Das ganz große Staunen kommt erst ganz zum Schluss beim Lesen von Wolfgang Jansens Buch über Willi Kollo, den Mittleren in der Generationenreihe von Walter, Willi und schließlich René Kollo, dem berühmten Wagnersänger. Da spricht nämlich der Autor unter anderen auch der Enkelgeneration, die eigentlich alles daran setzte, dass sein Buch nicht erscheinen durfte, seinen Dank für die gewährten Gespräche aus, musste er doch im davor stehenden Nachwort von den Schwierigkeiten berichten, die ihm Marguerite und René Kollo bereitet hatten, die dazu führten, dass das Manuskript lange Zeit ungedruckt in der Schublade liegen bleiben musste. Der Leser beginnt spätestens an dieser Stelle darüber nachzudenken, warum das dickleibige Buch völlig auf Bildmaterial verzichtet, ob die Erben keines zur Verfügung stellen wollten, ob der Verfasser oder der Verlag vor eventuell damit verbundenem Einspruch zurückschreckten. Dabei kann man sich vorstellen, dass interessantes Material in Hülle und Fülle hätte vorhanden sein müsssen.
Aber auch ohne Bilder ist das Buch ein so interessantes und lesenswertes wie objektiv und ohne Ranküre, ja wohl mit viel Nachsicht gegenüber seinem Gegenstand sich gebendes, selbst wenn man mittlerweile auf einen hohen Stapel von neuen Büchern aus und über der/die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts im Bücherregal blicken kann, seien es Biographien über Franz Lehár und Wilhelm Furtwängler, über die Brüder Rotter oder generell das tolle Leben in den golden genannten Zwanzigern.
Im Vorwort äußert sich Jansen über die Voraussetzungen für das aufregende kulturelle Leben zur Zeit Walter und Willi Kollos, die Landflucht, Industriealisierung und Liberalisierung, Gewerbefreiheit, Freizügigkeit, Konzessionsfreiheit und die Emanzipation der Juden in Deutschland. Das wird so knapp wie einleuchtend dargestellt, überzeugt davon, dass die Zeit auch für neue Gattungen auf den Bühnen Berlins und nicht nur dort gekommen war, so für die „Posse mit Musik“ und den „Schlager“.
Es schließt sich mit dem ersten Kapitel ein Bericht über Kindheit und Jugend Walter Kollos, der eigentlich Kollodzieyski hieß, an. Die frühe Distanz zu den aus Königsberg nach Berlin gehenden Eltern, die Tätigkeit des Vaters Walter als Pianist in Kneipen, als Dirigent, Textdichter für Claire Waldoff, Komponist einaktiger Operetten werden erwähnt, das kurze Intermezzo in einem Harzburger Internat, in dem der Schüler Willi bereits mit ersten Texten auf sich aufmerksam macht. Bereits in diesem Abschnitt wird eine sehr leserfreundliche Gliederung des Buches deutlich, das in jedem Kapitel zur Erweiterung des Wissens Einschübe über den Lebensweg Willis bestimmende Personen bietet sowie unter dem Stichwort „Dokumente“ Quellentexte Lieder, Kritiken, Zeugnisse von Zeitgenossen und vieles mehr.
So wie im folgenden Kapitel, das die Zeit von 1921 bis 1928 und damit den ersten Erfolgen umfasst, führt der Autor den Leser in die wichtigsten Ereignisse und Probleme der jeweiligen Jahre und insbesondere der „leichten Muse“ ein. Für den heranwachsenden Willi Kollo bedeutet dies die Hinwendung des Berliner Kulturlebens, soweit es das Amüsement betrifft, zur amerikanischen Musik, während die Kollos, und das damals noch mit Erfolg, auf ,abgesehen von wenigen Jazzelementen, vertrauten Pfaden wandeln, Willi für des Vaters Operette „Marietta“ die bis heute bekannten Texte „Was eine Frau im Frühling träumt“ und „Warte nur ein Weilchen“ schreibt. Es beginnt die Zeit der Ausstattungsrevuen, zu „ Von A bis Z“ steuert der Sohn den Text von „Solang noch untern Linden“ bei, beginnt aber mit eigenen Kompositionen und bekennt sich zu seinem eigenen Namen. 1927 erscheint „Lieber Leierkastenmann“ und im selben Jahr die erst einmal letzte gemeinsame Arbeit von Vater und Sohn. Der ältere heutige Leser wird mit Namen konfrontiert, die ihm vertraut sind wie Hans Albers, Willy Fritsch, Edith Schwollwer, die später zu den Westberliner „Insulanern“ gehören und mit „Der Insulaner verliert die Ruhe nicht“ Frontgeist verkörpern wird.
In den Jahren 1928 bis 33 schreibt Willi Kollo Chansons für das KadeKo am Kürfürstendamm, bis die Nazis das poltische Kabarett verbieten. Heute steht an dessen Stelle die Berliner Schaubühne. Er ist nicht nur Textdichter und Komponist, sondern singt auch selbst. Und der heutige Berliner wird staunen, dass es am Kottbusser Tor, wo heute der Drogenhandel floriert, ein Theater gab, in dem das „Lied vom Leierkastenmann“ uraufgeführt wurde. Nicht nur Werner Finck und viele andere erregen Anstoß bei den Nazis, sondern auch Kollo, was er später beim Entnazifizierungsverfahren zu nutzen weiß.
Auch das neue Medium Tonfilm bietet Kollo Aufgaben wie zunächst in Kurzfilmen, 1930 „Der Tiger“, danach „Die blonde Nachtigall“ und „Meine Frau, die Hochstaplerin“ mit Heinz Rühmann. Er muss sich damit auseinandersetzen, welche unterschiedlichen Anforderungen Tonfilm-Operette und Bühnen-Operette an ihn stellen.
Milde geht der Verfasser mit der recht undurchsichtigen Geschichte um den Parteieintritt Kollos am 1.4.1933 , womit er gerade noch vermeidet, als Märzgefallener zu gelten, um. Er insistiert auch nicht auf Aufklärung um den angeblichen Parteiausschluss oder auch – rausschmiss, die Nichtmitwirkung am „Hitlerjungen Quex“, gesteht seinem Untersuchungsgegenstand zu, dass er nicht von der Vertreibung der Juden, die für 90% der leichten Muse zuständig waren, profitierte, sondern nicht nationalsozialistisch, sondern deutschnational, Oswald Spengler vertrauend, ausgerichtet war. Als Hans Dampf in allen Gattungen weiß sich Kollo auch in der ganz jungen des Fernsehspiels zu etablieren, schreibt in dieser Zeit auch das Lied „Nachts ging das Telefon“. Das 1939 entstandene „Wir tanzen um die Welt“ klingt schon recht militärisch.
Goebbels Meinung, dass gute Laune kriegswichtig sei, müsste eigentlich Willi Kollo begünstigt haben. Aber in der Zeit von 39 bis 44 entstehen nur zwei Filme, eine Revue mit einem „Verdunkelungslied“ und ein Einakter. 1943 wird „Wie einst im Mai“ mit Hilfe des Sohnes arisiert, das heißt, die jüdischen Mitwirkenden werden entfernt. 1945 flieht Kollo mit Gattin Renate, den Kindern Marguerite und René in die Nähe von Hamburg, ist maßgebend tätig beim Wiederaufbau des Hamburger Kulturlebens, so mit „Faust III“ oder „Dornröschen-ein unromantisches Märchen“, als Pianist, Sänger, einem Stück gegen Sartre und später, in Göttingen mit Hilpert, einer Art Rechtfertigungsstück. Nach mehreren Untersuchungen wird Kollo als „entlastet“ eingestuft, darf einen Verlag gründen, leitet ein eigenes Theater und erleidet mit „Frau Jenny Treibel“ nach Fontane, die von der unverwüstlichen, aber immer unverwechselbar komischen Grete Weiser gespielt wird, einen Schiffbruch. Jansen weiß auf vielfältige Weise, durchgehend nicht ohne Sympathie für seinen umtriebigen „Helden“, darzustellen, warum dieser, vielseitig begabt und unverdrossen, viele Dinge in Angriff nimmt und doch immer wieder scheitert, so auch mit dem Verlag, in dem er ausgerechnet William S. Schlamm aus der rechten Ecke veröffentlicht. Auch ein Film über das Leben seines Vaters mit Sohn René in der Hauptrolle oder das Musical „Wer hat Angst vor dem starken Mann“ lässt ihn nicht auf die Erfolgswelle der neuen Gattung aufspringen. Und so lässt sich dann vielleicht auch eine besondere Dünnhäutigkeit verstehen, die ihn dazu bringt, sein Bundesverdienstkreuz zurückzugeben, weil man den 100. Geburtstag seines Vaters nicht gewürdigt hatte.
Immerhin gibt es zum 70.Geburtstag eine Gala im Sportpalast, zum 80. eine Matinee im Theater des Westens und zur 800. Geburtstagsfeier Berlins in der „Hauptstadt der Republik“ „Ein Abend bei den Kollos“ und damit sein letztes Lied, ausschließlich Sehenswürdigkeiten Ostberlins feiernd.
Zwar stellt der Verfasser schließlich fest, die Angst, sein Buch könnte eine „Verwertungsmaximierung“ der Kollo-Werke verhindern, habe die Erben Willi Kollos daran gehindert, der Veröffentlichung seines Buches zuzustimmen, aber wenn dem so wäre, dann dürfte ihre Einschätzung eine falsche sein, denn es spiegelt nichts von den Querelen um sein Erscheinen wider, sondern das aufrichtige und geglückte Bemühen, Willi Kollo Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dazu gibt es noch als Anhang eine Literaturliste, ein Werkverzeichnis, eine Diskographie und ein Personenverzeichnis (395 Seiten, 2020 Waxmann Verlag Münster, New York; ISBN 978 3 8309 3995 5). Ingrid Wanja