Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Barocke KANTATEN & Gesänge

 

Unter dem Titel Per la Sig.ra Geltruda hat PAN Classics Motetten und das Stabat mater für Alt-Stimme und Streicher von Antonio Vivaldi herausgebracht. Der Titel entspricht einer Angabe Vivaldis selbst, die er dem Manuskript seiner Solo-Motette „Clarae stellae, scintillate“ hinzugefügt hat, und das zu einer Zeit, in der die großen Kastraten dominierten. Dies hat natürlich die Neugier der Musikwissenschaftler herausgefordert, die die Identität dieser Geltruda vielfach hinterfragten. Inzwischen ist wohl geklärt, dass Geltruda della Violeta von 1684 bis 1752 in der Ospedale dalla Pietà (eines von vier Heimen in Venedig für Waisenmädchen) lebte, wo  Vivaldi bis 1718 zunächst als Kaplan, anschließend durchgängig als Lehrer für Streichinstrumente tätig war und zuletzt auch das Orchester leitete. Geltruda, die verschiedene Instrumente spielte, war eines der sechs Mädchen, die berechtigt waren, die Solostimmen wie die „Lehrer“ zu singen. Aus dem klugen, sehr aufschlussreichen Beiheft ergibt sich, dass die Sängerin, als sie einige Berühmtheit erlangt hatte, vom Marquis von Ferrara Luigi Bentivoglio d‘Aragona protegiert wurde, natürlich mit großer Diskretion. So war er es auch, der 1715 bei Vivaldi die für sie bestimmte, anfangs genannte Motette Clarae stellae, scintillate für 14 Lire in Auftrag gab. Der Korrespondenz zwischen Bentivoglio und dem Komponisten Giacomo Antonio Perti kann man entnehmen, dass Geltruda eine zarte Altstimme („assai delicata“) hatte, die durch Instrumente leicht überdeckt werden konnte. Dennoch soll sie sehr ausdrucksstark gewesen sein, die sich  besonders für „getragenen Stil“ geeignet habe. Dies wird in der Motette und in den wohl auch für Geltruda geschriebenen beiden Introduzioni al Miserere RV 638 und RV 641 deutlich, indem in der Führung der Solostimme virtuose Verzierungen fehlen, wie man sie in anderen Motetten Vivaldis findet. Das Stabat Mater wurde 1712 für die Kirche Santa Maria della Pace in Brescia in Auftrag gegeben; da es die gleiche Tessitura wie die für Geltruda geschriebenen Stücke aufweist, liegt die Annahme nahe, dass sie das Werk auch in Venedig aufgeführt hat.

Die in Italien in letzter Zeit vor allem im Konzertbereich bekannt gewordene Sängerin Alessandra Visentin  verfügt über einen volltimbrierten und zugleich schlanken, schön abgerundeten Alt, der sich für das Stabat mater und die Solo-Motetten aufs Feinste eignet. Das ausgezeichnete Ensemble Pietro Antonio Locatelli unter dem souveränen Luca Oberti begleitet durchweg stilgerecht und gestaltet zusätzlich zwei kleinere Instrumentalwerke von Vivaldi wirkungsvoll (PAN CLASSICS PC 10414). Gerhard Eckels

 

Neu bei Alpha: Jochanaan und Salome im Oratorium. Alpha setzt die systematische Pflege des barocken Repertoires mit der Herausgabe von Alessandro Stradellas Oratorium San Giovanni Battista fort, welches 1675 in der Kirche San Giovanni die Fiorentini in Rom uraufgeführt wurde (9748809). Der Komponist, 1643 in Bologna geboren, fiel 1682 im Alter von nur 40 Jahren in Genua einem Auftragsmord zum Opfer. In seinem Werk über Johannes den Täufer verbindet er auf geniale Weise die Tradition des römischen Oratoriums von Carissimi, mit dem er in der italienischen Hauptstadt freundschaftlichen Kontakt pflegte,  mit der venezianischen Oper Cavallis.

Die Musik ist von starker Erfindungskraft, weist faszinierende dramatische Effekte auf und erzeugt damit oftmals eine opernhafte Atmosphäre. Wenn in der Interpretation auch weniger die Bravour denn eine expressive Deklamation im Stil des recitar cantando gefordert ist, so finden sich in der Komposition dennoch anspruchsvolle legato-Passagen und schwierige Verzierungen.

Mit seinem Ensemble Le Banquet Céleste sorgt der Dirigent Damien Guillon für eine spannungsreiche Einspielung, die sich mit der bisher vorliegenden Aufnahme unter Alessandro De Marchi mit der Academia Montis Regalis bei hyperion messen muss. Die vibrierende Sinnlichkeit und der eindringliche Rhythmus der Musik sind überzeugend getroffen. Das Klangbild ist farbig, transparent und dynamisch.

Eine auf dieses Idiom spezialisierte Sängerbesetzung wird angeführt von dem Countertenor Paul-Antoine Benos-Djan in der Titelpartie, der mit weicher Stimme puren Wohlklang hören lässt. Wenn er zu Beginn seine arkadische Lebenswelt besingt und die Schönheit des Waldes beschreibt („Amichi selve“), ist sein schmeichelnder Ton besonders passend. Rhythmisch akzentuiert und souverän in der

Beherrschung der lebhaften Koloraturläufe erklingt „Soffin pur“. Danach nimmt die Stimme zunehmend einen berührend schmerzlichen Klageton an, gipfelnd im eindringlichen Todesschrei.

Olivier Dejean als Erode ist mit hellem Bass zu ihm ein starker Kontrast. Der  energische Nachdruck seines Vortrages steigert sich immer mehr ins Wildhafte. Seine Stieftochter (bei Richard Strauss später die Salome) ist hier Erodiade La Figlia. Alicia Amo lässt im ersten Auftritt einen sinnlichen Sopran mit kristallklarer Höhe von kapriziösem, beinahe somnambulem Ausdruck hören. Aber sie kann auch ganz mädchenhaft und lieblich klingen wie in „Sorde dive“ oder „Vaghe ninfe“ zu Beginn des 2. Teils. Später im Duett mit Erode („Freni l’orgoglio“) wird die Stimme zunehmend aufgeregter, artikuliert atemlos und fiebernd. In „Bramo sol“ schließlich hört man gehetzte, sich beinahe überschlagende Koloraturen und hysterische Spitzentöne. Ihre Mutter Erodiade La Madre ist Gaia Petrone mit strengem Mezzo, der in „Figlia se un gran tesoro“ zu energischen Koloraturen findet und sich im Terzett mit ihrer Tochter und dem Consigliero (Artavazd Sargsyan mit prägnant deklamierendem Tenor) perfekt mischt. Der Tenor Thibault Givaja als Discepolo komplettiert die Besetzung. Bernd Hoppe

 

Wer kennt schon Alessandro Melani? Aber wie oft hilft Wikipedia da weiter: Der von 1639 bis 1703 lebende Alessandro Melani entstammte einer Musikerfamilie aus Pistoia (Toskana). Seine sechs Brüder wurden allesamt Musiker; darunter waren vier Kastraten, deren berühmtester Atto Melani war. Alessandro war Kapellmeister an den Kathedralen von Orvieto, Ferrara, Pistoia und an der Papstbasilika Santa Maria Maggiore, der vom kurz zuvor gewählten Papst Clemens IX. bevorzugten Kirche. 1672 wurde er Kapellmeister an der römischen Kathedrale San Luigi dei Francesi, eine Position, die er 26 Jahre lang bekleidete. Melani war im 17. Jahrhundert neben Bernardo Pasquini und Alessandro Scarlatti einer der führenden Komponisten in Rom. Vor allem machte er sich einen Namen als Opernkomponist; seine Werke gelangten in vielen Städten Italiens, aber auch in Wien, zur Erstaufführung. Er war der erste, der die Legende von Don Juan und dessen Einladung an den „Steinernen Gast“ musikalisch verarbeitete und sie mit L’empio punito (Der bestrafte Bösewicht) auf die Bühne brachte (Teatro Colonna 1669). Außerdem zählen zu seinen Kompositionen acht Oratorien sowie drei Sammlungen von mehrstimmigen Motetten.

Aus dem dritten Band dieser Sammlungen sind jetzt bei Brilliant Classics 18 Concerti Spirituali herausgekommen, die das Ensemble I Musici del Gran Principe unter Samuele Lastrucci aufgenommen hat. Dieser sorgt mit seiner Leitung für gleichmäßig stilechtes Musizieren. Gut aufeinander abgestimmt präsentieren in jeweils wechselnder Besetzung die Sopranistinnen Benedetta Corti, Valentina Vitolo und Francesca Caponi , die Altistinnen Margherita Tani und Elisabetta Vuocolo sowie der Altist Vincenzo Franchini, der Tenor Francesco Marchetti und der Bass Alessandro Ravasio, begleitet von  Orgel, Harfe, Theorbe, Cello und Kontrabass, die Motetten für 2, 3 oder 5 Stimmen. Positiv fällt dabei das durchweg schlankstimmige, intonationsreine Singen auf, mit dem die mit allerlei Koloraturen und anderen technischen Schwierigkeiten versehenen Motetten ausgedeutet werden (BRILLIANT CLASSICS 95970/1+2, 2 CD).

 

Komponist und Gesangslehrer, zu dessen Schülern u.a. der Kastraten-Star Farinelli gehörte, hat neben seinen unzähligen Opern auch viele Kantaten für Singstimme und Basso continuo komponiert. Von denen hat Christina Grifone in Begleitung von Renato Criscuolo (Barockcello) und Alberto Bagnai (Cembalo) sieben aufgenommen, die bei BRILLIANT CLASSICS erschienen sind. Unter dem Titel der ersten Kantate der Aufnahme Dalla Reggia di Flora erklingen kleine Dramen über Glück und Last der Liebe vor dem Hintergrund von Blumen und blühenden Landschaften. Die italienische Sopranistin gefällt durch klare, schlanke Stimmführung in den vielen Arien, auf die jeweils Rezitative hinführen. Dabei ist oft einiges an Virtuosität erforderlich, mit der die Sängerin abgesehen von gelegentlichen Intonationstrübungen keine Probleme hat. Die instrumentale Begleitung ist durchweg stilsicher; auch hier überzeugt das stets durchsichtige Musizieren (BRILLIANT CLASSICS 96077).

Für Spezialisten, die die Musik im Übergang von der Renaissance zum Barock mögen, gibt es ebenfalls bei BRILLIANT CLASSICS überwiegend Instrumentalmusik, die das Ensemble Zenit, bestehend aus Gilberto Scordari (Orgel), Pietro Modesti (Cornetto) und Fabio De Cataldo (Barock-Posaune) aufgenommen hat. Es spielt Stücke von dem vor allem in Venedig wirkenden Komponisten Giovanni Legrenzi (1626-1690), teilweise unter Beteiligung der Altistin Isabella Di Pietro und des Tenors Roberto Rilievi. Bei den beiden Bläsern fällt positiv auf, dass es ihnen gut gelingt, auf den historischen Instrumenten die Intonation zu halten, was ja bekanntlich nicht selbstverständlich ist. In den einzelnen Sätzen aus Sonaten von Legrenzi passen die schlanken, ruhig geführten Stimmen der Sänger mit den Instrumenten bestens zusammen. Zwischen diese Stücke sind kleinere Werke allein für Orgel von Tarquinio Merula (1595-1665), Luigi Battiferri (1600-1682), Giovanni Paolo Colonna (1637-1695) und Carlo Francesco Pollarolo (1653-1723) eingestreut, die versiert präsentiert werden (BRILLIANT CLASSICS 96006).   Gerhard Eckels

 

Alessandro Scarlatti komponierte Vokalmusik in beeindruckenden Dimensionen: 114 Opern, 38 Oratorien, 13 Messen, 111 Motetten und 783 Kantaten werden ihm zugeschrieben, einiges davon wahrscheinlich auch fälschlich, in den Archiven könnten aber auch noch weitere Werke ruhen. Die Kantate war für Scarlatti auch Gelegenheit für Experimente, als Begründer der neapolitanischen Oper leistete er einen nicht zu unterschätzenden Beitrag – seine anspruchsvollen Kantaten haben also durchaus Aufmerksamkeit verdient und das stellt die vorliegende Neuaufnahme auch unter Beweis. Das Ensemble Scherzi Musicale widmet sich arkadischen Kantaten über Liebe und ihre Wirrnisse. Die titelgebende Kantate O penosa lontananza ist zweistimmig und ambivalent angelegt – der Sopran leidet unter der Abwesenheit des Geliebten, der Bariton ist froh über den Freiraum. Der Wechsel von Rezitativ und Arie ist ansonsten wie üblich für Solostimme und Basso Continuo, z.B. qualvoll in „Fiero acerbo destin“, verängstigt in „Imagini d’orrore“, verführerisch in „Sotto l’ombra d’un faggio“ oder poetisch in „Sovra carro stellato“. Melodie, Harmonik und Kontrapunkt – Scarlatti ist einfallsreich und kompositorisch abwechslungsvoll, die acht Musiker verleihen dieser Aufnahme stilistische Eleganz und einen warmen Klang und erreichen zusammen mit Sopran Deborah Cachet eine innige Interpretation voller Gefühl, bei der die Sängerin mit klarer, schön timbrierter Stimme eine Geradlinigkeit ausdrückt, die nie fad wird. Der Belgier Nicholas Achten ist Herz und Seele dieses Ensembles, er ist Dirigent, spielt Theorbe und Harfe und singt auch noch die Baritonrolle. Im informationsreichen mehrsprachigen Beiheft erklärt Achten, wie Francesco Gasparinis Abhandlung L’armonico practico al cimbalo von 1708 und das Konzept des Suonar pieno die Interpretation inspirierte. Eine stimmungsvolle Aufnahme, die Aufmerksamkeit verdient. (1 CD, Ricercar, RIC 396)

 

Auch für andere kleine Barock-Ensembles und junge Sänger scheint dieses Genre aktuell attraktiv, wie drei weitere engagierte Einspielungen mit Kantaten zeigen. Der in Neapel wirkende Franceso Nicola Fago (1677-1745) ist heutzutage nur noch wenigen Barockfreunden ein Name. Sechs Kantaten, die aus den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts stammen dürften und sich an Alessandro Scarlatti und Domenico Sarro orientieren, liegen als Erstaufnahmen vor. Es handelt sich bereits um „Volume two“ der beim englischen Label Toccata Classics erscheinenden Cantatas and ariettas for solo voice and continuo. Die von Sabino Manzo dirigierte Capella Musicale ‚Santa Teresa dei Maschi‘ aus dem Aufnahmeort Bari klingt durch den Kirchenraum etwas zu hallig, doch mit Countertenor Riccardo Angelo Strano rückt sich ein junger italienischer Countertenor in den Mittelpunkt. Damit die Dauerkantatenbeschallung nicht zu monoton wirkt, sind fünf Toccaten für Solo-Cello von Franceso Paolo Scipriani dazwischen gestellt, die von Claudio Mastrangelo virtuos gespielt werden. (1 CD, Toccata Classics, TOCC 0437)

 

Auch beim Label Brilliant kann man sich in Erstaufnahmen neapolitanischer Kantaten vertiefen: Neapolitan Cantatas vereint Werke von Hasse, Mancini, Porpora und Porsile, die neben einer Stimme auch oft eine Flöte fordern und durch die kammermusikalische Besetzung mit Giuseppina Ledda (Flöte), Fabio Catania (Viola da gamba) und Pierluigi Morelli (Cembalo) musiziert werden. Es handelt sich um Werke für Flötenliebhaber, anderen mag die ungewohnte Flötenbegleitung auf die Dauer etwas einseitig vorkommen. Zu hören sind Hasses Passa da pena in pena, Francesco Mancinis „Filli mea, tu infidele“, Porporas „Freme il mar e col sussurro“ und ein anonymes „Non lasciarmi o belle spem“e. Giuseppe Porsiles drei Arien „La constanza con amore“, „E prigioniero questo mio amore“ und „Ho visto al pianto mio“ gehören nicht zu einer Kantate, sondern stammen aus  „In ritorno die Ulisse alla patria“, einer 1707 erfolgreich in Neapel aufgeführten Oper. Vor allem der junge italienische Countertenor Antonello Dorigo macht neugierig auf mehr. (1 CD, Brilliant, 95778)

 

Ebenfalls bei Brilliant kann man weltliche Kantaten von Cristofaro Caresana (1640-1709) entdecken. In Secular Chamber Cantatas musiziert das mit Cembalo (Paola Erdas), Cello (Alberto Guerrero) und Theorbe (Franco Pavan) besetzte Ensemble Démesure sieben Kantaten des überwiegend in Neapel tätigen Venezianers, der bereits vor Scarlattis Ankunft in Neapel 1683 das Genre prägte. Schon bei ihm ging es bukolisch zu, musikalisch gibt es Einflüsse durch Monteverdi und Venedig. Das 2006 gegründete, auf Kantaten spezialisierte Ensemble begleitet engagiert die Mezzosopranistin Juliette de Banes Gardonne, die mit ihrer sanften Stimme den Zuhörer in ihren Bann zu ziehen vermag. (1 CD, Brilliant, 95923) Marcus Budwitius

So fundiert wie spannend

 

Einmal aufgeschlagen, möchte man es nicht mehr aus der Hand legen, die 450 Seiten in einem Zug lesen, von der dritten und sowohl überarbeiteten wie erweiterten Ausgabe von Herbert Haffners Wilhelm Furtwängler – Im Brennpunkt von Macht und Musik (im Wolke Verlag). Gleichermaßen Intellekt wie Gefühl fordert diese einmalig informationsreiche wie aufwühlende Geschichte des „Jahrhundertdirigenten“, dessen Tragik nicht zuletzt darin lag, dass er sich in erster Linie als Komponist sah, der dazu zerrissen wurde von dem Konflikt, in Nazideutschland durch sein Bleiben und Wirken die deutsche Kultur, vor allem vertreten durch die Musik, zu repräsentieren und damit zu retten, und der gerade durch diese Entscheidung sich nach dem Krieg schlimmsten Anfeindungen ausgesetzt sah. Dem Verfasser ist diese Tragik bewusst und sie wird dem Leser verdeutlicht, wenn am Schluss des Buches davon berichtet wird, dass auf dem Grabkranz der Berliner Philharmoniker der verhasste Name Karajan steht und sein Nachfolger als Träger des Ordens Pour le mérite ausgerechnet Thomas Mann wird, der ihn unbarmherzig wegen seines Bleibens in Deutschland verfolgte. Nicht besser sieht es für Furtwängler gleich zu Beginn des Buches aus, wenn der Autor mitteilt, dass noch 2004 die zum 50. Todestag geplante Aufführung von Furtwänglers Te Deum am Einspruch von UNESCO-Delegierten scheitert. So erscheint sein gesamtes Leben und Wirken quasi eingerahmt in die Äußerungen bösartigen oder schlecht informierten Missverstehens seines Anliegens, sich zum Sachwalter dessen zu machen, was er nicht nur durch die Nazis, sondern auch später noch, so durch amerikanische Unkultur, gefährdet sah.

Das Buch ist chronologisch aufgebaut, jedes Kapitel beginnt mit einem Zitat und einem Hinweis auf seinen Inhalt. Dem Leser wird bereits in der Schilderung von Kindheit und Jugend deutlich, wie schwer es Furtwängler haben wird, nicht nur wegen der Widersprüchlichkeiten in seinem Charakter, die der Autor nicht nur berichtend schildert, sondern die, wie im weiteren Verlauf in allen Lebensbereichen, durch Zeugnisse von Zeitgenossen und Weggefährten, aber auch durch eine Unzahl  von Selbstzeugnissen verdeutlicht werden. Dabei verhält sich Haffner „neutral“, ist objektiver Berichterstatter, erweckt aber doch im Leser nicht nur ein zunehmendes Interesse, sondern auch ein immenses Mitgefühl mit dem sich immer wieder auf Grund seiner Naivität, manchmal auch seiner verletzten Eitelkeit in Schwierigkeiten bringenden Dirigenten. Der Autor urteilt nicht vom hohen Ross des besserwissenden Spätgeborenen her über die tragischen Verstrickungen, sondern ermöglicht es dem Leser, gerade weil eine Fülle von Quellen herangezogen wird, ein mitfühlendes Urteil über den Künstler zu fällen, der glaubte, die Nazis manipulieren zu können, während diese dasselbe mit ihm vorhatten.

Plastisch wird die Jugend Furtwänglers geschildert, seine besonderen Gaben, das Aufwachsen ohne Mitschüler, weil die Erziehung früh ganz auf die Musik ausgerichtet wird, die große Rolle, die Sexualität für den jungen wie den älteren Furtwängler spielt, seine Anfänge in Breslau, Straßburg, Lübeck, Mannheim. Seine ausufernden Bewegungen beim Dirigieren wie seine Schwierigkeiten mit der zunehmenden Schwerhörigkeit sind ebenso Thema wie eine Gegenüberstellung mit Toscanini, der ihn unbarmherzig auch noch verfolgt, als lange nach dem Krieg ein Gastspiel in Chicago oder an der Scala geplant ist.

Das unheimliche Arbeitspensum erschreckt den Leser , Leipzig, Wien, Berlin mit ihren Starorchestern sind seine Wirkungsorte, zunächst viel moderne Musik auf dem Konzertplan, ehe er vor allem Beethoven-, Brahms-, Wagnerdirigent ist. Hin- und hergerissen ist er von Furtwänglers Bekenntnis zur tonalen Musik und bei aller Sachlichkeit der Darstellung entfaltet das Buch eine zunehmende Sogwirkung auf ihn und lässt ihn nicht mehr los.

Bereits aus anderen Büchern kennt man die Geschichte des Berliner Kulturlebens in Nazideutschland. Hier wird es noch einmal äußerst interessant und faktenreich dargestellt, werden die verzweifelten Versuche Furtwänglers, jüdische Musiker zu schützen ebenso aufgeführt wie die eigentlich lächerlichen, mit denen er den Hitlergruß zu umgehen versucht. Die Briefwechsel des Künstlers mit den Nazipotentaten wie Goebbels oder Göring sind aufschlussreichste Dokumente.

Die Fragwürdigkeit der amerikanischen Entnazifizierungsmethoden wird am Beispiel Furtwängler deutlich, wenn der Leser erfährt, dass sein Verfahren nur deswegen immer wieder verzögert wurde, weil ein im Gefolge General Clays nach Deutschland gekommener amerikanischer Musiker nach des Dirigenten Stellung bei den Berliner Philharmonikern gierte. Furtwänglers Geisteshaltung spiegelt sich in seiner Argumentation für die deutsche und gegen die ihm angebotene österreichische Staatsbürgerschaft wider: er wolle Deutschland in seiner schweren Stunde nicht allein lassen.

Gründlich, kenntnis- und aufschlussreich werden zwei „Fälle“, die des Eintretens  für Hindemith und des Artikels „Das Wunder Karajan“ von Edwin von der Nüll beschrieben, anders als viele andere Autoren weiß der Verfasser um die allgemeine Verbreitung eines diffusen Antisemitismus nicht nur in der deutschen Gesellschaft. Mit Rührung nimmt der Leser den Einsatz Menuhins für den verfemten Furtwängler zur Kenntnis wie auch die ewige Dankbarkeit Barenboims, der ihm als 11jähriger vorgestellt wurde.

Für die Auseinandersetzung um die Rückgabe ehemaliger Besitztümer an die Hohenzollern aufschlussreich sein könnte die im Buch dokumentierte Aussage eines Prinzen , der die Sekretärin des Dirigenten als „Judensau“ bezeichnete, für die Haltung der Nazis gegenüber Furtwängler Goebbels‘ er habe „Furtwängler zerbrochen“.

Die Fülle von Tatsachen, Quellen, Meinungen, Zitaten ist einfach überwältigend und in einer Kritik nur andeutungsweise zu übermitteln. Und eindeutiger als es jede Rezension sein kann, ist ein Zitat wie „So wird er in seinem Durchhalten in Deutschland- das Ideal einer deutschen Musik stets vor Augen- eben tatsächlich ein Aktivposten der NS-Kulturpolitik und zahlt dafür den Preis, mit ihr verquickt zu werden“ und man teilt mit Auréle Nicolet die Meinung:“Furtwängler war nie ein Opportunist. Furtwängler war ein Utopist“. „Wehrlose Weltfremdheit“ wird ihm attestiert.

Weniger aufregend, aber nicht minder genau recherchiert und erhellend ist die Darstellung der Beziehungen zwischen Furtwängler und Walter Legge. Umso berührender das Bemühen von Boleslav Barlog um das angeblich nicht vorhandene Papier, das man braucht, um Furtwängler endlich zu einem Entlastungsurteil zu verhelfen.

Man könnte noch seitenlang seiner Begeisterung Ausdruck verleihen über dieses kenntnisreiche, ideologiefreie, den Leser zwar in seinen Bann ziehende, ihn aber nie indoktrinierende Buch.

Es  genügt nicht nur- so durch einen umfangreichen Anhang- höchstem wissenschaftlichem Anspruch, sondern ist zugleich spannend wie der beste Kriminalroman und dazu noch ein würdiges Denkmal für einen großen Künstler und unglücklichen Menschen( 455 Seiten Wolke Verlag 2020; ISBN 978 3 95593 046 2). Ingrid Wanja 

Oper über Miklós Radnóti

 

Hintergrund und Inhalt sind bewegender als die Oper, die Tom Cipullo in guter Absicht daraus gemacht hat. Es geht um den ungarischen Dichter Miklós Radnóti, einen assimilierten Juden („Ich fühle mich nicht als Jude… Wenn ich mit einer Religion überhaupt etwas im Sinn habe, dann mit dem Katholizismus“), der, um sich keinen Vorteil zu verschaffen, auf die Konversation zum Katholizismus verzichtete. Wie die Dichter Antal Szerb, Gabor Halász, György Bálint und mehr als eine halbe Million ungarischer Juden wurde Radnóti Opfer des Holocaust: zusammen mit 21 Mithäftlingen wurde der 35jährige am Ende eines Gewaltmarsches in der Nähe von Györ und der österreichischen Grenze erschossen. 1946 wurde das Massengrab exhumiert, wobei Radnótis letzte Gedichte gefunden wurden, die heute in keiner Anthologie moderner ungarischer Dichtung fehlen, vergleich der Todesfuge Celans in einer deutschen Sammlung. Radnóti wurde zur moralischen Instanz. Das Todesbewusstsein war für Radnóti, der dem von Söldnern getöteten spanischen Kollegen Federico Garcia Lorca seine erste Ekloge widmete und dessen Weggefährte der ungarische Dichter József Attila war, der sich 1937 vor den Zug geworfen hatte, Bestandteil seines Schaffens.

Der New Yorker Komponist Tom Cipullo (*1956), zu dessen bekanntesten Lehrern David Del Tredici und Thea Musgrave gehören, beschreibt in seiner Oper The Parting Radnótis letzte Nacht mit seiner Frau Fanni bevor er wieder zum demütigenden Arbeitsdienst musste. Dem Paar war bewusst, dass es sich vielleicht nie wiedersehen würde. Fanni blieb in der gemeinsamen Wohnung. Sie starb mit 102 Jahren 2014. Fünf Jahre später erinnern Tom Cipullo und David Mason zu dessen 75. Todestag an den hierzulande und vermutlich auch in den USA unbekannten ungarischen Dichter. Cipullos Oper The Parting, (World Premiere Recording Naxos 8.669044), zu der Mason unter Verwendung von Gedichten, die Radnóti bis zuletzt in ein kleines Büchlein schrieb, das Libretto verfasste, widmet sich diesem Abschied, bei dem neben Miklós (Bariton) und Fanni (Sopran) durchgehend der Tod (Mezzosopran) gegenwärtig ist.

Gelegentlich blickt die undramatische Handlung in den 13 Abschnitten auf das Ende voraus,  konzentriert sich aber vor allem auf die Beziehung der in unendlicher Liebe verbundenen Miklós und Fanni, in der Fanni, die großes Verständnis und Geduld für sein Schaffen aufbringt, häufig auch zurückstehen muss. Lapidar und zynisch liefert der Tod seine Kommentare, „You never have to look far to see that for some, evil is right next door“.  Cipullos neoromantisch, lyrisch sentimentale Musik erlaubt es Michael Mayes sich als Miklós in schwärmerisch breiten und intensiven Bögen von sämiger Schönheit zu entfalten und gibt Laura Stricklings Fanni wiederkehrende melodische Abschnitte von einiger Lieblichkeit; Catherine Cooks Mezzo ist recht unruhig, was dem Tod gut ansteht. Cipullo hält das von Alastair Willis dirigierte Quintett aus Flöte, Klarinette, Violine, Cello und Klavier mit einer abwechslungsreich sprechenden Musik auf Trab, die die Stimmungen und die Melancholie einzufangen versucht. Das ist alles gut gemeint. Wirkt aber als Gegenstück etwa zu Erkki-Sven Tüürs Budapester Holocaust-Oper Wallenberg doch wie ein literarisch-musikalisches Volkshochschul-Projekt. Auftraggeber war die in Seattle ansässige Organisation Music of Remembrance „dedicated to remembering the Holocaust through music with conert performances, educational programs, recordings and commisions of new works“.   Rolf Fath

Osteuropäisches

 

Hätte ich nicht vor Jahren im Minsker Opernhaus das Ballett Anyuta gesehen, hätte ich sicherlich nicht so interessiert nach dieser CD des St. Petersburg Philharmonic Symphony Orchestra und des Dirigenten Yuri Serov gegriffen. Mit zehn Ausschnitten aus Anyuta bietet die Aufnahme (Naxos 8.573883) einen Eindruck von diesem abendfüllenden Zweiakter nach Tschechows Erzählung Anna am Halse, der 1986 am San Carlo in Neapel in der Choreographie von Valery Vasiliev erstmals aufgeführt wurde und seither das Repertoire zahlreicher russischer Kompagnien, darunter auch des Moskauer Bolshoi Theaters, ziert. Die Musik stammt von dem 1939 geborenen (und 1999 in St. Petersburg gestorbenen) Valery Gavrilin, der nach der Inhaftierung der Mutter in einem Kinderheim aufwuchs – also eine Geschichte, wie sie aktuell der aus Minsk Stammende Schriftsteller Sasha Filipenko in seinem Roman Rote Kreuze erzählt – am Leningrader Konservatorium studierte, als Kritiker und Redakteur wirkte und mit Film- und Theatermusiken Aufmerksamkeit fand. Für The Russian Notebook (1965) erhielt er die höchsten Auszeichnungen. Bei den herben, folkloristisch angeregten acht Liedern, die alle ein individuelles Gesicht zeigen, aufregend, klagend, manchmal in einem post-mussorgskyschen Sprechgesang, manchmal extrem und experimentell, denkt man am ehesten an den von Dmitri Hvorostovsky im Westen bekannt gemachten Altmeister einer neuen russischen Folklore Georgi Sviridov. Es wundert nicht, dass Serov und die Mezzosopranistin Mila Shkirtil sich u.a. auch für Sviridov eingesetzt haben (8.573685). Shkirtil singt die Gavrilin-Lieder mit einem leuchtenden, sanft klagenden – drei der Lieder sind mit „Lament“ überschrieben – wie im umfangreichsten „Winter“ betitelten Lied in wilde Vokalisen ausbrechenden Mezzosopran, dessen virtuoser Einsatz sich auch für die Oper empfehlen würde. Anyuta bietet tollste Ballettmusik. Einen Walzer, der natürlich an Schostakowitsch denken lässt, eine Tarantella, bei der Minkus grüßen lässt. Es stört nicht und man merkt es den pianistisch entworfenen lebhaften Abschnitten nur gelegentlich an, dass es sich bei den meisten Stücken um Orchestrierungen früher Klavierstücke Gavrilins handelt, denn die Musik ist zweckmäßig und wirkungsvoll und mit Gespür für die Forderungen des Balletts zusammengeschweißt, welches die Geschichte der 18jährigen Halbwaisen Anna erzählt, die einen mehr als 30 älteren Beamten heiratet, sich ihrer Verführungskraft bewusst wird und diese gierig ausspielt. Serov und das St. Petersburg haben keine Scheu, auf die unmittelbare Wirkung der Musik zu setzen und ihre Effekte kraftvoll auszuspielen. In dichten Nahaufnahmen, sentimentalen Landschaften und mitreißenden Ballszenen (Quadrille) geben die zehn Ausschnitte einen fabelhaften Eindruck von dem Ballett, das ich mir sofort wieder anschauen würde.

 

“I would like to create a symphony from the murmur of waves, the rustling of centenary forest, the shimmering of the stars, our little songs and my unending longing,” schrieb der litauische Komponist Mikalojus Konstantinas Čiurlionis (1875-1911) 1908 seiner Frau. Čiurlionis war Maler und Komponist, studierte, gefördert von einem polnischen Grafen, in Warschau Musik, sodann u.a. bei Reinicke und Jadassohn in Leipzig, interessierte sich parallel dazu für Malerei und Philosophie und begriff sich als Synästhetiker. Ein Fall wie der des nahezu gleichalten Skrjabin. Erst nach seinem Tod setzte langsam die Anerkennung für den heute als Nationalhelden verehrten Maler von rund 280 häufig mit Vortragsanweisungen oder Musikgattungen beschriebenen Bildern und Komponisten von etwa 340 Orchester-, Klavier- und Vokalwerken und Kammermusik ein. Die beiden sinfonischen Dichtungen wurden erst nach dem Tod von Čiurlionis uraufgeführt: 1912 In the Forest und wegen des immensen Aufwands erst 1936 The Sea (bleiben wir der Einfachheit halber bei den englischen Titeln). Sie sind Anfang und früher Höhepunkt einer eigenen litauischen Musik. Ideen zu einer sinfonischen Schöpfung konnte er ebenso wenig umsetzten wie eine Oper über die litauischen Legendenfigur Jurate. Das Lithuanian National Symphony Orchestra und sein Leiter Modestas Piténas führen den unvorbereiteten Hörer mit den drei großen Orchesterwerken aus den Jahren 1901 bis 1907 in einer musikalischen Endlosschleife auf eine veritable Entdeckungsreise (Ondine ODE 1344-2), in der  Mahler- und Strauss-Nachklänge in minimalistischen Wendungen in feinen Bildern zerfließen. Orchester und Dirigent entwickeln die Sogwirkung und den meditativen Hintergrund, die offenbar einen wesentlichen Reiz dieser endlos wellend, webenden Musik ausmachen. Es handelt sich um die Ersteinspielung der sinfonischen Ouvertüre Kestuti, sowie die sinfonischen Dichtungen In the Forest und The Sea, die erst in unserem Jahrhundert in ihrer eigentlichen Gestalt neu- oder wiederentdeckt wurden: die unvollendete Ouvertüre in einer am 22.9.2000 zum 125. Geburtstag von Čiurlionis erstmals aufgeführten Rekonstruktion durch den Komponisten Jurgis Juosapaitis,  und die mehrfach von anderen Komponisten „verbesserten“ und gekürzten sinfonischen Dichtungen in ihrer ungeschminkten Originalgestalt. Rolf Fath

 

Jeanette Pilou

 

Am 11. Juli 1937 im ägyptischen Alexandrien (nach anderen Angaben in Al-Fayyum) geboren, begann Jeannette Pilou, die eigentlich Joanna Pilós hieß, griechischer Abstammung war und später auch die italienische Staatsbürgerschaft besaß, ihre Gesangsausbildung zunächst in Ägypten, bevor sie diese in Italien fortsetzte. Nach einer kurzen Zwischenstation am Teatro Smeraldo in Mailand erfolgte ihr Debüt an der dortigen Scala bereits 1960 als Violetta in Verdis La traviata. Von da an ging es steil bergauf und binnen kurzer Zeit konnte die Pilou eine internationale Karriere mit einer weiten Bandbreite vom lyrischen bis zum dramatischen Sopran in italienischen und französischen Opern von Gluck bis Debussy und Puccini vorweisen. Ausnahmsweise war sie auch in deutschsprachigen Werken zu erleben (von Einems Der Prozess). Besonders an der Wiener Staatsoper und an der Metropolitan Opera in New York war sie über viele Jahre in zahllosen Rollen beschäftigt. Nach ihrem Wiener Debüt im Jahre 1965 als Mimì in Puccinis La bohème blieb sie dem Haus am Ring bis 1979 in Rollen wie Cio-Cio-San in Madama Butterfly, Liù in Turandot, Susanna in Le nozze di Figaro, Mélisande in Pelléas et Mélisande, Marguerite in Faust und Micaëla in Carmen verbunden. An der Met debütierte sie 1967 als Juliette in Gounods Roméo et Juliette und sang dort ein ähnliches Repertoire bis 1986 (letzte Vorstellung als Nedda in Pagliacci von Leoncavallo). Bei den Festspielen von Aix-en-Provence, Wiesbaden, Verona, Wexford und Salzburg war sie gern gesehener Gast. Auch der Moderne gegenüber aufgeschlossen, sang sie 1973 die Hauptrolle in der Uraufführung von Renzo Rossellinis La reine morte in Monte Carlo. Einen weiteren Schwerpunkt ihrer Tätigkeit bildeten die Griechische Nationaloper sowieso das Athener Festival, wo man sie ab 1969 erleben konnte. Noch 1998 verkörperte sie dort die Hauptrolle in der griechischen Erstaufführung von Debussys Pelléas et Mélisande. Gastspiele führten sie durch ganz Europa sowie nach Nord- und Südamerika. Ob Covent Garden in London, Opéra Garnier in Paris, La Monnaie in Brüssel, Lyric Opera in Chicago oder Teatro Colón in Buenos Aires, überall war die Pilou heimisch. Zur Förderung des sängerischen Nachwuchses gehörte sie zur den Gründungsmitgliedern der Stiftung Maria Callas Stipendium. Vielfach geehrt und ausgezeichnet, war sie unter anderem Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres sowie Preisträgerin des Puccini-Preises. Am 27. April 2020 ist Jeannette Pilou im Alter von 83 Jahren in Athen verstorben. Daniel Hauser

Königin aus Armenien

 

The Other Cleopatra– ja, gibt es denn außer Liz Taylor noch eine weitere Königin von Ägypten? Aber tatsächlich handelt es sich bei der auf einer CD vernehmbaren Dame um eine historische Persönlichkeit, die ebenfalls den berühmten, für einmalig gehaltenen, aber sehr gebräuchlichen Namen trägt, die ebenfalls Königin, allerdings von Armenien, war und der gleich drei berühmte Komponisten, alle dasselbe Libretto des Abate Francesco Silvani in allerdings in einer nach ihrem armenischen Gatten  Il Tigrane benannten Oper die Ehre erwiesen. Die Vertonungen von Johann Adolf Hasse und Christoph Willibald Gluck wurden zum ersten Mal aufgenommen, die von Antonio Vivaldi genoss bereits diese Ehre.

Die historische Other Cleopatra war die Tochter von König Mithridates VI. von Ponthos, der sie um 95 vor Christi mit dem armenischen König Tigranes verheiratete, um das Bündnis gegen Rom zu festigen. Da Tigranes die Erwartungen ihres Vaters nicht erfüllte, kehrte sie, obwohl sie inzwischen Mutter von drei Söhnen geworden war, wieder zu diesem zurück, verteidigte anders als ihre Brüder erfolgreich die Burg von Phanagoreia gegen die Angriffe des römischen Feldherrn Lucullus.

Im Libretto sieht diese Geschichte sehr anders aus. Hier geht es um wahre Liebe zwischen  Cleopatra und Tigranes, der ihren Vater Mithridates unter falschem Namen bekriegt und auf dem Schlachtfeld besiegt, aber ihre Liebe gewinnt. Er wiederum wird von auch von der in Ponthos ansässigen Hofdame Apamia geliebt. Als Tigranes seine wahre Identität enthüllt, wird er zum Tode verurteilt und Cleopatra dazu, den Bruder Apamias namens Orontes zu heiraten. Mithridates hingegen will Apamia ehelichen. Cleartes, ein Freund Tigranes, verhindert mit einem Überfall sowohl Heirat wie Hinrichtung. Als es zum direkten Schlagabtausch zwischen Cleartes und Mithridates kommen soll, erklärt sich Tigranes bereit, für den Vater seiner Geliebten zu kämpfen. Das rührt diesen so sehr, dass er allen Hass vergisst, Cleopatra und Tigranes seinen Segen gibt und selbst Apamia heiratet.

Während Hasse und Gluck das gesamte Libretto vertonten, trifft das bei Vivaldi nur auf den zweiten Akt zu, der erste und dritte Akt wurde andern Komponisten überlassen, diese Teile der Partitur sind jedoch nicht erhalten geblieben.

Es beginnt mit neun Tracks aus Hasses Oper, bevor dann Vivaldi zu Wort kommt, kann der Hörer die Ouvertüre bestaunen, bei der sich zu den Streichern zwei Hörner gesellen und die weitgehend stürmisch auf die Dramatik der Handlung, wenn auch mit happy end gesegnet, hinweist. Aus dem ersten Akt stammt „Vuoi ch’Io t’oda?“, wo sich sofort die zum Glück einzige Schwäche der armenisch-kanadischen Sängerin Isabel Bayrakdarian zeigt, unter anderem Gewinnerin von Domingos Operalia-Wettbewerb, nämlich eine unangenehm klingende, nicht an die Stimme angebundene Tiefe, die in dieser Arie besonders gefordert wird. Trotzdem kann man sich zugleich über eine farbige, aufblühende und weiche Mittellage und Höhe freuen, eine Sopranstimme, die zudem sehr flexibel geführt wird. Es folgt ein ausdrucksstarkes Rezitativ, für das die Stimme angemessen vibriert, tragische Akzente setzt. In der folgenen Arie „Che gran pena“ kann man den schönen Fluss des Soprans bewundern, aber wieder lässt sich ihr Makel, die Tiefe, nicht verleugnen. Weniger Nachdruck, das Tempo ist ein sehr schnelles, kann der Sopran „Strappami pure il seno“ angedeihen lassen, sehr schön ruhig und gelassen hingegen klingt die Stimme in den weitgespannten Bögen von „Degli Elisi alle campagne“, ausdrucksvoll „Parte, parte…“, dem sich ein durch das substanzreiche Piano auszeichnendes „Press‘ all’onde“ anschließt.

Vivaldis Cleopatra scheint milderen Charakters als Hasses zu sein, sanft wie ein Wiegenlied klingt „Qui mentre mormorando“, reizvoll artifiziell „Squarciami pure il seno“. Bei Gluck gibt es kaum Irritationen wegen der tiefen Töne, „Nero turbo“ mekt man nicht an, wie schwierig es ist, und in „Non ho cor“ dokumentiert sich echte Empfindung, die Kadenz wird gut bewältigt. Hörbar wohl fühlt sich die Stimme bei „Priva del caro bene“, wo viel Mitfühlen zu vernehmen ist. Im Vergleich zu Hasse relativ kurz fasst sich Gluck mit „Presso l’onda“, das weit über reinen Ziergesang hinausreicht, dem das Kaunas City Symphony Orchestra, zu dem hier auch zwei Hörner und zwei Oboen gehören, unter Constantine Orbelian ein guter Partner ist (Delos DE 3591Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Ingrid Wanja

Opernstimme mit Liedgesang

 

Eigentlich Arien mit Klavierbegleitung sind die meisten Verdi Songs, die unter dem Titel La Seduzione mit der spanischen Sängerin Carmen Solís mit Rubén Fernández Aguirre am Piano aufgenommen wurden. Und so ist es vollkommen gerechtfertigt, dass die Sängerin sich nicht um Liedgesang, wie er auf deutschen Podien geschätzt wird, bemüht, sondern wie auf einer großen Bühne in die Vollen geht. Das Rüstzeug dazu hat sie: Obwohl Sopran, hat die Stimme eine so präsente, so leuchtende Mittellage, dass man zunächst der Meinung sein könnte, einen Mezzosopran vor sich zu haben. Die tiefe Lage ist gut angebunden und alle Register sind mit einem Timbre nobler Melancholie begabt, haben den schönen Schmerzenston, der den Verdi-Opernheldinnen so gut ansteht.

Der erste Track ist eine italienische Fassung von Gretchens „Ach, neige du Schmerzensreiche“, hier „Deh, pietoso, oh Addolorata“, in dem niemand Goethes Figur vermuten würde, dazu ist die Stimme zu „fleischig“, zu reif, zu dramatisch geführt, alles in allem in jedem Ton una Margherita italiana.

Wie substanzreich der Sopran ist, kann man auch im Piano der titelgebenden „Seduzione“ wahrnehmen, die gar traurig endet mit einem anonymen Grab ohne Stein oder Schmuck. Das melancholische Timbre bleibt auch im leichtsinnigen „Stornello“ erhalten, vermittelt trotzdem den störrischen Übermut des Stücks. Wie eine Opernarie mit Rezitativ und Cavatine aufgebaut ist „Cupo è il sepolcro“, das nicht cupo klingt, sondern mit einem reichen vokalen Farbenspiel erfreut, ebenso wie das schöne Legato in „È la vita un mar“. Eine etwas deutlichere Diktion wünscht man sich für „Ad una stella“, wo die Stimme willig dem Streben nach reicher Agogik gehorcht, während in „In solitaria stanza“ auffällt, wie gut die Interpretin die Spannung aufbauen und halten kann. Hier wie in anderen Tracks meint man immer wieder Bruchstücke von bekannten Arien zu vernehmen, so hier die der Trovatore-Leonora. Und die generöse Phrasierung, die man sich für die Musik des großen Komponisten wünscht, lässt die Sängerin auch „L’Esule“ angedeihen, wobei man sogar eine Art Cabaletta wahrzunehmen glaubt.

Von ungeheurer Eindringlichkeit ist „Non t’accostar all’urna“, dessen Darbietung mit reicher Stimme einem Hofmannstals „wie schwerer Honig“ nicht aus dem Sinn kommen lässt, und das „ombra mesta“ lässt erschauern. Aber auch Sopranhöhen und eine angenehme Leichtigkeit der Stimmführung lässt die Solís vernehmen, und zwar im „Spazzacamino“, dem „Schornsteinfeger“. Einer Elvira oder Odabella gut anstehen würde „Il tramonto“ mit generösen Bögen und schönem Verklingen. Einen dunklen Schleier legt die Sängerin für die „Notte oscura“ über ihre Stimme,  eine raffinierte Piano-Tiefe hat sie für „Il mistero“, ehe schließlich mit dem Brindisi mit strahlender Höhe pure Lebensfreude verbreitet wird. In allen ihren Intentionen erhält sie kompetente Unterstützung vom Pianisten Rubén Fernández Aguirre, und eine CD mit Opernarien sollte baldmöglichst folgen (IBS5192019/ weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Ingrid Wanja

 

Nix Sizilien

 

In Berlin waren sie jahrelang das Refugium für regiegestresste Hauptstädter und ihre Gäste, die konzertanten Wagner-Aufführungen in hochkarätiger Besetzung und mit dem DSO unter der Leitung seines Chefdirigenten Marek Janowski – und zum Glück gibt es davon auch CDs zur dankbaren Erinnerung. Nun ist aus dem Dresden von 2019, nein, nicht mit der Staatskapelle, sondern der Dresdner Philharmonie eine Cavalleria rusticana erschienen, bei der nicht das Orchester, schon gar nicht der vorzügliche MDR Leipzig Radio Choir enttäuschen, sondern einige der Solisten, die leider das auf dem Cover der CD lodernde Feuer des Ätna nicht auf ihren Stimmbändern tragen.

Die von Janowski gewählten Tempi gehören zu den eher schnellen, straffen, abgesehen vom besinnlich genommenen Zwischenspiel, die weitgespannten Bögen und die raffinierte Agogik dokumentieren den Reichtum der Partitur, erinnern streckenweise an spätromantische Aufwallungen. Vielseitig zeigt sich der Chor, der von Jörn Hinnerk Andresen einstudiert wurde mit duftigen „aranci“, schönen Abstufungen im „regina coeli“ und vokalem Übermut im Brindisi.

Einen vokalen Kraftprotz von Turridu, der in Richtung deutscher Heldentenor weist, gibt Brian Jagde, dessen Siciliana eigentlich Alfio nicht hätte entgangen sein dürfen, der mit einem kraftvollen, aber nicht von der Sonne Siziliens geküssten Tenor die arme Santuzza allein schon durch Stimmgewalt niederschlägt, der im Brindisi etwas schwerfällig wirkt, Leidenschaft und Kraft in das Addio investiert und im „non tornassi“ von tragischer Wucht ist.

Dem Alfio von Lester Lynch kommen die schnellen Tempi entgegen, sein Bariton passt zur Figur, bei gemäßigtem Tempo erscheint er als prägnant, von schmerzlicher Betroffenheit ist „che dite“ und eindrucksvoll sein „Ad essi non perdono“.

Eine zarte Ausgabe von Santuzza gibt Melody Moore, deren Stimme das Kernige, die stabile Mittellage fehlen, die für die Figur einfach zu wenig corpo hat. Anstelle von abgrundtiefer Verzweiflung hört man in ihrem „Io son‘ danata“ nur Geschmäcklerisches, klingt ihre Santuzza fast durchgehend eher jämmerlich als tragisch. Gefällig, wie es sich gehört, singt Roxana Constantinescu die Lola, traurig machende Stimmreste setzt Elisabetta Fiorillo für die Mamma Lucia ein.

Abgesehen von Chor und Orchester ist diese Aufnahme keine, die man sich immer und immer wieder anhören möchte( Pentatone PTC 5186 772). Ingrid Wanja     

 

Peter Jonas

 

Die Bayerische Staatsoper trauert um ihren langjährigen Intendanten  Peter Jonas, der am Abend des 22. April 2020 nach einem 45-jährigen Kampf gegen den Krebs in München verstorben ist.

„Die Musik- und Opernwelt hat in Sir Peter Jonas einen großen Mann verloren. Er hat über Jahrzehnte das Musiktheater- und Konzertleben mit Mut, mit Originalität, mit Energie und unbändiger Lust am Risiko geformt“, so Intendant Nikolaus Bachler. „Die Bayerische Staatsoper prägte der in London Geborene in einzigartiger Weise, definierte das Gefühl und Verständnis ihres Publikums für Musiktheater vollkommen neu und positionierte diese Kunstform weit über München hinaus in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. So war Sir Peter Jonas für München ein Glück – mit englischem, oftmals das Absurde streifenden Humor und großer Disziplin und britischer Coolness schuf der „Kinofan“ und allem Visuellen aufgeschlossene Sir Peter hier einen neuen Blick auf die Opernkunst. Seit der Ära Jonas hört das Publikum in München (auch) mit den Augen. Wir werden ihn vermissen und uns seiner dankbar erinnern – auf der ganzen Welt und gerade in München.“ (Foto + Quelle Bayerische Staatsoper)

 

Dazu auch ein Auszug aus dem verdienstvollen Wikipedia: Peter Jonas CBE, FRSA (* 14. Oktober 1946 in London; † 22. April 2020 war ein britischer Kulturmanager und Opernintendant. Peter Jonas wurde 1946 als Sohn eines Deutschen und einer Engländerin mit schottischen und spanisch-libanesischen Wurzeln geboren. Er besuchte zunächst die Benedicte Worth School. Danach studierte er zunächst an der University of Sussex Englische Literatur, schwenkte dann aber nach seinem ersten akademischen Grad auf Oper und Musikgeschichte um. Diese beiden Fächer studierte er am Royal Northern College of Music in Manchester und später am Royal College of Music in London. Ein letztes Jahr studierte er an der Eastman School of Music in Rochester (New York).

1974 ging er nach Chicago als Assistent des Generalmusikdirektors Sir Georg Solti, wo er zwei Jahre später künstlerischer Betriebsdirektor des Chicago Symphony Orchestra wurde. In seiner elfjährigen Amtszeit arbeitete er mit vielen bekannten Komponisten, Solisten und Dirigenten zusammen.

1984 wurde er zum Generaldirektor der English National Opera ernannt. Ein Jahr später trat er sein Amt an. In seiner Amtszeit verbesserte sich das internationale Ansehen der National Opera durch neue Stücke im Repertoire und die Aufführung von bekannten Stücken für ein breites Publikum.

Am 1. September 1993 wurde Sir Peter Jonas zum Staatsintendanten der Bayerischen Staatsoper. Dieses Amt hatte er bis August 2006 inne. In dieser Zeit erweiterte er das Repertoire unter anderem um viele Barockopern. Außerdem setzte er sich energisch für das Projekt „Oper für alle“ und für Werke zeitgenössischer Komponisten mit vierzehn Uraufführungen ein. Seine Bemühungen galten stets den Hauptzielen der heutigen Oper: Zugänglichkeit und Qualität.

Als Nachfolger von Götz Friedrich übernahm Jonas von 2001 bis April 2005 das Amt des 1. Vorsitzenden der Deutschen Opernkonferenz, der Vertretung der Opernhäuser im Deutschen Bühnenverein. Ab 2005 war er Stiftungsratsmitglied der „Oper in Berlin“ und Beiratsmitglied der Technischen Universität München.
Jonas erlag im April 2020 im Alter von 73 Jahren den Folgen einer längeren Krebserkrankung (Hodgkin-Lymphom).

 

Joachim Raffs „Benedetto Marcello“

.

Ein gemeinsames Schicksal teilen Joachim Raff und einer seiner Helden in seiner vorletzten von sechs Opern, der deutsche Komponist Johann Adolf Hasse, miteinander: Beide waren sie zu Lebzeiten hochberühmt und viel gespielt und fielen schließlich dem Vergessenwerden anheim. Den Titel für das Werk, das eigentlich „Kunst und Liebe“ heißen sollte, verleiht allerdings ein Zeitgenosse Hasses, der wie Händel in Italien als „caro Sassone“ gefeiert wurde, dem zu Lebzeiten seines Komponisten nie aufgeführten Werk: Benedetto Marcello. Wurde Joachim Raff zu Lebzeiten in einem Atemzug mit Brahms und Schumann genannt, war er Protégé von Mendelssohn und Liszt, dessen Werke er sogar orchestrierte, mit Wagner bekannt  und mit Joseph Joachim so eng befreundet, dass man sie wie Castor und Pollux einschätzte und „Raff und seinen Vornamen“ betitelte, so zog sich Benedetto Marcello früh vom Komponieren und Unterrichten zurück und ging als Gouverneur zunächst nach Pola, später, wie es auch die Oper vermeldet, nach Brescia.

.

„Benedetto Marcello“: der Komponist Joachim Raff/ Wikipedia

Wenn nun doch noch, gut 140 Jahre nach ihrem Entstehen, die „lyrische Oper“ auf CD als Übernahme vom SWR als Aufnahme eines Konzertes in Bad Urach bei Sterling erscheint, nachdem sie 17 Jahre zuvor ihre konzertante Uraufführung in Bad Urach erlebt hatte, dann mit einigem Recht unter der Schweizer Flagge, denn der Komponist wurde im Kanton Schwyz geboren, nachdem sein Vater sich, um den napoleonischen Rekrutierungsmaßnahmen im verbündeten Württemberg zu entgehen, sich dorthin geflüchtet hatte. Wie der Vater wurde auch der Sohn zunächst Schulmeister, wurde mit 18 Sekretär des päpstlichen Nuntius, komponierte jedoch in jeder Minute seiner Freizeit, schickte Mendelssohn einige seiner Werke, der sie bei seinem Verleger Breitkopf drucken ließ. Der erhoffte Erfolg stellte sich nicht ein, so dass Raff zeitweise, nachdem er sich mit seinem Auch- Gönner Liszt  überworfen hatte, als Musiklehrer in Stuttgart lebte, später bei einem Verlag in Hamburg, ehe er nach Weimar zu Liszt zurückkehrte, wo seine erste Oper, „König Alfred“, mit einigem Erfolg, aber ohne Folgen aufgeführt wurde. Seine finanziell erfolgreichste, aber eine kräftezehrende Zeit war die in Frankfurt, wo er das dortige Konservatorium leitete. Nach seinem Tod spendierte die dankbare Stadt ihm ein Ehrengrab.

„Benedetto Marcello“: der venezianische Komponist/ Wikipedia

Vom Fleiß des Komponisten, der zu seinen Lebzeiten zu den meistgespielten in Deutschland gehörte,  zeugen allein 12 Sinfonien und sechs Opern, welch letzteren jedoch kein Erfolg beschieden war, wenn sie denn überhaupt ihre Uraufführungen erlebten. Viel Pech war dabei im Spiel, denn der erste Tristan, Ludwig Schnorr von Carolsfeld, war gewillt, den „Samson“ zu singen, starb jedoch vor der Umsetzung des Plans, so wie es auch Mendelssohn geschah, ehe Raff die Ausbildung an dessen Konservatorium in Leipzig antreten konnte oder dem Wiener Musikverleger, der ihm eine Anstellung versprochen hatte.

Raff war ein großer Liebhaber der Barockmusik, was verständlich macht, dass er zwei berühmte Barockkomponisten zu Helden seiner Oper machte, was aber keinesfalls bedeutet, dass er Musik im barocken Stil komponierte. Vielmehr könnte man die seine in eine Reihe mit der von Lortzing, Nicolai oder Flotow stellen, melodiöse Werke mit reicher Harmonik, aber stets der Singstimme den Vortritt lassend und ganz und gar unwagnerisch. Das Libretto hat Raff nach unliebsamen Erfahrungen mit Librettisten selbst verfasst, was nicht bedeutet, dass es ein gutes ist, vielmehr strotzt es von den zum Teil dem Bemühen um einen Reim geschuldeten Peinlichkeiten, wie sie zu seiner Zeit gang und gäbe waren. Aber selbst die mit Texten erfahrene Ehefrau, eine bekannte Schauspielerin, konnte den Komponisten nicht daran hindern, seine so angenehme Musik mit der Fracht unsagbarer literarischer Produkte zu beschweren.

„Benedetto Marcello“: Sestiere San Marco Palazzo Morosini – heute Conservatorio Benedetto Marcello; Abbildung oben: Ausschnitt aus dem bekannten Bild von Canaletto/ beide venediginformationen.eu

Die Handlung seiner Oper hat Raff erfunden, die Personen sind durchweg historisch belegt. Dies trifft also nicht nur auf die Komponisten Hasse und Marcello zu, sondern auch auf ihre Gefährtinnen Faustina Bordoni und Rosana Scalfi.  Erstere war eine tatsächlich berühmte Sängerin, die nach ihrer Heirat mit Hasse auch in Deutschland, so am Dresdner und Wiener Hof, Triumphe feierte. Letztere war nicht das arme Waisenkind der Oper, sondern stammte aus gutem Venezianer Haus, wurde aber tatsächlich die Gattin von Marcello. Fiktion ist das Treffen der beiden Musiker in Venedig, wo der jüngere Deutsche dem älteren Italiener die geliebte Frau, Faustina, ausspannt, von diesem zu Duell mit unblutigem Ausgang gefordert wird und schließlich erkennt, dass er eigentlich die ihn längst heimlich verehrende Rosana liebt. Beide ziehen nach Brescia, Hasse kehrt mit Faustina nach Deutschland zurück.

.

.

Die Beschäftigung mit Benedetto Marcello macht nicht zuletzt deswegen Freude, weil die Ausgabe eine sehr sorgfältige ist. Es gibt separat vom Booklet das vollständige Libretto in Deutsch und Englisch, und im Booklet einen sehr informationsreichen Artikel über den Komponisten  von Mark Thomas, der aus dem Englischen auch ins Deutsche übersetzt worden ist. Dazu gibt es eine sehr ausführliche Inhaltsangabe.

„Benedetto Marcello“: Grab Marcellos in Brescia/ venediginformationen.eu

Die Leitung des Unternehmens war 2002 Grzegorz Nowak und dem SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern anvertraut worden, die  besonders in der Ouvertüre und den Vorspielen zu den einzelnen drei Akten eine romantische, dichte Atmosphäre erzeugen, so dass man nachvollziehen kann, dass Raff vor allem als Komponist von Orchesterwerken sehr erfolgreich war. Zwar ist von venezianischem Kolorit trotz des Barcarolerhythmus‘ während der Gondelfahrt des Liebespaars Hasse-Faustina wenig zu verspüren, eher kann man in der Ouvertüre Anklänge an Rossini, jedoch wohl nur als Zitat gedacht, vernehmen, aber der reiche, dabei stets durchsichtig bleibende Orchesterklang ist ein durchweg angenehmer.

„Benedetto Marcello“ von Joachim Raff bei Sterling

Eine besonders glückliche Hand hatte der für die Besetzung der vier Partien Verantwortliche (ein Männerchor klingt nur wenige Minuten lang aus der Ferne), was die Damen betrifft. Dabei ist man zunächst verblüfft über die Zuordnung eines satten Mezzosoprans zu der Kindfrau Rosana, während ein zarter Koloratursopran der reiferen Faustina zugeordnet ist. Das lässt sich damit erklären, dass diese als gefeierte Sängerin eine Bravourarie zu absolvieren hat, außerdem die historische Faustina ein Sopran war. Margarete Joswig singt die hingebungsvoll, aber vom Meister unbemerkt Liebende Rosana mit warmer, geschmeidiger, gar nicht unerweckt klingender Mezzostimme, mit tiefer Empfindung z. B. im „denn mein Hoffen war ein Traum“. Melba Ramos ist Faustina, die sich, der Meinung Raffs, aber nicht der Mode ihrer Zeit entsprechend, für das Schlichte ausspricht, aber mit einer hochvirtuosen, brillanten, wohl absichtlich etwas „mechanisch“ klingenden Arie reüssiert. Ein Gebet, das sie im weiteren Verlauf der Handlung vorträgt, endet etwas schrill.

Der jüngere Hasse ist bei Raff einem Tenor anvertraut. Johannes Kalpers singt ihn mit recht trockener, eng geführter Stimme, zwar zur Emphase, wenn angebracht, bereit, aber doch nur mit begrenzten Mitteln ihr gerecht werdend. Dem Marcello verleiht Detlev Roth einen zwar recht dumpfen, aber dennoch über weite Strecken markanten Bariton guter Diktion. Es ist die Crux von Aufnahmen unbekannter Opern, dass man herausragende Sänger (siehe Jonas Kaufmann in frühen Jahren) nur selten oder am Beginn ihrer Karriere für so unprofitable Unternehmen gewinnen kann. Trotzdem ist die Begegnung mit dem Komponisten und mit seinem zu Unrecht erst als über Hundertjährigem zur Geburt gelangten Werk eine sehr lohnende. (Sterling CDO 1123/1124-2). Ingrid Wanja

.

.

Eine ausführliche Biographie und verschiedene Artikel zu Aspekten Raffs finden sich bei der schweizerischen Raff-Gesellschaft auf deren interessanter website; eeitere Information zu den CDs   im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.

.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Dem Schwiegervater und seiner Ehefrau gewidmet

 

In den letzten Jahren hat sich einiges getan in Sachen des tschechischen Komponisten Josef Suk (1874-1935), der mittlerweile nicht mehr bloß als der Schwiegersohn von Antonín Dvořák, sondern als ganz eigenständiger Komöponist gesehen wird. Ein Gros dieses Ansehens beruht fraglos auf der 1905/06 entstandenen, Requiem-artigen Asrael-Sinfonie, die eigentlich seine zweite war – die erste entstand bereits zwischen 1897 und 1899 – und mit dem Untertitel Dem Andenken Antonín Dvořáks und seiner Tochter, meiner Gattin Ottilie bezeichnet ist. Die ganze Tragödie, die sich hinter der Entstehung dieses Werkes verbirgt, ist bereits in dieser Widmung ersichtlich. Ursprünglich der Erinnerung an den Schwiegervater zugedacht, gelten die ersten drei Sätze diesem. Der zunächst angedachte Optimismus für den Abschluss der Sinfonie wurde freilich nach dem Ableben von Suks Gemahlin verworfen, die ihrem Vater nur ein gutes Jahr später ebenfalls ins Grab folgte. Völlig einzigartig dürfte die Konzeption dieser beiden Sätze Nr. 4 und Nr. 5 sein, nacheinander zwei Adagios, der Finalsatz zudem mit e maestoso angereichert. Das Werk ist insofern gleichsam zweigeteilt. Der Namensgeber Asrael, der Engel des Todes, bestimmt das Hauptmotiv der Sinfonie, vom unerbittlichen Beginn bis zum dann doch versöhnlichen Ende im Stile eines feierlichen Fernchorals. Ein wenig Ziellosigkeit mit gelegentlichen Längen auf dem langen Wege bis dorthin mag der Grund sein, wieso sich Asrael letztlich nicht im Standardrepertoire durchsetzen konnte.

 

An Einspielungen besteht mittlerweile kein Mangel mehr, so dass man vielmehr die Qual der Wahl hat, welche nun durch die Neuerscheinung des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks unter Jakub Hrůša (BR-Klassik 900188) noch erweitert wird.  Hrůša, mit kaum vierzig der wohl aussichtsreichste unter den jüngeren Dirigenten Tschechiens, steht seit 2016 nicht nur den Bamberger Symphonikern als Chefdirigent vor, sondern ist als Erster Gastdirigent der Tschechischen Philharmonie wie auch des Philharmonia Orchestra in London zudem die Nummer zwei weiterer weltweit führender Klangkörper. Es sind dann auch vornehmlich Einspielungen seiner eigenen Landsleute, gegen welche die Neuproduktion bestehen muss, angefangen bei Václav Talich (Supraphon) und Karel Ančerl (SWR Classic) über gar zwei Aufnahmen von Václav Neumann (Supraphon) bis hin zu Jiří Bělohlávek mit ebenfalls zwei Einspielungen (Supraphon und Decca) und zuletzt Tomáš Netopil (Oehms). Den Fels in der Brandung stellt für mein Dafürhalten nach wie vor die Aufnahme unter Rafael Kubelík dar (Panton). Nicht zu vergessen, dass Hrůša das Werk bereits 2013 selbst mit dem Tokyo Metropolitan Symphony Orchestra vorgelegt hat (Exton). Und damit hat man dann noch etliche weitere Aufnahmen gar nicht berücksichtigt, von Claus Peter Flor (BIS) und Kirill Petrenko (cpo) bis gar zu Jewgeni Swetlanow (Russian Disc). Die Konkurrenz ist als groß und hochrangig. Klanglich kann sich die zwischen 18. und 20. Oktober 2018 in der Münchner Philharmonie im Gasteig produzierte Neueinspielung des BR freilich ganz vorne behaupten. Gegenüber seiner eigenen früheren Einspielung aus Tokio hat  Hrůša die Tempi pro Satz im Schnitt um etwa eine halbe Minute verbreitert und kommt nun auf knapp 63 Minuten Gesamtspielzeit. Wenn ich das richtig überblicke, hat er damit tatsächlich die nach Kubelík (64:15) langsamste Interpretation vorgelegt. Nun soll dies per se kein Qualitätskriterium sein, doch darf guten Gewissens behauptet werden, dass die künstlerische Qualität der neuen BR-Aufnahme derjenigen der alten BR-Aufnahme – auch Kubelík dirigierte seinerzeit des BR-Symphonieorchester – sehr nahe kommt und auch die Tokioer Erstaufnahme übertrifft. Insofern eine weitere Bereicherung der gar nicht mehr so schmalen Suk-Diskographie. Die Textbeilage (Einführungstext von Matthias Corvin) ist sehr adäquat (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.). Daniel Hauser

Spontinis „Fernand Cortez“

.

Das  Maggio Musicale Fiorentino überwältigte und überraschte am 12. Oktober 2019 mit einer in modernen Zeiten nie gesehenen Oper: der ersten Version des Fernand Cortez, dem gigantischen Oeuvre, das Napoleon bei Gasparo Spontini (1774 – 1851) in Auftrag gegeben hatte, um für den Feldzug in Spanien im Jahre 1809 Propaganda zu machen, das dann aber nach „nur“ 24 Vorstellungen abgesetzt worden war, weil das spanische Unternehmen nicht wie gehofft verlief und die Identifizierung des Kaisers mit dem allzu hochpolierten Helden, der die Zivilisation und den Fortschritt zum Schaden der Einheimischen nach Mexiko bringt, eindeutig schwerer zu vermitteln war. Nun ist das Ganze bei Dynamic in üppig-prachtvoller DVD-Optik und gleichzeitig als CD mit ausreichender Beilage und Libretto zweisprachig engl.-franz. (Bluray 57868 und 2 CD CDS 7868;  2020).

.

.

Bei der ersten Pariser Aufführung war der Fernand Cortez dennoch ein Triumph, und auch das Publikum nun von Florenz, zeigte, dass es die Wiederentdeckung dieser Oper zu schätzen weiß, die dann in den nach folgenden Versionen ab 1817  bis zum Ende des Jahrhunderts aufgeführt wurde (1817 erneut in Paris in einer drastisch veränderten Version, in Berlin 1824 und 1825, wo sich Spontini ab 1820 niedergelassen hatte, und weitere mehr, einschließlich der indiskutablen italienischen Versionen mit Renata Tebaldi 1950 oder Angeles Gulin 1970 bis hin zu Erfurt 2006 in der späteren französischen Fassung von 1817; Dortmund wird 2020 die Oper erneut und in der 3. Fassung/1824 geben. Die Übersetzung ist dem zweisprachigen gedruckten Klavierauszug von 1825 entnommen, den Spontini selbst überwacht hat.). Aber in der ursprünglichen, ersten Version kam Cortez nicht mehr auf die Bühne. Erst 2019 nun folgte  Florenz, wofür Federico Agostinelli die Erstfassung rekonstruiert hat.

Zweifellos handelt es sich um eine sensationelle Unternehmung, absolut bewundernswert angesichts der nicht geringen Schwierigkeiten: nicht nur, dass nun die finanziellen Mittel  des Maggio weitaus schmäler waren als damals in Paris (keine galoppierenden 14 Zirkus-Pferde mehr auf der Bühne – in Florenz sehr plausibel „ersetzt“ durch die Tänzer des Nuovo Balletto di Toscana/Alesso Maria Romano). Dazu kam der Wechsel des Dirigenten, nachdem Luisi hingeworfen hatte. Und dazu auch die Indisposition der absolut wichtigen Sängerin, Alexia Voulgaridou als Amazilly, die eine noch wichtigere Rolle spielt als der Protagonist und die zu ihrem Debüt tatsächlich erst zur Generalprobe erschien, aber dennoch absolut die Beste des Abends ist (vielleicht optisch ein wenig blass und sehr mit der Musik beschäftigt, was kein Wunder ist). Was sie an Stimmschönheit trotz der unmenschlichen Anforderungen (namentlich im 2. Akt) zeigt, was sie an exzellenter Stimmführung und bewundernswerter Rollengestaltung vorführt, ist nichts weniger als eine Sternstunde des ebenso furchtlosen wie tonschönen Gesangs (mich erinnert sie merkwürdiger Weise mit fast jeder Note an die von mir so geliebte Sena Jurinac…). Was am Ende mit jubelndem Beifall belohnt wird. Zu recht – selbst am TV-Screen ist man einfach sprachlos vor Bewunderung. Ich jedenfalls.

Spontinis „Fernand Cortez“ in der Erst-Version von 1809 beim Maggio Musicale Fiorentino 2019/ Szene/ Foto TMF

Mehr als anständig wirkt auch der Fernand Cortez von Dario Schmunck mit ebenso exzellenter Diktion wie alle seine Bühnenpartner, und mit ebenso tapferer wie Belcanto-geübter Tenorstimme staunenswerter Durchhaltekraft. Der Alvar von David Ferri Durà leuchtet mit schönem Tenor. Angenehm fallen auch Davide Ciarrocchi und Nicolò Avroldi im herrlichen Terzett der Gefangenen im dritten Akt auf. André Courville gibt den mexikanischen Boten und Oberpriester – markant auch Gianluca Margheri als sehr attraktiver, fast diabolischer Gefährte Morale, der die verbindende Figur zwischen den Akten ist. Staunenswert auch die Leistung des Veteranen Luca Lombado aus Frankreich, der seinen Charaktertenor zu großer Wirkung bringt und der einen gelungenen Gegenspieler Telzeuco abgibt (trotz grämlicher Optik).

Insgesamt zu loben sind die Leistungen von Orchester und Chor unter der vorwärtsdrängenden Leitung von Jean-Luc Tingaud, der resch und schnörkellos Spontinis Musik auffächert und diese unglaublichen Klangmassen fein schattiert.

Die Regie von Cecilia Ligorio stellt die Oper selbst (die prunkvolle Ausstattung mit den hinreißenden historischen Kostümen  stammt von Alessia Colosso, Massimo Cechetti und Vera Pierantoni Gina, magisch beleuchtet von Maria Domènech Gimenez) in eine  (auf dessen Tagebuch beruhende) Rahmenerzählung aus dem Tagebuch des Morales,  einer der Gefährten von Cortez  und ein vom Gold geblendeter junger Mann während der Eroberung Mexikos, der als alter Mann nachdenklicher erscheint. Er erinnert sich schuldbewusst und lässt damit  Schatten des Zweifels auf den eigentlich positiven Helden fallen. Eine gute Idee. Alles in allem fehlt es dem Abend nicht an Spannung, ein so grandioses und unbekanntes Werk zu erleben.

Wenngleich man auch ins gelegentliche Nachdenken über das Abfilmen von Live-Aufführungen kommt, denn die Solisten kleben doch sehr oft an den Promptern angesichts ihrer vielen schwierigen Einsätze. Was eine glaubwürdige Interaktion zuweilen torpediert. Erwähnen muss man die wirklich spannende Kameraführung (Tiziani Mancini) und die ganz wunderbaren Lichtregie von Maria Domenech Giminez), die die Bühne in zuweilen magisches Licht taucht. Das können nur Italiener. Die farbenfrohen, in viele Rot-Töne gehaltenen Kostüme der Inkas kontrastieren mit dem martialischen Leder-Schwarz der Spanier auf das Vortrefflichste. Eine wirklich luxuriöse und luxuriös beleuchtete Optik in der Tat. Zu deren Genuss sich die vielsprachigen Untertiteln gesellen, über die die DVDs/ Blurays verfügen. Erfreulich sind zudem zwei stringente Aufsätze von Paolo Pelazzi und Federico Agostanelli (aus dem originalen Programnmheft des Maggio) zum näheren Verständnis der Aufführungsgeschichte und dieser Fassung. Alles in allem eine vorbildliche Ausstattung

Die Vorstellung dauert fast viereinhalb Stunden (alles auf einer Bluray!) – die unglaublich vielseitigen und fast nicht enden wollenden Ballette in Akt 1 und 3 tragen das ihre dazu bei. Für mich ist dies eine der Editionen für die einsame Insel. Ob Dormund mit der für 2020 geplanten (und sicher verschobenen) deutschen Erstaufführung der Berliner Fassung (retour ins Französische übersetzt) da heranreichen wird, wird sich zeigen müssen. Ich hab meine Zweifel. Dies hier ist kaum zu toppen. Dank an Dynamic und natürlich das Theater in Florenz!  Geerd Heinsen

Spontini: „Fernand Cortez“/Figurine für Amazily von Lecomte Hippolyte/ BNF

Dieses so bedeutende Ergebnis von Planung und  glanzvoller Bewältigung beim Maggio Musicale 2019 wollen wir mit einem  Artikel zum Werk begleiten. Nachstehend dazu ein Beitrag des Musikwissenschaftlers Jürgen Maehder von der Berliner FU , der sich mit der Werkgeschichte und der musikalischen Wirkung dieser ungewöhnlichen und bahnbrechenden Oper beschäftigt.

Gasparo Spontini und sein Fernand Cortez: Die Uraufführung der ersten Fassung an der Académie Impériale de Musique (28.11.1809) erzielte nur einen bescheidenen Erfolg; die von Napoleon intendierte antispanische Propagandawirkung des Werkes wurde, wie Jacques Joly gezeigt hat, durch die ambivalente Rezeptionsstruktur des Werkes zwischen heroischer Glorifizierung der spanischen Eroberung und Mitleid mit den Eroberten wesentlich geschwächt. Es ist bezeichnend für den ‚Montagecharakter‘ des Librettos, das verschiedene Begebenheiten der Eroberung Mexicos in einer weder geographisch noch chronologisch stimmigen Ordnung zusammenfasst, dass für die zweite Fassung des Werkes die Handlung der Akte untereinander ausgetauscht und wesentliche szenische Wirkungselemente von einem Akt in den anderen verpflanzt werden konnten. Zu diesen zählten die Opferszene der spanischen Gefangenen im Tempel des mexikanischen Gottes Talépulca, die von Cortez befohlene Zerstörung der spanischen Flotte, die historisch belegte Demonstration eines Kavallerie-Angriffes von Seiten der Spanier vor den Augen der erschrockenen Mexikaner sowie die Zerstörung der Hauptstadt Tenochtitlán. Im Vergleich zu den vorauf gegangenen Vertonungen des Stoffes ist ebenso bemerkenswert, welche Handlungselemente in diesem Libretto fehlen; vor allem die offenbar auf Esménard zurückgehende Eliminierung der Gestalt Montezuma wurde von der zeitgenössischen Kritik moniert.

Spontini: „Fernand Cortez“/ Die Erinnerungen des Cortez-Freundes Henri Lebrun (hier die originale Erstausgabe von 1872), die eine Rahmenhandlung für die Florentiner Aufführung 2019 bildeten/ BNF

Die resultierende Asymmetrie der Parteien der Spanier und Mexikaner wurde durch die Umarbeitung zur zweiten Fassung wenigstens in Ansätzen korrigiert. Dabei wurde der ehemalige I. Akt zum II. Akt der Neufassung, was den dramaturgischen Nebeneffekt zeitigte, dass die Zerstörung der spanischen Schiffe von der Küste an den See von Tenochtitlán verlegt werden musste. Der berühmte Auftritt der siebzehn vom Zirkus Fantoni ausgeliehenen Pferde, ursprünglich am Ende des I. Aktes angesiedelt, wurde in der 2. Fassung an das Ende des III. Aktes verlegt, bildete also gleichsam nur ein Anhängsel des Ballett-Divertissements, mit dem der ,lieto fine‘ der Handlung gefeiert wird. Diese zweite Fassung, am 28.5.1817 unter gänzlich gewandelten politischen Bedingungen mit großem Erfolg uraufgeführt, vermochte sich einen Platz im Repertoire der Académie Royale zu sichern und erlebte bis 1850 etwa 250 Auf- führungen. Die außerordentlich erfolgreichen Berliner Erstaufführungen der ersten (15.10.1814) und zweiten Fassung (20.4.1818) führten dazu, dass für Spontini die Position eines preußischen Generalmusikdirektors geschaffen wurde, die er am 1.2.1820 antrat; die folgenden Bearbeitungen des Werkes erfolgten daher in  deutscher Sprache und erlebten ihre Uraufführungen unter Leitung des Komponisten an der Berliner Hofoper. Wie der Vergleich der vier publizierten Fassungen und einer von Jacques Joly entdeckten Mischfassung mit handschriftlichen Anmerkungen enthüllt, suchten die Berliner Fassungen von 1824 und 1832 die absinkende Spannungskurve der Dramaturgie der zweiten Fassung durch eine plausiblere Gestaltung des Schlusses zu korrigieren; dabei erscheinen die vier Versionen des Werkes keineswegs als ideologisch neutral, sondern lassen sich den jeweiligen politischen Konstellationen ihrer Entstehungszeit präzis zuordnen.

Spontini: „Fernand Cortez“/ Figurinen zur Uraufführung 1817 an der Pariser Oper: [Fernand Cortez ou la_conquête_[…]Ménageot_François-Guillaume/ BNF

Die in Spontinis Partitur allenthalben offenbare Tendenz zur Ausnützung aller vorhandenen musikalischen wie szenischen Wirkungsmittel hat den Zeitgenossen den Blick getrübt für die Fülle musikalischer Innovationen, durch die diese Partitur den Weg für die avanciertesten Werke der Grand Opéra ebnete.94 Das für die Tradition der Grand Opéra konstitutive Element des szenischen Tableaus fand in Spontinis Fernand Cortez seine erste gelungene Realisierung; vergleichende Untersuchungen, die Spontinis Szenenstrukturen in Fernand Cortez mit denjenigen in Rossinis Le Siège de Corinthe oder Wagners Rienzi verglichen, führten zu überzeugenden Resultaten. Die Präsenz zweier rivalisierender Chorgruppen auf der Bühne, die auch in der Simultaneität musikalisch individualisiert erscheinen, verweist zwar auf das direkte Vorbild von Lesueurs Ossian ou les Bardes (1805), doch gelang es Spontini, die musikalische Charakterisierung auf ein neues Niveau von Individualität zu heben. In der Behandlung der Bühnenmusik wie in seiner avancierten Verwendung typisierender Schlaginstrumente sollte Fernand Cortez eine spezifisch französische Tradition begründen helfen, die in den Partituren von Giacomo Meyerbeer und Hector Berlioz ihre reinste Ausprägung fand. Raumeffekte, wie sie schon die Partitur von La Vestale auszeichneten, sind in besonderer Weise konstitutiv für die Musiksprache des Fernand Cortez; bereits der Titel „Marche des Mexicains, dans le lointain, et Duo sue le devant du Théâtre“ (1. Version, I,5) verrät die Planung der Raumempfindung als Bestandteil der musikalischen Faktur. Die Ableitung der ‚Verräumlichung‘ der französischen Musik für das Theater nach 1789 von der akustischen Erfahrung der Revolutionsfeste scheint plausibel; auch der vorherrschende Marschcharakter von Spontinis Partitur spiegelt eine zeitgenössische Klangerfahrung, die Militarisierung des öffentlichen Lebens während der napoleonischen Ära.

Der Autor: Jürgen Maehder/ Wikipedia

Die janusklöpfige Position von Étienne de Jouys und Esménards Libretto zwischen den Konventionen der Tragédie lyrique des 18. Jahrhunderts, die ein ,lieto fine‘ mit freudigem Schluss-Divertissement zwingend vorschrieben, und dem ahnungsvollen Vorgriff auf neuartige – und in der Grand Opéra des 19. Jahrhunderts endgültig realisierte – Formen von Dramaturgie, in denen die politischen und privaten Konflikte unter Einbeziehung eines individualisierten Chorkollektivs eng miteinander verzahnt wurden und auf eine unvermeidliche Katastrophe zusteuerten, sollte sich als schwere Hypothek für das Werk erweisen. Eine synoptische Edition der vier publizierten Fassungen des Werkes sowie der von Jacques Joly beschriebene Übergangsversion zwi- schen der ersten und der zweiten Fassung mit handschriftlichen Anmerkungen wird im Rahmen der geplanten kritischen Edition des Werkes vorzulegen sein.

Die verdienstvolle Aufnahme der späteren, zweiten Fassung von 1817 ist die vergriffene Accord-Einspielung unter Jean-Claude Penin/ 2002, die allerdings durch die Teilnahme der Sopranistin in ihrer sonst durchaus empfehlenswerten Wirkung torpediert wird…

Fernand Cortez, neben La Vestale zweifellos das Hauptwerk des musikalischen Theaters der napoleonischen Epoche, markiert den Übergang von einer klassizistischen zu einer exotistischen Stoffwahl; die Entscheidung für einen ‚pittoresken‘ und zugleich historischen Stoff sollte den Entwicklungsgang der Operndramaturgie in den folgen- den Jahrzehnten wesentlich beeinflussen. Das zugrundeliegende Handlungsmodell einer in einen historischen Konflikt eingebetteten Liebesgeschichte zwischen europäi- schem Eroberer und eingeborener Frau wurde in der Folgezeit zur klassischen Konstellation der Dramaturgie in der exotistischen Oper des 19. Jahrhunderts. Jürgen Maehder

Der Autor: Jürgen Maehder, (emeritierter Professor für Musikwissenschaft an der FU Berlin/ Foto Wikipedia}, erlaubte uns einen Auszug aus seinem Aufsatz „Die Darstellung der Eroberung Mexikos im Übergang von der Opera seria des Settecento zur Oper des Empire“ aus dem Sammelband „Spontini und die Oper im Zeitalter Napoleons“/ Band 11 in der Reihe „Musik und Theater“/ Hrsg. Detlef Altenburg et al. im Studio Punkt Verlag, Sinzig 2015, (ISBN 978-3-89564-150-3/ ISSN 0941-8954) hier wiederzugeben, wofür wir ihm und dem Verlag (dort  besonders Gisela Schewe) außerordentlich danken. Das Buch haben wir bereits in operalounge.de (Die Macht und die Kunst) besprochen.

.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Il Vinci(tore) barocco

 

In strahlender Siegerpose mit blendendem Gebiss präsentiert sich Franco Fagioli auf dem Cover seiner neuen CD bei der DG (4838358), die dann auch passend den Titel Veni Vidi Vinci trägt. Das letzte der drei Worte verweist aber auch auf den Komponisten, dem das Programm dieser Einspielung gewidmet ist: Leonardo Vinci. Er lebte von 1690(?) bis 1730 und zählt zu den Meistern der Neapolitanischen Schule, die sich vor allem dem canto fiorito, also dem virtuosen Koloraturgesang, widmeten.

Der argentinische Countertenor knüpft mit dieser Aufnahme, die im März 2019 im italienischen Lonigo entstand, an seinen spektakulären und wahrlich sieghaften Auftritt als Arbace 2012 in Vincis Artaserse an, der von seiner damaligen Plattenfirma Virgin auch auf CD dokumentiert wurde. Das Programm der neuen Platte mit 14 Titeln, darunter sieben Weltpremieren, bringt Arien aus acht verschiedenen Werken. Als Auftakt wählte der Solist zwei Arien aus Il trionfo di Camilla, uraufgeführt 1725  in Parma mit der Starsopranistin Faustina Bordoni in der Titelrolle. Deren beide Arien sind von allerhöchstem Anspruch an den Interpreten: In der ersteren, „Sembro quell’usignolo“, von Fanfaren sieghaft eingeleitet, vergleicht sich die als Hirtin verkleidete Königin mit einer Nachtigall – mit entsprechend virtuoser Herausforderung. Schon hier besticht der Interpret mit brillanten Koloraturläufen und lieblichen Trillern. In der zweiten, „Più non so finger sdegni“, bekennt die Königin nach Rückeroberung ihres Reiches in einer lieblichen Pastorale, dass sie sich nicht an ihren Feinden rächen werde. Dies bietet dem Sänger Gelegenheit für empfindsam-weiche Töne und innigen Ausdruck.

L’Ernelinda kam 1726 in Neapel zur Premiere mit Carlo Scalzi als Vitige. Im Recitativo accompagnato „Ove corri?“ und der nachfolgenden Arie „Sorge talora“ zweifelt er an der Treue seiner geliebten Ernelinda. Entsprechend der Situation klingt die Stimme im Rezitativ stärker vibrierend, was den erregten Zustand der Figur widerspiegelt. Die Arie aber lässt Fagiolis Organ in purer Schönheit erstrahlen, welches darüber hinaus mit mirakulösen staccati aufwartet.„Nube di denso orrore“ ist erfüllt von Hoffnung, was sich im schmeichelnden Stimmklang ausdrückt. Mit der Arie des Rosmeno aus dieser Oper, „Sull’ali del suo amar“, stellt Fagioli nicht nur eine zweite Figur aus diesem Werk vor, sondern bietet auch ein weiteres bravouröses Glanzstück, welches seine geradezu unwirkliche stimmliche Geläufigkeit demonstriert. Vinci verwendete das Stück ein Jahr später in seiner in Rom erstaufgeführten Oper Gismondo re di Polonia wieder, wo es von Giacinto Fontana (genannt „Farfallino“) in der Rolle der Cunegonda gesungen wurde. Hier erklingen zwei Arien, die eigens für dieses Werk geschrieben wurden: „Nave altera“ und „Quell’usignolo“. Erstere ist eine der häufig anzutreffenden Gleichnisarien, in welcher König Primislao gleich dem Sturme zwischen seiner Friedensliebe und einem politischen Stolz schwankt. Mit erregten Koloraturgirlanden wird diese Situation musikalisch geschildert – eine Nummer, wie für Fagioli geschaffen. In der zweiten, komponiert für den Kastraten Filippo Balatri, evozieren Blockflöten Vogelstimmen, was dem Interpreten Gelegenheit für kunstvolles Zierwerk bietet.

„Gelido in ogni vena“ ist eine im Barock mehrfach anzutreffende Arie, auch Vivaldi hat diesen Text (in seinem Farnace) vertont. Bei Vinci findet sich die Arie in der 1726 in Venedig uraufgeführten Oper Siroe re di Persia. Damals sang der Tenor Giovanni Paita die Rolle des Königs Cosroe. Die von Fagioli interpretierte Version ist im Sopranschlüssel notiert, was darauf schließen lässt, dass die Partie bei anderer Gelegenheit auch von einem Kastraten gegeben wurde. Die Komposition malt im Orchester plastisch aus, wie dem entsetzten Herrscher das Blut in den Adern gefriert. Der Solist zeigt sich souverän in der Beherrschung der langen Bögen und des tiefen Registers.

Das Programm wird ergänzt um die Arie „Barbari mi schernisci“ aus La Rosmira fedele (Venedig, 1725), in welcher Arsace über das abweisende Wesen der Prinzessin Rosmira klagt. Nach der Uraufführung mit Carlo Scalzi sang das Stück im selben Jahr auch Senesino in der Oper Elpidia. In diesem expressiven, mit schmerzenden Akkorden des Orchesters eingeleiteten Lamento bietet  Fagioli ein mit stärkstem Nachdruck deklamiertes Psychogramm. Schließlich ist die Arie des Titelhelden, „Vil trofeo d’un alma imbelle“ aus Alessandro nell’Indie zu hören, der in der Saison 1729/30 am römischen Teatro delle Dame mit Raffaele Signorini in der Titelrolle herauskam und zusammen mit Artaserse zu Vincis letzten Werken für die Opernbühne zählt. Der Komponist starb unerwartet und früh, möglicherweise als Opfer eines Racheanschlags. In der Arie hat der Sänger Gelegenheit, mit der auftrumpfenden Trompete in einen virtuosen Wettstreit zu treten, bei dem man keinen Sieger, aber auch keinen Verlierer ausmachen kann.

Die beiden letzten Titel stammen aus der 1728 in Parma erstmals aufgeführten Oper Medo und waren der Rolle des Giasone zugeordnet, die der Starkastrat Farinelli interpretierte. In „Scherzo dell’onda instabile“ geht er auf einem schiffbrüchigen Kahn unter großen Gefahren an Land. Farinelli übernahm die Arie 1729 auch in Leonardo Leos Catone in Utica nach einem Libretto von Metastasio, welches Vinci bereits ein Jahr zuvor vertont hatte. Die Komposition verlangt dem Interpreten alles ab an virtuosem Vermögen, erinnert in ihrem Duktus an Arbaces Bravour-Nummer „Vo solcando un mar crudele“ aus dem Artaserse, mit der Fagioli bei den Aufführungen 2012 in Nancy das Publikum zum Sieden gebracht hatte.„Sento due fiamme in petto“ schildert den zwischen Medea und seiner neuen Flamme Enotea schwankenden Giasone, der nicht weiß, dass Letztere die verkleidete Medea ist. Fagioli, dem das Ensemble Il Pomo d’Oro unter der Leitung seiner Konzertmeisterin  Zefira Valova ein bewährter und kompetenter Partner ist, muss hier kein Feuerwerk an Bravour bieten und beendet das Programm dennoch in wahrhaft sieghafter Manier mit betörend schönen Tönen. Bernd Hoppe

Opern-Irrführer

 

So hat es der Gestalter des Covers von Von Aida bis Zauberflöte sicherlich nicht gemeint: Ein befrackter Opernsänger schleudert den Namen der Autorin Dorle Knapp-Klatsch in das Auditorium, aus dem die letzten drei Hörer in Panik die Flucht ergreifen – und genau so ergeht es dem Leser, der das Buch studiert, das doch angeblich „locker und humorvoll“ und „akkurat und kenntnisreich“ über 55 „der populärsten Opern“ berichten soll.

Fangen wir an bei „populär“, was sicherlich weder Schönbergs „Die glückliche Hand“, noch Thomas „Draußen vor der Tür“, noch Vollmers „Gegen die Wand“ noch Czernowins „Pnima“, noch Denisovs „Schaum der Tage“, noch Andrés „Wunderzeichen“ sind.

Fahren wir fort mit „akkurat und kenntnisreich“, was zu sein bei einer so populären Oper wie „Aida“ keine große Herausforderung sein dürfte. Diesem Werk werden sogar zwei unterschiedliche Artikel, eine Kurzfassung und eine „ausführliche“, gewidmet. Doch beide wimmeln von Ungenauigkeiten und Fehlern.  Da tummelt sich neben Radames (richtig) auch mal ein Radamis (falsch), sogar ein Ramades (falsch). Falsch ist ebenfalls, dass man bei den Ägyptern weiß, dass der Vater Aidas der König der Äthiopier ist, dass Amonasro im Nilakt „auf den ersten Blick erkennt“, dass Radames Aida liebt ( dieser kommt erst nach dem Duett Vater-Tochter auf die Bühne), dass Pharao und Amneris im Nilakt gemeinsam beten (das ist Ramfis), und nicht  der Pharao, sondern der Priester leitet die Gerichtsverhandlung gegen Radames. So wimmelt es von Ungenauigkeiten, was nicht dadurch wettgemacht wird, dass die Aufzählung des Personals der Oper gleich dreifach erfolgt.

Nach diesem Einstieg in das Buch hat man bereits jede Lust verloren, sich weiter mit ihm zu beschäftigen, unternimmt aber aus Pflichtgefühl noch ein paar weitere Versuche. Wie steht es um Tannhäuser? Hier staunt man nicht schlecht, wenn der Einzug des thüringischen Adels mit Ascot verglichen wird – gibt es da einen Einmarsch? Angeblich soll Tannhäuser nach seinem Lob der Venus gebannt von den Adligen werden, das hätte nur der Papst vollziehen können, nicht einmal die Acht bedroht ihn, sondern die empörten Sängerkollegen trachten ihm nach dem Leben. Ganz schlimm wird es mit der Nacherzählung des Schlusses, wenn nicht die aus Rom kommenden Nachzügler mit dem grünenden Stab des Papstes in die Heimat zurückkommen, sondern denselben von der Wartburg nach Rom bringen wollen.

Das Schicksal einer völlig missverstandenen Oper teilt der Tannhäuser mit dem Holländer, der nach Ansicht der Autorin nur durch eine Frau erlöst werden kann, die für ihn in den Tod geht. Stimmt nicht, sie muss nur treu bis in den Tod sein. Da hätte die Inanspruchnahme eines Reclam-Opernführers geholfen, viele Missverständnisse zu vermeiden.

Es gelingt der Verfasserin also nicht einmal, den Inhalt der von ihr gewählten Opern korrekt nachzuerzählen. Das wäre wohl notwendig, um „Anfänger“ auf die richtige Bahn der Opernbegeisterung zu leiten. Schlimm sieht es aber auch mit dem Umgang mit den ebenso angepeilten „Liebhabern“ aus. Denen sträuben sich die Haare, wenn sie lesen, dass Puccini nach dem Misserfolg der ersten Fassung von Butterfly diese „geringfügig“ umschrieb. Welch ein Irrtum, wo er doch das Werk aus einer zweiaktigen, in eine dreiaktige Fassung umkomponierte und ein großes Manko der ersten Fassung, das Fehlen einer Tenorarie, mit „Addio, mio fiorito asil“ korrigierte.

Kommen wir zum angepriesenen „locker und humorvoll“. Das könnte man auch flapsig sich anbiedernd nennen, wenn man Wendungen wie Amneris ist „ausgebootet“, Puccini erlitt einen „Bauchklatscher“, „Ortrud päppelt Telramund wieder auf“, „ Butterfly klammert sich an den Strohhalm und verbeißt sich darin“ zu Rate zieht.

Es wimmelt von Stilblüten, aber auch der Historiker oder Soziologe gewinnt wertvolle Einblicke, so in das Leben der Pariser Gesellschaft in Verdis „La Traviata“. Da steht: „Sie ( Damen wie Violetta) werden geduldet, denn die Gesellschaft kann sichergehen, dass sie sich nicht vermischen. Aus diesem Grunde werden sie auch „Halbweltdamen“ genannt- sie gehören nur zur Hälfte dazu“. Das ist wohl wahr, denn schließlich vermischt sich Violetta nicht mit Flora.  Und was mit einer „ewige(n) Sisyphusarbeit, die ein Künstler ständig vor und hinter sich hat“, gemeint ist, bleibt wohl für immer ein Rätsel.

Wo man das Buch auch, bis zum letzten Moment hoffnungsvoll, aufschlägt,  es springen dem verdutzten und zunehmend verärgerten Leser Fehler, Ungenauigkeiten, Stilblüten entgegen und verleiden ihm das Lesen. „Auf den Punkt gebracht“ werden sollten die geliebten Werke, doch in Knapp-Klatsch-Manier werden sie zu Karikaturen ihrer selbst (Books on Demand; ISBN 978 3 750424241). Ingrid Wanja

Einheitsbrei

 

Hört man Anna Prohaskas neueste Alpha-CD (ALPHA581) mit dem verheißungsvollen Titel Paradise Lost hintereinander weg,  ohne auf die Liste der Tracks zu schauen, dann glaubt man bisher unentdecktes Material einer bisher nie zur Kenntnis genommenen Epoche in einer bisher noch nie gehörten, recht ausdruckslosen Sprache zu vernehmen, und ist umso erstaunter, dass es um Lieder und Songs von Purcell bis Reimann und allem zwischendurch sowie die drei doch eigentlich bekannten und dem Hörer zugänglichen Sprachen Deutsch, Französisch und Englisch geht.

In mehreren Abteilungen, so um einen Morgen im Paradies, das auch mal Arkadien sein kann, um ländliche Idylle, aber auch um die Vertreibung aus dem Garten Eden und das irdische Leben geht es, es werden Texte bemüht, die in irgendeiner Form, und sei es nur der eines Apfels, mit dem Thema zu tun haben. Oft handelt es sich nur um ein Lied aus einem umfangreichen Liederkreis wie Schumanns „Warte, warte wilder Schiffmann“ oder Mahlers „Das irdische Leben“.

Das allerdings ist nicht der Haupteinwand gegen diese CD einer Sängerin, die dem Ensemble der Berliner Staatsoper, einst der Hort textverständlichen Singens, angehört. Beim ersten Track, Ravels „Trois Oiseaux“, kann der schwebende Flötenton, mit dem der Sopran aufzuwarten weiß, noch entzücken, er kann an sich reizvoll dort sein, wo er hingehört, ist aber nicht generell anwendbar, wie es die Sängerin offenbar für möglich hält. Schnell wirkt  der Sopran, dem das Fundament zu fehlen scheint, nur noch geschmäcklerisch, und bereits beim zweiten Track, Bernsteins „Silhouette“, kann zwar von der Leichtigkeit der Emission profitiert, die schwache Mittellage aber nicht kompensiert werden. Der Virtuosität der vorzüglichen und viel eher jeweils charakteristischen Begleitung von Julius Drake weiß die Sängerin bei Messiaen nichts entgegenzusetzen, für Faures „Chanson d’Eve“  ist das Farbspektrum zu begrenzt, nur bei Debussys „Apparition“ kommt es  zu einem schönen Einklang zwischen Stimme und Piano.

Immer wieder verstört den Hörer, wie der Sopran über Töne hinweg huscht, statt sie zu modulieren, und bei den beiden Wolf-Liedern nach Goethe-Texten versteht man kein Wort, selbst wenn man den Text kennt. So entsteht zunehmend der Eindruck, dem Hörer werde statt eines Streifzugs durch die Musikgeschichte zu einem Thema, dem des verlorenen Paradieses, ein verwaschener, silbenverschluckender Mischmasch undefinierbarer Stilrichtung  vorgesetzt.

Es gibt nur wenige Lichtblicke, wenn das Hingetupfte zu Reimanns „Gib mir den Apfel“ passen mag, wenn Ives‘ „Evening“ mild und schön verklingt, die Stimme für Purcells „Sleep, Adam“ instrumental geführt wird. Eine verhuschte „Auflösung“ von Schubert oder dessen „Abendstern“, dem eine vokale Dimension zu fehlen scheint, dazu angeschliffene Töne stören immer wieder und zunehmend. Wenn dann noch Schumann-Lieder bei Intervallsprüngen nach unten im Nichts zu enden scheinen, auf Prägnanz zugunsten eines Aufheulens verzichtet wird wie bei Eisler, dann bedarf es wirklich wie bei George Crumbs „Early Songs“ der Flucht zu YouTube, um sich bei Christine Schäfer die Gewissheit zu holen, dass es auch anders geht (Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/). Ingrid Wanja