Stimmwunder aus Venezuela

 

Bei den Händelfestspielen Halle 2018 machte der junge, damals noch unbekannte Sopranist Samuel Moriño in der Eröffnungsproduktion Berenice, Regina d’Egitto als Alessandro erstmals auf sich aufmerksam. Der Sänger hatte bislang nur in Konzerten mitgewirkt und an diesem Hallenser Abend sein Debüt auf einer Opernbühne gegeben. Umso mehr erstaunten seine szenische Souveränität und das lustvoll-lockere Spiel. In diesem Jahr sollte er nach Halle zurückkehren, um bei den Festspielen die Titelrolle in der Neuinszenierung des Teseo zu singen. Die Pandemie machte auch dieses Projekt – wie so viele andere im In- und Ausland – zunichte. Orfeo wartet mit einer willkommenen Alternative auf und bringt das erste Recital mit dem Sänger heraus, das im Oktober 2019 in Halle aufgenommen wurde und Arien von Händel und Gluck unter dem Titel Care pupille vorstellt (C998201). Dieser ist der Arie des Oronte aus Glucks Il Tigrane entnommen, welche als eine von drei CD-Weltpremieren das Ende des Programms markiert. Mit ihr wird die Anthologie mit 13 Nummern imponierend abgeschlossen. Samuel Mariño besitzt eine Ausnahmestimme, wie sie heute kaum noch zu finden ist. Sie besticht in ihrer Klangschönheit, dem sinnlichen Reiz und der technischen Perfektion.

Die Gluck-Auswahl beginnt mit Ausschnitten aus Antigono, darunter Scena ed Aria der Berenice, die dreiteilige Sinfonia und die Arie des Demetrio „Già che morir deggio“. Die Komposition entstand 1755 als Auftragswerk für das Teatro Argentina in Rom. Da Frauen damals nicht auf der Bühne in Erscheinung treten durften, wurde die Rolle der Berenice von dem Soprankastraten Giovanni Belardi wahrgenommen, der vor allem in Frauenrollen reüssierte. Berenice ist in ihrer großen Szene „Berenice, che fai“ in einer existentiellen Situation, da sich ihr geliebter Demetrio aus Verzweiflung das Leben nehmen will („Già che morir“). Den inneren Aufruhr Berenices schildert Mariño mit bemerkenswert reichen stimmlichen Mitteln. In ihrer Nähe zu Glucks Orfeo ist Demetrios Arie orchestral wie vokal ein Stück von mirakulöser Schönheit. In der dreiteiligen Sinfonia hat das begleitende Händelfestspielorchester Halle unter Michael Hostetter Gelegenheit, mit musikantischem Schwung zu glänzen. Das Allegro wird befeuert von stürmischem Bläsergeschmetter, das Andante hat graziöse Delikatesse, das Presto ist ein fulminanter Ausklang. Obwohl das Orchester den Namen des Hallenser Meisters trägt,  überzeugt es in den Gluck-Teilen durch rasanten Drive oder kantables Melos sogar noch mehr.

La Sofonisba – eine Rarität und gleichfalls erstmals im Katalog – wurde 1744 im Mailänder Teatro Regio Ducale mit der Sopranistin Rosalia Andreides in der Rolle des Königs uraufgeführt. Dessen Arie „Tornate sereni“ ist ein lieblich-empfindsames Stück, das Mariño fein auskostet. Der Titel von Glucks Oper La Corona steht derzeit unter keinem guten Stern, aber die Arie der Atalanta, „Quel chiaro rio“, ist in ihrem Wechsel von Allegro- und Adagio-Passagen sowie den anspruchsvollen Verzierungen ein willkommener Titel, in dem Mariño brillieren kann. Wieder bewundert man das virtuose Vermögen des jungen Sängers, seinen Einsatz, auch die vertracktesten Koloraturen mit  furchtloser Attacke anzugehen und sie bewundernswert zu meistern.

Im ersten Teil der CD sind Arien von Händel zu hören, beginnend mit dem Alessandro aus der Berenice – also jenem Werk, in welchem Mariño vor zwei Jahren in Halle gefeiert wurde. Dessen Auftrittsarie „Che sarà quando amante accarezza“ ist geschmückt mit tänzelnden Koloraturen und feinen Trillern, die Mariño souverän bewältigt. Die Stimme hat hier einen fast kindlich-keuschen Klang, aber der zärtlich-schmeichelnde Ton dürfte viele Counterliebhaber entzücken.

Es folgen drei Arien des Meleagro aus Atalanta, Er ist König von Ätolien und in die Jägerin Atalanta verliebt. In der ersten Arie, „Care selve“, verdeutlicht er seine Liebessehnsucht mit schmachtendem Ausdruck. Mariño sorgt hier für einen ersten Höhepunkt mit sphärischen Tönen von betörender Klangschönheit. Die Partie schrieb Händel für den 22jährigen Soprankastraten Gioacchino Conti (genannt Giziello), der in London ein Konkurrent von Farinelli war. In der nächsten Arie, „Non sarà poco“, ist Mariños Stimme von hohem sinnlichem Reiz und bravourös in der Absolvierung des virtuosen Zierwerks. Das wiegende „M’allontano, sdegnose pupille“ wird mit lieblicher Anmut ausgebreitet und imponiert durch die mühelose Beherrschung der Extremnoten. Den Abschluss des Händel-Teiles bildet die Arie des Sigismondo, „Quella fiamma“,  aus Arminio, in welcher der Sänger in einen virtuosen Dialog mit der Oboe tritt. Auch in dieser Rolle war der Sopranist Gioacchino Conti besetzt – noch einmal eine Herausforderung für Samuel Mariño, die er souverän meistert  (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)Bernd Hoppe