Qual tenero diletto

 

Stopp. Da stimmt doch etwas nicht. „Die kritische Ausgabe seiner Werke durch die Fondazione Rossini in Pesaro“, schreibt der im Vorjahr verstorbene Rossini-Kenner und Liebhaber Philip Gossett im Vorwort der 50 CDs umfassenden Rossini-Edition von Warner (weitgehend aus den Beständen der EMI und Erato), „hat mittlerweile mehr als die Hälfte seiner Opern, besonders die ernsten, der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht“. Sind es nicht weit mehr? Gossett hatte das vor einem Vierteljahrhundert geschrieben. Eine kleine Aktualisierung hätte dem anspruchsvollen Unterfangen gut getan. Je umfangreicher die Edition, desto schmaler das Beiheft. Ein Opfer, das man bei der spottbilligen Edition bringen muss. Das Beiheft reiht die Besetzungen aneinander, bietet nach Gossetts Einführung (dt., engl. franz.), immerhin auf Englisch den Inhalt der Opern. Mehr nicht. Die Papphüllen der Einzel-CDs erinnern mit den Abbildungen der Originalcover an die unterschiedlichen Quellen der Warner Classics-Edition wie Erato, Fonit Cetra und EMI, auf der Rückseite komplette Tracklisten, Interpreten, Aufnahme-Informationen. Sehr sparsam, für eine Edition die Aufnahmen aus mehr als sechs Jahrzehnten von den 1950er Jahren (1953 La Cenerentola) bis 2015 (Marie-Nicole Lemieux auf CD 43) versammelt.

Wo anfangen? Auf CD 49 findet sich Sir Eugene Goossens’ hinreißende, aus Rossinis Klavierstücken kompilierte Ballettmusik La Boutique fantastique mit dem Royal Philharmonic Orchestra von 1957. Es hätte sich mühelos eine neuere Einspielung finden lassen, doch Goossens, der das Werk zwanzig Jahre zuvor schon einmal eingespielt hatte, hatte eng mit den Ballets Russes zusammengearbeitet, die das Ballett 1919 kreierten. Die Edition erweist sich als Boutique fantastique, als Zauberladen, die mehrere solcher Raritäten feilbietet. Darunter (auf CD 47) Georges bzw. György Cziffras Aufnahmen (ebenfalls aus 1957) seiner Paraphrasen und Transkriptionen von La danza und über die Ouvertüre zu Guillaume Tell. Aus der hinteren Ladenecke kommen wir zu den Neuheiten. 2010 und 2012 nahm Antonio Pappano in Rom das Stabat Mater und die Petite Messe solennelle auf (CD 45/46). Im Stabat Mater singt Lawrence Brownlee das Cujus animam gar nicht arienhaft auftrumpfend, auch wenn er es sicher könnte, sondern so behutsam, wie es dem Text zukommt, und auch Anna Netrebko und Joyce DiDonato nehmen bei der Frage Quis est homo ihre kostbaren Stimmen wie Klosterschülerinnen zurück, worauf auch Ildebrando D’ Arcangelo ihrem Beispiel folgt. Hoch besetzt mit Marina Rebeka, Sara Mingardo, Francesco Meli und Alex Esposito auch die Petite Messe solennelle. Zwanzig Jahre zuvor standen Salvatore Accardo für die Messa di Gloria immerhin die in den frühen Jahren ihre Karriere im Belcanto- und Rossini-Repertoire geschätzte Anna Caterina Antonacci zur Verfügung – dazu Bernadette Manca di Nissa, Francisco Araiza, Robert Gambill, Pietro Spagnoli. Erstaunlich, wie wenige Doubletten es bei der reichen Besetzung mit den im gleichen Repertoire rivalisierenden Horne, DiDonato, Larmore usw. bei den diversen Sänger-Aufnahmen gibt. Freilich, einige CDs sind aus diversen Recitals zusammengestückelt, so finden sich Horne, Cuberli, Serra, Schwarzkopf, de los Angeles und Ludwig friedlich vereint über die Jahrzehnte auf einer CD (42) oder Ramey, Cencic, Lemieux (43), Jennifer Larmore teilt sich auf CD 44 den Platz mit Carlo Maria Giulini, Sir Thomas Beecham , Claudio Scimone, aber auch Lamberto Gardelli, zu dessen Solisten in Dal tuo stellato soglio kurioserweise Pauline Tinsley gehören (Robert Lloyd ist der hagere Mosé), und Thomas Hampson, der ein steifes L’ ultimo ricordo hinterherschickt. Max Emanuel Cencic singt Rossinis einzige Kastratenpartie, den von Giovanni Battista Velluti 1813 an der Mailänder Scala kreierten Arsace aus Aureliano in Palmira (CD 43), Lemieux steuert den Pippo und die Clarice aus La gazza ladra und La pietra del paragone bei, Wolfgang Meyer schließt seine Klarinetten-Variationen an. Majestätisch, eine Klasse für sich, ist immer noch Marilyn Horne. Da läuft man Gefahr, sich „festzuhören“, immer wieder ihre Szenen und Arien aus Semiramide, Tancredi,  Zelmira usw. hören zu wollen, die sie Anfang der 80er Jahre mit Alberto Zedda aufnahm. Das sind immer noch Referenzaufnahmen. Welch immenser Ausdruck, welche runde, reiche und schöne Stimme, welch kluger und verschwenderischer Einsatz (CD 41/42). Da reicht nur Joyce DiDonato heran, die 2009 in Rom mit Edoardo Müller ins Studio ging und auf dem hier komplett integrierten Album Colbran, the Muse die Arien der Armida, Elena, Desdemona, Semiramide, Anna und Elisabetta sang. Gleich drei Alben von Rockwell Blake sind dabei, The Rossini Tenor (1987), Encore: Rosini (1989) und Rossini: Mélodies (1995, mit Pappano am Klavier), die seinerzeit ebenso Aufmerksamkeit fanden wie Hornes Rossini, auch wenn man ihn heute etwas eng und manchmal quäkig findet; wirklich schön war Blakes Tenor, der brillanter Touren fähig war, nie. Horne und Blake fassen sich nochmals bei der New Yorker Rossini Gala anlässlich seines 200. Geburtstag 1992 an den Händen. Dabei ist auch Chris Merritt, Blakes Mitstreiter der frühen Jahre des Rossinis Festivals in Pesaro, als glorioser Arnoldo; Fredrica von Stade ist das Aschenputtel, Hampson der Barbier, Samuel Ramey der Mahomet in La siege de Corinthe, und alle – dazu u.a. Doborah Voigt, Kathleen Kuhlmann – singen das 14stimmige Gran Pezzo concertato aus Il viaggio a Reims.

Zu den Opern. Vom Lachen der Schwestern Clorinda und Tisbe lässt man sich gerne anstecken. Vittorio Guis Glyndebourne-Produktion der Cenerentola versprüht auch noch in den berühmten Studios in der Abbey Road, wo sie im Herbst 1953 aufgenommen wurde, eine blitzende Bühnenpräsenz. Gui hat die Partitur bestens im Griff und verblendet die Stimmen in den Ensembles perfekt, ohne ihnen ihre Individualität zu nehmen. Die Cenerentola ist die älteste der 14 Opern auf den ersten 33 CDs. Sie besitzt aber Dichte und rhythmischen Elan, Farben und Ausgewogenheit, Oberfläche und Tiefe, wodurch sie auch angesichts späterer Aufnahmen unter Abbado, Ferro oder Chailly immer noch bestehen kann. Sesto Bruscantini und Juan Oncina als Dandini und Ramiro sind köstlich, Ian Wallace ist ein mehr sprechender als singender Komödiant alten Stils, die Spanierin Marina de Gabarain ist als mütterlich reife, technisch steife Cenerentola der Schwachpunkt der Aufführung (CD 13/14). In den gleichen Studios wiederholte Gui seinen Glyndebourne Erfolg mit Le comte Ory. Auch das ist eine gewitzte Aufführungen, wenngleich mit einigen Ausfällen in der Besetzung, wozu nicht nur der seltsame Michel Roux als Raimbaud gehört, aber der damals 35jährige Juan Oncina, einer der führenden tenore di grazia jener Zeit, ist, nachdem man sich an sein Timbre gewöhnt hat, ein witzig schelmischer und sinnlicher Ory. In vokaler Hinsicht teilweise fitter zeigt sich die junge Garde. Beispielweise 1996 auf Marc Minkowskis L’ inganno felice, mit der die Edition beginnt, mit dem  hinreißenden Raúl Giménez, der mit Bertrandos Arie „Qual tenero diletto“ quasi das Motto der Edition vorgibt, dazu Annick Massis, Lorenzo Regazzo, Pietro Spagnoli und Rodney Gilfry oder 1988 in Bologna in La scala di seta unter Gabriele Ferro (CD 2/3) mit den Damen Cecilia Bartoli und Serra und den Herren Matteuzzi, di Credico, de Carolis und Coviello. Bei den komischen Opern prallen der 1954 in der Mailänder Scala aufgenommene Turco in Italia unter Gavazzeni mit der Callas und Gedda (CD 9/10) beispielsweise auf Scimones L’ Italiana in Algeri von 1980 (CD 7/8), wo sich Horne und Ramey einen wunderbaren Schlagabtausch liefern, oder auf James Levines 1975 in London entstanden Barbiere di Siviglia, der von Anfang an im Abseits stand: für Gedda kam der Almaviva zu spät, Beverly Sills und Sherrill Milnes sind nicht nur Geschmacksache, Raimondi als Basilio, Capecchi als Bartolo und Barbieri als Berta sind schöne Besetzungsideen (CD 11/12), die ausführlichen Rezitative sind kein Gewinn. Im Jahr zuvor hatte Sills eine ihrer berühmtesten Partien ebenfalls in London aufgenommen, die Pamira in L’assedio di Corinto (CD 25-27), mehr oder weniger die italienische Rückübersetzung von Le siège de Corinthe, mit der sie sich 1969 an der Scala vorgestellt hatte. Die Aufnahme unter Thomas Schippers erhält ihre Hauptattraktion durch den Neocle der Shirley Verrett. Gedda ist 1972 (die CDs geben 1982 an) als Arnold in Guillaume Tell (CD 30-33) unter Lamberto Gardelli, der anders als Chailly bei Decca das französische Original einspielte, sehr überzeugend, wie auch die dramatisch schillernde Montserrat Caballé und der väterliche Bacquier. Die ernsten Opern sind neueren Datums. Ihre Zeit bricht in den 1970er Jahren an. Der erste Tancredi entstand 1978 überraschenderweise in Köln (bei der Firma Italia/ Cetra), später Warner), wo Gabriele Ferro die Cappella Coloniensis, das auf historischen Instrumenten spielende Orchester des WDR, dirigierte. Fiorenza Cossotto ist überraschend sicher in der Titelrolle, Lella Cuberli steht als Amenaide am Anfang ihrer Rossini-Karriere; wenige Jahre später nahm sie die Partei an der Seite von Marilyn Horne für CBS auf. Neben Katia Ricciarelli begegnen wir Horne neuerlich in Bianca e Falliero 1986 vom Rossini Opera Festival in Pesaro (CD 17-19) von wo auch Semiramide (CD 22-24) stammt, die Alberto Zedda 1992 (mit Iano Tamar, Gloria Scalchi, Gregory Kunde und Michele Pertusi) meisterhaft ausbreitete – später aber an der Vlaamse Opera noch besser wiederholte. Aus Vicenzas Teatro Olimpico stammt Rossinis letzte Oper für Neapel, Zelmira (CD 20/21), 1989 unter Claudio Scimone, mit der milden Cecilia Gasdia, der zupackenden Bernarda Fink, dem brillanten William Matteuzzi und dem adäquaten Chris Merritt. Ähnlich besetzt – Gasdia, Margarita Zimmermann, Ernesto Palacio, Merritt, Matteuzzi – war Scimones Ermione 1986 in Monte-Carlo (ex Erato CD 15/ 16). Jeder wird hier fündig (Warner Classics 0190295611156 ).   Rolf Fath