Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Königin aus Armenien

 

The Other Cleopatra– ja, gibt es denn außer Liz Taylor noch eine weitere Königin von Ägypten? Aber tatsächlich handelt es sich bei der auf einer CD vernehmbaren Dame um eine historische Persönlichkeit, die ebenfalls den berühmten, für einmalig gehaltenen, aber sehr gebräuchlichen Namen trägt, die ebenfalls Königin, allerdings von Armenien, war und der gleich drei berühmte Komponisten, alle dasselbe Libretto des Abate Francesco Silvani in allerdings in einer nach ihrem armenischen Gatten  Il Tigrane benannten Oper die Ehre erwiesen. Die Vertonungen von Johann Adolf Hasse und Christoph Willibald Gluck wurden zum ersten Mal aufgenommen, die von Antonio Vivaldi genoss bereits diese Ehre.

Die historische Other Cleopatra war die Tochter von König Mithridates VI. von Ponthos, der sie um 95 vor Christi mit dem armenischen König Tigranes verheiratete, um das Bündnis gegen Rom zu festigen. Da Tigranes die Erwartungen ihres Vaters nicht erfüllte, kehrte sie, obwohl sie inzwischen Mutter von drei Söhnen geworden war, wieder zu diesem zurück, verteidigte anders als ihre Brüder erfolgreich die Burg von Phanagoreia gegen die Angriffe des römischen Feldherrn Lucullus.

Im Libretto sieht diese Geschichte sehr anders aus. Hier geht es um wahre Liebe zwischen  Cleopatra und Tigranes, der ihren Vater Mithridates unter falschem Namen bekriegt und auf dem Schlachtfeld besiegt, aber ihre Liebe gewinnt. Er wiederum wird von auch von der in Ponthos ansässigen Hofdame Apamia geliebt. Als Tigranes seine wahre Identität enthüllt, wird er zum Tode verurteilt und Cleopatra dazu, den Bruder Apamias namens Orontes zu heiraten. Mithridates hingegen will Apamia ehelichen. Cleartes, ein Freund Tigranes, verhindert mit einem Überfall sowohl Heirat wie Hinrichtung. Als es zum direkten Schlagabtausch zwischen Cleartes und Mithridates kommen soll, erklärt sich Tigranes bereit, für den Vater seiner Geliebten zu kämpfen. Das rührt diesen so sehr, dass er allen Hass vergisst, Cleopatra und Tigranes seinen Segen gibt und selbst Apamia heiratet.

Während Hasse und Gluck das gesamte Libretto vertonten, trifft das bei Vivaldi nur auf den zweiten Akt zu, der erste und dritte Akt wurde andern Komponisten überlassen, diese Teile der Partitur sind jedoch nicht erhalten geblieben.

Es beginnt mit neun Tracks aus Hasses Oper, bevor dann Vivaldi zu Wort kommt, kann der Hörer die Ouvertüre bestaunen, bei der sich zu den Streichern zwei Hörner gesellen und die weitgehend stürmisch auf die Dramatik der Handlung, wenn auch mit happy end gesegnet, hinweist. Aus dem ersten Akt stammt „Vuoi ch’Io t’oda?“, wo sich sofort die zum Glück einzige Schwäche der armenisch-kanadischen Sängerin Isabel Bayrakdarian zeigt, unter anderem Gewinnerin von Domingos Operalia-Wettbewerb, nämlich eine unangenehm klingende, nicht an die Stimme angebundene Tiefe, die in dieser Arie besonders gefordert wird. Trotzdem kann man sich zugleich über eine farbige, aufblühende und weiche Mittellage und Höhe freuen, eine Sopranstimme, die zudem sehr flexibel geführt wird. Es folgt ein ausdrucksstarkes Rezitativ, für das die Stimme angemessen vibriert, tragische Akzente setzt. In der folgenen Arie „Che gran pena“ kann man den schönen Fluss des Soprans bewundern, aber wieder lässt sich ihr Makel, die Tiefe, nicht verleugnen. Weniger Nachdruck, das Tempo ist ein sehr schnelles, kann der Sopran „Strappami pure il seno“ angedeihen lassen, sehr schön ruhig und gelassen hingegen klingt die Stimme in den weitgespannten Bögen von „Degli Elisi alle campagne“, ausdrucksvoll „Parte, parte…“, dem sich ein durch das substanzreiche Piano auszeichnendes „Press‘ all’onde“ anschließt.

Vivaldis Cleopatra scheint milderen Charakters als Hasses zu sein, sanft wie ein Wiegenlied klingt „Qui mentre mormorando“, reizvoll artifiziell „Squarciami pure il seno“. Bei Gluck gibt es kaum Irritationen wegen der tiefen Töne, „Nero turbo“ mekt man nicht an, wie schwierig es ist, und in „Non ho cor“ dokumentiert sich echte Empfindung, die Kadenz wird gut bewältigt. Hörbar wohl fühlt sich die Stimme bei „Priva del caro bene“, wo viel Mitfühlen zu vernehmen ist. Im Vergleich zu Hasse relativ kurz fasst sich Gluck mit „Presso l’onda“, das weit über reinen Ziergesang hinausreicht, dem das Kaunas City Symphony Orchestra, zu dem hier auch zwei Hörner und zwei Oboen gehören, unter Constantine Orbelian ein guter Partner ist (Delos DE 3591Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Ingrid Wanja

Opernstimme mit Liedgesang

 

Eigentlich Arien mit Klavierbegleitung sind die meisten Verdi Songs, die unter dem Titel La Seduzione mit der spanischen Sängerin Carmen Solís mit Rubén Fernández Aguirre am Piano aufgenommen wurden. Und so ist es vollkommen gerechtfertigt, dass die Sängerin sich nicht um Liedgesang, wie er auf deutschen Podien geschätzt wird, bemüht, sondern wie auf einer großen Bühne in die Vollen geht. Das Rüstzeug dazu hat sie: Obwohl Sopran, hat die Stimme eine so präsente, so leuchtende Mittellage, dass man zunächst der Meinung sein könnte, einen Mezzosopran vor sich zu haben. Die tiefe Lage ist gut angebunden und alle Register sind mit einem Timbre nobler Melancholie begabt, haben den schönen Schmerzenston, der den Verdi-Opernheldinnen so gut ansteht.

Der erste Track ist eine italienische Fassung von Gretchens „Ach, neige du Schmerzensreiche“, hier „Deh, pietoso, oh Addolorata“, in dem niemand Goethes Figur vermuten würde, dazu ist die Stimme zu „fleischig“, zu reif, zu dramatisch geführt, alles in allem in jedem Ton una Margherita italiana.

Wie substanzreich der Sopran ist, kann man auch im Piano der titelgebenden „Seduzione“ wahrnehmen, die gar traurig endet mit einem anonymen Grab ohne Stein oder Schmuck. Das melancholische Timbre bleibt auch im leichtsinnigen „Stornello“ erhalten, vermittelt trotzdem den störrischen Übermut des Stücks. Wie eine Opernarie mit Rezitativ und Cavatine aufgebaut ist „Cupo è il sepolcro“, das nicht cupo klingt, sondern mit einem reichen vokalen Farbenspiel erfreut, ebenso wie das schöne Legato in „È la vita un mar“. Eine etwas deutlichere Diktion wünscht man sich für „Ad una stella“, wo die Stimme willig dem Streben nach reicher Agogik gehorcht, während in „In solitaria stanza“ auffällt, wie gut die Interpretin die Spannung aufbauen und halten kann. Hier wie in anderen Tracks meint man immer wieder Bruchstücke von bekannten Arien zu vernehmen, so hier die der Trovatore-Leonora. Und die generöse Phrasierung, die man sich für die Musik des großen Komponisten wünscht, lässt die Sängerin auch „L’Esule“ angedeihen, wobei man sogar eine Art Cabaletta wahrzunehmen glaubt.

Von ungeheurer Eindringlichkeit ist „Non t’accostar all’urna“, dessen Darbietung mit reicher Stimme einem Hofmannstals „wie schwerer Honig“ nicht aus dem Sinn kommen lässt, und das „ombra mesta“ lässt erschauern. Aber auch Sopranhöhen und eine angenehme Leichtigkeit der Stimmführung lässt die Solís vernehmen, und zwar im „Spazzacamino“, dem „Schornsteinfeger“. Einer Elvira oder Odabella gut anstehen würde „Il tramonto“ mit generösen Bögen und schönem Verklingen. Einen dunklen Schleier legt die Sängerin für die „Notte oscura“ über ihre Stimme,  eine raffinierte Piano-Tiefe hat sie für „Il mistero“, ehe schließlich mit dem Brindisi mit strahlender Höhe pure Lebensfreude verbreitet wird. In allen ihren Intentionen erhält sie kompetente Unterstützung vom Pianisten Rubén Fernández Aguirre, und eine CD mit Opernarien sollte baldmöglichst folgen (IBS5192019/ weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Ingrid Wanja

 

Nix Sizilien

 

In Berlin waren sie jahrelang das Refugium für regiegestresste Hauptstädter und ihre Gäste, die konzertanten Wagner-Aufführungen in hochkarätiger Besetzung und mit dem DSO unter der Leitung seines Chefdirigenten Marek Janowski – und zum Glück gibt es davon auch CDs zur dankbaren Erinnerung. Nun ist aus dem Dresden von 2019, nein, nicht mit der Staatskapelle, sondern der Dresdner Philharmonie eine Cavalleria rusticana erschienen, bei der nicht das Orchester, schon gar nicht der vorzügliche MDR Leipzig Radio Choir enttäuschen, sondern einige der Solisten, die leider das auf dem Cover der CD lodernde Feuer des Ätna nicht auf ihren Stimmbändern tragen.

Die von Janowski gewählten Tempi gehören zu den eher schnellen, straffen, abgesehen vom besinnlich genommenen Zwischenspiel, die weitgespannten Bögen und die raffinierte Agogik dokumentieren den Reichtum der Partitur, erinnern streckenweise an spätromantische Aufwallungen. Vielseitig zeigt sich der Chor, der von Jörn Hinnerk Andresen einstudiert wurde mit duftigen „aranci“, schönen Abstufungen im „regina coeli“ und vokalem Übermut im Brindisi.

Einen vokalen Kraftprotz von Turridu, der in Richtung deutscher Heldentenor weist, gibt Brian Jagde, dessen Siciliana eigentlich Alfio nicht hätte entgangen sein dürfen, der mit einem kraftvollen, aber nicht von der Sonne Siziliens geküssten Tenor die arme Santuzza allein schon durch Stimmgewalt niederschlägt, der im Brindisi etwas schwerfällig wirkt, Leidenschaft und Kraft in das Addio investiert und im „non tornassi“ von tragischer Wucht ist.

Dem Alfio von Lester Lynch kommen die schnellen Tempi entgegen, sein Bariton passt zur Figur, bei gemäßigtem Tempo erscheint er als prägnant, von schmerzlicher Betroffenheit ist „che dite“ und eindrucksvoll sein „Ad essi non perdono“.

Eine zarte Ausgabe von Santuzza gibt Melody Moore, deren Stimme das Kernige, die stabile Mittellage fehlen, die für die Figur einfach zu wenig corpo hat. Anstelle von abgrundtiefer Verzweiflung hört man in ihrem „Io son‘ danata“ nur Geschmäcklerisches, klingt ihre Santuzza fast durchgehend eher jämmerlich als tragisch. Gefällig, wie es sich gehört, singt Roxana Constantinescu die Lola, traurig machende Stimmreste setzt Elisabetta Fiorillo für die Mamma Lucia ein.

Abgesehen von Chor und Orchester ist diese Aufnahme keine, die man sich immer und immer wieder anhören möchte( Pentatone PTC 5186 772). Ingrid Wanja     

 

Peter Jonas

 

Die Bayerische Staatsoper trauert um ihren langjährigen Intendanten  Peter Jonas, der am Abend des 22. April 2020 nach einem 45-jährigen Kampf gegen den Krebs in München verstorben ist.

„Die Musik- und Opernwelt hat in Sir Peter Jonas einen großen Mann verloren. Er hat über Jahrzehnte das Musiktheater- und Konzertleben mit Mut, mit Originalität, mit Energie und unbändiger Lust am Risiko geformt“, so Intendant Nikolaus Bachler. „Die Bayerische Staatsoper prägte der in London Geborene in einzigartiger Weise, definierte das Gefühl und Verständnis ihres Publikums für Musiktheater vollkommen neu und positionierte diese Kunstform weit über München hinaus in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. So war Sir Peter Jonas für München ein Glück – mit englischem, oftmals das Absurde streifenden Humor und großer Disziplin und britischer Coolness schuf der „Kinofan“ und allem Visuellen aufgeschlossene Sir Peter hier einen neuen Blick auf die Opernkunst. Seit der Ära Jonas hört das Publikum in München (auch) mit den Augen. Wir werden ihn vermissen und uns seiner dankbar erinnern – auf der ganzen Welt und gerade in München.“ (Foto + Quelle Bayerische Staatsoper)

 

Dazu auch ein Auszug aus dem verdienstvollen Wikipedia: Peter Jonas CBE, FRSA (* 14. Oktober 1946 in London; † 22. April 2020 war ein britischer Kulturmanager und Opernintendant. Peter Jonas wurde 1946 als Sohn eines Deutschen und einer Engländerin mit schottischen und spanisch-libanesischen Wurzeln geboren. Er besuchte zunächst die Benedicte Worth School. Danach studierte er zunächst an der University of Sussex Englische Literatur, schwenkte dann aber nach seinem ersten akademischen Grad auf Oper und Musikgeschichte um. Diese beiden Fächer studierte er am Royal Northern College of Music in Manchester und später am Royal College of Music in London. Ein letztes Jahr studierte er an der Eastman School of Music in Rochester (New York).

1974 ging er nach Chicago als Assistent des Generalmusikdirektors Sir Georg Solti, wo er zwei Jahre später künstlerischer Betriebsdirektor des Chicago Symphony Orchestra wurde. In seiner elfjährigen Amtszeit arbeitete er mit vielen bekannten Komponisten, Solisten und Dirigenten zusammen.

1984 wurde er zum Generaldirektor der English National Opera ernannt. Ein Jahr später trat er sein Amt an. In seiner Amtszeit verbesserte sich das internationale Ansehen der National Opera durch neue Stücke im Repertoire und die Aufführung von bekannten Stücken für ein breites Publikum.

Am 1. September 1993 wurde Sir Peter Jonas zum Staatsintendanten der Bayerischen Staatsoper. Dieses Amt hatte er bis August 2006 inne. In dieser Zeit erweiterte er das Repertoire unter anderem um viele Barockopern. Außerdem setzte er sich energisch für das Projekt „Oper für alle“ und für Werke zeitgenössischer Komponisten mit vierzehn Uraufführungen ein. Seine Bemühungen galten stets den Hauptzielen der heutigen Oper: Zugänglichkeit und Qualität.

Als Nachfolger von Götz Friedrich übernahm Jonas von 2001 bis April 2005 das Amt des 1. Vorsitzenden der Deutschen Opernkonferenz, der Vertretung der Opernhäuser im Deutschen Bühnenverein. Ab 2005 war er Stiftungsratsmitglied der „Oper in Berlin“ und Beiratsmitglied der Technischen Universität München.
Jonas erlag im April 2020 im Alter von 73 Jahren den Folgen einer längeren Krebserkrankung (Hodgkin-Lymphom).

 

Joachim Raffs „Benedetto Marcello“

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Ein gemeinsames Schicksal teilen Joachim Raff und einer seiner Helden in seiner vorletzten von sechs Opern, der deutsche Komponist Johann Adolf Hasse, miteinander: Beide waren sie zu Lebzeiten hochberühmt und viel gespielt und fielen schließlich dem Vergessenwerden anheim. Den Titel für das Werk, das eigentlich „Kunst und Liebe“ heißen sollte, verleiht allerdings ein Zeitgenosse Hasses, der wie Händel in Italien als „caro Sassone“ gefeiert wurde, dem zu Lebzeiten seines Komponisten nie aufgeführten Werk: Benedetto Marcello. Wurde Joachim Raff zu Lebzeiten in einem Atemzug mit Brahms und Schumann genannt, war er Protégé von Mendelssohn und Liszt, dessen Werke er sogar orchestrierte, mit Wagner bekannt  und mit Joseph Joachim so eng befreundet, dass man sie wie Castor und Pollux einschätzte und „Raff und seinen Vornamen“ betitelte, so zog sich Benedetto Marcello früh vom Komponieren und Unterrichten zurück und ging als Gouverneur zunächst nach Pola, später, wie es auch die Oper vermeldet, nach Brescia.

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„Benedetto Marcello“: der Komponist Joachim Raff/ Wikipedia

Wenn nun doch noch, gut 140 Jahre nach ihrem Entstehen, die „lyrische Oper“ auf CD als Übernahme vom SWR als Aufnahme eines Konzertes in Bad Urach bei Sterling erscheint, nachdem sie 17 Jahre zuvor ihre konzertante Uraufführung in Bad Urach erlebt hatte, dann mit einigem Recht unter der Schweizer Flagge, denn der Komponist wurde im Kanton Schwyz geboren, nachdem sein Vater sich, um den napoleonischen Rekrutierungsmaßnahmen im verbündeten Württemberg zu entgehen, sich dorthin geflüchtet hatte. Wie der Vater wurde auch der Sohn zunächst Schulmeister, wurde mit 18 Sekretär des päpstlichen Nuntius, komponierte jedoch in jeder Minute seiner Freizeit, schickte Mendelssohn einige seiner Werke, der sie bei seinem Verleger Breitkopf drucken ließ. Der erhoffte Erfolg stellte sich nicht ein, so dass Raff zeitweise, nachdem er sich mit seinem Auch- Gönner Liszt  überworfen hatte, als Musiklehrer in Stuttgart lebte, später bei einem Verlag in Hamburg, ehe er nach Weimar zu Liszt zurückkehrte, wo seine erste Oper, „König Alfred“, mit einigem Erfolg, aber ohne Folgen aufgeführt wurde. Seine finanziell erfolgreichste, aber eine kräftezehrende Zeit war die in Frankfurt, wo er das dortige Konservatorium leitete. Nach seinem Tod spendierte die dankbare Stadt ihm ein Ehrengrab.

„Benedetto Marcello“: der venezianische Komponist/ Wikipedia

Vom Fleiß des Komponisten, der zu seinen Lebzeiten zu den meistgespielten in Deutschland gehörte,  zeugen allein 12 Sinfonien und sechs Opern, welch letzteren jedoch kein Erfolg beschieden war, wenn sie denn überhaupt ihre Uraufführungen erlebten. Viel Pech war dabei im Spiel, denn der erste Tristan, Ludwig Schnorr von Carolsfeld, war gewillt, den „Samson“ zu singen, starb jedoch vor der Umsetzung des Plans, so wie es auch Mendelssohn geschah, ehe Raff die Ausbildung an dessen Konservatorium in Leipzig antreten konnte oder dem Wiener Musikverleger, der ihm eine Anstellung versprochen hatte.

Raff war ein großer Liebhaber der Barockmusik, was verständlich macht, dass er zwei berühmte Barockkomponisten zu Helden seiner Oper machte, was aber keinesfalls bedeutet, dass er Musik im barocken Stil komponierte. Vielmehr könnte man die seine in eine Reihe mit der von Lortzing, Nicolai oder Flotow stellen, melodiöse Werke mit reicher Harmonik, aber stets der Singstimme den Vortritt lassend und ganz und gar unwagnerisch. Das Libretto hat Raff nach unliebsamen Erfahrungen mit Librettisten selbst verfasst, was nicht bedeutet, dass es ein gutes ist, vielmehr strotzt es von den zum Teil dem Bemühen um einen Reim geschuldeten Peinlichkeiten, wie sie zu seiner Zeit gang und gäbe waren. Aber selbst die mit Texten erfahrene Ehefrau, eine bekannte Schauspielerin, konnte den Komponisten nicht daran hindern, seine so angenehme Musik mit der Fracht unsagbarer literarischer Produkte zu beschweren.

„Benedetto Marcello“: Sestiere San Marco Palazzo Morosini – heute Conservatorio Benedetto Marcello; Abbildung oben: Ausschnitt aus dem bekannten Bild von Canaletto/ beide venediginformationen.eu

Die Handlung seiner Oper hat Raff erfunden, die Personen sind durchweg historisch belegt. Dies trifft also nicht nur auf die Komponisten Hasse und Marcello zu, sondern auch auf ihre Gefährtinnen Faustina Bordoni und Rosana Scalfi.  Erstere war eine tatsächlich berühmte Sängerin, die nach ihrer Heirat mit Hasse auch in Deutschland, so am Dresdner und Wiener Hof, Triumphe feierte. Letztere war nicht das arme Waisenkind der Oper, sondern stammte aus gutem Venezianer Haus, wurde aber tatsächlich die Gattin von Marcello. Fiktion ist das Treffen der beiden Musiker in Venedig, wo der jüngere Deutsche dem älteren Italiener die geliebte Frau, Faustina, ausspannt, von diesem zu Duell mit unblutigem Ausgang gefordert wird und schließlich erkennt, dass er eigentlich die ihn längst heimlich verehrende Rosana liebt. Beide ziehen nach Brescia, Hasse kehrt mit Faustina nach Deutschland zurück.

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Die Beschäftigung mit Benedetto Marcello macht nicht zuletzt deswegen Freude, weil die Ausgabe eine sehr sorgfältige ist. Es gibt separat vom Booklet das vollständige Libretto in Deutsch und Englisch, und im Booklet einen sehr informationsreichen Artikel über den Komponisten  von Mark Thomas, der aus dem Englischen auch ins Deutsche übersetzt worden ist. Dazu gibt es eine sehr ausführliche Inhaltsangabe.

„Benedetto Marcello“: Grab Marcellos in Brescia/ venediginformationen.eu

Die Leitung des Unternehmens war 2002 Grzegorz Nowak und dem SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern anvertraut worden, die  besonders in der Ouvertüre und den Vorspielen zu den einzelnen drei Akten eine romantische, dichte Atmosphäre erzeugen, so dass man nachvollziehen kann, dass Raff vor allem als Komponist von Orchesterwerken sehr erfolgreich war. Zwar ist von venezianischem Kolorit trotz des Barcarolerhythmus‘ während der Gondelfahrt des Liebespaars Hasse-Faustina wenig zu verspüren, eher kann man in der Ouvertüre Anklänge an Rossini, jedoch wohl nur als Zitat gedacht, vernehmen, aber der reiche, dabei stets durchsichtig bleibende Orchesterklang ist ein durchweg angenehmer.

„Benedetto Marcello“ von Joachim Raff bei Sterling

Eine besonders glückliche Hand hatte der für die Besetzung der vier Partien Verantwortliche (ein Männerchor klingt nur wenige Minuten lang aus der Ferne), was die Damen betrifft. Dabei ist man zunächst verblüfft über die Zuordnung eines satten Mezzosoprans zu der Kindfrau Rosana, während ein zarter Koloratursopran der reiferen Faustina zugeordnet ist. Das lässt sich damit erklären, dass diese als gefeierte Sängerin eine Bravourarie zu absolvieren hat, außerdem die historische Faustina ein Sopran war. Margarete Joswig singt die hingebungsvoll, aber vom Meister unbemerkt Liebende Rosana mit warmer, geschmeidiger, gar nicht unerweckt klingender Mezzostimme, mit tiefer Empfindung z. B. im „denn mein Hoffen war ein Traum“. Melba Ramos ist Faustina, die sich, der Meinung Raffs, aber nicht der Mode ihrer Zeit entsprechend, für das Schlichte ausspricht, aber mit einer hochvirtuosen, brillanten, wohl absichtlich etwas „mechanisch“ klingenden Arie reüssiert. Ein Gebet, das sie im weiteren Verlauf der Handlung vorträgt, endet etwas schrill.

Der jüngere Hasse ist bei Raff einem Tenor anvertraut. Johannes Kalpers singt ihn mit recht trockener, eng geführter Stimme, zwar zur Emphase, wenn angebracht, bereit, aber doch nur mit begrenzten Mitteln ihr gerecht werdend. Dem Marcello verleiht Detlev Roth einen zwar recht dumpfen, aber dennoch über weite Strecken markanten Bariton guter Diktion. Es ist die Crux von Aufnahmen unbekannter Opern, dass man herausragende Sänger (siehe Jonas Kaufmann in frühen Jahren) nur selten oder am Beginn ihrer Karriere für so unprofitable Unternehmen gewinnen kann. Trotzdem ist die Begegnung mit dem Komponisten und mit seinem zu Unrecht erst als über Hundertjährigem zur Geburt gelangten Werk eine sehr lohnende. (Sterling CDO 1123/1124-2). Ingrid Wanja

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Eine ausführliche Biographie und verschiedene Artikel zu Aspekten Raffs finden sich bei der schweizerischen Raff-Gesellschaft auf deren interessanter website; eeitere Information zu den CDs   im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Dem Schwiegervater und seiner Ehefrau gewidmet

 

In den letzten Jahren hat sich einiges getan in Sachen des tschechischen Komponisten Josef Suk (1874-1935), der mittlerweile nicht mehr bloß als der Schwiegersohn von Antonín Dvořák, sondern als ganz eigenständiger Komöponist gesehen wird. Ein Gros dieses Ansehens beruht fraglos auf der 1905/06 entstandenen, Requiem-artigen Asrael-Sinfonie, die eigentlich seine zweite war – die erste entstand bereits zwischen 1897 und 1899 – und mit dem Untertitel Dem Andenken Antonín Dvořáks und seiner Tochter, meiner Gattin Ottilie bezeichnet ist. Die ganze Tragödie, die sich hinter der Entstehung dieses Werkes verbirgt, ist bereits in dieser Widmung ersichtlich. Ursprünglich der Erinnerung an den Schwiegervater zugedacht, gelten die ersten drei Sätze diesem. Der zunächst angedachte Optimismus für den Abschluss der Sinfonie wurde freilich nach dem Ableben von Suks Gemahlin verworfen, die ihrem Vater nur ein gutes Jahr später ebenfalls ins Grab folgte. Völlig einzigartig dürfte die Konzeption dieser beiden Sätze Nr. 4 und Nr. 5 sein, nacheinander zwei Adagios, der Finalsatz zudem mit e maestoso angereichert. Das Werk ist insofern gleichsam zweigeteilt. Der Namensgeber Asrael, der Engel des Todes, bestimmt das Hauptmotiv der Sinfonie, vom unerbittlichen Beginn bis zum dann doch versöhnlichen Ende im Stile eines feierlichen Fernchorals. Ein wenig Ziellosigkeit mit gelegentlichen Längen auf dem langen Wege bis dorthin mag der Grund sein, wieso sich Asrael letztlich nicht im Standardrepertoire durchsetzen konnte.

 

An Einspielungen besteht mittlerweile kein Mangel mehr, so dass man vielmehr die Qual der Wahl hat, welche nun durch die Neuerscheinung des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks unter Jakub Hrůša (BR-Klassik 900188) noch erweitert wird.  Hrůša, mit kaum vierzig der wohl aussichtsreichste unter den jüngeren Dirigenten Tschechiens, steht seit 2016 nicht nur den Bamberger Symphonikern als Chefdirigent vor, sondern ist als Erster Gastdirigent der Tschechischen Philharmonie wie auch des Philharmonia Orchestra in London zudem die Nummer zwei weiterer weltweit führender Klangkörper. Es sind dann auch vornehmlich Einspielungen seiner eigenen Landsleute, gegen welche die Neuproduktion bestehen muss, angefangen bei Václav Talich (Supraphon) und Karel Ančerl (SWR Classic) über gar zwei Aufnahmen von Václav Neumann (Supraphon) bis hin zu Jiří Bělohlávek mit ebenfalls zwei Einspielungen (Supraphon und Decca) und zuletzt Tomáš Netopil (Oehms). Den Fels in der Brandung stellt für mein Dafürhalten nach wie vor die Aufnahme unter Rafael Kubelík dar (Panton). Nicht zu vergessen, dass Hrůša das Werk bereits 2013 selbst mit dem Tokyo Metropolitan Symphony Orchestra vorgelegt hat (Exton). Und damit hat man dann noch etliche weitere Aufnahmen gar nicht berücksichtigt, von Claus Peter Flor (BIS) und Kirill Petrenko (cpo) bis gar zu Jewgeni Swetlanow (Russian Disc). Die Konkurrenz ist als groß und hochrangig. Klanglich kann sich die zwischen 18. und 20. Oktober 2018 in der Münchner Philharmonie im Gasteig produzierte Neueinspielung des BR freilich ganz vorne behaupten. Gegenüber seiner eigenen früheren Einspielung aus Tokio hat  Hrůša die Tempi pro Satz im Schnitt um etwa eine halbe Minute verbreitert und kommt nun auf knapp 63 Minuten Gesamtspielzeit. Wenn ich das richtig überblicke, hat er damit tatsächlich die nach Kubelík (64:15) langsamste Interpretation vorgelegt. Nun soll dies per se kein Qualitätskriterium sein, doch darf guten Gewissens behauptet werden, dass die künstlerische Qualität der neuen BR-Aufnahme derjenigen der alten BR-Aufnahme – auch Kubelík dirigierte seinerzeit des BR-Symphonieorchester – sehr nahe kommt und auch die Tokioer Erstaufnahme übertrifft. Insofern eine weitere Bereicherung der gar nicht mehr so schmalen Suk-Diskographie. Die Textbeilage (Einführungstext von Matthias Corvin) ist sehr adäquat (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Daniel Hauser

Spontinis „Fernand Cortez“

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Das  Maggio Musicale Fiorentino überwältigte und überraschte am 12. Oktober 2019 mit einer in modernen Zeiten nie gesehenen Oper: der ersten Version des Fernand Cortez, dem gigantischen Oeuvre, das Napoleon bei Gasparo Spontini (1774 – 1851) in Auftrag gegeben hatte, um für den Feldzug in Spanien im Jahre 1809 Propaganda zu machen, das dann aber nach „nur“ 24 Vorstellungen abgesetzt worden war, weil das spanische Unternehmen nicht wie gehofft verlief und die Identifizierung des Kaisers mit dem allzu hochpolierten Helden, der die Zivilisation und den Fortschritt zum Schaden der Einheimischen nach Mexiko bringt, eindeutig schwerer zu vermitteln war. Nun ist das Ganze bei Dynamic in üppig-prachtvoller DVD-Optik und gleichzeitig als CD mit ausreichender Beilage und Libretto zweisprachig engl.-franz. (Bluray 57868 und 2 CD CDS 7868;  2020).

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Bei der ersten Pariser Aufführung war der Fernand Cortez dennoch ein Triumph, und auch das Publikum nun von Florenz, zeigte, dass es die Wiederentdeckung dieser Oper zu schätzen weiß, die dann in den nach folgenden Versionen ab 1817  bis zum Ende des Jahrhunderts aufgeführt wurde (1817 erneut in Paris in einer drastisch veränderten Version, in Berlin 1824 und 1825, wo sich Spontini ab 1820 niedergelassen hatte, und weitere mehr, einschließlich der indiskutablen italienischen Versionen mit Renata Tebaldi 1950 oder Angeles Gulin 1970 bis hin zu Erfurt 2006 in der späteren französischen Fassung von 1817; Dortmund wird 2020 die Oper erneut und in der 3. Fassung/1824 geben. Die Übersetzung ist dem zweisprachigen gedruckten Klavierauszug von 1825 entnommen, den Spontini selbst überwacht hat.). Aber in der ursprünglichen, ersten Version kam Cortez nicht mehr auf die Bühne. Erst 2019 nun folgte  Florenz, wofür Federico Agostinelli die Erstfassung rekonstruiert hat.

Zweifellos handelt es sich um eine sensationelle Unternehmung, absolut bewundernswert angesichts der nicht geringen Schwierigkeiten: nicht nur, dass nun die finanziellen Mittel  des Maggio weitaus schmäler waren als damals in Paris (keine galoppierenden 14 Zirkus-Pferde mehr auf der Bühne – in Florenz sehr plausibel „ersetzt“ durch die Tänzer des Nuovo Balletto di Toscana/Alesso Maria Romano). Dazu kam der Wechsel des Dirigenten, nachdem Luisi hingeworfen hatte. Und dazu auch die Indisposition der absolut wichtigen Sängerin, Alexia Voulgaridou als Amazilly, die eine noch wichtigere Rolle spielt als der Protagonist und die zu ihrem Debüt tatsächlich erst zur Generalprobe erschien, aber dennoch absolut die Beste des Abends ist (vielleicht optisch ein wenig blass und sehr mit der Musik beschäftigt, was kein Wunder ist). Was sie an Stimmschönheit trotz der unmenschlichen Anforderungen (namentlich im 2. Akt) zeigt, was sie an exzellenter Stimmführung und bewundernswerter Rollengestaltung vorführt, ist nichts weniger als eine Sternstunde des ebenso furchtlosen wie tonschönen Gesangs (mich erinnert sie merkwürdiger Weise mit fast jeder Note an die von mir so geliebte Sena Jurinac…). Was am Ende mit jubelndem Beifall belohnt wird. Zu recht – selbst am TV-Screen ist man einfach sprachlos vor Bewunderung. Ich jedenfalls.

Spontinis „Fernand Cortez“ in der Erst-Version von 1809 beim Maggio Musicale Fiorentino 2019/ Szene/ Foto TMF

Mehr als anständig wirkt auch der Fernand Cortez von Dario Schmunck mit ebenso exzellenter Diktion wie alle seine Bühnenpartner, und mit ebenso tapferer wie Belcanto-geübter Tenorstimme staunenswerter Durchhaltekraft. Der Alvar von David Ferri Durà leuchtet mit schönem Tenor. Angenehm fallen auch Davide Ciarrocchi und Nicolò Avroldi im herrlichen Terzett der Gefangenen im dritten Akt auf. André Courville gibt den mexikanischen Boten und Oberpriester – markant auch Gianluca Margheri als sehr attraktiver, fast diabolischer Gefährte Morale, der die verbindende Figur zwischen den Akten ist. Staunenswert auch die Leistung des Veteranen Luca Lombado aus Frankreich, der seinen Charaktertenor zu großer Wirkung bringt und der einen gelungenen Gegenspieler Telzeuco abgibt (trotz grämlicher Optik).

Insgesamt zu loben sind die Leistungen von Orchester und Chor unter der vorwärtsdrängenden Leitung von Jean-Luc Tingaud, der resch und schnörkellos Spontinis Musik auffächert und diese unglaublichen Klangmassen fein schattiert.

Die Regie von Cecilia Ligorio stellt die Oper selbst (die prunkvolle Ausstattung mit den hinreißenden historischen Kostümen  stammt von Alessia Colosso, Massimo Cechetti und Vera Pierantoni Gina, magisch beleuchtet von Maria Domènech Gimenez) in eine  (auf dessen Tagebuch beruhende) Rahmenerzählung aus dem Tagebuch des Morales,  einer der Gefährten von Cortez  und ein vom Gold geblendeter junger Mann während der Eroberung Mexikos, der als alter Mann nachdenklicher erscheint. Er erinnert sich schuldbewusst und lässt damit  Schatten des Zweifels auf den eigentlich positiven Helden fallen. Eine gute Idee. Alles in allem fehlt es dem Abend nicht an Spannung, ein so grandioses und unbekanntes Werk zu erleben.

Wenngleich man auch ins gelegentliche Nachdenken über das Abfilmen von Live-Aufführungen kommt, denn die Solisten kleben doch sehr oft an den Promptern angesichts ihrer vielen schwierigen Einsätze. Was eine glaubwürdige Interaktion zuweilen torpediert. Erwähnen muss man die wirklich spannende Kameraführung (Tiziani Mancini) und die ganz wunderbaren Lichtregie von Maria Domenech Giminez), die die Bühne in zuweilen magisches Licht taucht. Das können nur Italiener. Die farbenfrohen, in viele Rot-Töne gehaltenen Kostüme der Inkas kontrastieren mit dem martialischen Leder-Schwarz der Spanier auf das Vortrefflichste. Eine wirklich luxuriöse und luxuriös beleuchtete Optik in der Tat. Zu deren Genuss sich die vielsprachigen Untertiteln gesellen, über die die DVDs/ Blurays verfügen. Erfreulich sind zudem zwei stringente Aufsätze von Paolo Pelazzi und Federico Agostanelli (aus dem originalen Programnmheft des Maggio) zum näheren Verständnis der Aufführungsgeschichte und dieser Fassung. Alles in allem eine vorbildliche Ausstattung

Die Vorstellung dauert fast viereinhalb Stunden (alles auf einer Bluray!) – die unglaublich vielseitigen und fast nicht enden wollenden Ballette in Akt 1 und 3 tragen das ihre dazu bei. Für mich ist dies eine der Editionen für die einsame Insel. Ob Dormund mit der für 2020 geplanten (und sicher verschobenen) deutschen Erstaufführung der Berliner Fassung (retour ins Französische übersetzt) da heranreichen wird, wird sich zeigen müssen. Ich hab meine Zweifel. Dies hier ist kaum zu toppen. Dank an Dynamic und natürlich das Theater in Florenz!  Geerd Heinsen

Spontini: „Fernand Cortez“/Figurine für Amazily von Lecomte Hippolyte/ BNF

Dieses so bedeutende Ergebnis von Planung und  glanzvoller Bewältigung beim Maggio Musicale 2019 wollen wir mit einem  Artikel zum Werk begleiten. Nachstehend dazu ein Beitrag des Musikwissenschaftlers Jürgen Maehder von der Berliner FU , der sich mit der Werkgeschichte und der musikalischen Wirkung dieser ungewöhnlichen und bahnbrechenden Oper beschäftigt.

Gasparo Spontini und sein Fernand Cortez: Die Uraufführung der ersten Fassung an der Académie Impériale de Musique (28.11.1809) erzielte nur einen bescheidenen Erfolg; die von Napoleon intendierte antispanische Propagandawirkung des Werkes wurde, wie Jacques Joly gezeigt hat, durch die ambivalente Rezeptionsstruktur des Werkes zwischen heroischer Glorifizierung der spanischen Eroberung und Mitleid mit den Eroberten wesentlich geschwächt. Es ist bezeichnend für den ‚Montagecharakter‘ des Librettos, das verschiedene Begebenheiten der Eroberung Mexicos in einer weder geographisch noch chronologisch stimmigen Ordnung zusammenfasst, dass für die zweite Fassung des Werkes die Handlung der Akte untereinander ausgetauscht und wesentliche szenische Wirkungselemente von einem Akt in den anderen verpflanzt werden konnten. Zu diesen zählten die Opferszene der spanischen Gefangenen im Tempel des mexikanischen Gottes Talépulca, die von Cortez befohlene Zerstörung der spanischen Flotte, die historisch belegte Demonstration eines Kavallerie-Angriffes von Seiten der Spanier vor den Augen der erschrockenen Mexikaner sowie die Zerstörung der Hauptstadt Tenochtitlán. Im Vergleich zu den vorauf gegangenen Vertonungen des Stoffes ist ebenso bemerkenswert, welche Handlungselemente in diesem Libretto fehlen; vor allem die offenbar auf Esménard zurückgehende Eliminierung der Gestalt Montezuma wurde von der zeitgenössischen Kritik moniert.

Spontini: „Fernand Cortez“/ Die Erinnerungen des Cortez-Freundes Henri Lebrun (hier die originale Erstausgabe von 1872), die eine Rahmenhandlung für die Florentiner Aufführung 2019 bildeten/ BNF

Die resultierende Asymmetrie der Parteien der Spanier und Mexikaner wurde durch die Umarbeitung zur zweiten Fassung wenigstens in Ansätzen korrigiert. Dabei wurde der ehemalige I. Akt zum II. Akt der Neufassung, was den dramaturgischen Nebeneffekt zeitigte, dass die Zerstörung der spanischen Schiffe von der Küste an den See von Tenochtitlán verlegt werden musste. Der berühmte Auftritt der siebzehn vom Zirkus Fantoni ausgeliehenen Pferde, ursprünglich am Ende des I. Aktes angesiedelt, wurde in der 2. Fassung an das Ende des III. Aktes verlegt, bildete also gleichsam nur ein Anhängsel des Ballett-Divertissements, mit dem der ,lieto fine‘ der Handlung gefeiert wird. Diese zweite Fassung, am 28.5.1817 unter gänzlich gewandelten politischen Bedingungen mit großem Erfolg uraufgeführt, vermochte sich einen Platz im Repertoire der Académie Royale zu sichern und erlebte bis 1850 etwa 250 Auf- führungen. Die außerordentlich erfolgreichen Berliner Erstaufführungen der ersten (15.10.1814) und zweiten Fassung (20.4.1818) führten dazu, dass für Spontini die Position eines preußischen Generalmusikdirektors geschaffen wurde, die er am 1.2.1820 antrat; die folgenden Bearbeitungen des Werkes erfolgten daher in  deutscher Sprache und erlebten ihre Uraufführungen unter Leitung des Komponisten an der Berliner Hofoper. Wie der Vergleich der vier publizierten Fassungen und einer von Jacques Joly entdeckten Mischfassung mit handschriftlichen Anmerkungen enthüllt, suchten die Berliner Fassungen von 1824 und 1832 die absinkende Spannungskurve der Dramaturgie der zweiten Fassung durch eine plausiblere Gestaltung des Schlusses zu korrigieren; dabei erscheinen die vier Versionen des Werkes keineswegs als ideologisch neutral, sondern lassen sich den jeweiligen politischen Konstellationen ihrer Entstehungszeit präzis zuordnen.

Spontini: „Fernand Cortez“/ Figurinen zur Uraufführung 1817 an der Pariser Oper: [Fernand Cortez ou la_conquête_[…]Ménageot_François-Guillaume/ BNF

Die in Spontinis Partitur allenthalben offenbare Tendenz zur Ausnützung aller vorhandenen musikalischen wie szenischen Wirkungsmittel hat den Zeitgenossen den Blick getrübt für die Fülle musikalischer Innovationen, durch die diese Partitur den Weg für die avanciertesten Werke der Grand Opéra ebnete.94 Das für die Tradition der Grand Opéra konstitutive Element des szenischen Tableaus fand in Spontinis Fernand Cortez seine erste gelungene Realisierung; vergleichende Untersuchungen, die Spontinis Szenenstrukturen in Fernand Cortez mit denjenigen in Rossinis Le Siège de Corinthe oder Wagners Rienzi verglichen, führten zu überzeugenden Resultaten. Die Präsenz zweier rivalisierender Chorgruppen auf der Bühne, die auch in der Simultaneität musikalisch individualisiert erscheinen, verweist zwar auf das direkte Vorbild von Lesueurs Ossian ou les Bardes (1805), doch gelang es Spontini, die musikalische Charakterisierung auf ein neues Niveau von Individualität zu heben. In der Behandlung der Bühnenmusik wie in seiner avancierten Verwendung typisierender Schlaginstrumente sollte Fernand Cortez eine spezifisch französische Tradition begründen helfen, die in den Partituren von Giacomo Meyerbeer und Hector Berlioz ihre reinste Ausprägung fand. Raumeffekte, wie sie schon die Partitur von La Vestale auszeichneten, sind in besonderer Weise konstitutiv für die Musiksprache des Fernand Cortez; bereits der Titel „Marche des Mexicains, dans le lointain, et Duo sue le devant du Théâtre“ (1. Version, I,5) verrät die Planung der Raumempfindung als Bestandteil der musikalischen Faktur. Die Ableitung der ‚Verräumlichung‘ der französischen Musik für das Theater nach 1789 von der akustischen Erfahrung der Revolutionsfeste scheint plausibel; auch der vorherrschende Marschcharakter von Spontinis Partitur spiegelt eine zeitgenössische Klangerfahrung, die Militarisierung des öffentlichen Lebens während der napoleonischen Ära.

Der Autor: Jürgen Maehder/ Wikipedia

Die janusklöpfige Position von Étienne de Jouys und Esménards Libretto zwischen den Konventionen der Tragédie lyrique des 18. Jahrhunderts, die ein ,lieto fine‘ mit freudigem Schluss-Divertissement zwingend vorschrieben, und dem ahnungsvollen Vorgriff auf neuartige – und in der Grand Opéra des 19. Jahrhunderts endgültig realisierte – Formen von Dramaturgie, in denen die politischen und privaten Konflikte unter Einbeziehung eines individualisierten Chorkollektivs eng miteinander verzahnt wurden und auf eine unvermeidliche Katastrophe zusteuerten, sollte sich als schwere Hypothek für das Werk erweisen. Eine synoptische Edition der vier publizierten Fassungen des Werkes sowie der von Jacques Joly beschriebene Übergangsversion zwi- schen der ersten und der zweiten Fassung mit handschriftlichen Anmerkungen wird im Rahmen der geplanten kritischen Edition des Werkes vorzulegen sein.

Die verdienstvolle Aufnahme der späteren, zweiten Fassung von 1817 ist die vergriffene Accord-Einspielung unter Jean-Claude Penin/ 2002, die allerdings durch die Teilnahme der Sopranistin in ihrer sonst durchaus empfehlenswerten Wirkung torpediert wird…

Fernand Cortez, neben La Vestale zweifellos das Hauptwerk des musikalischen Theaters der napoleonischen Epoche, markiert den Übergang von einer klassizistischen zu einer exotistischen Stoffwahl; die Entscheidung für einen ‚pittoresken‘ und zugleich historischen Stoff sollte den Entwicklungsgang der Operndramaturgie in den folgen- den Jahrzehnten wesentlich beeinflussen. Das zugrundeliegende Handlungsmodell einer in einen historischen Konflikt eingebetteten Liebesgeschichte zwischen europäi- schem Eroberer und eingeborener Frau wurde in der Folgezeit zur klassischen Konstellation der Dramaturgie in der exotistischen Oper des 19. Jahrhunderts. Jürgen Maehder

Der Autor: Jürgen Maehder, (emeritierter Professor für Musikwissenschaft an der FU Berlin/ Foto Wikipedia}, erlaubte uns einen Auszug aus seinem Aufsatz „Die Darstellung der Eroberung Mexikos im Übergang von der Opera seria des Settecento zur Oper des Empire“ aus dem Sammelband „Spontini und die Oper im Zeitalter Napoleons“/ Band 11 in der Reihe „Musik und Theater“/ Hrsg. Detlef Altenburg et al. im Studio Punkt Verlag, Sinzig 2015, (ISBN 978-3-89564-150-3/ ISSN 0941-8954) hier wiederzugeben, wofür wir ihm und dem Verlag (dort  besonders Gisela Schewe) außerordentlich danken. Das Buch haben wir bereits in operalounge.de (Die Macht und die Kunst) besprochen.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Il Vinci(tore) barocco

 

In strahlender Siegerpose mit blendendem Gebiss präsentiert sich Franco Fagioli auf dem Cover seiner neuen CD bei der DG (4838358), die dann auch passend den Titel Veni Vidi Vinci trägt. Das letzte der drei Worte verweist aber auch auf den Komponisten, dem das Programm dieser Einspielung gewidmet ist: Leonardo Vinci. Er lebte von 1690(?) bis 1730 und zählt zu den Meistern der Neapolitanischen Schule, die sich vor allem dem canto fiorito, also dem virtuosen Koloraturgesang, widmeten.

Der argentinische Countertenor knüpft mit dieser Aufnahme, die im März 2019 im italienischen Lonigo entstand, an seinen spektakulären und wahrlich sieghaften Auftritt als Arbace 2012 in Vincis Artaserse an, der von seiner damaligen Plattenfirma Virgin auch auf CD dokumentiert wurde. Das Programm der neuen Platte mit 14 Titeln, darunter sieben Weltpremieren, bringt Arien aus acht verschiedenen Werken. Als Auftakt wählte der Solist zwei Arien aus Il trionfo di Camilla, uraufgeführt 1725  in Parma mit der Starsopranistin Faustina Bordoni in der Titelrolle. Deren beide Arien sind von allerhöchstem Anspruch an den Interpreten: In der ersteren, „Sembro quell’usignolo“, von Fanfaren sieghaft eingeleitet, vergleicht sich die als Hirtin verkleidete Königin mit einer Nachtigall – mit entsprechend virtuoser Herausforderung. Schon hier besticht der Interpret mit brillanten Koloraturläufen und lieblichen Trillern. In der zweiten, „Più non so finger sdegni“, bekennt die Königin nach Rückeroberung ihres Reiches in einer lieblichen Pastorale, dass sie sich nicht an ihren Feinden rächen werde. Dies bietet dem Sänger Gelegenheit für empfindsam-weiche Töne und innigen Ausdruck.

L’Ernelinda kam 1726 in Neapel zur Premiere mit Carlo Scalzi als Vitige. Im Recitativo accompagnato „Ove corri?“ und der nachfolgenden Arie „Sorge talora“ zweifelt er an der Treue seiner geliebten Ernelinda. Entsprechend der Situation klingt die Stimme im Rezitativ stärker vibrierend, was den erregten Zustand der Figur widerspiegelt. Die Arie aber lässt Fagiolis Organ in purer Schönheit erstrahlen, welches darüber hinaus mit mirakulösen staccati aufwartet.„Nube di denso orrore“ ist erfüllt von Hoffnung, was sich im schmeichelnden Stimmklang ausdrückt. Mit der Arie des Rosmeno aus dieser Oper, „Sull’ali del suo amar“, stellt Fagioli nicht nur eine zweite Figur aus diesem Werk vor, sondern bietet auch ein weiteres bravouröses Glanzstück, welches seine geradezu unwirkliche stimmliche Geläufigkeit demonstriert. Vinci verwendete das Stück ein Jahr später in seiner in Rom erstaufgeführten Oper Gismondo re di Polonia wieder, wo es von Giacinto Fontana (genannt „Farfallino“) in der Rolle der Cunegonda gesungen wurde. Hier erklingen zwei Arien, die eigens für dieses Werk geschrieben wurden: „Nave altera“ und „Quell’usignolo“. Erstere ist eine der häufig anzutreffenden Gleichnisarien, in welcher König Primislao gleich dem Sturme zwischen seiner Friedensliebe und einem politischen Stolz schwankt. Mit erregten Koloraturgirlanden wird diese Situation musikalisch geschildert – eine Nummer, wie für Fagioli geschaffen. In der zweiten, komponiert für den Kastraten Filippo Balatri, evozieren Blockflöten Vogelstimmen, was dem Interpreten Gelegenheit für kunstvolles Zierwerk bietet.

„Gelido in ogni vena“ ist eine im Barock mehrfach anzutreffende Arie, auch Vivaldi hat diesen Text (in seinem Farnace) vertont. Bei Vinci findet sich die Arie in der 1726 in Venedig uraufgeführten Oper Siroe re di Persia. Damals sang der Tenor Giovanni Paita die Rolle des Königs Cosroe. Die von Fagioli interpretierte Version ist im Sopranschlüssel notiert, was darauf schließen lässt, dass die Partie bei anderer Gelegenheit auch von einem Kastraten gegeben wurde. Die Komposition malt im Orchester plastisch aus, wie dem entsetzten Herrscher das Blut in den Adern gefriert. Der Solist zeigt sich souverän in der Beherrschung der langen Bögen und des tiefen Registers.

Das Programm wird ergänzt um die Arie „Barbari mi schernisci“ aus La Rosmira fedele (Venedig, 1725), in welcher Arsace über das abweisende Wesen der Prinzessin Rosmira klagt. Nach der Uraufführung mit Carlo Scalzi sang das Stück im selben Jahr auch Senesino in der Oper Elpidia. In diesem expressiven, mit schmerzenden Akkorden des Orchesters eingeleiteten Lamento bietet  Fagioli ein mit stärkstem Nachdruck deklamiertes Psychogramm. Schließlich ist die Arie des Titelhelden, „Vil trofeo d’un alma imbelle“ aus Alessandro nell’Indie zu hören, der in der Saison 1729/30 am römischen Teatro delle Dame mit Raffaele Signorini in der Titelrolle herauskam und zusammen mit Artaserse zu Vincis letzten Werken für die Opernbühne zählt. Der Komponist starb unerwartet und früh, möglicherweise als Opfer eines Racheanschlags. In der Arie hat der Sänger Gelegenheit, mit der auftrumpfenden Trompete in einen virtuosen Wettstreit zu treten, bei dem man keinen Sieger, aber auch keinen Verlierer ausmachen kann.

Die beiden letzten Titel stammen aus der 1728 in Parma erstmals aufgeführten Oper Medo und waren der Rolle des Giasone zugeordnet, die der Starkastrat Farinelli interpretierte. In „Scherzo dell’onda instabile“ geht er auf einem schiffbrüchigen Kahn unter großen Gefahren an Land. Farinelli übernahm die Arie 1729 auch in Leonardo Leos Catone in Utica nach einem Libretto von Metastasio, welches Vinci bereits ein Jahr zuvor vertont hatte. Die Komposition verlangt dem Interpreten alles ab an virtuosem Vermögen, erinnert in ihrem Duktus an Arbaces Bravour-Nummer „Vo solcando un mar crudele“ aus dem Artaserse, mit der Fagioli bei den Aufführungen 2012 in Nancy das Publikum zum Sieden gebracht hatte.„Sento due fiamme in petto“ schildert den zwischen Medea und seiner neuen Flamme Enotea schwankenden Giasone, der nicht weiß, dass Letztere die verkleidete Medea ist. Fagioli, dem das Ensemble Il Pomo d’Oro unter der Leitung seiner Konzertmeisterin  Zefira Valova ein bewährter und kompetenter Partner ist, muss hier kein Feuerwerk an Bravour bieten und beendet das Programm dennoch in wahrhaft sieghafter Manier mit betörend schönen Tönen. Bernd Hoppe

Opern-Irrführer

 

So hat es der Gestalter des Covers von Von Aida bis Zauberflöte sicherlich nicht gemeint: Ein befrackter Opernsänger schleudert den Namen der Autorin Dorle Knapp-Klatsch in das Auditorium, aus dem die letzten drei Hörer in Panik die Flucht ergreifen – und genau so ergeht es dem Leser, der das Buch studiert, das doch angeblich „locker und humorvoll“ und „akkurat und kenntnisreich“ über 55 „der populärsten Opern“ berichten soll.

Fangen wir an bei „populär“, was sicherlich weder Schönbergs „Die glückliche Hand“, noch Thomas „Draußen vor der Tür“, noch Vollmers „Gegen die Wand“ noch Czernowins „Pnima“, noch Denisovs „Schaum der Tage“, noch Andrés „Wunderzeichen“ sind.

Fahren wir fort mit „akkurat und kenntnisreich“, was zu sein bei einer so populären Oper wie „Aida“ keine große Herausforderung sein dürfte. Diesem Werk werden sogar zwei unterschiedliche Artikel, eine Kurzfassung und eine „ausführliche“, gewidmet. Doch beide wimmeln von Ungenauigkeiten und Fehlern.  Da tummelt sich neben Radames (richtig) auch mal ein Radamis (falsch), sogar ein Ramades (falsch). Falsch ist ebenfalls, dass man bei den Ägyptern weiß, dass der Vater Aidas der König der Äthiopier ist, dass Amonasro im Nilakt „auf den ersten Blick erkennt“, dass Radames Aida liebt ( dieser kommt erst nach dem Duett Vater-Tochter auf die Bühne), dass Pharao und Amneris im Nilakt gemeinsam beten (das ist Ramfis), und nicht  der Pharao, sondern der Priester leitet die Gerichtsverhandlung gegen Radames. So wimmelt es von Ungenauigkeiten, was nicht dadurch wettgemacht wird, dass die Aufzählung des Personals der Oper gleich dreifach erfolgt.

Nach diesem Einstieg in das Buch hat man bereits jede Lust verloren, sich weiter mit ihm zu beschäftigen, unternimmt aber aus Pflichtgefühl noch ein paar weitere Versuche. Wie steht es um Tannhäuser? Hier staunt man nicht schlecht, wenn der Einzug des thüringischen Adels mit Ascot verglichen wird – gibt es da einen Einmarsch? Angeblich soll Tannhäuser nach seinem Lob der Venus gebannt von den Adligen werden, das hätte nur der Papst vollziehen können, nicht einmal die Acht bedroht ihn, sondern die empörten Sängerkollegen trachten ihm nach dem Leben. Ganz schlimm wird es mit der Nacherzählung des Schlusses, wenn nicht die aus Rom kommenden Nachzügler mit dem grünenden Stab des Papstes in die Heimat zurückkommen, sondern denselben von der Wartburg nach Rom bringen wollen.

Das Schicksal einer völlig missverstandenen Oper teilt der Tannhäuser mit dem Holländer, der nach Ansicht der Autorin nur durch eine Frau erlöst werden kann, die für ihn in den Tod geht. Stimmt nicht, sie muss nur treu bis in den Tod sein. Da hätte die Inanspruchnahme eines Reclam-Opernführers geholfen, viele Missverständnisse zu vermeiden.

Es gelingt der Verfasserin also nicht einmal, den Inhalt der von ihr gewählten Opern korrekt nachzuerzählen. Das wäre wohl notwendig, um „Anfänger“ auf die richtige Bahn der Opernbegeisterung zu leiten. Schlimm sieht es aber auch mit dem Umgang mit den ebenso angepeilten „Liebhabern“ aus. Denen sträuben sich die Haare, wenn sie lesen, dass Puccini nach dem Misserfolg der ersten Fassung von Butterfly diese „geringfügig“ umschrieb. Welch ein Irrtum, wo er doch das Werk aus einer zweiaktigen, in eine dreiaktige Fassung umkomponierte und ein großes Manko der ersten Fassung, das Fehlen einer Tenorarie, mit „Addio, mio fiorito asil“ korrigierte.

Kommen wir zum angepriesenen „locker und humorvoll“. Das könnte man auch flapsig sich anbiedernd nennen, wenn man Wendungen wie Amneris ist „ausgebootet“, Puccini erlitt einen „Bauchklatscher“, „Ortrud päppelt Telramund wieder auf“, „ Butterfly klammert sich an den Strohhalm und verbeißt sich darin“ zu Rate zieht.

Es wimmelt von Stilblüten, aber auch der Historiker oder Soziologe gewinnt wertvolle Einblicke, so in das Leben der Pariser Gesellschaft in Verdis „La Traviata“. Da steht: „Sie ( Damen wie Violetta) werden geduldet, denn die Gesellschaft kann sichergehen, dass sie sich nicht vermischen. Aus diesem Grunde werden sie auch „Halbweltdamen“ genannt- sie gehören nur zur Hälfte dazu“. Das ist wohl wahr, denn schließlich vermischt sich Violetta nicht mit Flora.  Und was mit einer „ewige(n) Sisyphusarbeit, die ein Künstler ständig vor und hinter sich hat“, gemeint ist, bleibt wohl für immer ein Rätsel.

Wo man das Buch auch, bis zum letzten Moment hoffnungsvoll, aufschlägt,  es springen dem verdutzten und zunehmend verärgerten Leser Fehler, Ungenauigkeiten, Stilblüten entgegen und verleiden ihm das Lesen. „Auf den Punkt gebracht“ werden sollten die geliebten Werke, doch in Knapp-Klatsch-Manier werden sie zu Karikaturen ihrer selbst (Books on Demand; ISBN 978 3 750424241). Ingrid Wanja

Einheitsbrei

 

Hört man Anna Prohaskas neueste Alpha-CD (ALPHA581) mit dem verheißungsvollen Titel Paradise Lost hintereinander weg,  ohne auf die Liste der Tracks zu schauen, dann glaubt man bisher unentdecktes Material einer bisher nie zur Kenntnis genommenen Epoche in einer bisher noch nie gehörten, recht ausdruckslosen Sprache zu vernehmen, und ist umso erstaunter, dass es um Lieder und Songs von Purcell bis Reimann und allem zwischendurch sowie die drei doch eigentlich bekannten und dem Hörer zugänglichen Sprachen Deutsch, Französisch und Englisch geht.

In mehreren Abteilungen, so um einen Morgen im Paradies, das auch mal Arkadien sein kann, um ländliche Idylle, aber auch um die Vertreibung aus dem Garten Eden und das irdische Leben geht es, es werden Texte bemüht, die in irgendeiner Form, und sei es nur der eines Apfels, mit dem Thema zu tun haben. Oft handelt es sich nur um ein Lied aus einem umfangreichen Liederkreis wie Schumanns „Warte, warte wilder Schiffmann“ oder Mahlers „Das irdische Leben“.

Das allerdings ist nicht der Haupteinwand gegen diese CD einer Sängerin, die dem Ensemble der Berliner Staatsoper, einst der Hort textverständlichen Singens, angehört. Beim ersten Track, Ravels „Trois Oiseaux“, kann der schwebende Flötenton, mit dem der Sopran aufzuwarten weiß, noch entzücken, er kann an sich reizvoll dort sein, wo er hingehört, ist aber nicht generell anwendbar, wie es die Sängerin offenbar für möglich hält. Schnell wirkt  der Sopran, dem das Fundament zu fehlen scheint, nur noch geschmäcklerisch, und bereits beim zweiten Track, Bernsteins „Silhouette“, kann zwar von der Leichtigkeit der Emission profitiert, die schwache Mittellage aber nicht kompensiert werden. Der Virtuosität der vorzüglichen und viel eher jeweils charakteristischen Begleitung von Julius Drake weiß die Sängerin bei Messiaen nichts entgegenzusetzen, für Faures „Chanson d’Eve“  ist das Farbspektrum zu begrenzt, nur bei Debussys „Apparition“ kommt es  zu einem schönen Einklang zwischen Stimme und Piano.

Immer wieder verstört den Hörer, wie der Sopran über Töne hinweg huscht, statt sie zu modulieren, und bei den beiden Wolf-Liedern nach Goethe-Texten versteht man kein Wort, selbst wenn man den Text kennt. So entsteht zunehmend der Eindruck, dem Hörer werde statt eines Streifzugs durch die Musikgeschichte zu einem Thema, dem des verlorenen Paradieses, ein verwaschener, silbenverschluckender Mischmasch undefinierbarer Stilrichtung  vorgesetzt.

Es gibt nur wenige Lichtblicke, wenn das Hingetupfte zu Reimanns „Gib mir den Apfel“ passen mag, wenn Ives‘ „Evening“ mild und schön verklingt, die Stimme für Purcells „Sleep, Adam“ instrumental geführt wird. Eine verhuschte „Auflösung“ von Schubert oder dessen „Abendstern“, dem eine vokale Dimension zu fehlen scheint, dazu angeschliffene Töne stören immer wieder und zunehmend. Wenn dann noch Schumann-Lieder bei Intervallsprüngen nach unten im Nichts zu enden scheinen, auf Prägnanz zugunsten eines Aufheulens verzichtet wird wie bei Eisler, dann bedarf es wirklich wie bei George Crumbs „Early Songs“ der Flucht zu YouTube, um sich bei Christine Schäfer die Gewissheit zu holen, dass es auch anders geht (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/). Ingrid Wanja

Barockes aus Berlin

 

Liebhaber der Barockmusik sehen der alljährlichen Alte-Musik-Produktion der Berliner Staatsoper stets mit Spannung entgegen. Die Staatskapelle unter Daniel Barenboim ist dann unterwegs auf Tournee – im Graben steht zumeist  René Jacobs am Pult eines Spezialensembles. Im Januar 2017 war es die Akademie für Alte Musik Berlin, mit welcher der Dirigent Purcells Dramatick opera King Arthur im Schiller Theater zum Leben erweckte und dabei wahre Wunder an Klangpracht, rhythmischer Verve und majestätischem Bläserglanz zauberte. NAXOS hat die Aufführungen vom 19. und 21. 1. 2017 aufgezeichnet und auf DVD herausgebracht, bietet damit Gelegenheit, die musikalisch hochrangige Produktion nachzuhören (2.110658).

Denn auch die Sängerbesetzung lässt kaum Wünsche offen. Dominiert wird sie von den beiden Sopranen: Anett Fritsch überzeugt bei ihrem Staatsopern-Debüt mit klarem und jubilierendem Sopran. Höhepunkt ihres Vortrages ist das mit leuchtender Stimme gebotene Air „Fairest Isle“. In mehreren Rollen – als Philidel, Shepherdess, Siren, Nymph, Venus und geflügelter Cupido – überzeugt sie zudem mit ihrer darstellerischen Vielseitigkeit. Auch Robin Johannsen interpretiert mehrere Partien (She, Shepherdess, Siren, Nymph, Honour, Priest) und gefällt mit lieblichem Ton und Koloraturbrillanz. Ihr fällt das wunderbare Duett „You say, ’tis love“ im 3. Akt zu, bei dem sich ihr Sopran und der Altus von Benno Schachtner in harmonischem Zusammenklang vereinen. Der Tenor Mark Milhofer lässt einen besonders schönen Ton hören, während Stephan Rügamer seine stilistische Vielseitigkeit beweist. Noch mehr klanglich-charakteristische Prägnanz, einen noch frostigeren, klirrenderen Ton (so wie ihn das Orchester vorgibt) hätte man sich von Johannes Weisser als The Cold Genius bei seiner Frost Scene gewünscht. Stupende Wirkung hinterlässt der Staatsopernchor (Einstudierung:) im sich anschließenden Chorus of the frozen ones  („See, see, we assemble“), dessen klangmalerische Interpretation wahrlich frösteln macht.

Dem Stück mit seinen mehreren Handlungssträngen – dem Kampf der christlichen Briten gegen die heidnischen Sachsen, dem feindlichen Konflikt der beiden Könige Arthur und Oswald um die Gunst der schönen Emmeline sowie  dem Machtanspruch der auf unterschiedlichen Seiten stehenden Zauberer Merlin und Osmond – fügen die Regisseure Sven-Eric Bechtolf und Julian Crouch noch eine Rahmenstory hinzu, die im 2. Weltkrieg spielt und einen achtjährigen Jungen mit Namen Arthur, dessen Vater gefallen ist, ins Zentrum rückt. Crouch erdachte dafür ein phantasievolles Bühnenbild, das zwischen einem englischen Salon mit gestreifter Tapete, Hintergrundprojektionen (Joshua Higgason) mit zerstörten Städten und vorüber ziehenden Landschaften, einem Zauberwald aus Soffitten und in barocker Theatermanier erzeugten Meereswellen wechselt. Die Szene ist bevölkert mit von Kevin Pollard liebevoll und einfallsreich kostümierten Puppen, Sirenen, Nymphen, Krankenschwestern, betrunkenen Landleuten, Invaliden in Rollstühlen sowie Erd- und Luftgeistern. Am Ende sieht man wie in der ersten Szene noch einmal das Flugzeug, in das der junge Arthur steigt, um gleich seinem Vater in den Krieg zu ziehen, von mit Fähnchen winkenden Landsleuten verabschiedet und von seiner Mutter als  Filmstar in weißer Seidenrobe glorifiziert.

All das ist von hohem Schauwert, aber der Abend ist lang, was vor allem den Schauspielszenen, die im Gegensatz zu den englisch vorgetragenen Gesangsnummern in deutscher Sprache geboten werden, anzulasten ist. Zu ausgedehnt sind diese Dialoge, angefüllt von modischen Schlagwörtern und Banalitäten. Jacobs untermalt mit dem Orchester die gesprochenen Passagen oft mit Instrumentalsätzen aus der Feder Purcells oder Akkorden von John Dowland, was zuweilen eine einlullende Wirkung erzeugt und die Textverständlichkeit der Schauspieler mindert. Musik und Sprache stehen bei dieser Produktion im Missverhältnis (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Bernd Hoppe

 

We shall see

 

„Schauen wir mal.“ Man kennt solche ausweichenden Antworten. „We shall see“, äußert sich auch die Frau des Fischers sibyllisch, die sich in ihrer amerikanischen Ausgabe nicht Ilsebill, sondern Kitty nennt. Und wir wissen, wo das hinführt. Immer mehr will sie haben, ein schönes, Haus, ein Schloss, Papst will sie sein, schließlich Gott. Und am Ende findet sie sich in ihrer einfachen Hütte wieder.

Anlässlich ihres 60-jährigen Bestehens gab The Junior League of Boston bei Sarah Caldwell und der Opera Company of Boston eine Oper in Auftrag, mit der die wohltätige Frauenorganisation den Kindern der Stadt ein Geschenk machen wollte. Die Wahl fiel auf Gunther Schuller. Und der suchte sich wiederum Der Fischer und seine Frau heraus. Das Libretto richtete kein Geringerer als John Updike derart geschickt ein, dass auch Erwachsene an den scheinbar schlichten Zeilen des Fischers (Tenor) und seiner Frau (Mezzosopran) und den Gesprächen mit dem Fisch (Bass) und der Katze (Koloratursopran) ihre Freude haben können. Die Uraufführung fand im Mai 1970 unter der Leitung des damals 45-jährigen Komponisten und in einer Inszenierung Caldwells im Savoy Theatre statt; der bekannteste Sänger war Donald Gramm als Fisch. Schuller war wohl der rechte Mann für diesen Einakter: ein in allen Stilen von der Klassik bis zum Jazz versierter Komponist, der in den 1940er und 50er Jahren ebenso selbstverständlich im Met-Orchester spielte wie er sich in der New Yorker Jazz-Szene tummelte und dem kurz zuvor die Ehre einer Uraufführung an einem der großen europäischen Opernhäuser zuteil geworden war: The Visitation nach Kafkas Der Prozess von 1966 gehörte zu den Auftragswerken, die während Liebermanns uraufführungswilder Ära an der Hamburgischen Staatsoper herauskamen. 45 Jahre später holten der Dirigent Gil Rose, das Boston Modern Orchesra Project und Odyssey Opera das an der Bostoner University als Teil der Caldwell Collection aufbewahrte Material nochmals aus der Schublade (1 CD BMOP/sound 1070, mit hübschen Illustrationen von Schullers deutscher Mutter Elsie Bernartz Schuller ), um es im November 2015 aufzuführend, wenn Schuller seinen 90. Geburtstag gefeiert hätte; der Komponist starb im Mai 2015.

Über die schlagzeugintensive, teils elektronisch aufgeblasene, aber doch recht zahme Musik, die in ihrer simplen Machart an Kinder- und Familienopern wie Menottis Amahl oder Foss‘ Griffelkin anknüpft, ist die Zeit hinweggegangen. Updikes Text ist wesentlich raffinierter als Schullers betuliche, gut gemeint langweilige Musik. Schon bei ihrer Uraufführung dürften die Kinder von Boston reihenweise in den Schlaf gefallen sein. Immerhin versucht Schuller die sich intensivierende Handlung des Märchens durch atmosphärisches Wetterleuchten einzufangen und bietet zudem dem nicht sonderlich geforderten Vokalquartett kleine Singinseln, darunter das reizvollen Duett Katze/Fisch „Nothing in this natural life/Is stranger than a man and wife” (Katrina Galka und David Kravitz) und die leidenschaftlichen Papst-Arie der Fischersfrau (Sondra Kelly), dazu den ironische Jazz-Zierrat für das Königschloss und die genügsamen Sentenzen für den Fischer (Steven Goldstein). Rolf Fath

Polnisches kompakt

 

Aus Romantik und später: Wenn man an polnische Musik der Romantik und aus der Zeit danach denkt, fallen einem natürlich auf dem Gebiet der Klaviermusik Frédéric Chopin und für die Oper Stanislaw Moniuszko ein. Dass es in dieser Zeit außer den beiden exemplarisch Genannten eine ganze Reihe bedeutender polnischer Komponisten gab, verdrängt man leicht, zumal sich die meisten von ihnen nicht über ihr Heimatland hinaus durchzusetzen vermochten. Nun gibt es mehrere CDs aus Polen, mit denen die Werke solcher Komponisten näher gebracht werden.

Folge 1 (Oper): So hat das polnische Label DUX  ältere Aufnahmen hauptsächlich aus Opern von Stanislaw Moniuszko (1819-1872) herausgebracht. Fast ausschließlich polnische Künstler sind am Werk, wenn man von der französischen Pianistin Véronique Briel, die  einen hübschen Walzer präsentiert, und der russischen Sängerin Tatiana Borodina absieht, die Halkas Arie Wenn die Sonne aufgeht mit schön abgerundetem Sopran singt. Sie wird vom Breslauer Opernorchester unter Ewa Michnik begleitet, das bei weiteren Ausschnitten aus Halka auch den prägnanten Bariton Mariusz Godlewski, den etwas dröhnenden Bassisten Radoslaw Zukowski  und den klaren Tenor Oleh Lykhach unterstützt. Zwei Orchesterstücke aus der Breslauer Halka-Aufnahme von 2005, die Bergbauerntänze und die flotte Mazurka, runden die Eindrücke aus dieser Oper ab. Die Doppel-CD enthält auch aus dem Gespensterschloss, der weiteren berühmten Oper Moniuszkos, drei Arien, gesungen von Urszula Kryger, dem Bassisten Kazimierz Kowalski und dem international bekannten Wieslaw Ochman. Bei letzterem wird verschwiegen, von wann die Aufnahme mit der Polnischen Nationalphilharmonie unter Tadeusz Strugata stammt. Ebenfalls vertreten mit der Ouvertüre und drei Arien ist die Oper  Verbum mobile (Das Ehrenwort). Schließlich kann man Ausschnitte aus den Opern Flis (Der Flößer), Paria und Hrabina (Die Gräfin) sowie die Konzert-Ouvertüre Bajka (Das Märchen), drei Lieder, zwei Ausschnitte aus Messen und das lautmalerische Stück für Flöte und Klavier Das spinnende Mädchen hören, alles schöne Beispiele für die Vielseitigkeit des polnischen Nationalkomponisten (DUX 0908/0909, 2 CD).

 

Ignacy Feliks Dobrzyńskis „Monbar“ in der Aufnahme des polnischen Rundfunks Warschau unter Lukas Borowicz

Kleinere Stücke sind unter dem Titel Polish Symphonic Music of  the 19th Century zusammengefasst, die von der ausgezeichneten Sinfonia Varsovia unter Grzegorz Nowak interpretiert werden. Die Ouvertüre zur 1811 entstandenen Oper Dwie Chatkie (Zwei Hütten) komponierte Karol Kurpinski (1785-1857), künstlerischer Direktor der Oper in Warschau von 1825 bis 1842, der 1833 die Eröffnungsvorstellung im neuen Theatergebäude, dem Teatr Wielki, dirigierte und der dort zwei Jahre später eine Gesangsschule gründete. Die Ouvertüre noch ganz im klassischen Stil findet eine mehr als nur angemessene Ausdeutung.

Ignaz Felix Dobrzynski (1807-1867, in operralounge.de gibts es eine Besperechung seines Monbar), der gemeinsam mit Frédéric Chopin bei Jozef Elsner studierte, ist mit der spritzigen Ouvertüre zu seiner einzigen Oper Monbar oder die Freibeuter vertreten, Wladyslaw Zelenski (1837-1921) mit der temperamentvollen Konzertouvertüre In der Tatra. Schließlich erklingen Step (Die Steppe) des Dirigenten der Warschauer Musikgesellschaft und Konservatoriumslehrers Zygmunt Noskowski (1846-1909) und natürlich Moniuszko mit der Konzertouvertüre Bajka (Das Märchen). (ACCORD ACD 019). Gerhard Eckels

 

Wenn Moniuszko der Vater der polnischen Oper ist, dann gehört Kurpiński neben Joseph bzw. Józef Elsner wohl der Großvätergeneration an. Eine Generation älter als Moniuszko (1785-1857), leitete er 1824-42 die Warschauer Oper und dirigierte 1833 mit dem Barbiere di Siviglia die Eröffnungsvorstellung des Teatr Wielki. Dazu gründete er eine Gesangsschule und setzte mit seinen rund 26 Opern die von Elsner begründete Tradition von Opern in polnischer Sprache fort, darunter Jadwiga, Königin von Polen, Das Schloss von Czorsztyn und Bojomir und Wanda. Kurpiński wurde von seinem Vater, einem Organisten, ausgebildet, übernahm bereits mit 12 Jahren die Organistenstelle in Rawicz und spielte 1800 bis 1808 Geige im Orchester des Grafen Polanowski in Moszków in der Nähe von Lemberg, wo er nach der Auflösung des Orchesters zwei Jahre lebte. In Lemberg lernte er auch die Oper kennen. Ab 1810 wirkte er neben Józef Elsner dreißig Jahre als Dirigent am Nationaltheater in Warschau, dessen Direktor und musikalischer Leiter er nach Elsners Weggang 1824 wurde.

Er führte Mozart, Weber, Auber, Rossini, Donizetti, Bellini und Meyerbeer auf, und 1811 die erste seiner Opern. Der 1815 im alten Gebäude des Nationaltheaters am Krasiński-Platz uraufgeführte Einakter Alexander und Apelles behandelt eine Episode aus der griechischen Antike um Alexander den Großen, den Hofmaler Apelles und Alexanders erste Geliebte, die schöne Pankasta aus Larissa. Alexander gibt bei Apelles ein Porträt der Pankasta in Auftrag. Maler und Model verlieben sich. Großmütig entsagt Alexander seiner Liebe zu Pankasta. Den Text ließ sich Kurpiński von Adam Dmuszewski nach der gleichnamigen, gerade herausgekommenen Komödie von Alexandre-Jean-Joseph de la Ville de Mirmont schreiben. In 22 Nummern inklusive einer Ouvertüre und einem Finale, reinen Textpassagen, Melodramen, kleinen Arien, einem Terzett und Duett handelt Kurpiński das Drei-Personen Stück im Stile Rossinis und der Wiener Klassik und – nicht nur in Apelles‘ Alla polacca-Arie – mit schwungvollen polnischen Reminiszenz ab, was in dieser Mischung aus Sprache, glanzvollen Instrumentalpassagen und elegantem Gesang reizvolle Effekte ermöglicht, aber nicht Schule machte  Nach fast 200 Jahren gelangte die aparte Nettigkeit Aleksander i Apelles, deren Text und Musik unabhängig voneinander von dem Musikwissenschaftler Wojtek Czempli aufgespürt wurden, im Herbst 2017 im historischen Boguslawski-Theater in Kalisz wieder zur Aufführung. Das Sinfonieorchester der Kalisz Philharmonie hat mit dem reich ausgeschmückten Orchesterpart fast mehr zu tun als die Solisten Tatiana Hempel als Pankasta, der Tenor Tomasz Krzysica in der anspruchsvollen Partie des Apelles und der Bass Robert Gierlach als Alexander (Polskie Radio PRCD 2178); der wackere Männerchor aus Sarnów hat sich seine ganze Kraft für das Finale aufgehoben.   Rolf Fath

 

Mieczysław Karłowicz/ Wikipedia

Folge 2 (Sinfonisches): Mieczyslaw Karlowicz (1876-1909) studierte zunächst an der Warschauer Musikakademie Violine und Komposition, seit 1895 dann in Berlin, wo seine ersten Werke entstanden. In den Jahren 1895/96 komponierte er 22 sinfonische Lieder und auch eine Serenade für Streichorchester, die von den Berliner Philharmonikern unter seinem Lehrer Heinrich Urban uraufgeführt wurde. 1901 kehrte er nach Warschau zurück, beendete sein Studium und gründete zwei Jahre später ein Streichorchester. Wie so viele Künstler damals zog Karłowicz 1906 nach Zakopane in der hohen Tatra, wo er neben der Musik seine zweite Leidenschaft entdeckte, das Bergsteigen und Skifahren. Hier ließen sich die Literaten des Jungen Polen nieder; auch fand sich dort die gleichnamige Gruppe junger polnischer Komponisten ein, die sich 1905 in Berlin gegründet hatte und deren namhaftester Vertreter Karol Szymanowski war. 1909 kam Mieczysław Karłowicz bei einem Lawinenunglück ums Leben. Seine einzige  Sinfonie mit dem Titel Rebirth (Wiedergeburt) entstand 1902 und wurde unter Leitung des Komponisten im März 1903 in Berlin uraufgeführt. Bei DUX  ist eine Aufnahme des Werks in der Interpretation des Stettiner Philharmonischen Orchesters erschienen. Wie Gustav Mahler in seiner Auferstehungssinfonie, die im folgenden Jahr Premiere hatte, schildert auch Karlowicz mit farbenreicher Orchestrierung den inneren Kampf gegen das Schicksal. Dem norwegischen Dirigenten Rune Bergmann gelingt es, den grüblerischen, manchmal geradezu unheilschwangeren Charakter der Sinfonie zu erfassen und mit dem souveränen Orchester umzusetzen. Die Sinfonie endet mit einer strahlenden Choralmelodie, ohne jedoch in falsches Pathos zu geraten (DUX 1477).

 

Über Polen hinaus ist Mieczyslaw Karlowicz besonders durch seine sinfonischen Dichtungen bekannt geworden, von denen Returning Waves op. 9, das Triptychon Eternal Songs op.10 , das um Liebe und Tod, Sehnsucht und Ewigkeit kreist, sowie die Bühnenmusik (Sinfonischer Prolog und Intermezzo) zu Bianca da Molena op.6 (Weißes Täubchen) auf einer in der PWM-Edition erschienenen CD enthalten sind. Auch hier erweist sich die Stettiner Philharmonie als in allen Gruppen versiertes Sinfonieorchester, das unter dem inspirierenden Rune Bergmann die typischen, geheimnisvoll abgedunkelten Bläser- und Streicher-Mischungen, befreiende Aufschwünge und im Gegensatz dazu helle Klänge ebenso überzeugend erklingen lässt wie melancholische Gedanken des Verzichts und der inneren Einkehr. Dabei wird durchweg deutlich, wie sehr Karlowicz sich an die Harmonik von Richard Wagner zu Zeiten des Tristan angelehnt hat und wie er das Orchester im Stile von Richard Strauss und teilweise auch von Peter Tschaikowsky behandelt hat (PWM mit Filharmonia Sczecin).

 

Paderewkis „Manru“: Theaterzettel für die Uraufführung an der Met 1901/Org.

Der vor allem im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts weltweit berühmte Pianist und polnische Freiheitskämpfer Ignacy Jan Paderewski (1860-1941) hat neben seiner Oper Manru und vielen Klavierwerken auch eine Sinfonie komponiert, die den Untertitel Polonia trägt. Im letzten Satz ist die polnische Nationalhymne Noch ist Polen nicht verloren verarbeitet, möglicherweise als versteckte Ankündigung der politischen Aktivitäten Paderewskis nach der Bostoner Uraufführung 1909. Dem ausgedehnten dreisätzigen Werk liegen keine strengen sinfonischen Strukturen zugrunde, sondern es ist eher eine spätromantische sinfonische Dichtung, ohne ausdrücklich programmatisch zu sein. Sehr ungewöhnlich ist die Instrumentierung: Zu der üblichen sinfonischen Orchesterbesetzung kommen drei äußerst selten eingesetzte Sarrusophone (saxophonähnliche Blasinstrumente), ein Tambourin de Basque, ein Donnerblech und eine Orgel. Die Sinfonie beginnt mit einem besinnlichen Adagio, das in ein rastloses Allegro vivace übergeht; melancholisch tiefe Blechbläserakkorde leiten die Reprise ein, die zu einer Coda führt, in der die Orgel einen kurzen Solo-Auftritt hat. Das kürzere, lyrisch dahin strömende Andante con moto leitet ins Finale über, das indirekten Bezug auf polnische Volkstraditionen nimmt. Bruchstücke des verschleierten Hauptthemas, der polnischen Nationalhymne, sind erkennbar, obwohl es anders als im Original nicht im Dreiertakt des Mazurka-Stils, sondern im Zweiertakt erklingt. Die Wirkung des Themas sollte letztlich für das polnische Publikum trostreich sein; es musste aber angesichts der andauernden nationalen Unterdrückung verschleiert sein. Die vorliegende Einspielung durch die Sinfonia Varsovia unter Jerzy Maksymiuk überzeugt durch eine differenzierte, die unterschiedlichen Stimmungen der Sinfonie ausdrucksvoll nachzeichnende Interpretation (POLSKIE RADIO SA).

 

Der polnische Komponist Roman Palester (1907-1989) erhielt ab dem siebenten Lebensjahr Klavierunterricht, ab 1919 in Krakau und Lemberg. Ab 1925 studierte er Philosophie an der Warschauer Universität und parallel am Konservatorium Komposition. 1930 debütierte er mit der Uraufführung seiner Muzyka symfoniczna in Warschau; nach einigen Wettbewerbspreisen komponierte er zahlreiche Film-, Schauspiel- und Rundfunkmusiken. Seit 1936 war er im Vorstand des polnischen Komponistenverbandes tätig. Nach dem 2.Weltkrieg hatte er eine Professur an der Musikhochschule Krakau inne. Als der Verband 1947 den sozialistischen Realismus in der Musik proklamierte, verließ Palester Polen und lebte zunächst in Paris und von 1952 bis 1972 in München, dann wieder in Paris. Während in Polen sein Name in den Medien nicht genannt werden durfte und der Komponistenverband seine Mitgliedschaft löschte, hatte Palester mit seinen Kompositionen internationale Erfolge. Seit Ende der 1970er Jahre wurde er rehabilitiert, indem der Komponistenverband seinen Ausschluss annullierte. Dennoch besuchte Palester Polen nur noch einmal 1983 zur Erstaufführung seines Hymnus pro gratiarum actione. Palester komponierte vor allem für das Konzertpodium, oft für kleinere Besetzungen bis hin zur Kammermusik. Bei ANAKLASIS sind unter dem zusammenfassenden Titel Concertinos erschienen, die zwischen 1938 und 1955 entstanden sind. Dabei handelt es sich um die Concertinos für Saxophon und Streicher (1938/47), Klavier und Orchester (1942) sowie für Cembalo und ein Kammerensemble (1955); schließlich enthält die CD die von Palester selbst als „Concertino“ bezeichnete Serenade für zwei Flöten und Streicher (1946), Alle diese leicht aufzunehmenden, neoklassischen Werke geben den Solisten gute Gelegenheit, ihre Virtuosität zu beweisen. So imponiert Alina Mleczko, erste Frau mit Diplom in der Saxophon-Klasse an der Warschauer Universität, mit gekonnter Beherrschung „ihres“ Instruments, was ebenso für die britische Pianistin Clare Hammond gilt. Das großartige Flötisten-Ehepaar Agata Kielar-Dlugocz und Lukasz Dlugosz gefällt in der Serenade, wie auch der polnische Cembalist Maciej Skrzeczkowski in „seinem“ Concerto.  Sicher beherrscht das polnische Jugendorchester Sinfonia Juventus unter Lukasz Borowicz den Orchesterpart und unterstützt damit zuverlässig die Solisten (ANAKLASIS ANA 003).

 

Mieczyslaw Weinberg/ Wikipedia

Der sowjetische Komponist polnisch-jüdischer Herkunft Mieczyslaw Weinberg (1919-1986) ist in den letzten Jahren vor allem durch seine KZ-Oper Die Passagierin erneut bekannt geworden. Sein umfangreiches Oeuvre umfasst sechs Opern, 20 Sinfonien, 17 Streichquartette, reichlich Kammermusik und vieles mehr. Eine bei WARNER CLASSICS erschienene CD enthält Kompositionen, die in den späten 1950er-Jahren entstanden sind, das Violinkonzert op. 67 und die 4. Sinfonie op. 61. Die Interpreten sind Ilya Gringolts und die Warschauer Philharmonie unter Jacek Kaspszyk.  In den aufgenommenen Werken wird der eigene, persönliche Kompositionsstil Weinbergs deutlich, mit dem er sich von seinem Mentor und Freund Schostakowitsch emanzipiert hat. Es gibt Anklänge an Spätromantisches, und gegenüber der von Schostakowitsch vielfach verwendeten Motorik kommt bei Weinberg die Melodik mehr zu ihrem Recht, wobei die Tonalität durchgehend erhalten bleibt. Der russische Geiger beherrscht die kontrastreichen Rhythmen und bleibt dabei feinfühlig für die vielen geradezu träumerischen Momente des viersätzigen Konzerts. Hier beim Violinkonzert und besonders mit der 4. Sinfonie zeigt die Warschauer Philharmonie ihr hohes Können in allen Instrumenten-Gruppen; ihr Chefdirigent sorgt  mit zupackendem Dirigat für eine rundum überzeugende Interpretation der kontrastreichen Musik (FILHARMONIA NARODOWA WARNER CLASSICS 08256 4 62248 3 8).  Gerhard Eckels

 

Folge 3 (Kammermusik für Violine und Klavier). Slawomir Tomasik und Edward Wolanin haben auf einer bei FFV Records erschienenen CD sämtliche Werke für Violine und Klavier von Józef Elsner (1769-1854) eingespielt.  Der polnische Dirigent und Komponist deutscher Herkunft erhielt zunächst in der Klosterschule der Dominikaner, danach im jesuitischen St.-Matthias-Gymnasium Breslau musikalischen Unterricht, was auch zu ersten Kompositionen führte. Ab 1788 studierte Elsner an der Breslauer Universität zunächst Theologie, später Medizin. Ein Jahr später begab er sich nach Wien mit der Absicht, sein Medizinstudium fortzusetzen, das er jedoch bald aufgab. Begeistert vom regen kulturellen Leben Wiens entschied er sich schließlich, zur Musik zurückzukehren. So nahm er im Herbst 1791 eine Stelle als Geiger im Theaterorchester von Brünn an, wo er sich auch als Dirigent versuchte. Im Frühling 1792 ging er als 2. Kapellmeister nach Lemberg, wo  zwei seiner auf deutsche Texte komponierte Opern uraufgeführt wurden. Nach sieben Jahren in Lemberg wurde Elsner musikalischer Direktor und Dirigent am Warschauer Nationaltheater, ein Amt, das er 25 Jahre lang ausübte. Während dieser Zeit brachte er zahlreiche eigene Opern auf die Bühne, oft mit Stoffen aus der polnischen Geschichte. Intensiv wirkte Elsner im Bereich der Musikausbildung, indem er in den Jahren 1821–31 von ihm selbst gegründete Musikschulen verschiedener Stufen leitete; dort bildete er viele polnische Komponisten aus, darunter auch Frédéric Chopin und Stanislaw Moniuszko.

Elsners umfangreiches Oeuvre umfasst 45 Opern, an die 190 geistliche Werke und Kantaten, eine Reihe von Solo- und Chorliedern sowie neben sinfonischer Musik auch Kammermusik.

Die vorliegende CD enthält mit den drei Violinsonaten op.10 und zwei Polonaisen alle Werke Elsners für Violine und Klavier, die sich erhalten haben; mindestens eine weitere Polonaise und ein Chaconne in G-Dur sind verschollen. Die freundlichen Stücke im nachklassischen Stil, in denen Elsner bereits vor seiner Warschauer Zeit mit den Sonaten-Formen seiner Zeit experimentierte, werden von den beiden ausgezeichneten Künstlern so klar und ausgesprochen transparent musiziert, dass das Zuhören und damit Kennenlernen dieser so selten zu erlebenden Werke einfach Spaß macht (FFV Records FFV 06).

 

Ignacy Jan Paderewski (1860-1941) hat nicht viel für Violine und Klavier geschrieben; das Wenige ist bei FFV Records erschienen. Es sind die a-Moll-Violinsonate op.13 und einzelne kleinere Stücke, die sämtlich in den Anfangsjahren während des Studiums oder kurz danach entstanden sind, im informativen Beiheft auf Polnisch und Englisch mit Ausnahme der Violinsonate als Salon-Miniaturen bezeichnet. Teilweise sind es Transkriptionen von reinen Klavierkompositionen, so die von Paderewski selbst bearbeitete, virtuose Cracovienne aus den Polnischen Tänzen op. 9 sowie – von anderen bearbeitet – Mélody op.16 und aus einer Liedsammlung das lautmalerische The Birch Rustles in the Grove op.7 (Das Birkenrauschen im Hain). In der Interpretation von Slawomir Tomasik und dem Pianisten Robert Morawski kommt in den Miniaturen ebenso wie in der dreisätzigen Sonate der spätromantische Stil Paderewskis, versetzt mit gefälligen Lyrismen, wirkungsvoll zur Geltung. Schließlich enthält die CD aus dem unvollendet gebliebenen Violinkonzert G-Dur noch das Allegro, das erst 1991 rekonstruiert und in diesem Jahr erstmals im Warschauer Nationalmuseum aufgeführt wurde. Auch damals war es Slawomir Tomasik, begleitet von Edward Wolanin,  der jetzt auf der CD den mit komplizierter Melodieführung und geigerischen Finessen versehenen Violinpart bravourös beherrscht (FFV Records FFV 07).

 

Im Bereich der Kammermusik hat Mieczyslaw Weinberg (1919-1996) Vieles komponiert, dabei fast 30 Sonaten für Violine und Klavier. Daneben gibt es für dieselbe Besetzung kleinere Werke, von denen das polnische Label RECART drei in den Jahren 1948 bis 1952 entstandene Stücke herausgebracht hat, das Concerto op.42, die Sonatina op. 46 und die Rhapsodie über moldawische Themen op.47 Nr.3. Die jungen Solisten sind die Geigerin Ewelina Nowicka und die Pianistin Milena Antoniewicz, die die lohnenden, sehr unterschiedlichen Werke mit spürbar engagierter Energie ausdeuten. Das dreisätzige Concerto, dessen Manuskript erst nach Weinbergs Tod entdeckt wurde, besticht durch gut aufnehmbare Melodien und Harmonien und versetzt die Zuhörer nach den klugen Ausführungen der Geigerin Ewelina Nowicka im Beiheft „in einen jüdischen Ort voller mystischer Atmosphäre…“ Die ebenfalls dreisätzige Sonata wurde 1955 von Leonid Kogan und Andrei Mitnik in Moskau uraufgeführt. Die Künstlerinnen der Aufnahme treffen die unterschiedlichen Stimmungen im lyrischen Andante, im geheimnisvollen Lento und dem überaus virtuosen Allegro moderato aufs Beste. Von der Rhapsodie gibt es drei Fassungen, zwei für Violine und Orchester, von denen die erste 1949 uraufgeführt wurde und die zweite verloren gegangen ist. Die dritte, hier gespielte Version, nun für Violine und Klavier, hat David Oistrach 1953 im Moskauer Konservatorium erstmals aufgeführt. Über seine in Moldawien (früher Bessarabien) geborene Mutter hat Weinberg moldawische Volksmusik kennen gelernt, aus der er einige Themen übernommen und in der Rhapsodie verarbeitet hat. Den durchweg mitreißenden Schwung des vielschichtigen Stücks geben die beiden Instrumentalistinnen eindrucksvoll wieder (RECART 0006).  Gerhard Eckels

 

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„Ich bin eine absolute Textfanatikerin!“

 

Tanja C. Kuhn aus Heidelberg – durch seltene Operntitel wie Ennas Cleopatra oder Klenaus Michael Kohlhaas jüngst in die Aufmerksamkeit von Opernfans katapultiert – ist eine der wenigen Sopranistinnen in Europa, die Sentas Ballade in Wagner Oper Der fliegenden Holländer in Originaltonart, nämlich einen Ton höher als normalerweise, gesungen haben. Das machte den Kollegen Sven-David Müller auf die Sängerin aufmerksam, mit der er dann in Braunschweig ein Gespräch führte

 

Ein paar Worte zu ihrem Werdegang? Ich habe als kleines Kind schon immer gerne und viel zu viel gesungen. Meine armen Eltern. Mit 8 Jahren war ich Mitglied einer Musiktheatergruppe für Kinder. (…)  Den Blockflötenunterricht in der Grundschule erwähne ich jetzt einmal nur am Rande.  Mit 12 stand ich zum ersten Mal singenderweise in einer kleinen Solorolle auf der Bühne. Nach einem fatalen ersten Operneindruck (Tosca mit Glatze) war ich mir sicher, dass ich einen ganz guten Plan damit gefasst hatte, Medizin zu studieren und die Opernbühne kam erst einmal nicht in Frage. Als ich dann aber mein Abitur beendet hatte, bestand allerdings meine Gesangslehrerin Regine Böhm, darauf, dass ich es mit dem Gesang probieren sollte. Ohne sie wäre ich nie auf die Idee gekommen.

Mein aktueller Lehrer ist Malcolm Walker in Paris. Ihm verdanke ich viel und er unterstützt und berät mich großartig auf meinem Weg. Natürlich ist es Wahnsinn wichtig dass wir Sänger uns immer wieder kontrollieren lassen. Wir haben nie die Möglichkeit unsere Stimme so zu hören, wie sie von außen klingt. Daher brauchen wir ein paar Ohren denen wir vertrauen können. Es lässt sich natürlich mit einem vollen Kalender nicht immer einrichten einen Stopp in Paris einzulegen, aber ich versuche es so oft ich kann. Der Meisterkurs bei Raina Kabaivanska war besonders wichtig, da sie mich zum Wechsel ins Jugendlich Dramatische Fach inspiriert hat, und auch von Brian Jauhainian und von Klaus Saalmann, dem Studienleiter der Berliner Staatsoper habe ich viel gelernt.

 Meine erste Partie im professionellen Theater war Emilia in Marco Attilio Regolo von Scarlatti beim, vom Theater Heidelberg ausgerichteten, Festival Winter in Schwetzingen. (…) Ich hatte damals das große Glück, den Barockspezialisten Ruben Dubrovsky am Pult zu wissen. Er nahm mich an die Hand und brachte mir bei wie man Rezitative sang und was in der Barockmusik stilistisch zu beachten war. Ich hatte in meinem ganzen, bisherigen Studium nicht so viel gelernt wie von ihm während dieser Produktion. Cornelius Meister, der zu diesem Zeitpunkt noch GMD in Heidelberg war, engagierte mich dann noch für ein paar weitere Partien. Kurz darauf, durfte ich dann auch am Theater Hof ein paar „Wurzen“ singen.  Die erste Partie, die mich auf einmal ein bisschen wachrüttelte, war die Infantin in der Oper Der Zwerg von Alexander von Zemlinsky 2013 mit Nicolas Kok am Pult. Das war in Wilhelmatheater Stuttgart. Ich beendete kurz später mein Studium, traf auf  Rajna Kabaivanska, und sie zeigte mir endlich, wo meine Stimme einzuordnen war. Bald darauf sang ich meine erste große Verismo-Partie im jugendlich dramatischen Fach, am Staatstheater Braunschweig und meine erste Senta am Theater Hof. Der dortige Intendant Reinhardt Friese gab mir die Möglichkeit mich zum ersten Mal in einer Wagnerpartie auszuprobieren. Und dann wurde ich kurz darauf an die Danish National Opera fest engagiert. Seit dem habe ich bereits in vier Holländer-Produktionen als Senta mitgewirkt und liebe sie.

 

Tanja C. Kuhn: Heloise in „Michael Kohlhaas“ von Paul von Klenau an der Danish national Opera/ Foto Anders Bach

Sie haben mit Heloise in Michael Kohlhaas von Paul von Kleenau 2019, Cleopatra von August Enna an der Danish National Opera 2019 und Giulietta in Giulietta e Romeo von Zandonai am Staatstheater Braunschweig 2017 schon häufiger in wiederentdeckten Opern auf der Bühne gestanden. Immer wieder stellt sich die Frage, ob solche Partien der Stimme schaden – wie ist Ihre Erfahrung und bedeutet es eine besondere Vorbereitung? Diese Opern sind oft eine große Herausforderung für die Castingabteilungen der Theater, da niemand wirklich genau weiß, welcher Stimmtypus verlangt wird. Nicht selten ist der Grund, dass ein Stück schon so lange nicht mehr gespielt wird, dass es sehr schwer zu besetzen ist. Cleopatra von August Emma braucht beispielsweise quasi zweimal Salome für die weiblichen Kontrahentinnen plus einen Siegfried. Damit kann nicht jedes Theater aufwarten. Bei Michael Kohlhaas und Giulietta ist es ähnlich. Wenn dann noch großzügig orchestriert ist, was ebenfalls bei vergessenen Werken immer wieder vorkommt, braucht man schon ziemlich viel Durchschlagskraft. Eine zu dicke Orchestrierung kann für jeden Sänger gefährlich sein, da sie einen dazu verleiten kann zu forcieren und das ist besonders bei langen Partien gefährlich. Immerhin erzeugen letztendlich zwei sehr zarte Bindegewebsstränge den eigentlichen Ton und wenn sie einmal kaputt sind, dann war’s das. Man muss also besonders umsichtig an so stark orchestrierte Werke herangehen. Was allerdings toll ist, ist so ein Stück zu erarbeiten, weil es keine Vorbilder und keine Tradition gibt. Die erschafft man in diesem Moment selbst. Deshalb muss man sich auch genau darauf vorbereiten. Man kann sich nirgends etwas abschauen. Aber diese Wiederentdeckungen haben etwas ganz besonderes an sich. Michael Kohlhaas beispielsweise – die Oper wurde im dänischen Radiosender P2 übertragen und man kann sie auf der Website anhören – war eine wirklich besondere Erfahrung. Keiner wusste wie es klingen wird, da es keine Aufnahme davon gibt. Es war ein fast magischer Moment als wir zum ersten Mal alle das Orchester haben spielen hören und die Musik ist verdammt gut! Wenn man so eine Oper dann wieder ausgegraben hat, fragt man sich auch immer welches Theater sie wohl das nächste Mal spielen wird. Immerhin ist man dann der oder die Einzige, die die Partie sonst noch auf der Welt gesungen hat.

 

Tanja C. Kuhn: Charmion in „Kleopatra“ von August Enna an der Danish National Opera (mit Tenor Christian Juslin), Foto Kaare Viemose

Wie ist Ihre Einstellung zum Wort? Ich bin eine absolute Textfanatikerin. Mir ist es extrem wichtig, dass mein Publikum die Chance hat, jedes Wort zu verstehen. Gerade im deutschen Fach ist das für mich ein Muss. Ich möchte, dass mein Publikum mit Augen und Ohren bei mir ist und nicht irgendwo mitlesen muss. Für mich ist entscheidend, dass das Publikum sozusagen an meinen Lippen hängen kann und nicht am Textbuch oder Einblendungen. Damit wird für mich auch ein viel feineres Spielen möglich. „Der Gesang ist die in höchster Leidenschaft erregte Rede: die Musik ist die Sprache der Leidenschaft.“, schrieb Richard Wagner. Für mich muss das Vermitteln des Textes daher an erster Stelle stehen.

 

Ist eine sportliche Sängerin eine bessere Sängerin? Eine technisch gute Sängerin ist eine bessere Sängerin. Wirklich trainiert sein, müssen nur die Muskelgruppen die wir fürs Singen brauchen. Definierte Beine sind für den Klang nebensächlich. Für die Performance auf der Bühne ist das allerdings etwas anderes. Da wird immer mehr von uns verlangt. Für Giulietta am Staatstheater Braunschweig musste ich einen Schützengraben hoch und runter klettern, auf ein riesiges Spielzeug Pferd springen und dann auf einem Flugzeugflügel balancieren und das Ganze auf High Heels. Mit einer extra Portion Fitness fällt einem das leichter und das Verletzungsrisiko ist auch deutlich geringer.  Auf der Bühne mag immer alles einfach aussehen aber es ist kein ungefährlicher Ort.

 

Tanja C. Kuhn: Hinter der Bühne von Klenaus „Michael Kohlhaas“/Danish national opera/Foto Jes Vang 2

Wie kann man sich einen Fachwechsel konkret vorstellen und wie fühlt sich das für eine Sängerin eigentlich an? Eine Zeit lang war es harte Arbeit und üben bis zur Erschöpfung. Ich nahm keine Verträge mehr an, um Zeit für den Gesangsunterricht zu haben und dann war es plötzlich eine Offenbarung. Es fühlte sich ein bisschen so an, als würden die Puzzlestücke von selbst an den richtigen Platz fallen. Dinge, die mir vorher schwer vielen, funktionierten auf einmal viel einfacher und wurden selbstverständlich. Und das obwohl ich ja eigentlich davon ausgehen musste, dass mit dem schwereren Fach alles komplizierter würde. Das Gegenteil war der Fall. Nach einem Fachwechsel benutzt man die Stimme natürlich technisch anders, aber es fühlt sich für mich eher so an, als würde ich meine Stimme plötzlich technisch einfach richtig benutzen und mit dem ganzen Körper singen. Selbst das sanfteste Pianissimo stellte plötzlich kein Problem mehr dar. Ich kam mir vor, als wäre ich als Sängerin angekommen. Nie habe ich meinen Beruf mehr geliebt, als nach dem Fachwechsel zum jugendlich dramatischen Sopran. Jetzt kann ich mir nicht mehr vorstellen, jemals anders gesungen zu haben. Der Fachwechsel war die bisher beste Entscheidung meines künstlerischen Lebens.

 

Wie würden Sie selbst Ihre Stimme beschreiben und warum gibt es nicht nur in Deutschland so wenig Nachwuchs im jugendlich dramatischen Fach? Meine Stimme ist zuverlässig. Für mich gibt es nichts Beruhigenderes auf der Bühne, als zu wissen, dass mich meine Stimme nicht im Stich lassen wird. Das ist sicher einer der Gründe, warum ich kein Lampenfieber habe. Nicht zu vergessen, dass exzellente Vorbereitung wirklich entspannt. Ich weiß dann einfach, dass mir nichts passieren kann, auch wenn um mich herum mal etwas schief geht. Zuverlässig zu sein ist mir wahnsinnig wichtig. Ich möchte, dass die Kollegen wissen, dass sie auf der Bühne immer auf mich zählen können.

Warum es so wenig Nachwuchs in diesem Fach gibt? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Eines der Probleme ist sicher, dass man als junger Sänger oft schlecht beraten wird. Eine jugendlich dramatische Stimme ist laut dem Handbuch der Oper von Rudolf Kloiber, Wulf Konold und Robert Maschka “eine lyrische Sopranstimme mit größerem Volumen, die auch dramatische Höhepunkte gestalten kann.” Das heißt man braucht zusätzlich zur Fähigkeit zum schönen Legato natürlich Tragfähigkeit und Stamina (Ausdauer), denn die jugendlich dramatischen Partien sind selten kurz. Notwendig ist aber auch eine expansionsfähige Höhe. Alle dramatischen Stimmen müssen gerade die hohen Töne locker singen können, ohne dass der Zuhörer das Gefühl hat, dass die Sängerin oder der Sänger pushen (pressen) muss, um über ein großes Orchester zu kommen. Sonst hält man so einen Abend auch nicht durch.

Tanja C. Kuhn: Senta in „Der fliegende Holländer“ am Staatstheater Cottbus/ Foto Marlis Kross

Die Veranlagung dazu, die entsprechende Ausbildung und die körperliche Konstitution gibt es schlicht und ergreifend nicht so häufig. Es hat leider viel damit zu tun, wie der Stimmapparat aufgebaut ist. Wenn aber die physischen Voraussetzungen gegeben sind, braucht man natürlich einen Lehrer, der weiß, wie man mit dieser Stimme umgehen muss und der einen im besten Fall sehr gut berät. Welche Partien darf ich bis zum Fachwechsel singen, damit eine Stimme nicht schon davor ruiniert wird? Das ist eine wichtige Frage. Es darf nie vergessen werden, dass auch ein zu leichtes Fach einer Stimme schaden kann, aber, dass man auch irgendwie anfangen muss. Und schließlich muss durch gute Berater und Lehrer der Zeitpunkt festgesetzt werden, wann der Fachwechsel mit welcher Rolle vollzogen wird und es muss dann auch noch die Gelegenheit dazu gegeben sein. Es muss also extrem viel zusammen kommen. Außerdem gehört natürlich auch Mut dazu, sich dann in ein dramatisches Stimmfach zu wagen. Es ist keinem geholfen, wenn sich Sänger überschätzen. Aber ich kann nur sagen, dass man unbedingt auf sich selbst hören sollte.

Tanja C. Kuhn: Elle in „La voix Humaine“ am Stadttheater Gießen; Regie Wolfgang Hofmann/ Foto Rolf Wegst

Jede Stimme ist absolut einzigartigen wie ein Fingerabdruck. Keine zwei Stimmen klingen gleich. Das heißt, meine Stimme ist ein Instrument, das nur ich spielen kann und niemand sonst. So viel ist heutzutage einfach reproduzierbar – aber eine Stimme ist es nicht. Deshalb findet man auch keinen neuen Franco Corelli oder eine neue Leyla Gencer. Wenn eine Stimme verstummt, kommt sie nie wieder so vor. Wenn mich jemand fragt, warum ich gerne genau die gleichen Partien singen will, die doch schon viele gesungen haben, dann kann ich, immer noch sagen, dass sie noch nie jemand mit meiner Stimme gesungen hat.

 

Welche Rolle steht momentan besonders häufig auf Ihrer Agenda und was ist für Sie eine Traumrolle für die Zukunft? Senta ist die Partie die ich im Moment am häufigsten singe.  Ich entdecke immer noch ständig etwas Neues in der Partie. Eine weitere Traumpartie war für mich Salome. Dafür hat mich jetzt allerdings das Staatstheater Cottbus schon für nächstes Jahr verpflichtet. Also muss eine neue Traumpartie her und das ist auf jeden Fall die Marschallin im Rosenkavalier. Agathe würde mir auch sehr gut gefallen und im italienischen Repertoire eine Mimi oder Butterfly.  Sven-David Müller

 

Über Ennas Oper Kleopatra in Jütland berichteten wir in operalounge.de; Foto oben: Tan ja C. Kuhn/ Foto: Scholzshootspeople; Tanja C. Kuhns website: https://www.tanja-kuhn.com/).

Kerstin Meyer

 

Der Vorteil der frühen Geburt macht zwar nicht  jünger, aber der Vorrat an Erinnerungen macht einen Rückblick auf Begegnungen mit Personen, die einen beeindruckt haben, reicher. Kerstin Meyer erinnere ich gut. Sie war meine Fidalma  in Ciimarosas Heimlicher Ehe im entzückenden  Drottningholmer Schloss-Theater in Michael Hampes Kölner Inszenierung: lustig, immer noch sehr attraktiv, und immer noch mit viel Stimme. Beim Premierenempfang sprühte sie vor guter Laune, als wir beim Schwatz auf dem Königlichen Rasen in lauer Sommerabend-Luft standen. Und sie war eine der vielen Carmen-Vertreterinnen an der Deutschen Oper Berlin, als ich dort meine Lehrjahre im Repertoire durchlief. Alternierend mit Patricia Johnson (sehr britisch!) und Vera Little (sehr füllig) und – auch, glaube ich – Sieglinde Wagner (hmmm) war die Meyer eine Offenbarung in ihrer eleganten Erscheinung, selbst wenn konventionelle Stirnlocke und Riesenohringe zum Stufenrock eher das Zwerchfell reizten. Sie hatte eine tolle Stimme, wie man auf dem Berliner Rosenkavalier neben der statuösen Grümmer hören kann, den mein Kollege Rüdiger Winter in seinem Resümee ihres Wirkens nachstehend erwähnt. Und sie war eine nachdrückliche Persönlichkeit, die mir eben so lebendig im Gedächtnis haften geblieben  ist. G. H.

 

Ihr Name tauchte auf den Besetzungslisten vieler großer Opernhäuser und Festivals auf. Nicht immer hinter Hauptrollen. In Salzburg ist sie in den 1950er Jahren als Marzelline im Figaro, als Magd in Elektra, als Kartenaufschlägerin in Arabella sowie als Agaue in den Bassariden in Erscheinung getreten. Bei den von Herbert von Karajan  begründeten Osterfestspielen übernahm sie die Magdalene  in den Meistersingern. In Bayreuth tauchte sie 1962 erstmals als Brangäne im Tristan auf und sang in den Folgejahren auch Floßhilde und eine beklemmende Waltraute in der Götterdämmerung. Zwischen 1960 und 1964 war sie ein gern gesehener Gast an der Metropolitan Opera in New York. Große Erfolge bescherten ihr dort die Carmen,  die sie bereits kurz nach Abschluss ihrer Ausbildung am Konservatorium ihrer Heimatstadt Stockholm, wo sie am 3. April 1928 geboren worden war,  gegeben  hatte (Foto oben/ Discogs). Stationen waren auch Kopenhagen, Wien. Mailand, Glyndebourne. Ihr Beitrag zur vorbildlichen Berlioz-Pflege in London war die Didon in den Troyens. In Edinburgh, und in Aix kreierte sie mit der Küsterin in Jenufa eine ihrer späten dramatischen Partien. Sie wirkte in etlichen Uraufführungen mit, so in der Oper Die Heimsuchung von Gunther Schuller 1966 in Hamburg, und fühlte sich auch zur Barockmusik hingezogen. Vielseitigkeit scheint der passende Begriff, um ihre Wirkung zu beschreiben. Kerstin Meyer verstand es auch, Nebenrollen kurzzeitig ins Zentrum zu rücken. Wenn sie in der berühmten Rosenkavalier-Aufnahme der EMI von 1956 unter Karajan am Ende des zweiten Aufzugs als Annina am Lager des Ochs erscheint, um ein Briefchen des vermeintlichen Mariandl zu überbringen, breitet sie stimmlich und darstellerisch ein intrigantes  Spinnennetz aus, in dem sich nicht nur der verdutzte Landbaron, sondern die ganze Wiener Gesellschaft würde verfangen. Drei Jahre stieg sie dann von der Intrigantin zu Octavian, dem jungen Herr aus großem Haus, auf – und zwar im berühmten Mitschnitt aus der Deutschen Oper Berlin an der Seite der Marschallin von Elisabeth Grümmer und der Sophie von Lisa Otto (ehemals Gala). Der Octavian blieb eines der Markenzeichen von Kerstin Meyer, die während ihrer gesamten Karriere Mitglied des Opernhauses ihrer Geburtsstadt blieb. Am 14. April 2020 ist sie im Alter von 92 Jahren gestorben. Rüdiger Winter