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Die Phädra-Vorlage des Eurypides hat neben Racine (den Schiller sogar ins Deutsche übersetzte) auch manche Komponisten inspiriert, so Simone Mayr oder Ildebrando Pizetti (nach D´Annunzio). Und auch Jean-Baptiste Lemoyne, ein Zeitgenosse Cherubinis (etwas jünger), der 1780 seine Phèdre auf die Bühne in Paris brachte. Eine erste „Sparversion“ für eine Aufführung bei Maria-Antoinette zu Hause kam bereits beim Palazzetto heraus, operalounge.de hat darüber bereits in höchsten Tönen berichtet (bemerkenswerter Weise scheint nun diese erste Ausgabe aus dem Katalog gefallen zu sein, weder jpc noch amazon haben sie mehr im Angebot, was schade ist und nach Verkaufsstrategie aussieht; also sollten wir – die wir sie haben – uns daran freuen, denn sie hat ihre Berechtigung).
Und heureka – es gibt diese wunderbare Oper nun auch mit großem Orchester in einem Mittschnitt aus Budapest vom 11. September 2019 erneut beim Palazzetto/ Note 1! Müpa (der ungarische Konzertsaal und die Kulturorganisation gleichen Namens) übertrugen für die Fans bereits den recht löcherigen Video-Livestream und Radiomitschnitt) und ließen das akustische Wasser in den Ohren zusammenlaufen. Die Besetzung ist gegenüber der Pariser Aufführung von 2017 leicht verändert (Phèdre: Judith van Wanroij.; Œnone: Melody Louledjian.; La grande prêtresse: Ludivine Gombert.; Hyppolite: Julien Behr.; Thésée: Tassis Christoyannis.; Un grand de l’État / Un chasseur: Jérôme Boutillier.; Purcell Choir. Orfeo Orchestra (on period instruments). Conductor: György Vashegyi)
Der Klang ist nicht so außerordentlich aufregend, dazu „boomte“ die Konzert-Halle etwas zu viel. Aber die außerordentlich gut ausgestattete Buch-CD mit zweisprachigem Libretto und hervorragenden Aufsätzen ist ein absoluter Gewinn. Also Freude. Freude. Freude…
In Paris konnte man sie 2017 (nach Präsentationen am Théâtre de Caen, Rouen und auf dem Weg zum Gastspiel in Moskau – am 8. Juni 2017 neu erleben) in einer an zeitgenössische Tradition des Königlichen Hofes angelehnten Reduktion vom Théâtre des Bouffes du Nord: in einer Bearbeitung für 10 Instrumente und 4 Sänger von Benoit Dratwicki (Musikwissenschaftler und Directeur artistique du Centre de Musique Baroque de Versailles) und Julien Chauvin, letzterer als 1. Geiger am Pult des Concert de la Loge. Der Klang war natürlich ein anderer, als das originale, größere Orchester hätte bieten können. Aber so sehr man maulen mag – immerhin hörte man dieses Werk in der Piccini-Nähe erstmals. Die Verse sind von Jean-Benoit Hoffmann, der ja auch die Alexandriner für die Médée geschrieben hat.
Für die nun mit vollem originalem Orchester versehene Neuausgabe ist man angesichts eines wirklich sehr überzeugenden Solistenbildes, namentlich Judith van Wanroij (man erinnert sich an ihre leuchtende Stimme in den Danaides) und und des strammen Julien Beer als Phèdre und Hippolyte,vor allem aber wegen des fulminanten und an Shirley-Quirk erinnernden Tassis Christoyannis, mehr als heureux. Wenngleich mir György Vashegyi als musikalischer Leiter etwas phlegmatisch scheint. Was für ein Luxus, nun dieselbe Oper in zwei Versionen zu haben. Danke (Weitere Information zu den CDs/DVDs im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/.). G. H.
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Zur Oper einige Anmerkungen von Alexandre Dratwicki: Die Wiederentdeckung von Phèdre.Die Auferstehung eines in Vergessenheit geratenen Werkes ist eine noch größere Herausforderung, wenn sein Schöpfer selbst keine Spuren in der Geschichte hinterlassen hat. Denn es ist im Prinzip immer einfacher, dass ein Interesse an einer unbekannten Komposition besteht, wenn sie von Berlioz, Gounod oder Debussy stammt. Aber von Lemoyne? Zumindest im Falle von Phèdre weckt der Titel Neugier, auch wenn er sofort den Schatten des Stückes von Racine heraufbeschwört und die Unmöglichkeit, dieses zu übertreffen.
Seit 2009 hat Palazzetto Bru Zane die Periode, die in Enyzklopädien als „Gluck und seine Nachahmer“ bezeichnet wird, eingehend untersucht. Aufeinanderfolgende Aufnahmen von Werken von Gossec, Grétry, Sacchini, Salieri, Vogel, J. C. Bach, Cherubini und Méhul haben die Vielfalt und Originalität dieser Generation offengelegt, die oft dem Gluck’schen Modell entspricht oder es zweckmäßig umgeht. Jeder Komponist bietet auf seine Weise eine neue Behandlung der reformierten Tragédie lyrique, der Konzeption einer Oper, die von dekorativen und komischen Elementen befreit ist und sich eher auf die Erforschung und den Ausdruck individueller denn kollektiver Gefühle konzentriert.
Diese Regungen der klassischen Seele kündigen bereits die romantische Oper an, die das Liebesdrama mit politischen und religiösen Verstrickungen, geschmückt mit pompösen Bühnenbildern und prächtigen Balletten, verkomplizieren sollte. Während der vorbereitenden Recherchen dieser Ausgrabungen tauchte der Name von Jean-Baptiste Lemoyne viele Male auf, hauptsächlich in Verbindung mit zwei Titeln, Électre sowie Phèdre. Trotz der verächtlichen Ironie, die ihm Berlioz sechzig Jahre später zukommen ließ, war es verlockend, die Gründe für die Erfolge dieses mysteriösen Komponisten aufzudecken und zu erklären, warum er von der Nachwelt völlig vergessen wurde. Um diese Untersuchung durchzuführen, haben wir uns entschieden, Phèdre (1786) wiederzubeleben. Wie der Leser auf den nachfolgenden Seiten ausführlicher erfahren wird, beruhte Lemoynes Triumph zu einem große Teil auf seiner engen Beziehung zu einer Künstlerin, die über außergewöhnliche Ressourcen hinsichtlich der Interpretation verfügte: Madame Saint-Huberty, die man als Verdi- und Wagner-Sängerin avant la lettre bezeichnen könnte. Aus den Presseartikeln der damaligen Zeit können wir schließen, dass sie wahrscheinlich eine Mezzosopran-Stimme hatte, deren hohe Töne über Gebühr beansprucht wurden. Dies würde teilweise die Kürze ihrer Karriere erklären. Es sei daran erinnert, dass es zu diesem Zeitpunkt für diesen niedrigeren Stimmumfang keine wesentlichen Rollen im Standardrepertoire gab und dass sie daher nach ihrem Antritt an der Opéra gezwungen war, Partien zu übernehmen, die in stimmlicher Hinsicht nicht ideal zu ihr passten. Die vielen Transpositionen und Striche im Orchestermaterial der Opéra unterstreichen die Herausforderungen, die sie trotz ihrer Willenskraft nicht bewältigen konnte. Wir werden auch weiter unten in diesem Band erfahren, dass das Publikum, obschon es von ihrer Bühnendarbietung berührt war, davon irritiert und darüber missvergnügt war, dass die Sängerin ihren Part in Übereinstimmung mit dem von Rosseau ironisch beschriebenen urlo francese („französischer Schrei“) „heraus schmetterte“: nämlich die Praxis, auf Kosten der Textverständlichkeit und der Absichten des Librettisten so laut wie möglich zu singen.
Aber in Phèdre gibt es so viele Rezitative und Arien von gedämpften und verfeinertem Charakter, dass es besser gewesen wäre, einen Stimmtyp zu bevorzugen, der demjenigen der Madame Saint-Huberty diametral entgegengesetzt ist. Phèdre bricht erst nach langen meditativen Episoden in Wut aus, während sie die Turbulenzen in ihrem Herzen geheim hält oder sie fast während der gesamten Oper mit Diskretion behandelt. Für diese Aufnahme hat Palazzetto Bru Zane diese Rolle mit Judith van Wanroij besetzt, einer Künstlerin, welche sich durch eine berührende Darstellung auszeichnet, die Bedeutung des Wortes zu schätzen weiß – obwohl sie keine französische Muttersprachlerin ist – und die herausragende Fähigkeit besitzt, die Poesie zu vermitteln und die Farbigkeit des Textes wiederherzustellen.
Am Tage nach der Uraufführung stimmte die Presse darin überein, dass die Partitur ein Meisterwerk sei, welches denselben anhaltenden Erfolg verdiene wie Glucks Alceste, Armide und seine beiden Iphigénie-Opern. Gleichwohl ermutigte man den Komponisten, in den ersten dreißig Minuten, der hauptsächlich aus religiösen Chören, Märschen und Tanzeinlagen bestand, Kürzungen vorzunehmen, da diese den dramatischen Ausdruck verlangsamten und die Zuschauer verärgerten, die ungeduldig darauf warteten, Phèdres Monologen zu lauschen. 2019 stellte sich die Frage, ob wir das Werk dergestalt „verbessert“ präsentieren sollten (und damit in jener Form, in der es anschließend etwa zwanzig Jahre lang aufgeführt wurde). Gleichwohl haben wir es vorgezogen, eine komplette Fassung anzubieten, damit jeder Hörer selbst beurteilen kann, ob die 1786 geäußerten Ansichten relevant waren.
Obwohl es glücklicherweise keine von einander abweichende Quellen zu Phèdre gibt, besitzen wir zwei komplementärer komplette Partituren: Eine aus einem zeitgenössischen Druck, die andere als Manuskript, das von einem Kopisten der Oper erstellt wurde. Abgesehen von einigen Details der Dynamik und der Transposition der Arien, die für die Titelinterpretin der Uraufführung in einer zu hohen Tessitura lagen, besteht der einzige bedeutsame Unterschied in der Hinzufügung von Italianate-Elementen im gesamten Part der Phèdre selbst, die sich nur in der Manuskriptpartitur befinden. Diese Neufassung der Gesangslinie ist wahrscheinlich eine Reaktion auf die Mode, welche Sacchini und Piccinni seinerzeit in Paris etablierten. Es veranschaulicht auch die „hübsche italienische Manier“, welche Kommentatoren der damaligen Zeit Lemoyne in Phèdre zuschrieben. Wenn man diese Seiten durchblättert, merkt man, dass es größtenteils an Madame Saint-Huberty lag, dass der Autor dieses günstige Urteil hinsichtlich der angeblichen Übernahme des italienischen Geschmacks abgab. Für Palazzetto Bru Zane besteht kein Zweifel daran, dass die Qualität der Partitur eine Rückkehr ins Repertoire rechtfertigen würde, so wie Cherubinis Médée im 20. Jahrhundert dank Maria Callas den Weg zurück ins Opernhaus fand. Médée teilt sich mit Phèdre das Talent desselben Librettisen: François-Benoît Hoffman. (Den Artikel entnehmen wir dem CD-Buch des Palazetto Bru Zane; Übersetzung ins Deutsche von Daniel Hauser/ Abbildung oben: „Phedre“ von Alexandre Cabanel/ Wikipedia/ Musée Fabre Paris.)
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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.