Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Carsens trübe Szene

 

O je, schon wieder eine Tagessschau mit Musik, denkt der gequälte Opernfreund, wenn er von Robert Carsen im Booklet vernimmt, dass es sich bei seinem Idomeneo um Im Teatro Real von Madrid eine Produktion für den Frieden und gegen den Krieg handeln soll, und wenn zu Beginn vor einem gewaltigen Maschendrahtzaun Flüchtlinge mit entsprechendem Gepäck und Wasserflaschen aufmarschieren, gegen Ende sich am Strand Berge von Schwimmwesten auftürmen und man ganz zum Schluss in eine zerstörte Straßenschlucht wohl einer orientalischen Stadt schaut, ist man erst einmal bedient. Trägt dann noch das gesamte Personal außer Ilia und Elettra Uniform und Maschinenpistole und wirft beides zum happy end ab bzw. weg, dann ist darüber die eigentliche Quintessenz des Stücks, die Unvereinbarkeit zwischen Staatsräson und Liebe, sei es väterliche oder geschlechtliche, die Erlösung aus diesem Konflikt nur durch selbst einen erzürnten Gotte rührende  Opferbereitschaft auf der Strecke geblieben.

Abgesehen von dieser mit potthässlicher Kostümierung (Luis F. Cavarhol) einhergehenden Optik ist die Produktion eine durchaus ansehnliche, die sich durch stellenweise feine Personenführung und eine beeindruckende Video-Meereslandschaft mit zwischen still ruht die See oder dräuender Flut bis hin zum Tsunami wechselndem Hintergrund (Will Duke) auszeichnet.

Idamante wird in dieser Produktion nicht von einem Mezzosopran, sondern von einem Tenor gesungen, und dem Besetzungsbüro gelang es, mit der empfindsamen, kultiviert eingesetztem, wenn auch nicht mit einem schönen Timbre begabten Stimme von David Portillo eine sehr jugendliche der dunkleren, dramatischeren substanzreicheren von Eric Cutler  als Idomeneo entgegen zu setzen. Ähnlich kontrastreich verhielten sich die beiden Sopranstimmen zueinander. Eine zarte, lyrische Mädchenstimme setzte Anett Fritsch für die trojanische Prinzessin Ilia ein, sehr angenehm in ihrer zweiten Arie mit einem schönen Leuchten in der Höhe, im Dramatischen aber flach bleibend. Zu Recht Publikumsliebling war Eleonora Buratto als fulminante Elettra, die die Furien souverän toben, den Zefiro sanft säuseln und mit ihrer letzten Arie das Blut des Hörers in Wallung geraten ließ. Eindrucksvoll war der wenn auch verstärkte Nettuno von Alexander Tsymbalyuk, solide der Arbace von Oliver Johnston. Der Chor des Teatro Real legte sich mit Gewinn ins Zeug, das Orchester unter Ivor Bolton spielte viel besser, als die ungefügen Bewegungen seines Leiters es vermuten ließen und erhellte mit akustischem Strahlen die trübe Szene (Opus arte 1317D). Ingrid Wanja

 

Hochbesetzt

 

Bis zum Beginn des neuen Jahrtausends war es still um den italienischen, 1690 in Strongoli  geborenen Komponisten Leonardo Vinci. Aufgeführt und eingespielt wurden eher die Opern seines Zeitgenossen Antonio Vivaldi. Nur hin und wieder fand sich auf den Recitals renommierter Barocksänger (Cecilia Bartoli, Simone Kermes, Xavier Sabata, David Hansen, Filippo Mineccia) eine Arie des Komponisten. Das änderte sich schlagartig im Jahre 2011, als Diego Fasolis mit dem Concerto Köln Vincis Artaserse in einer spektakulären Besetzung für Virgin aufnahm und ein Jahr später in Nancy szenisch aufführte. Alle Hauptrollen, auch die weiblichen, wurden von Countertenören interpretiert, womit an die Kastratenbesetzung der Uraufführung 1730 in Rom erinnert wurde. Jüngster Paukenschlag in Sachen Vinci war das Recital des Counters Franco Fagioli bei der DG mit dem Titel Veni Vidi Vinci, welches 14 Arien des Komponisten, darunter sieben Weltpremieren, vorstellt.

Nun veröffentlicht das österreichische Label Parnassus Arts Productions auf drei CDs (und einem ebenso hochinformativen wie mitreißend geschriebenen Einführungsartikel von Boris Kehrmann) Vincis Dramma per musica Gismondo Re di Polonia,  nachdem dieses 2018 im Teatr Miejski in Gliwice und im Theater an der Wien aufgeführt worden war (9120104870017). Das Stück kam 1727 in Rom zur Premiere und basiert auf einem Libretto des Venezianers Francesco Briani, welches dieser für den Komponisten Antonio Lotti verfasst hatte, der es unter dem Titel  Il vincitor generoso vertonte – ein Herrscherlob auf König Fredericks IV. von Dänemark, der 1709 die Lagunenstadt besuchte und zu dessen Ehren die Aufführung gegeben wurde. Vinci hat dieses Libretto 18 Jahre später nahezu wörtlich vertont. Die Protagonisten der Oper sind Gismondo, König von Polen, und Primislao, Herzog von Litauen. Zwei Fürsten, Ernesto von Livland und Ermano von Mähren, lieben Gismondos Tochter Giuditta, die jedoch Primislao zugetan ist. Zwischen dessen Tochter Cunegonda und Gismondos Sohn Otone entspinnt sich die eigentliche Liebeshandlung. Alle Figuren sind zwischen Politik und Liebe hin- und hergerissen, doch am Ende siegt die Großmut und zwei glückliche Paare finden sich. Die menschlichen Konflikte der Handlung haben Vinci inspiriert zu einer farbigen, affektreichen Musik, für die er auch Material aus seiner Ernelinda verwendete. Mit dem (oh!) Orkiestra Historyczna stellt sich ein neuer Klangkörper auf CD vor, geleitet von Martyna Pastuszka – auch sie ein bislang unbekannter Name auf dem Musikmarkt. Aber schon mit dieser ersten Aufnahme liefern beide einen imponierenden Beweis ihrer Meisterschaft. Mit stürmischem Bläsergeschmetter setzt die Sinfonia ein und bringt in ihrer Durchführung das pulsierende Spiel des Orchesters zu starker Wirkung. Der 3. Akt beginnt mit einer pompösen Marciata, in welcher der Klangkörper wiederum heroisch auftrumpft. Aber auch in der Begleitung der Sänger sind Gespür für Rhythmus und Melos spürbar.

In der Besetzung finden sich zwei Countertenöre, die auch beim Artaserse mitgewirkt hatten – der Ukrainer Yuriy Mynenko und der Österreicher mit kroatischen Wurzeln Max Emanuel Cencic. Letzterer ist Executive Producer der Aufnahme – damit Garant für eine erstklassige Besetzung – und auch Interpret der Titelrolle. Die Stimme des Sängers hat sich in den letzten Jahren bemerkenswert entwickelt, ist durchgängig gerundet und ausgeglichen, hat den hysterischen Beiklang in der Höhe, der früher zu bemerken war, verloren. Schon der bewegte Auftritt, „Bella pace“, mit reichen Koloraturpassagen imponiert, ebenso die Gleichnisarie „Se soffia irato“, welche das Bild einer Taube im Sturm imaginiert. Deren eilende Koloraturen absolviert Cencic bravourös, wie er auch im stürmischen „Torna cinto“ des 2. Aktes brilliert und die Nummer mit einem exponierten Schlusston krönt. Mynenko als Otone mit seiner schönen und sinnlichen Stimme steht ihm keineswegs nach, kann bereits in der Auftrittsarie, „Vado ai rai“, mit fein getupften staccati und reichem Zierwerk prunken. Er beschließt den 1. Akt mit einer Nachtigallen-Arie („Quell’usignolo“), deren betörender und kunstfertiger Gesang mit Trillern und staccati von Flöten lieblich umspielt wird. Im 2. Akt kann er in „Vuoi ch’io mora“ seinen Schmerz mit ergreifenden Tönen ausdrücken, im heldischen „Assalirò quel core“ die Stimme in ihrem weiten Umfang voll ausreizen und im lieblich wiegenden „Pupille vezzose“ des 3. Aktes seine lyrischen Qualitäten auskosten.

Zwei weitere Counter sind dagegen neu in der Opernszene – der Brite Jake Arditti als Ernesto und der Amerikaner Nicholas Tamagna als Ermano. Ersterer besitzt eine Stimme von reizvoll androgynem Timbre mit auffallend üppiger Substanz in der Tiefe. Diese kann er besonders in der munter bewegten Arie im 2. Akt, „E col senno“, ausstellen. Kontrastreich sind das lieblich-zärtliche „D’adorarvi così“ und das auftrumpfende, mit virtuosen Koloraturläufen ausgestattete „Parto con quella speme“ im  3. Akt. Ermano führt sich erst im letzten Akt mit der stürmischen Arie „Son come cervo misero“ ein und Tamagna kann hier mit seiner resoluten, angenehm timbrierten  Stimme für sich einnehmen.

Auch die mitwirkenden Soprane waren bisher auf Besetzungslisten kaum anzutreffen. Die weibliche Hauptrolle der Cunegonda nimmt die Belgierin Sophie Junker wahr. Ihr lyrischer Sopran ist von hoher Kultur, was den empfindsamen und klagenden Arien der Partie gut ansteht („Sentirsi il petto“ im 1. und „Tu mi tradisti ingrato“ im 2. Akt). Sie trägt diese Lamenti mit starker Expressivität vor. Mit Otone beendet sie den 2. Akt mit dem innigen Duett „Dimmi una volta addio“, in welchem beide Stimmen perfekt harmonieren. Ein Höhepunkt der Oper ist ihre stürmische Arie im 3. Akt „Ama chi t’odia“, die in rasendem Furor ihren Hass und Erregungszustand spiegelt. Cunegonda ist auch beteiligt im einzigen Terzett des Werkes mit Gismondo und Otone („Dolce padre“), welches einen Gefühlssturm aller drei Personen ausdrückt. Und schließlich fällt ihr das letzte Solo der Oper zu – „Di rispondi“ am Ende des 3. Aktes, das geheimnisvoll raunend beginnt und sich dann ganz verinnerlicht fortsetzt. Erst der nachfolgende Schlusschor „Nel gran Sarmata“, der davon singt, dass mit dem Ölbaum und Lorbeer das erhabene Haupt Gismondos gekrönt wird, bringt eine feierliche Note ein.

Die Polin Aleksandra Kubas-Kruk ist als Primislao zu hören, also eine Besetzung en travestie. Die Stimme ist im Timbre nicht sonderlich individuell, aber die Gesangskunst der Sopranistin steht außer Frage. Schon in ihrem ersten Auftritt „Và, ritorna“ vermag sie energisch aufzutrumpfen und mit herausgeschleuderten Spitzentönen zu beeindrucken. Imponierend auch die exponiert notierte Arie „Nave altera“, die rhythmisch prägnant, mit großem Nachdruck und brillanten Koloraturgirlanden interpretiert wird. Einen starken Kontrast bilden die beiden Arien im 3. Akt — „Vendetta o ciel“ kämpferisch und „Sento di morte“ ganz verhalten, fast stockend.

Die Russin Dilyara Idrisova gibt die Giuditta und komplettiert mit ihrem jugendlichen Sopran von androgyner Anmutung eine insgesamt hochkarätige Besetzung. Die Sängerin meistert auch die Noten in der Extremhöhe bravourös, wie im koketten „Così mi piacerai“ oder dem heiteren „Se l’onda corre“.

Cencic und sein Team haben mit dieser Einspielung für einen Meilenstein in Sachen Leonardo Vinci gesorgt, dem hoffentlich weitere Initiativen folgen werden. Anfang September soll das Werk in identischer Besetzung beim neu gegründeten Festival Bayreuth Baroque konzertant aufgeführt werden . Bernd Hoppe 

 

(Foto Vinci „Gismondo“ Parnassus Max Emanuel Cenci c® Lukasz-Rajchert/ Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/..)

Zeitgenossenschaft

 

Bei allen Unterschieden viele Gemeinsamkeiten zeichnen die beiden von ihrer Musik her so unterschiedlichen Komponisten Ernst Krenek und Kurt Weill aus, und damit ist nicht nur das Geburtsjahr 1900  gemeint oder das Exil in den USA. Ansporn genug, um die beiden sich ihrem Schaffen widmenden Kurt-Weil-Gesellschaft Dessau und die Ernst Krenek Institut Privatstiftung Krems zur Unterstützung einer Tagung zu motivieren, die das Thema des Kurt Weill Fests Dessau  2016, „Krenek, Weill & die Moderne“ mit leichter Abänderung in Zeitgenossenschaft: Ernst Krenek und Kurt Weill im Netzwerk der Moderne abwandelte. Initiator war und Herausgeber des daraus entstandenen Buches ist Matthias  Henke, dem auch das Vorwort zu dem stattlichen Band, der die Ergebnisse des Unternehmens zusammenfasst, geschrieben hat.

In  diesem weist er nicht nur auf das gemeinsame Geburtsjahr, sondern auch darauf hin, dass beide Komponisten in Familien aufwuchsen, die an klassischer Musik interessiert waren und die die musikalische Ausbildung ihrer Söhne förderten,  dass beide 1920 nach Berlin zogen, in Donaueschingen auftraten und Riesenerfolge erzielten, Krenek mit Jonny spielt auf und Weill mit der Dreigroschenoper. In den USA allerdings entwickelten sie unterschiedliche Musikstile, Weill passte sich dem amerikanischen Geschmack an und Krenek beschritt den Weg der Atonalität.

Man könnte noch hinzufügen, dass beide ihre Werke bei der Wiener Universal Edition AG veröffentlichten.

Über die „privilegierten Kindheiten“ beider Komponisten berichtet Kristina Schierbaum, wobei sie sich auf Kreneks Überlieferungen stützen kann, während über Weills frühe Jahre aus dessem Mund kaum etwas zu vernehmen ist, auch wenig darüber von fremder Hand geschrieben wurde. Trotzdem weiß man, dass die Familie jüdischen Glaubens ihn in einen Fröbel-Kindergarten schickte, das Krenek zweisprachig in Wien aufwuchs, da die Großmutter nur Tschechisch sprach. Schierbaum berichtet anschaulich und unterhaltsam über die Schulzeit und insbesondere den Musikunterricht für die späteren Komponisten, über erste eigene Musikstücke, die vom achtjährigen Krenek und vom zwölfjährigen Weill zu vermelden sind.

Nicht etwa über Weill und Brecht, sondern über Krenek und den deutschen Schriftsteller schreibt Joachim Lucchesi, wobei er Interessantes über die Abneigung Kreneks gegenüber dem „Politclown“ und dessen „musikdramatischen Nihilismus“   zu berichten weiß, sehr anschaulich über die Versuche, sein Pamphlet gegen Brecht und dessen pädagogisch-agitatorische Tendenzen bei Zeitungen unterzubringen, schreibt und besonders den Unwillen Kreneks darüber, dass das Publikum sich während einer Aufführung einmischen soll und Mitwirkende vorübergehend aus ihrer Rolle heraustreten können. Lucchesi weist sehr überzeugend nach, dass für Krenek zu dieser Zeit das Transzendentale zur Oper gehört. Er verschweigt aber auch nicht, dass es bei ihm durchaus auch anti-illusionistische Elemente, so in Karl V. ,gibt und dass einer Zusammenarbeit mit Brecht eigentlich nur dessen Kommunismus im Wege stand.

Schwere Kost gibt es mit Reinke Schwimmings Artikel über Kurt Weill und Ernst Bloch zu verdauen. Immerhin bleibt es konkret mit dem Bericht über Blochs Artikel über den Song der Seeräuber-Jenny aus der Dreigroschenoper, nachdem man sich durch Bemerkungen über den ontologischen Materialismus des Philosophen, die Utopie als Keimzelle der Hoffnungsphilosophie durchgekämpft hat, die der Autor dankenswerter Weise dem Leser höchst verständlich nahe zu bringen weiß. Gewagt sind die Vergleiche Jennys mit Elsa und Senta, denen allesamt „Sehnsucht nach messianischer Erlösung“ zugeschrieben wird, so ist denn der Inhalt des Songs wertvoll, die Form aber die des minderwertigen Schlagers. Entlassen wird der Leser mit der Einsicht, dass für Bloch die Musik die direkteste Ahnung von Utopie vermittelt.

Ulrich Wilker hatte die Aufgabe, Verbindungen zwischen Krenek, Weill und Zemlinsky aufzuspüren, schwierig, da lediglich der Dirigent Zemlinsky als Aufführender ihrer Werke für die beiden Komponisten von Interesse war. Als „Knotenpunkte der Moderne“ werden „Der Zwerg“ und „Der Kreidekreis“ bewertet, Weills Einfluss auf Zemlinsky wird untersucht.

Andreas Eichhorn  widmet sich dem Thema  „Musik und Weltanschauung“ anhand von Paul Bekkers Briefen an die beiden Komponisten. Weil er ihn „hochnäsig und herablassend“ findet, geht Krenek nicht auf den Wunsch Bekkers ein, sich zur zeitgenössischen Musik zu äußern, sieht sich stattdessen zu einem Statement gegen die Weltanschauungsoper veranlasst, während er andererseits Weill dafür lobt, dass in dessen Die Bürgschaft die Musik „ die Politik in sich aufgesogen hat wie der Sonnenstrahl eine kleine Wasserpfütze“, sie also als solche nicht mehr wahrnehmbar ist. Man staunt  und staunt darüber, wie heftig Fragen wie diese die Musiker der damaligen Zeit bewegten und vergleicht im Stillen die Sprachlosigkeit heutiger Künstler damit.

Claudia Maurer Zenck schreibt über die Aufführungen der beiden Komponisten in der Berliner Krolloper, einst mit 2500 Sitzen das größte Opernhaus Berlins. Besonders interessant ist  in diesem Zusammenhang, dass für Kreneks Das Leben des Orest Giorgio di Chirico als Bühnenbildner gewonnen wurde- Fotos geben davon Zeugnis. Jürgen Schehera hingegen widmete sich den Aufführungen in Leipzig, listet alle und nicht nur die der Opern auf und verweist auf ein pikantes Detail, das erklärt, warum beide Komponisten sehr häufig in diesem Institut aufgeführt wurden.

Andreas Zeising berichtet über die Fotos, die es, teilweise von berühmten Meistern der Zunft, von beiden Komponisten gibt- natürlich mit den entsprechenden Abbildungen. Stefan Weiss widmet seinen Artikel den Violinkonzerten beider Komponisten aus dem Jahr 1924, Leanne García Alós den Streichquartetten Nr. 1, Weiss vergleicht Besetzung, Metrik und Formvorstellungen miteinander, lässt die zeitgenössische Kritik zu Wort kommen.

Auch als Liedkomponisten waren beide Komponisten aktiv, widmeten sich sogar demselben Dichter, nämlich Rainer Maria Rilke. Die sinfonische Dichtung Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke ist leider verloren gegangen, auch von den sechs Liedern, die Weill auf Texte Rilkes vertonte, haben nur 1 ½ überlebt. Von In diesem Dorfe liefert der Verfasser eine interessante Interpretation. Krenek vertonte 1926 drei Rilke-Gedichte als Lacrimosa, von dem das zweite Lied einer näheren Betrachtung unterzogen wird.

Marco Hoffmann vergleicht die beiden Einakter Der Zar lässt sich fotografieren und Der Diktator miteinander  und stellt fest, dass beide, sei es mit dem Handlungsort Fotoatelier, sei es mit der Nähe zu Mussolini, in der Moderne angekommen sind, beide sich durch rasch wechselnde Perspektiven auszeichnen.

Den Abschluss bildet der Beitrag von Nils Grosch, der zu Exil und kultureller Mobilität Stellung bezieht, die Frage aufwirft, ob Assimilation nur Bereicherung oder auch Verlust bedeutet und wie die beiden Komponisten- Krenek wechselt seine Meinung in dieser Beziehung- diese Frage beantworten.

Die letzten Seiten Bandes werden durch ein Namen- und Werkregister und eine Übersicht über die Autoren eingenommen. Aber schon vor dessen Lektüre fühlt man sich durch das Buch bereichert und wissender als zuvor (195 Seiten, Edition Argus 2019 als Band 8 der Ernst Krenek Studien; ISBN 978 3 931264 37 6). Ingrid Wanja

 

Im Nerz durch Weisse Nächte

 

Petersburg: Verdi gelangte bis dorthin und führte die erste Fassung von La Forza del Destino auf, Johann Sebastian Bach wäre gern dort gewesen, musste aber in Leipzig  bleiben und weiter für den Thomanerchor Kantaten schreiben, nun gibt es eine CD mit Musik, die es an den Petersburger Hof schaffte und vielleicht sogar während einer der hochsommerlichen Nuits Blanches, so der Titel der Silberscheibe, dort aufgeführt wurde. Die kanadische Sopranistin und Barockspezialistin Karina Gauvin hat gemeinsam mit dem Pacific Baroque Orchestra unter Alexander Weimann Musik, die am Zarenhof des 18.Jahrhunderts gespielt wurde, aufgenommen, darunter als Prominentesten Christoph Willibald Gluck, außerdem die beiden Ukrainer Dimitri Stepanowitsch Bortnianski und Maxime Sozontowitsch Berezovski, dazu den in Italien ausgebildeten Evstignei Ipatievitsch Fomine sowie  Domenico Dall’Oglio, Tartini-Schüler, der gemeinsam mit seinem Bruder fast 30 Jahre lang am Zarenhof tätig war.  Eher dem kalten russischen Winter allerdings huldigt das Cover, das die Sängerin mit üppiger Nerzstola und Schleierhütchen zeigt, hinter dem die Augen geheimnisvoll leuchten.

Aus Bortnianskis Oper Le Faucon (Der Falke) stamm die Arie der Elvire über die Liebe zu ihrem Sohn, die das Orchester mit süß-geschmeidigem Klang einleitet, der zu der Stimme von schönstem Ebenmaß in allen Registern, weich und sehr feminin, optimal passt, ein schönes Wechselspiel zwischen Instrumenten und menschlichem Organ garantierend. Später gibt es noch die effektvolle Ouvertüre zu dieser Oper um einen Edelmann, der das Herz bereits erwähnter Elvire dadurch gewinnt, dass er sein letztes Gut, einen Falken, für sie schlachtet und auftischt. Lediglich ein Orchesterstück trägt Dall’Oglio mit dem Allegro aus der „Sinfonia Cosacca“ bei, die allerdings eher barock als kosackisch klingt.

Von Bortnianski hingegen hat es noch ein zweites Werk auf die CD geschafft, Alcide aus dem Jahr 1778, in dem der junge Herkules vor die Entscheidung gestellt wird, welchen Lebensweg er gehen will, den angenehmen oder den ruhmreichen, aber beschwerlichen. Seine Entscheidung ist bekannt. In seinen beiden Arien demonstriert die Sängerin eine Stimme von jugendlicher Frische, singt raffinierte Schwelltöne und lässt die Verzierungen nicht wie mühsam erkämpfte, sondern wie beiläufig dargebotene klingen.

Arien zweier unterschiedlicher Partien lässt die Gauvin in Berezovkis Oper Demofonte, einmal des zu Menschenopfern gezwungenen Königs Demofonte, der hoffnungsvoll in eine bessere Zukunft blickt, einmal des sich den Opfern widersetzende Timante, der sich, sein Schicksal beklagend, an seinen kleinen Sohn wendet. Die erste Arie klingt eher wie eine Vokalise als sinnerfüllt, demonstriert aber die hervorragende Technik der Sängerin, die Leichtigkeit, mit der die Stimme geführt wird, die zweite lebt vom ihr innewohnenden Kontrast, „voi foste il mio diletto, voi siete il mio terror“, dem sie mit innigem Ton souverän Ausdruck verleiht.

Das Herzstück der CD sind natürlich die Auszüge aus Glucks Oper Armide, der der Sopran viel Jugendlichkeit, viel Kapriziöses, viele einander widersprechende Gefühle mit auf den Weg gibt. Erstaunlich ist dabei, wie sie zugleich sehr zart und sehr präsent sein kann. Nuancenreich gestaltet sie  die Arie „Ah! si la libertè“, mit sanftem Tonansatz, und „Le perfide Renaud “ zeugt in der wunderbar instrumental geführten Stimme von Verletzbarkeit, so wie die Wutausbrüche stets die Einheit des Timbres bewahren. Alles in allem ein weiteres Zeugnis der Gestaltungskunst der kanadischen Sängerin (ATMA  ACD2 2791). Ingrid Wanja

 

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Norwegisches aus Florenz

 

Recht guten Mutes nähert man sich noch immer Opern-DVDs aus Italien, denn wenn auch hier bereits moderne Regie ihr Unwesen treibt, garantiert doch meistens der gute Geschmack der Italiener, ihr Sinn für das Dekorative, ihr Bestreben, auch auf der Bühne bella figura zu machen, die Vermeidung des German trash in seiner schlimmsten Ausformung.

Dirigiert nun gar noch Fabio Luisi, von dem ein Mitglied der Staatskapelle Berlin einst meinte: „Da muss erst ein Italiener kommen, um uns zu zeigen, wie man Hänsel und Gretel spielt“, dann hebt das in der Erwartung von Wagners Der fliegende Holländer ebenso die Stimmung wie die Hoffnung, der Maggio Musicale Fiorintino werde, wie in der Vergangenheit meistens, für gute Sänger sorgen.

Alle Erwartungen erfüllt wurden vom Orchester und seiner Leistung bei dieser ersten Wagner-Aufführung Luisis in seinem Heimatland Italien, das in seinem Spiel Durchsichtigkeit mit Opulenz miteinander vereinte, das bereits in der Ouvertüre eine unvergleichlich romantische Stimmung zu zaubern wusste und seinen Teil zur einer glücklichen akustischen Ausgewogenheit zwischen Bühne und Orchestergraben beitrug. Auch der Coro Ars Lyrica  (Eintudierung Marco Bargagna) gemeinsam mit dem Coro del Maggio Musicale Fiorentino (Einstudierung Lorenzo Fratini) sang höchst idiomatisch und dazu die Herren kraftvoll-gebändigt, die Damen agogikreich und frisch.

Regisseur Paul Curran stellt das Stück nicht auf den Kopf, will aber auch nicht auf das Betonen einer eigenen Handschrift verzichten. Die besteht zunächst einmal in einer Verlegung der Story in die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als die Damen Wasserwelle und Seidenstrümpfe mit Naht ( Kostüme Gabriella Ingram) trugen. Dazu würde kein Spinnrad passen, und so sitzen sie an Nähmaschinen, die in einem hässlichen Fabriksaal (Szene Saverio Santoliquido) aufgebaut sind. Für das Erscheinen des Holländer-Schiffs wird verständlicherweise Videotechnik bemüht und diese weiß eindrucksvolle Momente zu kreieren. Das gilt leider ganz und gar nicht für die erste Begegnung zwischen Holländer und Senta, der alles Magische abgeht, so wie auch der Schluss aus purer Verlegenheit geboren scheint: Holländer und Senta gehen aufeinander zu und recken sich die Hände entgegen.

In Italien scheint man noch immer der Meinung zu sein, hässliche Stimmen in deutschen Opern seien das Normale. Anders ist das Engagement von Thomas Gazheli kaum zu erklären, der einen ausgesprochenen Alberich-Bariton hat, immerhin über eine gute Höhe verfügt, dessen Timbre aber alles andere als edel ist. Die Stimme wirkt nicht einheitlich gut fokussiert, die Mittellage eher schwach, und optisch ist er ebenfalls kaum beeindruckend. Da er von der Regie offensichtlich keine Hilfestellung bekommen hat, wirkt sein Spiel recht unbeholfen. Dass Marjorie Owens eine tolle Stimme haben muss, sieht man auf den ersten Blick, denn wer optisch derart wenig der schönen Senta entspricht, der muss entsprechend ausgleichende stimmliche Qualitäten haben. Die hat der Sopran in Hülle und Fülle, was sich in einer mühelos wirkenden Ballade mit sicherer, strahlender Höhe, sanften Intervallsprüngen und insgesamt einem betörend schönen, warmen Leuchten und Strahlen der Stimme äußert. Einen angenehmen Zwischenfachtenor und eine ebensolche optische Erscheinung bietet Bernhard Berchtold mit beispielhafter Diktion für den Erik auf. Mal hohl, mal mit enger Stimmführung und darstellerisch aufs Schlimmste chargierend, ist Mikhail Petrenko ein des Maggio nicht würdiger Daland. Als Norweger des 20.Jahrhunderts sollte er auch kein Kreuz schlagen, wenn schon Moderne, dann konsequent! Die angemessene Optik und eine Stimme, die lyrischer sein könnte, hat Timothy Oliver für den Steuermann, während Annette Jahns nicht die übliche rundlich-gemütvolle, sondern eher herb-strenge Mary gar nicht ältlicher Stimmmittel ist (Bluray C-Major 753808). Ingrid Wanja    

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

 

Religiöse Fleissarbeit

 

Vielleicht sogar ein Lebens-, auf jeden Fall aber ein Lebensabschnittswerk ist das von Andrea Chudak, die fünfzehn Jahre lang unterschiedliche Versionen des Ave Maria“ aus sieben Jahrhunderten sammelte und sie nun, 68 an der Zahl, auf fünf CDs bei der Antes Edition in der Funktion als Initiatorin, Produzentin und Sängerin herausgegeben hat.

Angesichts einer solchen Fülle von zwar in Bezug auf den Text sich leicht, in  Bezug auf die Musik sich stärker voneinander unterscheidender Tracks fragt man sich natürlich, für wen die fünf CDs bestimmt sein, wen sie interessieren könnten. Der Musikhistoriker wird sicherlich dadurch irritiert, dass chronologisch gesehen ein wildes Durcheinander, kein ihn befriedigendes Ordnungsprinzip herrscht. Auch kann ihn nicht zufrieden stellen, dass kaum eins der Stücke in Originalbesetzung erklingt, sondern dass das vorhandene Potential an mitwirkenden Künstlern eingesetzt und die Stücke auf dieses, was Sänger und Instrumentalisten betrifft, zugeschnitten werden musste. So mussten besonders die für oder mit Chor vorgesehenen Stücke wesentlich verändert werden. In dieser Hinsicht befriedigen dann noch am ehesten die Aves, die von vornherein für die Sängerin komponiert wurden. Auch nach der Herkunft der Komponisten, von denen es deutsche, französische, italienische und weitere gibt, wird nicht gegliedert, noch nach Originalen und Fälschungen oder Originalen und Bearbeitungen. Und sollte man es sich zum Prinzip gemacht haben, nach wechselnden Sängern und Instrumenten zu gliedern, dann wäre das höchst fragwürdig. Es bleibt also nur der schlichte, sich an Musik erfreuende Hörer als Interessent und der dürfte nach dem ununterbrochenen Anhören aller fünf CDs und aller 68 Avi (oder Aves) reif sein für das Kloster oder eine andere Anstalt.

Das umfangreiche Booklet erläutert zunächst in der „Einführung“ die Geschichte des Ave Maria und seiner vielfältigen Erscheinungsformen, ehe 1568 eine feste Form dafür gefunden wurde. Es erwähnt als bekanntestes das von Schubert, als ebenfalls sehr populäres das von Bach/Gounod und hält fest, dass es enorme  Qualitätsunterschiede gibt, erwähnt Gregorianik, die Herkunft von Gassenhauern, den Gebrauch als Salonstück und die Fülle von Bearbeitungen. Dieser Artikel ist informativ und bereitet den Hörer angemessen auf den Genuss der CDs vor.

Es folgt eine umfangreichere Beschreibung der einzelnen Titel, teils mit interessanten Informationen wie der, dass der Komponist des ersten Tracks auch der der Musik zu der Fernsehreihe „Um Himmels Willen“ ist, dass Mozarts Ave klingt wie das Duett Fernando/Guglielmo aus Così fan tutte, Bo Wiget für sein Ave nur den Konsonanten M zuließ oder Rudolf Weinwurm einen Text von Kaiserin Sisi verwendete. Auch Anekdotisches wie die mit dem Ave verbundenen Flirtversuche zum Beispiel Bruckners können das Interesse des Hörers und Leers verstärken. Dass Karl May immerhin ein, Saint-Saëns dagegen volle zehn Aves komponierte, von denen auf der CD immerhin drei, aber nicht hintereinander, sondern verstreut vertreten sind, lässt wieder die Frage nach dem Ordnungsprinzip aufkommen. Dieser Artikel, so gut er gemeint sein mag und so hilfreich er vielleicht auch bei der Bewältigung des Hörpensums ist, irritiert durch zahlreiche seltsame Wendungen wie „ „allerdings aus einer mehrstimmigen Chanson“, „von Laien gut ausführbar und dennoch intime Wirkung entfalten“ oder „eine weitere Gruppe eröffnet sich durch plumpe Fälschungen“.

Erfreulich ist dann doch, und das ist ja die Hauptsache, die Ausführung des Unternehmens durch die drei Gesangssolisten, die sich ganz uneitel ihrer Aufgabe gestellt haben. Der Sopran von Andrea Chutak ist klar und mädchenhaft, bemüht sich mit Erfolg um eine schöne Schlichtheit und kann in der Höhe leuchten. Wenn die Laute begleitet, nimmt die Stimme einen geradezu kindlichen Klang an und wird a cappella angenehm instrumental geführt. Julian Rohde hat einen angenehm timbrierten und klar konturierten Tenor, singt in der Höhe allerdings recht offen. Grundsolide ist der Bariton von Matthias Jahrmärker. Die Instrumentalisten sind  Andreas Schulz (Klavier), Jakub Sawicki, Robert Knappe  und Matthias Jakob  (Orgel),  Olaf Neun (Laute), Lidiya Naumova (Gitarre), Michael Schepp und Susanne Walter (Violine), Stefan R. Kelber (Viola), Ekaterina Gorynina (Cello) und Olaf Neun (Erzlaute) und Almute Zwiener (Horn).

Wegen der Corona-Pandemie müssen die eigentlich vorgesehenen Konzerte, darunter in der Potsdamer Friedenskirche, wo die Aufnahmen entstanden, ausfallen. Ob sich genügend „Ave-Maria“-Begeisterte für die fünf CDs interessieren (ANTES BM179001)? Ingrid Wanja

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Doppelrolle

 

Sie kann alles: Spitzentanz, singen, dirigieren. Ihre Brüsseler Lulu hält eine DVD fest (2 DVD Belair BAC 109), eine zweite dokumentiert ihr Debüt als Operndirigentin mit The Rake‘s Progress in Göteborg (2 DVD Accentus Musicus ACC 20420). Die kanadische Sopranistin und Dirigentin Barbara Hannigan, die vor Tom Randles Maler im fast durchsichtigen, schwarzen Dessous-Zweiteiler auf Spitze tänzelt, was ihr formidabel gelingt, ist mit gestochenen Spitzentönen, hinreichender Mittellage und nicht ganz so präsenter Sprechstimme, lockenden Girlanden in ihrem Lied („Wenn sich die Menschen um meinetwillen umgebracht haben“) und sehrender Hingabe (O, Freiheit! Herr Gott im Himmel“) eine darstellerisch fesselnde, sich ständig wandelnde, blonde, rote Lulu von großer Präsenz und Ausstrahlung. Klar, sie ist eine Projektionsfläche. Und sie ist eine Tänzerin. Bereits im Prolog, dem Krzysztof Warlikowski eine weitere Erzählung – über Lilith – vorangestellt hat, präsentiert der Tierbändiger (nicht ganz akzentfrei Iwan Ludlow, der als Athlet Rodrigo von faszinierender Ausstrahlung ist), selbst ein Reptil im glitzernden Batman-Schuppen-Kostüm, statt der Schlange eine kleine Ballerina und somit dem tanzenden Knaben (Auguste: Jesse Callaert) eine Partnerin (Petite Lulu: Sarah Rawart). Ein Thema, Kindesmissbrauch, ist gleich angeschlagen. Blitzschnell der Wechsel vom Showvorspiel mit einer dem Publikum frontal gegenübersitzenden Abendgesellschaft auf der Bühne und der von Warlikowskis treuer Ausstatterin Malgorzata Szczęśniak bestückten Glasvitrine, später das Atelier des Malers, in das menschliche Bestiarium, in dem Lulu verführt und verführt wird. Dazu ein glitzernder Vorhang, dahinter Teile einer Rolltreppe und die Videos von Denis Guéguin, deren Bilderflut und Voyeurismus im Théatre de la Monnaie besser zu erfassen war als auf der DVD. Dietrich Henschel, mit unattraktiver Perücke, ist ein sanfter, nahezu als einziger ganz und gar idiomatisch singender Dr. Schön, Alwa, der korrekte, blasse Charles Workman, ebenfalls im braven Anzug mit Krawatte, eher sein Bruder als Sohn. Warlikowski gibt den Szenen die fahrige Betriebsamkeit und Beliebigkeit eines Fernseh-Krimis, verliert aber sein Thema, die Unschuld der Kinder, nie aus dem Blick: die kleinen Tänzerinnen und Tänzer stehen vor dem Kasten mit der Leiche des Malers, derweil Rosalba Torres zur Verwandlungsmusik zwischen der zweiten und dritten Szene des 1. Aktes als schwarzer Schwan ein intensives Solo gestaltet und die gleichfalls in Ballerinenkostüm geschlüpfte Lulu als schwarze Odile Alwa verführt, woraus Warlikowski mit den Eleven und Elevinnen der Koniglijke Balletschool Antwerpen, Alwa und Lulu eine seiner dekorativ aparten, verlegenen Szenen formt, in denen der fin-de-siècle Geist von Frank Wedekinds 1895/1904 erdachter Provokation und Kunstfigur in die Gegenwart drängt. Woraufhin am Ende des ersten Aktes (Dr. Schön: „Jetzt kommt die Hinrichtung“) Torres in einer großen stummen Szene (Choreographie: Claude Bardouil) den sterben Schwan gibt. Paul Daniel und das Orchestre symphonique de la Monnaie spielen die Cerha-Fassung als aufbäumende, spätromantisch zupackende, mir manchmal etwas zu lautstark überwältigende Theatermusik, um sich gegen die Bilderflut zu behaupten. Nicht alles entschlüsselt sich, nicht jede der sich im Hintergrund quälenden Gestalten wird klar, mache Figuren bleiben papieren. Die Situationen im zweiten Akt pendeln vor den Ballettstangen zwischen Klischee, Verlegenheit und Regieroutine, die Tanzboden-Attitüden des dritten Akts mit den im Schaukasten balancierenden Kindsfrauen wirken leicht kunstgewerblich, doch in der zweiten Szene mit den kleinen Ballerinen in ihren Metallbetten, der als weißer Schwan durch Londons rieselnden Schnee tänzelnden und von Jack the Ripper in der Vitrine abgestellten Lulu und den gemeuchelten Schwänen, des schwarzen und des weißen, erreicht Warlikowski, dessen Regiezutaten 2012 noch nicht so vorhersehbar waren, neuerlich eine Intensität, die sich auf der DVD vermutlich nur teilweise vermittelt. Natascha Petrinsky als Geschwitz, Pavlo Hunka als Schigolch, Frances Bourne u.a. als Punk-Gymnasiast und der interessante Albrecht Kludszuweit als Marquis wirken seltsam unerheblich.

Sechs Jahre später, im Dezember 2018, keine rätselhaften Zeichen, Symbole, verschlungenen Nebenhandlungen und irritierenden Bilder. Eine schlichte Black Box auf der Bühne des Göteborger Konserthuset ist die Kiste allen Übels mittels derer Linus Fellbom Igor Strawinskys The Rake’s Progress erzählt. Die Seitenwände sind herabgeklappt und geben den Blick frei auf das dahinter spielende Gothenburg Symphony Orchestra, das Gothenburg Symphony Vocal Ensemble und Barbara Hannigan, die bei ihrem Debüt als Operndirigentin wie ihre Hauptfigur einen Pakt mit dem Teufel einhergegangen ist und noch die Last des gesamten Projekts zu stemmen und u.a. mittels ihrer „Equilibrium“-Initiative zur Förderung junger Sänger aus 350 Bewerbern die Besetzungen für die Produktion auszuwählen hatte. Wieviel Spaß ihr und allen Mitwirkenden das Projekt, über das man mehr in dem einstündigen Film Taking Risks erfährt, gemacht hat, spürt man allenthalben in dieser animierten Aufführung und der frisch unverbogenen Hingabe der jungen Sänger. Der vom Light-Design kommende Fellbom taucht das Geschehen in ein karamellfarbenes Sepiabraun und gibt dem halbszenischen Geschehen eine wohltuende ironische Distanz. Zugleich gelingt es ihm, die Figuren in ihren schönen, abstrahierten 18. Jahrhundert-Kostümen (Anna Ardelius) als unsere Zeitgenossen zu zeichnen und Anteilnahme für den leichtfertigen Tom und seine schmerzvoll liebende Anne zu erwirken. Wenn der charismatische John Taylor Ward mit zynischem Zucken des Mundes als Nick Shadow auf Annes Schmerz „No word from Tom“ reagiert, was Michael Beyers Film wie nebenbei einfängt, drückt er damit mehr aus als manche Inszenierung. Die große Szene der Anna am Ende des ersten Akts macht Aphrodite Patoulidou, hingebungsvoll begleitet von Hannigan, die sich bereits 2010 mit Strawinskys Ballettoper Le renard für eine zweite Karriere als Dirigentin warmgelaufen hatte, zum zentralen Moment der Aufführung. Mit schmalem, lyrischem Tenor singt William Morgan den strubbelköpfigen, mit leichtgläubiger Zuversicht in sein Unglück laufende Tom. Morgans Ton ist zart und nicht sehr individuell und kann sich trotz des dahinter platzierten Orchesters nicht immer sicher behaupten. Kate Howden ist eine grell deftige Baba, irritierend die Besetzung von Annes Vater und Mother Goose mit Erik Rosenius Rolf Fath

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Sullivan, Cellier & Ford

2018 veranstaltete die National Gilbert and Sullivan Opera Company eine professionelle Wiederbelebung von Haddon Hall seit etwa hundert Jahren. Obgleich es bloß zwei Aufführungen gab, die John Groves für ORCA rezensierte, stieß die Produktion auf großes Interesse, allein schon deshalb, weil ein Großteil der Musik Sullivan von seiner besten Seite zeigt. Das nunmehrige Vorhandensein von Aufführungsmaterial führte dazu, dass sich die Arthur Sullivan Society und andere dazu entschlossen, eine Einspielung mit dem BBC Concert Orchestra und den BBC Singers zu sponsern.

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Sullivan hatte bereits zwei Bühnenwerke komponiert, welche in der britischen Geschichte verwurzelt waren (The Yeomen of the Guard und Ivanhoe), und er wollte, dass sich Gilbert an einem weiteren beteiligt. Aber nach dem „Teppichstreit“ war dies nicht möglich. Als D’Oyly Carte ein neues Werk brauchte, um The Gondoliers am Savoy Theatre zu ersetzen, wandte er sich an Sidney Grundy, einen erfolgreichen Dramatiker, der bereits The Vicar of Bray geschrieben hatte, was 1892 am Savoy wiederaufgenommen wurde. Sullivan war führend in der Gestaltung derjenigen Sorte von Libretto, die ihm vorschwebte, und die Zusammenarbeit mit Grundy stellte sich als überaus freundschaftlich heraus. Der Librettist stellte ihm mindestens zwei Fassungen jeder musikalischen Nummer zur Auswahl.

Obwohl der Komponist Anfang 1892 mit der Arbeit an dem Projekt in Monte Carlo begann, führte ein Wiederauftreten seiner langjährigen Nierenerkrankung, die ihn beinahe umbrachte, leider womöglich dazu, dass auf hoch inspirierte Nummern weniger einprägsamen Passagen folgten, etwa das Finale des ersten Aktes. Weitere Informationen zur Entstehung von Haddon Hall und eine kurze Inhaltsangabe finden Sie in meinem vorherigen ORCA-Artikel.

Trotzdem sind die besten Ausschnitte, wie etwa Dorothys Solo im ersten Aufzug When Yestereve I knelt to pray, hervorragend. Diese Nummer wird als Einleitung des ersten Aktes verwendet, der ungewöhnlich ist, beginnt er doch mit einem Chor abseits der Bühne: Ye Stately Homes of England.

Dorothy, die Heldin, ist in den sehr fähigen Händen von Sarah Tynan, deren Diktion als vorbildlich zu bezeichnen ist. (Sollten Sie nicht einverstanden sein, finden Sie das Libretto einschließlich der gesprochenen Dialoge online.) Lady Vernon wird von Fiona Kimm formidabel gesungen; ihr Lied (oder besser Arie?) Queen of the Garden im dritten Akt erinnert stark an Katishas Gesang in The Mikado. Den schneidigen John Manners übernimmt Ed Lyon, ausgestattet mit einem Timbre, das immer wieder an den verstorbenen D’Oyly Carte-Tenor Thomas Round erinnert, insbesondere bei The earth is fair im ersten Aufzug. Die komische Rolle des Oswald, Manners‘ Diener, wird stilvoll von Ben McAteer interpretiert, dessen Akt-Eins-Nummer Come Simples and Gentles einen der Höhepunkte darstellt, nicht nur, weil sie so gut umgesetzt wurde, sondern auch wegen Sullivans erfinderischer Orchestrierung der dritten Strophe. Der erfahrene Bassist Donald Maxwell singt die andere komische Rolle des McKrankie. Wiederum gefällt sich Sullivan darin, das Orchester wie einen Dudelsack klingen zu lassen. Henry Waddington demonstriert seine glänzende Bassstimme in der Rolle des Sir George Vernon. Darüber hinaus brilliert das BBC Concert Orchestra im ländlichen Tanz des ersten Aktes sowie im orchestralen Sturm des zweiten.

In viktorianischen Zeiten erwarteten die Zuschauer häufig einen einaktigen „curtain raiser“ sowie ein sogenanntes „after piece“. Zur Erinnerung: Trial by Jury begann seine Existenz als after piece für La Périchole. Aus diesem Grund haben sich die Produzenten dieser CDs dazu entschlossen, zwei derselben, die am Savoy in den frühen 1890er Jahren verwendet wurden und nach wie vor im D’Oyly Carte-Archiv samt Orchestrierungen existieren, zu inkludieren. Beide wurden kürzlich als Teil der Musica Britannica von Stainer & Bell veröffentlicht.

Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass es „Haddon Hall“ bereits 2000 in einer ersten Einspielung mit dem Prince Consort Edinburgh unter David Lyle bei Divine records gab und noch  erhältlich ist… (jpc)

Der curtain raiser ist Mr Jericho, eine einaktige Operette von Ernest Ford, der zu D’Oyly Cartes musikalischem Stab gehörte. Sie wurde 1893 vor Haddon Hall aufgeführt, wobei die Zweitbesetzungen für das Hauptwerk verwendet wurden und eine Handlung im Gilbert-Stil mit einem Text von Henry Greenbank (der später die Bücher für Jones‘ The Geisha and a Gaiety Girl schrieb) vorgetragen wurde. Später wurde diese Operette als Begleitung zu Fords abendfüllender Oper Jane Annie gespielt, die auf einem Buch von Conan Doyle und J. M. Barrie basiert. Die Musik erwies sich als „melodiös, hell und angenehm“ und deutlich in Sullivans Stil, was nicht verwunderlich ist, studierte er doch mit diesem an der Royal Academy of Music.

Als after piece fungiert eine weitere Operette, Captain Billy von François Cellier. Sowohl François als auch sein Bruder Alfred (der Komponist von Dorothy und The Mountebanks) waren zusammen mit Sullivan Chorsänger an der Chapel Royal gewesen. 1879 wurde er zum Musikdirektor der Opera Comique ernannt und verblieb die meiste Zeit seines Lebens in verschiedenen Funktionen bei der D’Oyly Carte-Organisation. Er komponierte eine Reihe kurzer Opern für das Savoy, doch leider ging ein Großteil der Stücke verloren, da sie nie gedruckt wurden. Beide Einakter werden von der Besetzung von Haddon Hall superb aufgeführt, als ob sie jahrelang mit ihnen zu tun gehabt hätten, nicht nur für diese Aufnahme. Sie beide sind hörenswert und in keiner Weise „zweitklassig“.

Für die musikalische Leitung dieser drei Werke zeichnet der stilvolle und überaus befähigte John Andrews verantwortlich. Die herausragende Einspielung entstand im ehemaligen Rathaus von Watford (dem heutigen Watford Coliseum) und verfügt über eine exzellente Akustik – wenn man in der Lage ist, den Straßenlärm zu unterdrücken (es steht an einem riesigen Kreisverkehr), was dem Toningenieur Dexter Newman gelungen ist (Dutton 2 CDLX 7372). John Groves (Dank an ORCA / Operetta Research Center Amsterdam; Übersetzung Daniel Hauser)

Stimmwunder aus Venezuela

 

Bei den Händelfestspielen Halle 2018 machte der junge, damals noch unbekannte Sopranist Samuel Moriño in der Eröffnungsproduktion Berenice, Regina d’Egitto als Alessandro erstmals auf sich aufmerksam. Der Sänger hatte bislang nur in Konzerten mitgewirkt und an diesem Hallenser Abend sein Debüt auf einer Opernbühne gegeben. Umso mehr erstaunten seine szenische Souveränität und das lustvoll-lockere Spiel. In diesem Jahr sollte er nach Halle zurückkehren, um bei den Festspielen die Titelrolle in der Neuinszenierung des Teseo zu singen. Die Pandemie machte auch dieses Projekt – wie so viele andere im In- und Ausland – zunichte. Orfeo wartet mit einer willkommenen Alternative auf und bringt das erste Recital mit dem Sänger heraus, das im Oktober 2019 in Halle aufgenommen wurde und Arien von Händel und Gluck unter dem Titel Care pupille vorstellt (C998201). Dieser ist der Arie des Oronte aus Glucks Il Tigrane entnommen, welche als eine von drei CD-Weltpremieren das Ende des Programms markiert. Mit ihr wird die Anthologie mit 13 Nummern imponierend abgeschlossen. Samuel Mariño besitzt eine Ausnahmestimme, wie sie heute kaum noch zu finden ist. Sie besticht in ihrer Klangschönheit, dem sinnlichen Reiz und der technischen Perfektion.

Die Gluck-Auswahl beginnt mit Ausschnitten aus Antigono, darunter Scena ed Aria der Berenice, die dreiteilige Sinfonia und die Arie des Demetrio „Già che morir deggio“. Die Komposition entstand 1755 als Auftragswerk für das Teatro Argentina in Rom. Da Frauen damals nicht auf der Bühne in Erscheinung treten durften, wurde die Rolle der Berenice von dem Soprankastraten Giovanni Belardi wahrgenommen, der vor allem in Frauenrollen reüssierte. Berenice ist in ihrer großen Szene „Berenice, che fai“ in einer existentiellen Situation, da sich ihr geliebter Demetrio aus Verzweiflung das Leben nehmen will („Già che morir“). Den inneren Aufruhr Berenices schildert Mariño mit bemerkenswert reichen stimmlichen Mitteln. In ihrer Nähe zu Glucks Orfeo ist Demetrios Arie orchestral wie vokal ein Stück von mirakulöser Schönheit. In der dreiteiligen Sinfonia hat das begleitende Händelfestspielorchester Halle unter Michael Hostetter Gelegenheit, mit musikantischem Schwung zu glänzen. Das Allegro wird befeuert von stürmischem Bläsergeschmetter, das Andante hat graziöse Delikatesse, das Presto ist ein fulminanter Ausklang. Obwohl das Orchester den Namen des Hallenser Meisters trägt,  überzeugt es in den Gluck-Teilen durch rasanten Drive oder kantables Melos sogar noch mehr.

La Sofonisba – eine Rarität und gleichfalls erstmals im Katalog – wurde 1744 im Mailänder Teatro Regio Ducale mit der Sopranistin Rosalia Andreides in der Rolle des Königs uraufgeführt. Dessen Arie „Tornate sereni“ ist ein lieblich-empfindsames Stück, das Mariño fein auskostet. Der Titel von Glucks Oper La Corona steht derzeit unter keinem guten Stern, aber die Arie der Atalanta, „Quel chiaro rio“, ist in ihrem Wechsel von Allegro- und Adagio-Passagen sowie den anspruchsvollen Verzierungen ein willkommener Titel, in dem Mariño brillieren kann. Wieder bewundert man das virtuose Vermögen des jungen Sängers, seinen Einsatz, auch die vertracktesten Koloraturen mit  furchtloser Attacke anzugehen und sie bewundernswert zu meistern.

Im ersten Teil der CD sind Arien von Händel zu hören, beginnend mit dem Alessandro aus der Berenice – also jenem Werk, in welchem Mariño vor zwei Jahren in Halle gefeiert wurde. Dessen Auftrittsarie „Che sarà quando amante accarezza“ ist geschmückt mit tänzelnden Koloraturen und feinen Trillern, die Mariño souverän bewältigt. Die Stimme hat hier einen fast kindlich-keuschen Klang, aber der zärtlich-schmeichelnde Ton dürfte viele Counterliebhaber entzücken.

Es folgen drei Arien des Meleagro aus Atalanta, Er ist König von Ätolien und in die Jägerin Atalanta verliebt. In der ersten Arie, „Care selve“, verdeutlicht er seine Liebessehnsucht mit schmachtendem Ausdruck. Mariño sorgt hier für einen ersten Höhepunkt mit sphärischen Tönen von betörender Klangschönheit. Die Partie schrieb Händel für den 22jährigen Soprankastraten Gioacchino Conti (genannt Giziello), der in London ein Konkurrent von Farinelli war. In der nächsten Arie, „Non sarà poco“, ist Mariños Stimme von hohem sinnlichem Reiz und bravourös in der Absolvierung des virtuosen Zierwerks. Das wiegende „M’allontano, sdegnose pupille“ wird mit lieblicher Anmut ausgebreitet und imponiert durch die mühelose Beherrschung der Extremnoten. Den Abschluss des Händel-Teiles bildet die Arie des Sigismondo, „Quella fiamma“,  aus Arminio, in welcher der Sänger in einen virtuosen Dialog mit der Oboe tritt. Auch in dieser Rolle war der Sopranist Gioacchino Conti besetzt – noch einmal eine Herausforderung für Samuel Mariño, die er souverän meistert  (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)Bernd Hoppe

Es lacht der Mai

 

„Es lacht der Mai! Der Wald ist frei!“ singt der Druide, und der Chor der Druiden und des Volks bricht ein mit „Die Flamme lodre durch den Rauch! Begeht den alten heilgen Brauch!“ Die Zeilen über frühmittelalterliche Riten stammen von Johann Wolfgang von Goethe, der 1799 in einer Ballade heidnisches und christliches Gedankengut symbolhaft verknüpfte, auf „dass ein Altes, Gegründetes und, Geprüftes, Beruhigendes durch auftauchende Neuerungen gedrängt, geschoben, verrückt und wo nicht vertilgt, doch in den engsten Raum eingepfercht werde“. Die Vertonung der zwölf Strophen sollte Carl Friedrich Zelter übernehmen, der sich der Aufgabe elegant entledigte, indem er sie seinem Schüler Felix Mendelssohn Bartholdy weiterreichte. Immerhin hatte Goethe das Wunderkind, das Zelter ihm 1821 in Weimar vorgestellt hatte, als zweiten Mozart begrüßt. Mendelssohn nahm die Aufgabe artig an und brachte die Kantate für Soli, Chor und Orchester 1833 in Berlin und 1843 in einer endgültigen Form in Leipzig zur Uraufführung. Die erste Walpurgisnacht wurde eines von Mendelssohns beliebtesten Chorwerken und Ausgangspunkt zahlreicher musikalischer Hexensabbats. In seiner im April 2019 in der Stuttgarter Liederhalle entstandenen Aufnahme mit der Klassischen Philharmonie und dem Kammerchor Stuttgart unterstreicht Frieder Bernius (Carus 83.503) die volkstümlichen Züge dieser Musik und schafft in der 30minitigen Abfolge eine dichte, zwar nicht leidenschaftliche, doch recht liebliche theatralische Szene, beginnend mit den romantisch lichten Naturbeschreibungen in der zweiteiligen Ouvertüre (Das schlechte Wetter, Der Übergang zum Frühling) bis zum akzentuierten Schlusschor. Das Orchesterspiel ist durchsichtig, oftmals fast schwebend; der pulsierende Grundton verbindet die Nummern zu einem geschlossenen Tableau. Einer der schönste Moment gehört dem Tenor: Der jungen David Fischer ist sich der Aufgabe bewusst und singt „Es lacht der Mai“ mit lichtem Strahl, exquisitem Stilgefühl und vornehmem Ton. Renée Morloc drosselt die Glut ihres dramatischen Mezzosoprans für das alte Weib, der erfahrende Lied- und Konzertsänger Stephan Genz ist ganz auf die noble Haltung des Priesters eingestellt; dazu David Jerusalem (Bass). Angehängt sind drei Chorszenen aus der bereits 2004 entstandene Aufnahme der Schauspielspielmusik zu Oedipus auf Kolonos, in der die Textdeutlichkeit und Sorgfalt des Kammerchors Stuttgart und die vielfach – auch bei Carus – unter Beweis gestellte Mendelssohn-Affinität von Frieder Bernius deutlich werden. Rolf Fath

Lemoynes Oper „Phèdre“ zum Zweiten

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Die Phädra-Vorlage des Eurypides hat neben Racine (den Schiller sogar ins Deutsche übersetzte) auch manche Komponisten inspiriert, so Simone Mayr oder Ildebrando Pizetti (nach D´Annunzio). Und auch Jean-Baptiste Lemoyne, ein Zeitgenosse Cherubinis (etwas jünger), der 1780 seine Phèdre auf die Bühne in Paris brachte. Eine erste „Sparversion“ für eine Aufführung bei Maria-Antoinette zu Hause kam bereits beim Palazzetto heraus, operalounge.de hat darüber bereits in höchsten Tönen berichtet (bemerkenswerter Weise scheint nun diese erste Ausgabe aus dem Katalog gefallen zu sein, weder jpc noch amazon haben sie mehr im Angebot, was schade ist und nach Verkaufsstrategie aussieht; also sollten wir – die wir sie haben – uns daran freuen, denn sie hat ihre Berechtigung).

Und heureka – es gibt diese wunderbare Oper nun auch mit großem Orchester in einem Mittschnitt aus Budapest vom 11. September 2019 erneut beim Palazzetto/ Note 1! Müpa (der ungarische Konzertsaal und die Kulturorganisation gleichen Namens) übertrugen für die Fans bereits den  recht löcherigen Video-Livestream und Radiomitschnitt) und ließen das akustische Wasser in den Ohren zusammenlaufen. Die Besetzung ist gegenüber der Pariser Aufführung von 2017 leicht verändert (Phèdre: Judith van Wanroij.; Œnone: Melody Louledjian.; La grande prêtresse: Ludivine Gombert.; Hyppolite: Julien Behr.; Thésée: Tassis Christoyannis.; Un grand de l’État / Un chasseur: Jérôme Boutillier.; Purcell Choir. Orfeo Orchestra (on period instruments). Conductor: György Vashegyi)

„Phédre“ am Théâtre des Bouffes du Nord/ Szene/ Foto Théâtre de Caen/ Gregory Forestier

Der Klang ist   nicht so außerordentlich aufregend, dazu „boomte“ die Konzert-Halle etwas zu viel. Aber die außerordentlich gut ausgestattete Buch-CD mit zweisprachigem Libretto und hervorragenden Aufsätzen  ist ein absoluter Gewinn. Also  Freude. Freude. Freude…

In Paris konnte man sie 2017 (nach Präsentationen am Théâtre de Caen, Rouen und auf dem Weg zum Gastspiel in Moskau –  am 8. Juni 2017 neu erleben) in einer an zeitgenössische Tradition des Königlichen Hofes angelehnten  Reduktion vom Théâtre des Bouffes du Nord: in einer Bearbeitung für 10 Instrumente und 4 Sänger von Benoit Dratwicki (Musikwissenschaftler und Directeur artistique du Centre de Musique Baroque de Versailles) und Julien Chauvin, letzterer als 1. Geiger am Pult des Concert de la Loge. Der Klang war natürlich ein anderer, als das originale, größere Orchester hätte bieten können. Aber so sehr man maulen mag – immerhin hörte man dieses Werk in der Piccini-Nähe erstmals. Die Verse sind von Jean-Benoit Hoffmann, der ja auch die Alexandriner für die Médée geschrieben hat.

Für die nun mit vollem originalem Orchester versehene Neuausgabe ist man angesichts eines wirklich sehr überzeugenden Solistenbildes, namentlich Judith van Wanroij (man erinnert sich an ihre leuchtende Stimme in den Danaides) und und des strammen Julien Beer als Phèdre und Hippolyte,vor allem aber wegen des fulminanten und an Shirley-Quirk erinnernden Tassis Christoyannis, mehr als heureux. Wenngleich mir György Vashegyi als musikalischer Leiter etwas phlegmatisch scheint. Was für ein Luxus, nun dieselbe Oper in zwei Versionen zu haben. Danke  (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/.). G. H.

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„Phédre“: Vignette für den Thésee der Uraufführung/ BNO/ OBA

Zur Oper einige Anmerkungen von Alexandre Dratwicki: Die Wiederentdeckung von Phèdre.Die Auferstehung eines in Vergessenheit geratenen Werkes ist eine noch größere Herausforderung, wenn sein Schöpfer selbst keine Spuren in der Geschichte hinterlassen hat. Denn es ist im Prinzip immer einfacher, dass ein Interesse an einer unbekannten Komposition besteht, wenn sie von Berlioz, Gounod oder Debussy stammt. Aber von Lemoyne? Zumindest im Falle von Phèdre weckt der Titel Neugier, auch wenn er sofort den Schatten des Stückes von Racine heraufbeschwört und die Unmöglichkeit, dieses zu übertreffen.

Seit 2009 hat Palazzetto Bru Zane die Periode, die in Enyzklopädien als „Gluck und seine Nachahmer“ bezeichnet wird, eingehend untersucht. Aufeinanderfolgende Aufnahmen von Werken von Gossec, Grétry, Sacchini, Salieri, Vogel, J. C. Bach, Cherubini und Méhul haben die Vielfalt und Originalität dieser Generation offengelegt, die oft dem Gluck’schen Modell entspricht oder es zweckmäßig umgeht. Jeder Komponist bietet auf seine Weise eine neue Behandlung der reformierten Tragédie lyrique, der Konzeption einer Oper, die von dekorativen und komischen Elementen befreit ist und sich eher auf die Erforschung und den Ausdruck individueller denn kollektiver Gefühle konzentriert.

Jean-Baptiste Lemoyne, Büste von Noël-Nicolas Coypel, 1730, Terracotta/ theredlist.com

Diese Regungen der klassischen Seele kündigen bereits die romantische Oper an, die das Liebesdrama mit politischen und religiösen Verstrickungen, geschmückt mit pompösen Bühnenbildern und prächtigen Balletten, verkomplizieren sollte. Während der vorbereitenden Recherchen dieser Ausgrabungen tauchte der Name von Jean-Baptiste Lemoyne viele Male auf, hauptsächlich in Verbindung mit zwei Titeln, Électre sowie Phèdre. Trotz der verächtlichen Ironie, die ihm Berlioz sechzig Jahre später zukommen ließ, war es verlockend, die Gründe für die Erfolge dieses mysteriösen Komponisten aufzudecken und zu erklären, warum er von der Nachwelt völlig vergessen wurde. Um diese Untersuchung durchzuführen, haben wir uns entschieden, Phèdre (1786) wiederzubeleben. Wie der Leser auf den nachfolgenden Seiten ausführlicher erfahren wird, beruhte Lemoynes Triumph zu einem große Teil auf seiner engen Beziehung zu einer Künstlerin, die über außergewöhnliche Ressourcen hinsichtlich der Interpretation verfügte: Madame Saint-Huberty, die man als Verdi- und Wagner-Sängerin avant la lettre bezeichnen könnte. Aus den Presseartikeln der damaligen Zeit können wir schließen, dass sie wahrscheinlich eine Mezzosopran-Stimme hatte, deren hohe Töne über Gebühr beansprucht wurden. Dies würde teilweise die Kürze ihrer Karriere erklären. Es sei daran erinnert, dass es zu diesem Zeitpunkt für diesen niedrigeren Stimmumfang keine wesentlichen Rollen im Standardrepertoire gab und dass sie daher nach ihrem Antritt an der Opéra gezwungen war, Partien zu übernehmen, die in stimmlicher Hinsicht nicht ideal zu ihr passten. Die vielen Transpositionen und Striche im Orchestermaterial der Opéra unterstreichen die Herausforderungen, die sie trotz ihrer Willenskraft nicht bewältigen konnte. Wir werden auch weiter unten in diesem Band erfahren, dass das Publikum, obschon es von ihrer Bühnendarbietung berührt war, davon irritiert und darüber missvergnügt war, dass die Sängerin ihren Part in Übereinstimmung mit dem von Rosseau ironisch beschriebenen urlo francese („französischer Schrei“) „heraus schmetterte“: nämlich die Praxis, auf Kosten der Textverständlichkeit und der Absichten des Librettisten so laut wie möglich zu singen.

Aber in Phèdre gibt es so viele Rezitative und Arien von gedämpften und verfeinertem Charakter, dass es besser gewesen wäre, einen Stimmtyp zu bevorzugen, der demjenigen der Madame Saint-Huberty diametral entgegengesetzt ist. Phèdre bricht erst nach langen meditativen Episoden in Wut aus, während sie die Turbulenzen in ihrem Herzen geheim hält oder sie fast während der gesamten Oper mit Diskretion behandelt. Für diese Aufnahme hat Palazzetto Bru Zane diese Rolle mit Judith van Wanroij besetzt, einer Künstlerin, welche sich durch eine berührende Darstellung auszeichnet, die Bedeutung des Wortes zu schätzen weiß – obwohl sie keine französische Muttersprachlerin ist – und die herausragende Fähigkeit besitzt, die Poesie zu vermitteln und die Farbigkeit des Textes wiederherzustellen.

Am Tage nach der Uraufführung stimmte die Presse darin überein, dass die Partitur ein Meisterwerk sei, welches denselben anhaltenden Erfolg verdiene wie Glucks Alceste, Armide und seine beiden Iphigénie-Opern. Gleichwohl ermutigte man den Komponisten, in den ersten dreißig Minuten, der hauptsächlich aus religiösen Chören, Märschen und Tanzeinlagen bestand, Kürzungen vorzunehmen, da diese den dramatischen Ausdruck verlangsamten und die Zuschauer verärgerten, die ungeduldig darauf warteten, Phèdres Monologen zu lauschen. 2019 stellte sich die Frage, ob wir das Werk dergestalt „verbessert“ präsentieren sollten (und damit in jener Form, in der es anschließend etwa zwanzig Jahre lang aufgeführt wurde). Gleichwohl haben wir es vorgezogen, eine komplette Fassung anzubieten, damit jeder Hörer selbst beurteilen kann, ob die 1786 geäußerten Ansichten relevant waren.

Der Musikwissenschaftler und Prinzipal des Palazetto, Alexandre Dratwicki (Palazetto Bru zane)

Obwohl es glücklicherweise keine von einander abweichende Quellen zu Phèdre gibt, besitzen wir zwei komplementärer komplette Partituren: Eine aus einem zeitgenössischen Druck, die andere als Manuskript, das von einem Kopisten der Oper erstellt wurde. Abgesehen von einigen Details der Dynamik und der Transposition der Arien, die für die Titelinterpretin der Uraufführung in einer zu hohen Tessitura lagen, besteht der einzige bedeutsame Unterschied in der Hinzufügung von Italianate-Elementen im gesamten Part der Phèdre selbst, die sich nur in der Manuskriptpartitur befinden. Diese Neufassung der Gesangslinie ist wahrscheinlich eine Reaktion auf die Mode, welche Sacchini und Piccinni seinerzeit in Paris etablierten. Es veranschaulicht auch die „hübsche italienische Manier“, welche Kommentatoren der damaligen Zeit Lemoyne in Phèdre zuschrieben. Wenn man diese Seiten durchblättert, merkt man, dass es größtenteils an Madame Saint-Huberty lag, dass der Autor dieses günstige Urteil hinsichtlich der angeblichen Übernahme des italienischen Geschmacks abgab. Für Palazzetto Bru Zane besteht kein Zweifel daran, dass die Qualität der Partitur eine Rückkehr ins Repertoire rechtfertigen würde, so wie Cherubinis Médée im 20. Jahrhundert dank Maria Callas den Weg zurück ins Opernhaus fand. Médée teilt sich mit Phèdre das Talent desselben Librettisen: François-Benoît Hoffman. (Den Artikel entnehmen wir dem  CD-Buch des Palazetto Bru Zane; Übersetzung ins Deutsche von Daniel Hauser/ Abbildung oben: „Phedre“ von Alexandre Cabanel/ Wikipedia/ Musée Fabre Paris.)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Nach langem Streit

 

Das ganz große Staunen kommt erst ganz zum Schluss beim Lesen von Wolfgang Jansens Buch über Willi Kollo, den Mittleren in der Generationenreihe von Walter, Willi und schließlich René Kollo, dem berühmten Wagnersänger. Da spricht nämlich der Autor unter anderen auch der Enkelgeneration, die  eigentlich alles daran setzte, dass sein Buch nicht erscheinen durfte, seinen Dank für die gewährten Gespräche aus, musste er doch im davor stehenden Nachwort von den Schwierigkeiten berichten, die ihm Marguerite und René Kollo bereitet hatten, die dazu führten, dass das Manuskript lange Zeit  ungedruckt in der Schublade liegen bleiben musste. Der Leser beginnt spätestens an dieser Stelle darüber nachzudenken, warum das dickleibige Buch völlig auf Bildmaterial verzichtet, ob die Erben keines zur Verfügung stellen wollten, ob der Verfasser oder der Verlag vor eventuell damit verbundenem Einspruch zurückschreckten. Dabei kann man sich vorstellen, dass interessantes Material in Hülle und Fülle hätte vorhanden sein müsssen.

Aber auch ohne Bilder ist das Buch ein so interessantes und lesenswertes wie objektiv und ohne Ranküre, ja wohl mit viel Nachsicht gegenüber seinem Gegenstand sich gebendes, selbst wenn man mittlerweile auf einen hohen Stapel von neuen Büchern aus und über der/die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts im Bücherregal blicken kann, seien es Biographien über Franz Lehár und Wilhelm Furtwängler, über die Brüder Rotter oder generell das tolle Leben in den golden genannten Zwanzigern.

Im Vorwort äußert sich Jansen über die Voraussetzungen für das aufregende kulturelle Leben zur Zeit Walter und Willi Kollos, die Landflucht, Industriealisierung und Liberalisierung, Gewerbefreiheit, Freizügigkeit, Konzessionsfreiheit und die Emanzipation der Juden in Deutschland. Das wird so knapp wie einleuchtend dargestellt, überzeugt davon, dass die Zeit auch für neue Gattungen auf den Bühnen Berlins und nicht nur dort gekommen war, so für die „Posse mit Musik“ und den „Schlager“.

Es schließt sich mit dem ersten Kapitel ein Bericht über Kindheit und Jugend Walter Kollos, der eigentlich  Kollodzieyski hieß, an. Die frühe Distanz zu den aus Königsberg nach Berlin gehenden Eltern, die Tätigkeit des Vaters Walter als Pianist in Kneipen, als Dirigent, Textdichter für Claire Waldoff, Komponist einaktiger Operetten werden erwähnt, das kurze Intermezzo in einem Harzburger Internat, in dem der Schüler Willi bereits mit ersten Texten auf sich aufmerksam macht. Bereits in diesem Abschnitt wird eine sehr leserfreundliche Gliederung des Buches deutlich, das in jedem Kapitel zur Erweiterung des Wissens Einschübe über den Lebensweg Willis bestimmende Personen bietet sowie unter dem Stichwort „Dokumente“ Quellentexte Lieder, Kritiken, Zeugnisse von Zeitgenossen und vieles mehr.

So wie im folgenden Kapitel, das die Zeit von 1921 bis 1928 und damit den ersten Erfolgen umfasst, führt der Autor den Leser in die wichtigsten Ereignisse und Probleme der jeweiligen Jahre und insbesondere der „leichten Muse“ ein. Für den heranwachsenden Willi Kollo bedeutet dies die Hinwendung des Berliner Kulturlebens, soweit es das Amüsement betrifft, zur amerikanischen Musik, während die Kollos, und das damals noch mit Erfolg, auf ,abgesehen von wenigen Jazzelementen, vertrauten Pfaden wandeln, Willi für des Vaters Operette „Marietta“ die bis heute bekannten Texte Was eine Frau im Frühling träumt und „Warte nur ein Weilchen“ schreibt. Es beginnt die Zeit der Ausstattungsrevuen, zu „ Von A bis Z“ steuert der Sohn den Text von „Solang noch untern Linden“ bei, beginnt aber mit eigenen Kompositionen und bekennt sich zu seinem eigenen Namen. 1927 erscheint „Lieber Leierkastenmann“ und im selben Jahr die erst einmal letzte gemeinsame Arbeit von Vater und Sohn. Der ältere heutige Leser wird mit Namen konfrontiert, die ihm vertraut sind wie Hans Albers, Willy Fritsch, Edith Schwollwer, die später zu den Westberliner „Insulanern“ gehören und mit „Der Insulaner verliert die Ruhe nicht“ Frontgeist verkörpern wird.

In den Jahren 1928 bis 33 schreibt Willi Kollo Chansons für das KadeKo am Kürfürstendamm, bis die Nazis das poltische Kabarett verbieten. Heute steht an dessen Stelle die Berliner Schaubühne. Er ist nicht nur Textdichter und Komponist, sondern singt auch selbst. Und der heutige Berliner wird staunen, dass es am Kottbusser Tor, wo heute der Drogenhandel floriert, ein Theater gab, in dem das „Lied vom Leierkastenmann“ uraufgeführt wurde. Nicht nur Werner Finck und viele andere erregen Anstoß bei den Nazis, sondern auch Kollo, was er später beim Entnazifizierungsverfahren zu nutzen weiß.

Auch das neue Medium Tonfilm bietet Kollo Aufgaben wie zunächst in  Kurzfilmen, 1930 „Der Tiger“, danach „Die blonde Nachtigall“ und „Meine Frau, die Hochstaplerin“ mit Heinz Rühmann. Er muss sich damit auseinandersetzen, welche unterschiedlichen Anforderungen Tonfilm-Operette und Bühnen-Operette an ihn stellen.

Milde geht der Verfasser mit der recht undurchsichtigen Geschichte um den Parteieintritt Kollos am 1.4.1933 , womit er gerade noch vermeidet, als Märzgefallener zu gelten, um. Er insistiert auch nicht auf Aufklärung um den angeblichen Parteiausschluss oder auch – rausschmiss, die Nichtmitwirkung am „Hitlerjungen Quex“, gesteht seinem Untersuchungsgegenstand zu, dass er nicht von der Vertreibung der Juden, die für 90% der leichten Muse zuständig waren, profitierte, sondern nicht nationalsozialistisch, sondern deutschnational, Oswald Spengler vertrauend, ausgerichtet war.  Als Hans Dampf in allen Gattungen weiß sich Kollo auch in der ganz jungen des Fernsehspiels zu etablieren, schreibt in dieser Zeit auch das Lied „Nachts ging das Telefon“. Das 1939 entstandene „Wir tanzen um die Welt“ klingt schon recht militärisch.

Goebbels Meinung, dass gute Laune kriegswichtig sei, müsste eigentlich Willi Kollo begünstigt haben. Aber in der Zeit von 39 bis 44 entstehen nur zwei Filme, eine Revue mit einem „Verdunkelungslied“ und ein Einakter. 1943 wird „Wie einst im Mai“ mit Hilfe des Sohnes arisiert, das heißt, die jüdischen Mitwirkenden werden entfernt. 1945 flieht Kollo mit Gattin Renate, den Kindern Marguerite und René in die Nähe von Hamburg, ist maßgebend tätig beim Wiederaufbau des Hamburger Kulturlebens, so mit „Faust III“ oder „Dornröschen-ein unromantisches Märchen“, als Pianist, Sänger, einem Stück gegen Sartre und später, in Göttingen mit Hilpert, einer Art Rechtfertigungsstück. Nach mehreren Untersuchungen wird Kollo als „entlastet“ eingestuft, darf einen Verlag gründen, leitet ein eigenes Theater und erleidet mit „Frau Jenny Treibel“ nach Fontane, die von der unverwüstlichen, aber immer unverwechselbar komischen Grete Weiser gespielt wird, einen Schiffbruch. Jansen weiß auf vielfältige Weise, durchgehend nicht ohne Sympathie für seinen umtriebigen „Helden“, darzustellen, warum dieser, vielseitig begabt und unverdrossen, viele Dinge in Angriff nimmt und doch immer wieder scheitert, so auch mit dem Verlag, in dem er ausgerechnet William S. Schlamm aus der rechten Ecke veröffentlicht. Auch ein Film über das Leben seines Vaters mit Sohn René in der Hauptrolle oder das Musical „Wer hat Angst vor dem starken Mann“ lässt ihn nicht auf die Erfolgswelle der neuen Gattung aufspringen. Und so lässt sich dann vielleicht auch eine besondere Dünnhäutigkeit verstehen, die ihn dazu bringt, sein Bundesverdienstkreuz zurückzugeben, weil man den 100. Geburtstag seines Vaters nicht gewürdigt hatte.

Immerhin gibt es zum 70.Geburtstag eine Gala im Sportpalast, zum 80. eine Matinee im Theater des Westens und zur 800. Geburtstagsfeier Berlins in der „Hauptstadt der Republik“   „Ein Abend bei den Kollos“ und damit sein letztes Lied, ausschließlich Sehenswürdigkeiten Ostberlins feiernd.

Zwar stellt der Verfasser schließlich fest, die Angst, sein Buch könnte eine „Verwertungsmaximierung“ der Kollo-Werke verhindern, habe die Erben Willi Kollos daran gehindert, der Veröffentlichung seines Buches zuzustimmen, aber wenn dem so wäre, dann dürfte ihre Einschätzung eine falsche sein, denn es spiegelt nichts von den Querelen um sein Erscheinen wider, sondern das aufrichtige und geglückte Bemühen, Willi Kollo Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dazu gibt es noch als Anhang eine Literaturliste, ein Werkverzeichnis, eine Diskographie und ein Personenverzeichnis (395 Seiten, 2020 Waxmann Verlag Münster, New York; ISBN 978 3 8309 3995 5). Ingrid Wanja            

Geschenkt und schon verdorben

 

Alma nimmt Klavierunterricht. Im großbürgerlichen Salon mit Beethoven-Büste schmachtet sie, im üppig roten Kleid, den kleinen Klavierlehrer an. Ihm bricht der Angstschweiß aus, er muss zum Taschentuch greifen, sich seines Jacketts entledigen, gemeinsam mit der Schülerin steigert er sich in einen Klang- und Liebesrausch, den nur die Begleitmusik zu einer Lichtspielscene von Zemlinskys Schwager Arnold Schönberg in halbwegs züchtigen Grenzen hält. Alma stößt den jungen Mann von sich, macht sich ausgehfein und, Gipfel der Bosheit, verweist dem Lehrer auf sein Abbild im Spiegel. So könnte es im Jahr 1900 im Salon der Alam Schindler gewesen sein. Alexander von Zemlinsky hatte das Nachsehen. 1902 heiratete sie Gustav Mahler. In der 8 ½ minütigen Szene, die er seiner Inszenierung von Der Zwerg an der Deutschen Oper voranstellt, hat Tobias Kratzer das Thema angerissen, die Hässlichkeit des nicht einmal 1.60 Meter großen, von Selbstzweifeln geplagten Komponisten, der gegenüber Mahler zurückstehen muss. Die Gattin des GMD, Adelle Eslinger-Runnicles, verleiht der Klavierschülerin die Haltung der Granddame, und der Pianist Evengy Nikoforov gibt einen keinesfalls unansehnlichen Zemlinsky, weit entfernt von Almas Beschreibung des „Gnom“ als „kinnlos, klein, mit heraus quellenden Augen“.

Der Geburtstag der Infantin, so der Titel von Oscar Wildes Märchen, in dem Zemlinsky sein eigenes Drama, welches er in der Oper Der Zwerg aufgriff, vorgebildet fand, wird auf einer weißen, von einer Orgel dominierten und Komponisten-Büsten umrahmten Konzertbühne vorbereitet (Bühne: Rainer Sellmaier). Das wirkt auf der Bluray-DVD (Naxos 2.110657) als Spiel mit und über Musik sowohl kunstvoll und fast brillant sowie im Aufeinanderprall der Luftballons schwenkenden Hofgesellschaft mit dem Orchester auf dem Podium auch etwas bemüht. Apart anzusehen, auf jeden Fall. Raffiniert die Besetzung des Zwergs mit dem kleinwüchsigen Schauspieler Mick Morris Mehnert und dem Tenor David Butt Philip, beide für ihren Konzertauftritt im Frack, Butt Philip singend vor dem Notenpult, Mehnert zunächst als Dirigent des Orchesters. Anfangs leiht der Tenor dem anderen nur seine Stimme, zunehmend aber geraten die beiden Figuren in Konflikt. Kratzer versucht viel: Eine komplette Zemlinsky-Deutung aus ästhetischer Positionierung und künstlerisch-biografischer Selbstreflektion: „Für die Avantgarde ist er ab einem gewissen Punt zu konservativ, für einen aufrechten 19. Jahrhundert-Verfechter aber schon viel zu sehr einer, um es mit den Worten der Zeit zu sagen, „Dekadenzmusik“ angehörig. Und daraus resultiert eine Situation, die eine permanente Suche nach der eigenen Position, auch nach dem eigenen Status mit sich bring t… Der Zwerg ist zugleich eine ästhetische Zustandsbestimmung von Zemlinsky. Und Ich hatte mich schon sehr früh dagegen entschieden, die Partie mit einem besonders klein gewachsenen Tenor zu besetzen, den man gegebenenfalls noch als hässlich schminkt. Ich habe mich dann entschieden, diesen Konflikt zwischen dem Selbstbild und dem Fremdbild der Figur durch zwei Figuren auf die Bühne zu bringen. Zum einen wird die Titelrolle von einem Tenor verkörpert, bei dessen Besetzung einzig auf Präsenz und musikalische Qualität geschaut wurde. Und zum anderen auf einen kleinwüchsigen Schauspieler. Der Kunstgriff scheint vor allem im in der großen Szene der Infantin mit dem hier in zwei Personen aufgespaltenen Zwerg „Warum denn flieht mein Freund? zu funktionieren. In der von David Runnicles mehr kraftvoll hochroutiniert und spätromantisch satt dirigierten als in ihrer Zerbrechlichkeit erfassten Musik (27. und 30. März 2019) ist Elena Tsallagova mit ihrem pointiert geschärften sowohl koketten wie anmutigen Sopran eine herausragende Infantin, in deren Herzlosigkeit sich eine Ahnung von Liebe mischt. Butt Philip bleibt etwas eindimensional, etwa in dem eher gepresst als lyrisch angelegten Lied von der blutenden Orange und meist darauf beschränkt, die jugendlich heldischen Töne zu produzieren, die ihn für gewichtigere Partien rüsten. Philipp Jekals lyrischer Bariton erscheint mir noch etwas leicht für den Haushofmeister Don Estoban, Emily Magee ist eine souveräne Ghita. Am Ende werden die Büsten von ihren Konsolen gestürzt. Rolf Fath

Nicht nur „Die lustige Witwe“

 

Zwei neue Lehár-Bücher in kurzer Zeit? Ach ja, wir haben ja ein Jubiläum! Und tatsächlich, am 30.4. 2020 feierte der Komponist der Lustigen Witwe seinen 150.Geburtstag.

Zwei große Biographien, die von Stefan Frey über Franz Lehár (Der letzte Operettenkönigund die von Herbert Haffner über Wilhelm Furtwängler sind in den letzten Wochen enorm erweitert wieder aufgelegt worden und bieten sich nicht zuletzt  für einen Vergleich darüber an, wie mit im Dritten Reich maßgeblich das kulturelle Leben Bestimmenden nach dem Zusammenbruch umgegangen wurde. Da ist einmal das strenge Urteil vom in amerikanischer Uniform angereisten Klaus Mann, der  Künstler wie Richard Strauss oder eben Lehár befragte, wenn nicht gar verhörte,  interessant. So meinte er in Bezug auf Furtwängler: „Eine Kultur, die von solchen wiederaufgebaut würde, bliebe besser verschüttet“, nahm es aber Lehár ab, er könne schließlich nichts dafür, dass Hitler seine Lustige Witwe zu seiner Lieblingsoper erklärt hatte. In blindem Entnazifizierungseifer völlig übersehen wurde dabei, dass Furtwängler unzähligen jüdischen Musikern half, sich, wo es nur immer möglich war, vor dem Mitwirken an Parteiveranstaltungen, ja sogar vor dem Hitlergruß „drückte“, während Lehár, wenn auch vergeblich, Mussolini seine letzte Operette Giuditta widmen wollte, nicht mit Ergebenheitsbekundungen gegenüber Hitler und Goebbels sparte und wohl nicht eindringlich genug für im KZ leidende ehemalige Mitarbeiter einsetzte. Dass er bereits in jüngeren Jahren Wilhelm II. eine Tondichtung namens „Fieber“ widmete, wird nur am Rand erwähnt.

1999 erschien Freys Biographie zum ersten Mal, nun ist sie nicht nur wesentlich erweitert und überarbeitet worden, sondern legt den Akzent auch verstärkt  auf die Person Franz Lehár. Diese wird gleich zu Anfang regelrecht glorifiziert, indem sie quasi zum neuen König nach dem Hinscheiden von Kaiser Franz Josef, beide gern in Ischl lebend, literarisch gekrönt wird. Das umfangreiche Buch ist leserfreundlich gegliedert, indem umfangreichen Kapiteln, jeweils mit einem Zitat bedacht, nur wenige Seiten umfassende Unterkapitel zugeordnet werden. Die Quellenlage wird als recht desolat dargestellt, da wohl große Teile der umfangreichen, detailgenauen Tagebücher 1945 in Wien geplündert wurden. Dennoch ist das Buch ungeheuer faktenreich, scheut sich auch nicht vor richtungsweisenden Einschätzungen wie der, dass Lehár zwar einerseits eine „ästhetische Konstante“ in Umbruchzeiten darstellte, aber „seismographisch reagiert“ auf Zeitströmungen. Als ein Beispiel wird dabei der Verzicht auf das operettenübliche happy end angeführt.

Das erste Groß-Kapitel widmet sich dem Werdegang „Vom Wunderkind zum Militärkapellmeister“. Da geht es um die umstrittene Schreibweise des Namens, ob mit oder ohne Akzent und falls mit, ob dann auf der ersten oder zweiten Silbe. Das von jedem Bürger des Habsburgereichs geforderte Bekenntnis zu einer der ihm bis 1918 zugehörigen Nationen ist dann mit der Entscheidung für die ungarische Staatsbürgerschaft auch die für den Akzent auf der zweiten Silbe.

Interessant sind die Schilderung der von Kindesbeinen an musikalisch ausgerichteten Erziehung, der Ermutigungen durch Brahms und Dvorak, des Versuchs eines Operneinakters Rodrigo, des Wirkens als Militär- (auch Marine-) Kapellmeister, der ersten Kontakte zu seinem späteren Librettisten Victor Léon.

„Blindlings in die Wiener Operette hineingeraten“ ist nach Meinung des Verfassers ein Lehár, der bis zu seinem Ende nur allzu gern ein Opernkomponist gewesen wäre, immerhin den Triumph erlebte, dass er auch mit seinen Operetten an die Wiener Staatsoper gelangte. In seiner ersten Operette, dem Rastelbinder, steht ein Jude namens Pfefferkorn im Mittelpunkt, was später noch von Bedeutung sein wird, wenn deswegen das Stück umgearbeitet werden muss. Wobei nicht nur ein Jude oder wie in Giuditta ein Fahnenflüchtiger auf der Bühne zum Ärgernis werden können, sondern auch Lehárs fast durchweg jüdische Librettisten und die vielen Sänger, allen voran Richard Tauber, der nicht nur Anspruch auf sein Tauber-Lied im zweiten Akt, sondern auch auf Mitsprache beim Komponieren desselben hat.

Ehe es zum Riesenerfolg der „Jahrhundert-Operette“ Die lustige Witwe kommt,  entstehen noch Wiener Frauen, Der Göttergatte (Amphitryon-Stoff), Die Juxheirat. Libretti scheinen zu Lehárs Zeiten von einer Hand in die andere gegangen zu sein, Komiker und Sänger die Theater gewechselt zu haben, Linke und Rechte sich gegen die neue Freizügigkeit, die selbstbestimmte Frau gewendet zu haben. Die Dramaturgie, die Geschichte des Stoffs, seine Abwandlungen werden so detailgenau wie spannend geschildert, auch die Entwicklung des berühmten Walzers „Lippen schweigen“ gehört dazu. Eine wichtige Erkenntnis ist diese: „Die Konflikte kommen nicht mehr von außen, sondern von innen“.

Im folgenden Kapitel geht es um „die erste Globalisierungswelle“ durch die Operette, um weitere Operetten wie Das Fürstenkind oder Zigeunerliebe, um die Grenzziehung zwischen Oper und Operette, ein Lehár Zeit seines Lebens und Wirkens beschäftigendes Thema. Der Graf von Luxemburg und die „Arbeiter“-Operette Eva und damit auch ausführlich die Art des Komponierens, die Lehár pflegt, sind Themen dieses Kapitels, ebenso die Freundschaft mit Puccini, dessen Sohn Lehár sogar dazu bewegen will, nach dem Tod seines Vaters Turandot zu vollenden. Davor ist bereits von Puccinis Bemühen um eine Operette, La Rondine war das Ergebnis, die Rede.

Viele Aussagen von Zeitgenossen, viele Ausschnitte aus Zeitungen, Aufsätzen, viele Primärquellen lassen das Buch als überaus authentisch, überaus nah an seinem Sujet stehend erscheinen.

Plagiatsprozesse sollen ebenfalls zum Leben Lehárs  gehören, bei einem derselben sind Puccini, Kienzl und Schreker seine Zeugen.

1916 beginnt die Rivalität zwischen Kálmán und Lehár, wobei die Csardasfürstin den größeren Erfolg zuungunsten des Sternguckers hat. Mit dem Kriegsende 1918 und der Auflösung des Habsburgerreichs beginnt die Hinwendung zur „Verzichts-Operette“. Die gelbe Jacke, später zu Das Land des Lächelns umgearbeitet, lässt es noch zu einer Versöhnung der Kulturen kommen. Inflation und 30% Luxussteuer scheinen das Ende der Operettentheater zu besiegeln.

Dank eines geschickten Aufbaus, der unterschiedliche Gesichtspunkte einander abwechseln lässt, ebenso unterschiedliche Arten der Darstellung anbietet, ermüdet das Lesen des umfangreichen Buchs nicht, sondern es bleibt anregend, ja ausgesprochen spannend. Hinter der Schilderung des Lebens und Wirkens des Komponisten wird der Horizont des gesamten Zeitgeschehens sichtbar, so ist ein Kapitel auch zu Recht „Das wahre Zeitalter“ überschrieben.

Paganini und Friederike, ebenso der „Zarewitsch“, dessen Libretto eigentlich Mascagni zugedacht war, werden dem Leser nahe gebracht, es wird untersucht, wie viel Goethe in der Operette um die Pfarrerstochter aus Sesenheim steckt, und immer wieder dürfen Carl Kraus und Adorno sich kritisch äußern.

Interessant ist die nicht von der Hand zu weisende Meinung, die moderne Oper habe Teile des Publikums zur auf angenehmere Art zu konsumierende Operette getrieben. Das kann Adorno nur deswegen trösten, weil dadurch das Geld für die Aufführung von Wozzeck und Mahagonny zuungunsten von Mignon und Margarethe eingespielt würde.

Ein Treuebekenntnis Taubers gegenüber den Nazis, der Skandal um den Bruder Anton im Wiener Griechenbeisl, Rosenbergs Hetzkampagnen, Lehárs Widmung zu Hitlers Geburtstag, 1945 gefunden von einem französischen Major, das alles führt zu  traurig stimmenden Einsichten in die Zwänge der Zeit zwischen 33 und 45, die für Lehár wegen seiner jüdischen Frau besonders für sein Verhalten bestimmend waren.

So wird das Buch für den Leser zu einer zwar bedrückenden, aber doch ungemein um Wissen und Einsichten (so der, dass „Lehárs Musik mehr weiß als ihr Schöpfer“) bereichernden Lektüre, wozu ein umfangreicher kritischer Apparat, ein Literaturverzeichnis, ein Werkverzeichnis, Bildnachweise und ein Personenregister zusätzlich beitragen. (435 Seiten, 2020 Böhlau Verlag Wien Köln Weimar ; ISBN 978 3 205  21005 4). Ingrid Wanja

 

In den Vandenhoeck & Ruprecht Verlagen ist aus dem Jubiläums-Anlass Ein Franz-Lehár-Lesebuch mit dem Titel Dein ist mein ganzes Herz erschienen, dass weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch auf eine streng chronologische oder systematische Gliederung erhebt, sondern in lockerer Folge in Umfang, Anspruch und Grundhaltung sehr unterschiedliche Artikel anbietet. Die Herausgeber sind Heide Stockinger und Kai-Uwe Garrels, die zwei bzw. drei Artikel zum Unternehmen beisteuern.

Das Geleitwort stammt von Christoph Wagner-Trenkwitz, der in der von ihm gewohnten launigen Art auch einige Seitenhiebe austeilt, so auf die Mussbach-Inszenierung der Staatsoper Berlin, die unter dem Buhgeschrei des Publikums die Lustige Witwe in der Antarktis und nach der Notlandung eines Flugzeugs ansiedelte, und auf Richard Strauss, der angeblich neidisch auf den Operettenkomponisten war. In einem anderen Kapitel findet das immerhin eine Begründung, wenn Goebbels zitiert wird, der den bayerischen Komponisten darauf aufmerksam gemacht haben soll, wie viel populärer der angebliche Rivale aus Ungarn sei.

Die beiden Herausgeber weisen in ihrem Vorwort darauf hin, dass Lehárs letzte Operette, Giuditta, es an die Wiener Staatsoper schaffte und dass Die lustige Witwe den Wendepunkt in der Karriere Lehárs darstellt.

Garrel steuert die Kapitel Die Juxheirat, Brüder ohne den Luxus der Blutsverwandtschaft und eine biographische Übersicht bei. Im ersten der Beiträge geht es um die frühen Jahre des Komponisten, der als Militärkapellmeister begann, wird die Grenze zwischen den Jahren der Goldenen und der Silbernen Operette im Jahr 1900 gezogen und die Berufung als Kapellmeister an das Theater an der Wien beschrieben. Die enge Freundschaft zwischen Lehár und dem Tenor Richard Tauber ist Thema des zweiten Kapitels. Es beschreibt, wie eng die Zusammenarbeit zwischen den Freunden war, dass Tauber maßgeblich an der Entstehung der erfolgreichsten Werke, an Paganini, Zarewitsch, Friederike und Land des Lächelns beteiligt war, man quasi gemeinsam die berühmten Tauber-Lieder in auch nächtlichen Sitzungen komponierte, sogar gemeinsam beim Berliner Sechstage-Rennen auftrat, so dass Tauber feststellte: “….ein einziger Feiertag war damals das Leben“. Auch nach der Flucht Taubers aus Deutschland ging die Zusammenarbeit weiter mit Giuditta 1934 in Wien oder dem letzten Treffen, 1946 in Zürich. Übrigens kommen die Brüder Rotter hier weitaus schlechter weg als in dem ihnen allein gewidmeten Buch.

Heide Stockinger widmet sich der Entstehung der Goethe-Operette Friederike und hat ein Potpourri über das Lehár-Schlössl in Wien verfasst. Interessant ist hier der Kampf um das Libretto angesichts der Tatsache, dass in Deutschland sogar Gounods Oper als eine Art Sakrileg angesehen wurde. Zudem erörtert die Verfasserin die Tatsache, dass die Operette nun auch ohne happy end auskommt, so auch im Zarewitsch oder Land des Lächelns. Interessant ist der Vergleich der Quellen, so Goethes Dichtung und Wahrheit mit dem heiß umkämpften Libretto, die Darstellung von Hohn und Spott, den Tucholsky, Kraus und Bloch über dem Werk ausgossen. Man spürt stets die Anteilnahme der Verfasserin am Geschehen, nimmt wahr, wie sie mit innerlichem Jubel von dem Erfolg berichtet, den das Werk sogar in den USA hatte. So verwundert es den Leser auch nicht, dass sie für Aufführungen in unserer Zeit plädiert und sogar Vorschläge  für deren Gestaltung unterbreitet. Der Beitrag über das Lehár-Schlössl, das eigentlich auch  Schikaneder-Schlössl heißen könnte, bedient sich einer Fülle unterschiedlicher Stilmittel, sei es das des Romans oder der Berichte der Haushälterin, die nach Lehárs Tod von dessen Bruder eingestellt wurde. Besonders diesem Beitrag merkt man an, mit wie viel Liebe dieses Buch gestaltet wurde.

Nicht so sehr gefallen, weil eher von Eigenliebe geprägt, kann der Beitrag von Michael Lakner, der weniger über Lehár als über seine Inszenierungen von Zigeunerliebe, Die blaue Mazur und Zarewitsch in Ischl und Baden berichtet und sich für seine wegweisenden Ideen selbst auf die Schulter klopft. Auch lange Zitate aus lobenden Kritiken feiern eher den Verfasser als sein Sujet, der sich rühmt, dass seine Regie „geprägt“ sei „von einer modernen Sicht auf alte Stoffe, nicht altbackene, spießige Repetition biederer Operettenklamotten“. Diese „moderne Sicht“ wird dann auch ausführlich erläutert.

Ganz anders, originell, sehr persönlich und interessant geschrieben ist Eduard Barths Bericht über einen Besuch des Teatro Verdi in Triest, wo er die einzige „italienische“ Operette Lehárs, La Danza delle Libellule erlebte. Spannend ist die Werkgeschichte, die Darstellung des Inhalts der Operette geschrieben, und die Stellung Triests, in dem jedes Jahr ein Operettenfestival stattfindet, als Stadt zwischen den Kulturen, als ehemalige österreichische Hafenstadt wird überzeugend herausgearbeitet.

Natürlich darf das Verhältnis Lehárs zu den Nazis nicht unberücksichtigt gelassen werden. Diesem widmet sich Wolfgang Dosch im Kapitel „Franz Lehár und sein Rastelbinder“ und entspricht mit seinen Ausführungen exemplarisch wissenschaftlichen Ansprüchen. Interessant ist der Vergleich zwischen Original und Überarbeitung, die nötig wurde, weil die Titelfigur jüdischer Abstammung war. Dass die jüdische Frau des Textbearbeiters ihr Leben rettete, weil ihr Gatte quasi unabkömmlich war und in seiner Arbeit nicht beeinträchtigt werden durfte, dass Lehár immer wieder darauf bestand, aber auch viele andere Hilfsmaßnahmen zugunsten jüdischer Freunde zeigen, wie unüberlegt das Verbot war, das Aufführungen in Israel für lange Zeit untersagte.

Helga Maria Leitner Ist ein ausführliches Kapitel über die Lehár-Villa in Bad Ischl zu verdanken, in dem sie die Geschichte des Hauses, das seit 1948 ein Museum ist, schildert und den Leser quasi an einem Rundgang durch das Haus, aber auch einem Streifzug durch seine Geschichte teilnehmen lässt.

Ein Personenregister, ein Bildnachweis, eine Bibliographie und Biographien der Autoren vervollständigen das Buch , das eine höchst angenehme Lektüre ist (ISBN 978 3 205 20963 8). Ingrid Wanja

Paers „Agnese“

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„Ferdinando Paer hatte keine Chance“. Das verkündete Urteil war hart. Als Stendhal Ausschau nach mittelmäßigen Komponisten hielt, deren mäßige Leistungen jenes seines Helden Rossini in umso hellerem Lichte hätten erstrahlen lassen sollen, waren Giovanni Simone Mayr („Mayer“, wie er ihn nennt) und Fernando Paer seine Zielscheiben. In der 1823 verfassten Vie de Rossini – einem „Text-Oper, geschrieben von einem Menschen, der geträumt hätte, ein Komponist zu sein“ (P. Brunel) – schildert er, wie sie nach dem Erscheinen Rossinis dazu verdammt waren, zu Nebenfiguren der Operngeschichte zu verkommen. Mayr und Paer wie andere auch seien Gestalten eines kurzen „Interregnums“ (so Stendhal) zwischen Paisiello und Cimarosa einerseits und Rossini andererseits. Stendhal billigt zwar Paer ein „unzweifelhaftes und sehr bemerkenswertes Talent“ zu und beschreibt ihn als einen homme très fin, „sehr geistreich und bemerkenswert gewandt in der Gesellschaft“, ja er gönnt ihm seine Erfolge in ganz Europa, doch das Beil seines Urteils fällt gerade über die Agnese, die ihren Erfolg nur dem „schauderhaften Spektakel eines verrückt gewordenen Vaters“ verdanke.

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„Agnese“: der Komponist Ferdinando Paer/ Wikipedia

Das Publikum sah das anders, und die Pariser Aufführungen der schon 1809 geschriebenen Agnese  im Jahr 1824, unter anderem mit Giuditta Pasta, waren der letzte Triumph einer Karriere, die – darin hatte Stendhal Recht – ganz Europa umfasst hatte. Der 1771 geborene Paer stammt wahrscheinlich aus einer deutschsprachigen Familie („Baer“) und im Gegensatz zu vielen seiner um 1800 erfolgreichen Kollegen wurde er nicht in Neapel, sondern in seiner Geburtsstadt Parma als Komponist und Sänger ausgebildet. Seine ersten Erfolge in den 1790er Jahren brachten ihm zuerst einen Posten daheim ein, aber 1797 wechselte er zum Theater am Kärntnertor in Wien und dann nach Dresden, wo er bis 1806 blieb. Unter seinen Verehrern fand sich auch Napoleon, der ihn in jenem Jahr nach Polen mitnahm. Seit 1807 lebte Paer in Paris, wo er die Opéra-comique und seit 1812 das Théâtre Italien leitete und auch unterrichtete, darunter Franz Liszt (einige glauben, dass Paer dem Schüler beim Verfassen seiner Opéra-comique Don Sanche 1825 die Feder führte.) Reibereien mit Rossini, die durch die Presse gingen, verdüsterten seine letzten Jahre, in denen er wenig komponierte, aber mit Ehrentiteln ausgezeichnet wurde. Mit Ausnahme der Opéra-comique Le mâitre de chapelle von 1821 und der Wiederaufnahme der Agnese 1824 verbuchte Paer indes keine großen Erfolge mehr. Er starb 1839 und wurde bald vergessen.

Stendhal hatte nämlich das richtig gesehen: Der Erfolg von Rossinis Opern ließ viele an sich verdienstvolle Komponisten wie Mayr, Paer, Generali oder Morlacchi in Vergessenheit geraten. Die Renaissance dieser Musiker, die man vielfach mit dem ungerechten Wort der „Kleinmeister“ belegt, kam auch nach dem Zweiten Weltkrieg nie in Fahrt. Giovanni Simone Mayr ist inzwischen auch dank CD-Aufnahmen (und der Ingolstädter Aktivitäten unter Franz Hauk/ G. H.) besser bekannt, aber wenige haben sich an Paers Werke herangewagt. Vor allem seine Leonora (Dresden 1804) ist wegen der Beziehungen zu Beethovens Fidelio gelegentlich ausgegraben worden (so von Peter Maag 1979 bei der RAI/ MRF, die nächste, für die Innsbrucker Festwochen der Alten Musik im August 2020 geplante Inszenierung der kritischen Ausgabe steht wegen der Corona-Krise auf der Kippe). Es gab Aufführungsserien von Achille in Bologna 1989 und von Camilla in Parma 2000 (Sammler nicken da/ G. H.)  sowie eine CD-Produktion von Sofonisba bei Opera Rara, die alle folgenlos blieben.

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„Agnese“: Giuditta Pasta sang die Agnese in Paris/ Stich von Leon Viardot 1831/ Wikipedia

Mit wenigen anderen Stücken versuchten Konservatorien und Sommer-Akademien ihr Glück, aber unter den Protagonisten des musikalischen Europas in den beiden ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ist Paer zweifelsohne derjenige, dessen seine längst fällige Wiederentdeckung am dringendsten ansteht. Die lange Einführung, mit der der Rezensent möglicherweise die Geduld seiner Leser strapaziert hat, war notwendig, um die Initiative des Teatro Regio in Turin richtig einzuordnen und zu würdigen. Letztes Jahr setzte man dort Paers Agnese auf das Programm, und die rührige Genueser Firma DYNAMIC legt jetzt zwei DVD bzw. zwei Blue-Ray-Discs vor, welche die Aufführungsserie im März 2019 festhalten (im Gegensatz zu den Gewohnheiten des Labels scheint bedauerlicherweise eine CD-Veröffentlichung nicht geplant zu sein). Obwohl Stendhal es nicht wahrhaben wollte, ist ausgerechnet das Sujet der Agnese das, was ein modernes Publikum unmittelbar anspricht.

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In der Oper geht es um Uberto, der von der Tochter Agnese verlassen wurde, die mit Ernesto durchbrannte. Uberto wird in einem Irrenhaus gepflegt. Agnese trennt sich nach einer Weile von Ernesto, der sich in einer eindrucksvollen Sturm-Szene am Anfang des Stückes auf die Suche nach ihr macht, und kommt in die Heimat zurück, wo sie unter anderem von dem Spitaldirektor Don Pasquale unfreundlich empfangen wird. Man habe nicht vergessen, dass ihr Verhalten Ursache für Ubertos Krankheit sei. Der Vater erkennt zuerst die Tochter nicht, aber ein von ihr vorgetragenes Lied aus der Kindheit (effektvoll durch die Harfe begleitet, in dieser Inszenierung auf der Bühne) bringt letztendlich Ubertos Verstand zurück. Ernsto und Agnese hatten sich vorher in einem großen, dramatischen Duett versöhnt. Allgemeiner Jubel.

Paers „Agnese“: Szene aus der Turiner Aufführung/ Foto Piva

Das Libretto stammt von einem gewissen Luigi Buonavoglia, und geht über ein Mittelglied auf Father and Daughter zurück, den 1801 veröffentlichten Erstlingsroman der in England erfolgreichen Schriftstellerin Amelia Opie (1769-1853). Die Oper wurde von Paer und Buonavoglia gemeinsam für Aufführungen im Privattheater des Parmenser Grafen Scotti vorbereitet, bei denen Paer den Uberto hätte singen sollen (er reiste aber vor der Premiere ab). Ab 1811 wurde die Agnese  in Neapel und anderen Theatern – darunter mit großem Erfolg an der Scala 1814 – wieder aufgenommen. Das Libretto ist zweifelsohne auf das Pathetische und Sentimentale ausgerichtet, was Paer mit Mitteln wie einschmeichelnden Bläser-Soli sehr schön umsetzt, aber Stendhal zum Trotz steckt weit mehr darin, als der Effekt des Affektes. Man staunt über die Art und Weise, wie Librettist und Komponist mit der geistigen Umnachtung des Vaters umgehen, dem auch eine kurze Phrase leitmotivisch zugeordnet wird, in der Uberto sich daran erinnert, wie er Agnese auf dem Arm hielt. Und nicht nur das. Agnese ist als Dramma semiserio deklariert. Doch im Gegensatz zu den Gewohnheiten der Zeit, in der oft das Komische auch sozial verortet wird, indem lustige Diener bei ernsten, meist adeligen und auf jeden Fall heldenhaften Herren auftreten (bei Paer ist dies z. B. in der Camilla  von 1799 der Fall), werden hier die komödiantischen Momente auf ein Minimum reduziert und durchaus sinnvoll in direkte Beziehung zum Hauptthema gesetzt. Don Pasquale, welcher in der Oper der Hauptträger des Komischen ist, besingt im ersten Akt die Vorteile seiner paternità (des Vaterseins), und bildet somit das Gegenbild zum zerrütteten Verhältnis zwischen Uberto und Agnese, die ihrerseits die aus dem Verhältnis mit Ernesto hervorgegangene Tochter mit dabei hat: mehr mise en abîme der Beziehungen zwischen Vater/Mutter und Kindern geht für eine Oper dieser Zeit wohl kaum.

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„Agnese“: Amalia Opis Roman von 1801 war die Quelle für Paers Libretto/ Wikipedia

Ein guter Regisseur hätte hier ansetzen können, ja müssen, um das Stück angemessen zu inszenieren. Es war leider keine gute Idee des Teatro Regio, den vielfach ausgezeichneten Spielleiter Leo Muscato damit zu beauftragen. Wie er im (übrigens sehr schön gestalteten, aber inhaltlich dürftigen) Booklet dieser Veröffentlichung darstellt, ließ er sich von der „von Anfang bis zum Ende der Oper vorhandenen Ironie“ faszinieren, ja sogar die ernsteren Momente seien mit „ironischem Potential unterlegt“. Solche Aussagen haben nur einen Vorteil: Sie offenbaren, dass man sich mit den besten Absichten eines Stückes annehmen kann, ohne es zu verstehen. Carica ironica? Wenn Muscato sich die Mühe gemacht hätte, Stendhal zu lesen, hätte er erfahren, was es auch sich mit der Ironie in dieser Oper hat. Der französische Schriftsteller lehnt das Sujet gerade aus dem Grund ab, weil es in seinem betrüblichen Realismus auf ihn abstoßend wirkt: „L’Agnese fait pour moi souvenir désagréable et d’autant plus désagréable que le sujet est plus vrai“ („Agnese ruft in mir eine unangenehme Erinnerung auf, umso unangenehmer, als das Thema mehr Wahrheit bietet“). Si parva licent: aus dem Libretto könnte leicht ein Drehbuch zu einem Film gebastelt werden, der mit guten Mimen den Zuschauern einen spannenden TV-Abend bescherte. Veralbernde Distanzierungen sind oft die leichte, aber fast nie die richtige Lösung, und hier am wenigsten.

Es ist ein Glück, dass die von Muscato intendierte Ironisierung in der Aufführung wenig zum Tragen kommt, sei es, dass die Probezeit zu kurz war, sei es, dass das schauspielerische Unvermögen etwa des Tenors, dem der Regisseur groteske Gesten verordnet hat, die Ursache dafür sind. Ansonsten wird die Geschichte mit schlichten Mitteln dargestellt. Dafür hat Bühnenbildnerin Federica Parolini große Boxen aufgebaut, die sich öffnen und eine Landschaft oder Interieurs erkennen lassen – eine einfache Sparlösung, die auch dank der gewieften Lichtregie von Alessandro Verazzi und der kreativen TV-Regie von Tiziano Mancini auf dem Bildschirm vor allem deswegen funktioniert, weil sie nicht stört. Die Handlung scheint – warum auch immer – in die 1920er Jahre versetzt worden zu sein (Kostüme: Silvia Aymonino).

Paers „Agnese“: Szene aus der Turiner Aufführung/ Foto Piva

Den Star des Abends findet man im Graben: Diego Fasolis. Fasolis glaubt offensichtlich fest an die Qualität der Partitur, die er schon 2008 in einer konzertanten Aufführung in Lugano vorstellte (auch hier nicken Sammler/ G. H.). (In Turin wird zwar die kritische Edition von Giuliano Castellani gespielt, aber gemäß der von diesem Musikwissenschaftler 2008 in einem Sammelband veröffentlichten Tabelle kommt eine Mischfassung aus der ersten und dritten Fassung zum Zuge, was der Käufer der DVD nicht erfährt.) Fasolis leitet eine souveräne, trotz der über dreistündigen Spieldauer nie langweilige Aufführung, bei der die vielen instrumentalen Details und die kurzen Phrasen liebevoll herausgearbeitet werden, ohne dass die große Linie verloren geht. Ein Manko von Paers Partituren ist nämlich insgesamt das Fehlen von einprägsamen Melodien, aber dank Fasolis‘ phantasiereichem Dirigat fällt das hier nicht sonderlich auf (und eine Art Ohrwurm gibt es immerhin in der zweiten Tenor-Arie). Eine große Leistung, die vom exzellenten Chor (Chorleitung: Andrea Secchi), dem Orchester und dem Fortepiano-Spieler Carlo Caputo (der auch in den Tutti-Passagen hörbar lustvoll in die Tasten greift) mit Begeisterung unterstützt wird. Man kann Fasolis höchstens eine gewisse Neigung vorwerfen, allzu sängerfreundlich zu dirigieren. Ich denke hier z. B. an die Stretta der zweiten Ernesto-Arie, der das Draufgängerische fehlt. In Turin standen bessere Sänger als in Lugano elf Jahre zuvor zur Verfügung, allerdings man wird nicht mit allen glücklich.

Paers „Agnese“: Mitschnitt der Luganer Rundfunk-Aufführung 2008 unter Diego Fasolis

Unter den drei Protagonisten ragt Markus Werba als Uberto hervor. Sein fester, angenehmer Bariton passt zwar nicht ganz zur Rolle, welche die dunklere Stimme eines Bass-Baritons verlangt, aber man ist dankbar, dass sie keinem ausgeleierten Buffo anvertraut wurde (den Uberto sang im 19. Jahrhundert unter anderen immerhin auch der König der bassi cantanti, Filippo Galli). Auch als Darsteller kann Werba überzeugen, und die Diktion ist vorbildlich. Die Oper heißt zwar Agnese, Uberto ist jedoch der wahre Protagonist. Stilistisch bestens vorbereitet und höhensicher interpretiert Edgardo Rocha den Liebhaber Ernesto. Sein wenig einschmeichelndes Timbre ist allerdings Geschmackssache. Schwachpunkt im Trio der Hauptgestalten ist die Agnese der Sopranistin Maria Rey-Joly aus Madrid. Das dunkel gefärbte, zu dramatischer Attacke fähige Organ ist für die Rolle geeignet, denn man kann sich dafür keine piepsende Soubrette vorstellen. Aber Rey-Jolys Vortrag wird durch zu viel Vibrato beeinträchtigt, die Diktion und sogar (erstaunlich bei einer Spanierin) die italienische Aussprache („amizi“, „lucci“) lässt zu wünschen übrig, und aus der Rolle kann auch darstellerisch mehr geholt werden. Ausgezeichnet der Pasquale des Filippo Morace, der einen biederen Angsthasen rollengerecht interpretiert. Unter den kleineren Partien (alle mit eigener Arie versehen) setzt sich Giulia Della Peruta als Dienerin Vespina mit hellem Sopran vorteilhaft in Szene, obwohl die Spitzentöne dem grellen Schrei gefährlich nahe kommen; schwach hingegen Lucia Cirillo (Carlotta, Pasquales Tochter) und vor allem Andrea Giovannini, der einen brüchigen, krächzenden Tenor sein eigen nennt (aber als unheimlicher Doktor Don Girolamo eine sehr gute schauspielerische Leistung zeigt).

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Leitet diese Ausgrabung eine Wiederentdeckung Paers ein? Das darf man bezweifeln, doch kann man immerhin hoffen, dass die Produktion die Intendanten auf ein Stück aufmerksam macht, das anstelle der ewigen Barbiere und Elisire  gut bestehen kann. Und mit Griselda (1797) oder Achille  (1801), der „patriotischen Apotheose des Militarismus“, wie Klaus Pietschmann das Stück treffend genannt hat, oder Sagrino (1804) wären noch Entdeckungen möglich. Stendhal hatte Recht und Unrecht in einem: mit dem Melodiereichtum, der nervösen Rhythmik und der Erfindungsgabe Rossinis kann Paer unbestritten es nicht aufnehmen, aber das Team um Diego Fasolis zeigt, dass eine Oper wie AGNESE keinen Überdruss verursacht, sondern den Hörer auch nach 200 Jahren zu fesseln vermag.  Michele C. Ferrari

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 (2 DVDs Dynamic 37850auch als Blue-Ray-discs erhältlich; weitere Information zu den DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de; Foto oben Szene aus der Inszenierung am Teatro Regio di Torino/ Foto Piva)

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.