Bis zum Beginn des neuen Jahrtausends war es still um den italienischen, 1690 in Strongoli geborenen Komponisten Leonardo Vinci. Aufgeführt und eingespielt wurden eher die Opern seines Zeitgenossen Antonio Vivaldi. Nur hin und wieder fand sich auf den Recitals renommierter Barocksänger (Cecilia Bartoli, Simone Kermes, Xavier Sabata, David Hansen, Filippo Mineccia) eine Arie des Komponisten. Das änderte sich schlagartig im Jahre 2011, als Diego Fasolis mit dem Concerto Köln Vincis Artaserse in einer spektakulären Besetzung für Virgin aufnahm und ein Jahr später in Nancy szenisch aufführte. Alle Hauptrollen, auch die weiblichen, wurden von Countertenören interpretiert, womit an die Kastratenbesetzung der Uraufführung 1730 in Rom erinnert wurde. Jüngster Paukenschlag in Sachen Vinci war das Recital des Counters Franco Fagioli bei der DG mit dem Titel Veni Vidi Vinci, welches 14 Arien des Komponisten, darunter sieben Weltpremieren, vorstellt.
Nun veröffentlicht das österreichische Label Parnassus Arts Productions auf drei CDs (und einem ebenso hochinformativen wie mitreißend geschriebenen Einführungsartikel von Boris Kehrmann) Vincis Dramma per musica Gismondo Re di Polonia, nachdem dieses 2018 im Teatr Miejski in Gliwice und im Theater an der Wien aufgeführt worden war (9120104870017). Das Stück kam 1727 in Rom zur Premiere und basiert auf einem Libretto des Venezianers Francesco Briani, welches dieser für den Komponisten Antonio Lotti verfasst hatte, der es unter dem Titel Il vincitor generoso vertonte – ein Herrscherlob auf König Fredericks IV. von Dänemark, der 1709 die Lagunenstadt besuchte und zu dessen Ehren die Aufführung gegeben wurde. Vinci hat dieses Libretto 18 Jahre später nahezu wörtlich vertont. Die Protagonisten der Oper sind Gismondo, König von Polen, und Primislao, Herzog von Litauen. Zwei Fürsten, Ernesto von Livland und Ermano von Mähren, lieben Gismondos Tochter Giuditta, die jedoch Primislao zugetan ist. Zwischen dessen Tochter Cunegonda und Gismondos Sohn Otone entspinnt sich die eigentliche Liebeshandlung. Alle Figuren sind zwischen Politik und Liebe hin- und hergerissen, doch am Ende siegt die Großmut und zwei glückliche Paare finden sich. Die menschlichen Konflikte der Handlung haben Vinci inspiriert zu einer farbigen, affektreichen Musik, für die er auch Material aus seiner Ernelinda verwendete. Mit dem (oh!) Orkiestra Historyczna stellt sich ein neuer Klangkörper auf CD vor, geleitet von Martyna Pastuszka – auch sie ein bislang unbekannter Name auf dem Musikmarkt. Aber schon mit dieser ersten Aufnahme liefern beide einen imponierenden Beweis ihrer Meisterschaft. Mit stürmischem Bläsergeschmetter setzt die Sinfonia ein und bringt in ihrer Durchführung das pulsierende Spiel des Orchesters zu starker Wirkung. Der 3. Akt beginnt mit einer pompösen Marciata, in welcher der Klangkörper wiederum heroisch auftrumpft. Aber auch in der Begleitung der Sänger sind Gespür für Rhythmus und Melos spürbar.
In der Besetzung finden sich zwei Countertenöre, die auch beim Artaserse mitgewirkt hatten – der Ukrainer Yuriy Mynenko und der Österreicher mit kroatischen Wurzeln Max Emanuel Cencic. Letzterer ist Executive Producer der Aufnahme – damit Garant für eine erstklassige Besetzung – und auch Interpret der Titelrolle. Die Stimme des Sängers hat sich in den letzten Jahren bemerkenswert entwickelt, ist durchgängig gerundet und ausgeglichen, hat den hysterischen Beiklang in der Höhe, der früher zu bemerken war, verloren. Schon der bewegte Auftritt, „Bella pace“, mit reichen Koloraturpassagen imponiert, ebenso die Gleichnisarie „Se soffia irato“, welche das Bild einer Taube im Sturm imaginiert. Deren eilende Koloraturen absolviert Cencic bravourös, wie er auch im stürmischen „Torna cinto“ des 2. Aktes brilliert und die Nummer mit einem exponierten Schlusston krönt. Mynenko als Otone mit seiner schönen und sinnlichen Stimme steht ihm keineswegs nach, kann bereits in der Auftrittsarie, „Vado ai rai“, mit fein getupften staccati und reichem Zierwerk prunken. Er beschließt den 1. Akt mit einer Nachtigallen-Arie („Quell’usignolo“), deren betörender und kunstfertiger Gesang mit Trillern und staccati von Flöten lieblich umspielt wird. Im 2. Akt kann er in „Vuoi ch’io mora“ seinen Schmerz mit ergreifenden Tönen ausdrücken, im heldischen „Assalirò quel core“ die Stimme in ihrem weiten Umfang voll ausreizen und im lieblich wiegenden „Pupille vezzose“ des 3. Aktes seine lyrischen Qualitäten auskosten.
Zwei weitere Counter sind dagegen neu in der Opernszene – der Brite Jake Arditti als Ernesto und der Amerikaner Nicholas Tamagna als Ermano. Ersterer besitzt eine Stimme von reizvoll androgynem Timbre mit auffallend üppiger Substanz in der Tiefe. Diese kann er besonders in der munter bewegten Arie im 2. Akt, „E col senno“, ausstellen. Kontrastreich sind das lieblich-zärtliche „D’adorarvi così“ und das auftrumpfende, mit virtuosen Koloraturläufen ausgestattete „Parto con quella speme“ im 3. Akt. Ermano führt sich erst im letzten Akt mit der stürmischen Arie „Son come cervo misero“ ein und Tamagna kann hier mit seiner resoluten, angenehm timbrierten Stimme für sich einnehmen.
Auch die mitwirkenden Soprane waren bisher auf Besetzungslisten kaum anzutreffen. Die weibliche Hauptrolle der Cunegonda nimmt die Belgierin Sophie Junker wahr. Ihr lyrischer Sopran ist von hoher Kultur, was den empfindsamen und klagenden Arien der Partie gut ansteht („Sentirsi il petto“ im 1. und „Tu mi tradisti ingrato“ im 2. Akt). Sie trägt diese Lamenti mit starker Expressivität vor. Mit Otone beendet sie den 2. Akt mit dem innigen Duett „Dimmi una volta addio“, in welchem beide Stimmen perfekt harmonieren. Ein Höhepunkt der Oper ist ihre stürmische Arie im 3. Akt „Ama chi t’odia“, die in rasendem Furor ihren Hass und Erregungszustand spiegelt. Cunegonda ist auch beteiligt im einzigen Terzett des Werkes mit Gismondo und Otone („Dolce padre“), welches einen Gefühlssturm aller drei Personen ausdrückt. Und schließlich fällt ihr das letzte Solo der Oper zu – „Di rispondi“ am Ende des 3. Aktes, das geheimnisvoll raunend beginnt und sich dann ganz verinnerlicht fortsetzt. Erst der nachfolgende Schlusschor „Nel gran Sarmata“, der davon singt, dass mit dem Ölbaum und Lorbeer das erhabene Haupt Gismondos gekrönt wird, bringt eine feierliche Note ein.
Die Polin Aleksandra Kubas-Kruk ist als Primislao zu hören, also eine Besetzung en travestie. Die Stimme ist im Timbre nicht sonderlich individuell, aber die Gesangskunst der Sopranistin steht außer Frage. Schon in ihrem ersten Auftritt „Và, ritorna“ vermag sie energisch aufzutrumpfen und mit herausgeschleuderten Spitzentönen zu beeindrucken. Imponierend auch die exponiert notierte Arie „Nave altera“, die rhythmisch prägnant, mit großem Nachdruck und brillanten Koloraturgirlanden interpretiert wird. Einen starken Kontrast bilden die beiden Arien im 3. Akt — „Vendetta o ciel“ kämpferisch und „Sento di morte“ ganz verhalten, fast stockend.
Die Russin Dilyara Idrisova gibt die Giuditta und komplettiert mit ihrem jugendlichen Sopran von androgyner Anmutung eine insgesamt hochkarätige Besetzung. Die Sängerin meistert auch die Noten in der Extremhöhe bravourös, wie im koketten „Così mi piacerai“ oder dem heiteren „Se l’onda corre“.
Cencic und sein Team haben mit dieser Einspielung für einen Meilenstein in Sachen Leonardo Vinci gesorgt, dem hoffentlich weitere Initiativen folgen werden. Anfang September soll das Werk in identischer Besetzung beim neu gegründeten Festival Bayreuth Baroque konzertant aufgeführt werden . Bernd Hoppe
(Foto Vinci „Gismondo“ Parnassus Max Emanuel Cenci c® Lukasz-Rajchert/ Weitere Information zu den CDs/DVDs im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/..)