist und der Gerissenheit von so vielen von Rossinis Hauptrollen zu Gehör.

Ein Jahr nach der Kreation von Clarice in La pietra del paragone wurde Rossinis Muse Marietta Marcolini, der Gegenstand seiner Zuneigung, die erste Isabella, die Italienerin, die entschlossen war, ihren Geliebten von Algier nach Hause zu bringen. Marcolinis Charakter und mediterrane Glut scheinen durch die Leistung ihrer modernen Kollegin zu leuchten.

Cecilia Bartoli hat den wahren Geist von Rossini entdeckt, weil sie nach dem sorgfältigen Studium der Partitur, als sie auf die Bühne trat, die Last des Lernens beiseitelegen und sich einfach amüsieren kann. Sie fordert Rossini, den dynamischsten Komponisten, heraus, indem sie die Energie, die von seiner Musik ausgeht, mit ihrer eigenen Tatkraft und Intensität verbindet. Fast wie auf einer Mission verfolgt sie ihre Studienphase mit ihrer musikalischen Brillanz und all den erstaunlichen Mitteln ihrer Intuition.

Rossini: Cecilia Bartoli bei Aufnahmen zu „Il Turco in Italia“mit Riccardo Cailly/ Foto Decca Booklet

Ihre Cenerentola ist sich ihrer eigenen Stärken bewusst und deshalb ihren Stiefschwestern weniger unterwürfig. Ihre Gräfin Adèle wird, anstatt von den Eskapaden des Grafen Ory schockiert zu sein, fast unwiderstehlich angezogen von der Ablenkung, die er ihrer selbstauferlegten „Witwenschaft“ bringt. Es ist das Temperament der Sängerin, das sie auf einen bestimmten Weg der Interpretation führt.

Diese Notizen könnten darauf hindeuten, dass Bartoli nur Rossinis komische Rollen singt. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein: Sie hat sich im tragischen Repertoire als unerreicht erwiesen. In diesen Werken wächst die Rolle, die sie als Künstlerin und Frau spielt, ebenso wie ihr Wunsch, mit dem Publikum zu kommunizieren. Die Freude, Rossinis proto-romantische Heldinnen mit ihrer Stimme und ihrem Charisma zum Leben zu erwecken, erhellt ihre Seele und ermöglicht es ihr, eine Partitur mit überzeugender Ausdruckskraft zu spielen. Ihre herzzerreißende Inkarnation Desdemonas zum Beispiel – einer Frau, die in ihrem eigenen tragischen Drama isoliert ist und Zuflucht sucht in der exklusiven Schönheit des Weidenliedes – ist von historischer Bedeutung; ein Maßstab für alle, die ihr folgen.

Und Cecilia hat viele weitere Rossini-Schätze zu bieten. Sie hat nichts unversucht gelassen, von der geistlichen Musik bis zu den Kantaten – hier kann die Arie für Ceres aus Le nozze di Teti e di Peleo, eine der schwierigsten im gesamten Katalog des Komponisten, nicht unerwähnt bleiben – und schließlich die Unzahl an vokalen kammermusikalischen Werken. In letzterem Repertoire verstärkt sie die Eleganz der Musik mit ihrer Fähigkeit, Note für Note die endlosen und kaleidoskopischen Nuancen von Emotion, Sensation, Schlussfolgerung und Ironie hervorzuheben, mit denen Rossini diese Stücke, die schönsten im gesamten italienischen Kammerrepertoire, punktiert – wie ihre Aufnahmen zweifelsohne beweisen. Sergio Ragni, 2018/ Übersetzung Daniel Hauser

Rossini: Cecilia Bartoli als Cenerentola in der Decca-DVD-Aufnahme aus Houston/ Foto Decca/ Houston Grand Opera, als Audio-CD in der Box enthalte.

Und Ilaria Narici äußert sich zu  Lektionen im Rossini-Stil:  Als Cecilia Bartoli als Lucilla in einer Inszenierung von La scala di seta 1988 beim Rossini-Opernfestival in Pesaro auftrat, war sofort klar, dass sie nicht nur ihre Berufung gefunden hatte, sondern dass es sich hier um ein seltenes Geschenk für alle Rossini-Liebhaber handelte. Die Homogenität ihrer Stimme über den Registern, ihre melodische Projektion, die Stimmagilität, die Fähigkeit, ihre volle Stimme zu benutzen, während sie unter einem Schleier von Ornamenten verborgene Akzente setzte, und die perfekte Aussprache wurden von ihrer unberührten, aber beherrschenden Bühnenpräsenz ergänzt. Sie schien die Qualitäten der großen Sängerinnen aus Rossinis Zeit so selbstverständlich zu verkörpern: Isabella Colbran in erster Linie, aber auch Geltrude Righetti-Giorgi – die Rosina (Il barbiere di Siviglia) und Angelina (La Cenerentola) geschaffen hat und in deren Fußstapfen Cecilia seither mit ihren außergewöhnlichen Interpretationen beider Rollen gefolgt ist – und Maria Malibran.

In ihrer Annäherung an die Opern, die geistliche Musik (Stabat Mater) und die Kammerminiaturen verkörpert Bartoli den authentischen Rossini-Stil. Die wahren Grundlagen für letzteren wurden in den vergangenen Jahrzehnten dank der Restaurierungs- und Wiederbelebungsarbeit der Fondazione Rossini in Pesaro geschaffen, die kritische Editionen der Gesamtwerke herausgab – im Gefolge von Alberto Zeddas bahnbrechender Ausgabe von Il barbiere di Siviglia (1969), veröffentlicht von Ricordi – in Zusammenarbeit mit dem Rossini Opernfestival, das die Editionen in Live-Produktionen umsetzt. Jene, die hinter der akribisch realisierten musikwissenschaftlichen Analyse von Autographen, Manuskripten, Libretti und allen Unterlagen stehen, die bei der Ausarbeitung eines Textes, der die Absichten des Komponisten genau widerspiegelt, haben Bartoli immer als aufmerksame, gewissenhafte, intellektuelle und neugierige Künstlerin wahrgenommen, die Rossini ihre eigenen außergewöhnlichen Ressourcen widmet. Ihre Erfahrung im barocken Vokalbereich, der mit dem Rossini-Stil verwandt und in gewisser Weise komplementär ist, bestätigt die Einsicht und Intelligenz ihrer musikalischen Entscheidungen.

Die Auswirkungen, die ein Künstler auf die Art und Weise haben kann, wie ein Repertoire aufgenommen und verbreitet wird, werden manchmal unterschätzt. Musik braucht das Medium der Künstler, um ein Publikum zu erreichen. Und Cecilia, eine kultivierte, autoritative und leidenschaftliche Musikerin, hat die Rezeption und Popularisierung von Rossinis Musik, insbesondere seiner vokalen Kammermusik, nachhaltig beeinflusst. Ihre intensiven, musikwissenschaftlich informierten und sachkundigen Darbietungen der Lieder, Arietten und Stücke aus den Péchés de vieillesse haben diesem komplexen Lexikon in all seinen Facetten neues Leben eingehaucht. Die Musikwissenschaftler der Fondazione Rossini, angeführt von Philip Gossett und Bruno Cagli, haben ihr Wissen in die Auswahl der Werke eingebracht, die ihren Stimmfähigkeiten am besten entsprechen, so wie Rossini es mit seinen Lieblingssängern gemacht hat. Dies hat zu Aufführungen und Aufnahmen geführt, die nicht nur von großem Erfolg und Beifall gekrönt sind, sondern auch eine große Fangemeinde gewannen und bis heute eine echte Lektion im Rossini-Stil darstellen. Ilaria Narici, akademische Direktorin der Fondazione G. Rossini (Übersetzungen ins Deutsche Daniel Hauser)