Barocke KANTATEN & Gesänge

 

Unter dem Titel Per la Sig.ra Geltruda hat PAN Classics Motetten und das Stabat mater für Alt-Stimme und Streicher von Antonio Vivaldi herausgebracht. Der Titel entspricht einer Angabe Vivaldis selbst, die er dem Manuskript seiner Solo-Motette „Clarae stellae, scintillate“ hinzugefügt hat, und das zu einer Zeit, in der die großen Kastraten dominierten. Dies hat natürlich die Neugier der Musikwissenschaftler herausgefordert, die die Identität dieser Geltruda vielfach hinterfragten. Inzwischen ist wohl geklärt, dass Geltruda della Violeta von 1684 bis 1752 in der Ospedale dalla Pietà (eines von vier Heimen in Venedig für Waisenmädchen) lebte, wo  Vivaldi bis 1718 zunächst als Kaplan, anschließend durchgängig als Lehrer für Streichinstrumente tätig war und zuletzt auch das Orchester leitete. Geltruda, die verschiedene Instrumente spielte, war eines der sechs Mädchen, die berechtigt waren, die Solostimmen wie die „Lehrer“ zu singen. Aus dem klugen, sehr aufschlussreichen Beiheft ergibt sich, dass die Sängerin, als sie einige Berühmtheit erlangt hatte, vom Marquis von Ferrara Luigi Bentivoglio d‘Aragona protegiert wurde, natürlich mit großer Diskretion. So war er es auch, der 1715 bei Vivaldi die für sie bestimmte, anfangs genannte Motette Clarae stellae, scintillate für 14 Lire in Auftrag gab. Der Korrespondenz zwischen Bentivoglio und dem Komponisten Giacomo Antonio Perti kann man entnehmen, dass Geltruda eine zarte Altstimme („assai delicata“) hatte, die durch Instrumente leicht überdeckt werden konnte. Dennoch soll sie sehr ausdrucksstark gewesen sein, die sich  besonders für „getragenen Stil“ geeignet habe. Dies wird in der Motette und in den wohl auch für Geltruda geschriebenen beiden Introduzioni al Miserere RV 638 und RV 641 deutlich, indem in der Führung der Solostimme virtuose Verzierungen fehlen, wie man sie in anderen Motetten Vivaldis findet. Das Stabat Mater wurde 1712 für die Kirche Santa Maria della Pace in Brescia in Auftrag gegeben; da es die gleiche Tessitura wie die für Geltruda geschriebenen Stücke aufweist, liegt die Annahme nahe, dass sie das Werk auch in Venedig aufgeführt hat.

Die in Italien in letzter Zeit vor allem im Konzertbereich bekannt gewordene Sängerin Alessandra Visentin  verfügt über einen volltimbrierten und zugleich schlanken, schön abgerundeten Alt, der sich für das Stabat mater und die Solo-Motetten aufs Feinste eignet. Das ausgezeichnete Ensemble Pietro Antonio Locatelli unter dem souveränen Luca Oberti begleitet durchweg stilgerecht und gestaltet zusätzlich zwei kleinere Instrumentalwerke von Vivaldi wirkungsvoll (PAN CLASSICS PC 10414). Gerhard Eckels

 

Neu bei Alpha: Jochanaan und Salome im Oratorium. Alpha setzt die systematische Pflege des barocken Repertoires mit der Herausgabe von Alessandro Stradellas Oratorium San Giovanni Battista fort, welches 1675 in der Kirche San Giovanni die Fiorentini in Rom uraufgeführt wurde (9748809). Der Komponist, 1643 in Bologna geboren, fiel 1682 im Alter von nur 40 Jahren in Genua einem Auftragsmord zum Opfer. In seinem Werk über Johannes den Täufer verbindet er auf geniale Weise die Tradition des römischen Oratoriums von Carissimi, mit dem er in der italienischen Hauptstadt freundschaftlichen Kontakt pflegte,  mit der venezianischen Oper Cavallis.

Die Musik ist von starker Erfindungskraft, weist faszinierende dramatische Effekte auf und erzeugt damit oftmals eine opernhafte Atmosphäre. Wenn in der Interpretation auch weniger die Bravour denn eine expressive Deklamation im Stil des recitar cantando gefordert ist, so finden sich in der Komposition dennoch anspruchsvolle legato-Passagen und schwierige Verzierungen.

Mit seinem Ensemble Le Banquet Céleste sorgt der Dirigent Damien Guillon für eine spannungsreiche Einspielung, die sich mit der bisher vorliegenden Aufnahme unter Alessandro De Marchi mit der Academia Montis Regalis bei hyperion messen muss. Die vibrierende Sinnlichkeit und der eindringliche Rhythmus der Musik sind überzeugend getroffen. Das Klangbild ist farbig, transparent und dynamisch.

Eine auf dieses Idiom spezialisierte Sängerbesetzung wird angeführt von dem Countertenor Paul-Antoine Benos-Djan in der Titelpartie, der mit weicher Stimme puren Wohlklang hören lässt. Wenn er zu Beginn seine arkadische Lebenswelt besingt und die Schönheit des Waldes beschreibt („Amichi selve“), ist sein schmeichelnder Ton besonders passend. Rhythmisch akzentuiert und souverän in der

Beherrschung der lebhaften Koloraturläufe erklingt „Soffin pur“. Danach nimmt die Stimme zunehmend einen berührend schmerzlichen Klageton an, gipfelnd im eindringlichen Todesschrei.

Olivier Dejean als Erode ist mit hellem Bass zu ihm ein starker Kontrast. Der  energische Nachdruck seines Vortrages steigert sich immer mehr ins Wildhafte. Seine Stieftochter (bei Richard Strauss später die Salome) ist hier Erodiade La Figlia. Alicia Amo lässt im ersten Auftritt einen sinnlichen Sopran mit kristallklarer Höhe von kapriziösem, beinahe somnambulem Ausdruck hören. Aber sie kann auch ganz mädchenhaft und lieblich klingen wie in „Sorde dive“ oder „Vaghe ninfe“ zu Beginn des 2. Teils. Später im Duett mit Erode („Freni l’orgoglio“) wird die Stimme zunehmend aufgeregter, artikuliert atemlos und fiebernd. In „Bramo sol“ schließlich hört man gehetzte, sich beinahe überschlagende Koloraturen und hysterische Spitzentöne. Ihre Mutter Erodiade La Madre ist Gaia Petrone mit strengem Mezzo, der in „Figlia se un gran tesoro“ zu energischen Koloraturen findet und sich im Terzett mit ihrer Tochter und dem Consigliero (Artavazd Sargsyan mit prägnant deklamierendem Tenor) perfekt mischt. Der Tenor Thibault Givaja als Discepolo komplettiert die Besetzung. Bernd Hoppe

 

Wer kennt schon Alessandro Melani? Aber wie oft hilft Wikipedia da weiter: Der von 1639 bis 1703 lebende Alessandro Melani entstammte einer Musikerfamilie aus Pistoia (Toskana). Seine sechs Brüder wurden allesamt Musiker; darunter waren vier Kastraten, deren berühmtester Atto Melani war. Alessandro war Kapellmeister an den Kathedralen von Orvieto, Ferrara, Pistoia und an der Papstbasilika Santa Maria Maggiore, der vom kurz zuvor gewählten Papst Clemens IX. bevorzugten Kirche. 1672 wurde er Kapellmeister an der römischen Kathedrale San Luigi dei Francesi, eine Position, die er 26 Jahre lang bekleidete. Melani war im 17. Jahrhundert neben Bernardo Pasquini und Alessandro Scarlatti einer der führenden Komponisten in Rom. Vor allem machte er sich einen Namen als Opernkomponist; seine Werke gelangten in vielen Städten Italiens, aber auch in Wien, zur Erstaufführung. Er war der erste, der die Legende von Don Juan und dessen Einladung an den „Steinernen Gast“ musikalisch verarbeitete und sie mit L’empio punito (Der bestrafte Bösewicht) auf die Bühne brachte (Teatro Colonna 1669). Außerdem zählen zu seinen Kompositionen acht Oratorien sowie drei Sammlungen von mehrstimmigen Motetten.

Aus dem dritten Band dieser Sammlungen sind jetzt bei Brilliant Classics 18 Concerti Spirituali herausgekommen, die das Ensemble I Musici del Gran Principe unter Samuele Lastrucci aufgenommen hat. Dieser sorgt mit seiner Leitung für gleichmäßig stilechtes Musizieren. Gut aufeinander abgestimmt präsentieren in jeweils wechselnder Besetzung die Sopranistinnen Benedetta Corti, Valentina Vitolo und Francesca Caponi , die Altistinnen Margherita Tani und Elisabetta Vuocolo sowie der Altist Vincenzo Franchini, der Tenor Francesco Marchetti und der Bass Alessandro Ravasio, begleitet von  Orgel, Harfe, Theorbe, Cello und Kontrabass, die Motetten für 2, 3 oder 5 Stimmen. Positiv fällt dabei das durchweg schlankstimmige, intonationsreine Singen auf, mit dem die mit allerlei Koloraturen und anderen technischen Schwierigkeiten versehenen Motetten ausgedeutet werden (BRILLIANT CLASSICS 95970/1+2, 2 CD).

 

Komponist und Gesangslehrer, zu dessen Schülern u.a. der Kastraten-Star Farinelli gehörte, hat neben seinen unzähligen Opern auch viele Kantaten für Singstimme und Basso continuo komponiert. Von denen hat Christina Grifone in Begleitung von Renato Criscuolo (Barockcello) und Alberto Bagnai (Cembalo) sieben aufgenommen, die bei BRILLIANT CLASSICS erschienen sind. Unter dem Titel der ersten Kantate der Aufnahme Dalla Reggia di Flora erklingen kleine Dramen über Glück und Last der Liebe vor dem Hintergrund von Blumen und blühenden Landschaften. Die italienische Sopranistin gefällt durch klare, schlanke Stimmführung in den vielen Arien, auf die jeweils Rezitative hinführen. Dabei ist oft einiges an Virtuosität erforderlich, mit der die Sängerin abgesehen von gelegentlichen Intonationstrübungen keine Probleme hat. Die instrumentale Begleitung ist durchweg stilsicher; auch hier überzeugt das stets durchsichtige Musizieren (BRILLIANT CLASSICS 96077).

Für Spezialisten, die die Musik im Übergang von der Renaissance zum Barock mögen, gibt es ebenfalls bei BRILLIANT CLASSICS überwiegend Instrumentalmusik, die das Ensemble Zenit, bestehend aus Gilberto Scordari (Orgel), Pietro Modesti (Cornetto) und Fabio De Cataldo (Barock-Posaune) aufgenommen hat. Es spielt Stücke von dem vor allem in Venedig wirkenden Komponisten Giovanni Legrenzi (1626-1690), teilweise unter Beteiligung der Altistin Isabella Di Pietro und des Tenors Roberto Rilievi. Bei den beiden Bläsern fällt positiv auf, dass es ihnen gut gelingt, auf den historischen Instrumenten die Intonation zu halten, was ja bekanntlich nicht selbstverständlich ist. In den einzelnen Sätzen aus Sonaten von Legrenzi passen die schlanken, ruhig geführten Stimmen der Sänger mit den Instrumenten bestens zusammen. Zwischen diese Stücke sind kleinere Werke allein für Orgel von Tarquinio Merula (1595-1665), Luigi Battiferri (1600-1682), Giovanni Paolo Colonna (1637-1695) und Carlo Francesco Pollarolo (1653-1723) eingestreut, die versiert präsentiert werden (BRILLIANT CLASSICS 96006).   Gerhard Eckels

 

Alessandro Scarlatti komponierte Vokalmusik in beeindruckenden Dimensionen: 114 Opern, 38 Oratorien, 13 Messen, 111 Motetten und 783 Kantaten werden ihm zugeschrieben, einiges davon wahrscheinlich auch fälschlich, in den Archiven könnten aber auch noch weitere Werke ruhen. Die Kantate war für Scarlatti auch Gelegenheit für Experimente, als Begründer der neapolitanischen Oper leistete er einen nicht zu unterschätzenden Beitrag – seine anspruchsvollen Kantaten haben also durchaus Aufmerksamkeit verdient und das stellt die vorliegende Neuaufnahme auch unter Beweis. Das Ensemble Scherzi Musicale widmet sich arkadischen Kantaten über Liebe und ihre Wirrnisse. Die titelgebende Kantate O penosa lontananza ist zweistimmig und ambivalent angelegt – der Sopran leidet unter der Abwesenheit des Geliebten, der Bariton ist froh über den Freiraum. Der Wechsel von Rezitativ und Arie ist ansonsten wie üblich für Solostimme und Basso Continuo, z.B. qualvoll in „Fiero acerbo destin“, verängstigt in „Imagini d’orrore“, verführerisch in „Sotto l’ombra d’un faggio“ oder poetisch in „Sovra carro stellato“. Melodie, Harmonik und Kontrapunkt – Scarlatti ist einfallsreich und kompositorisch abwechslungsvoll, die acht Musiker verleihen dieser Aufnahme stilistische Eleganz und einen warmen Klang und erreichen zusammen mit Sopran Deborah Cachet eine innige Interpretation voller Gefühl, bei der die Sängerin mit klarer, schön timbrierter Stimme eine Geradlinigkeit ausdrückt, die nie fad wird. Der Belgier Nicholas Achten ist Herz und Seele dieses Ensembles, er ist Dirigent, spielt Theorbe und Harfe und singt auch noch die Baritonrolle. Im informationsreichen mehrsprachigen Beiheft erklärt Achten, wie Francesco Gasparinis Abhandlung L’armonico practico al cimbalo von 1708 und das Konzept des Suonar pieno die Interpretation inspirierte. Eine stimmungsvolle Aufnahme, die Aufmerksamkeit verdient. (1 CD, Ricercar, RIC 396)

 

Auch für andere kleine Barock-Ensembles und junge Sänger scheint dieses Genre aktuell attraktiv, wie drei weitere engagierte Einspielungen mit Kantaten zeigen. Der in Neapel wirkende Franceso Nicola Fago (1677-1745) ist heutzutage nur noch wenigen Barockfreunden ein Name. Sechs Kantaten, die aus den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts stammen dürften und sich an Alessandro Scarlatti und Domenico Sarro orientieren, liegen als Erstaufnahmen vor. Es handelt sich bereits um „Volume two“ der beim englischen Label Toccata Classics erscheinenden Cantatas and ariettas for solo voice and continuo. Die von Sabino Manzo dirigierte Capella Musicale ‚Santa Teresa dei Maschi‘ aus dem Aufnahmeort Bari klingt durch den Kirchenraum etwas zu hallig, doch mit Countertenor Riccardo Angelo Strano rückt sich ein junger italienischer Countertenor in den Mittelpunkt. Damit die Dauerkantatenbeschallung nicht zu monoton wirkt, sind fünf Toccaten für Solo-Cello von Franceso Paolo Scipriani dazwischen gestellt, die von Claudio Mastrangelo virtuos gespielt werden. (1 CD, Toccata Classics, TOCC 0437)

 

Auch beim Label Brilliant kann man sich in Erstaufnahmen neapolitanischer Kantaten vertiefen: Neapolitan Cantatas vereint Werke von Hasse, Mancini, Porpora und Porsile, die neben einer Stimme auch oft eine Flöte fordern und durch die kammermusikalische Besetzung mit Giuseppina Ledda (Flöte), Fabio Catania (Viola da gamba) und Pierluigi Morelli (Cembalo) musiziert werden. Es handelt sich um Werke für Flötenliebhaber, anderen mag die ungewohnte Flötenbegleitung auf die Dauer etwas einseitig vorkommen. Zu hören sind Hasses Passa da pena in pena, Francesco Mancinis „Filli mea, tu infidele“, Porporas „Freme il mar e col sussurro“ und ein anonymes „Non lasciarmi o belle spem“e. Giuseppe Porsiles drei Arien „La constanza con amore“, „E prigioniero questo mio amore“ und „Ho visto al pianto mio“ gehören nicht zu einer Kantate, sondern stammen aus  „In ritorno die Ulisse alla patria“, einer 1707 erfolgreich in Neapel aufgeführten Oper. Vor allem der junge italienische Countertenor Antonello Dorigo macht neugierig auf mehr. (1 CD, Brilliant, 95778)

 

Ebenfalls bei Brilliant kann man weltliche Kantaten von Cristofaro Caresana (1640-1709) entdecken. In Secular Chamber Cantatas musiziert das mit Cembalo (Paola Erdas), Cello (Alberto Guerrero) und Theorbe (Franco Pavan) besetzte Ensemble Démesure sieben Kantaten des überwiegend in Neapel tätigen Venezianers, der bereits vor Scarlattis Ankunft in Neapel 1683 das Genre prägte. Schon bei ihm ging es bukolisch zu, musikalisch gibt es Einflüsse durch Monteverdi und Venedig. Das 2006 gegründete, auf Kantaten spezialisierte Ensemble begleitet engagiert die Mezzosopranistin Juliette de Banes Gardonne, die mit ihrer sanften Stimme den Zuhörer in ihren Bann zu ziehen vermag. (1 CD, Brilliant, 95923) Marcus Budwitius

  1. Henning Beil

    Ich hatte das Glück, eine szenische Aufführung diesees Oratoriums in Lannion zu erleben. Es war genau die Besetzung wie auf der CD. Für mich war das eine schöne Neuentdeckung, und ich habe mir natürlich die CD sofort besorgt. Die Musik ist wunderschön. Alle Sänger waren auch darstellerisch bemerkenswert. Der Countertenor Paul Antoine Benoz Djian könnte am Beginn einer ganz grossen Karriere stehen. Die Stimme hat einen ganz besonderen Zauber und ist mit einem unverwechselbaren Timbre gesegnet. Damien Guillon und das Ensemble „Le Banquet Céleste“ gehören zu meinen Lieblingsensembles. Guillon ist ja selber auch ein hervorragender Countertenor, der in Deutschland viel zu wenig bekannt ist. Ich kann diese CD nur wärmstens empfehlen.

    Henning Beil, Trébeurden

    Antworten