Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Und dann und wann ein weißer Elefant

Mit den Geschenken der Götter ist das so eine Sache. Genauso wie mit den Wünschen, die die gute Fee im Märchen erfüllt. Die haben doch meist einen Haken. Midas hat von Jupiter etwas Besonders erhalten. Alles, was Midas anfasst, wird zu Gold. Als Gegenleistung dazu soll Midas dem Gott seine Gestalt leihen, damit Jupiter das Herz von Danae erobere. Doch Midas und Danae verlieben sich ineinander. Jupiter zieht den Kürzeren und kehrt das Geschenk in einen Fluch um. In den Armen von Midas verwandelt sich Danae in eine leblose goldene Statue. Was tun? Jupiter stellt sie vor die Wahl, entweder ihm anzugehören oder mit dem in einen Eselstreiber zurückverwandelten Midas ein Leben in Armut zu führen. Danae entscheidet sich für Midas. Die Liebe triumphiert über Gold. In der Hoffnung, sie habe sich inzwischen eines Besseren besonnen, nähert sich der Gott nochmals Danae, die sich trotz des Lebens in der armseligen Hütte für Midas entscheidet. Dem Gott bleibt nichts anderes übrig, als gute Miene zumachen und das Paar zu segnen. jaja, die Liebe der Danae

Die „heitere Mythologie“ ist eng mit den Salzburger Festspielen verbunden, von wo der Mitschnitt aus dem Sommer 2016 stammt (Blueray EuroArts 2097024): dort wurde die vorletzte Oper von Strauss im August 1944, kurz vor Schließung aller Theater und trotz der Absage der Festspiele, ein einiges Mal, als  Generalprobe deklariert, gegeben und 1952 als offizielle Uraufführung nachgereicht. Da war Strauss bereits tot. Warum die kaum gespielte Oper nach der in Zusammenarbeit mit der Semperoper 2002 entstandenen Produktion von Günter Krämer im Vorjahr neuerlich auf dem Spielplan stand, kann höchstens an der zur Verfügung stehenden Besetzung gelegen haben. Krassimira Stoyanova ist als Danae ziemlich gut. Sie verfügt über den üppigen goldenen Ton, der ein wenig an ihre Landsmännin Tomowa–Sintow erinnert und überzieht die Partie mit ihrem Edelsopran wie eine Statue mit Goldfolie. Die Partie hätte auch ein paar Jahre früher auf sie treffen dürfen. Im Zusammenklang mit Regine Hanglers Xanthe ereignet sich ein üppiges Sopran-Duettieren von Arabella-Qualität. Aus der Figur, die sie mit stoischer Gelassenheit und abgespreizten Fingern spielt, macht Stoyanova nicht sehr viel bzw. kann nicht sehr viel machen; auch nicht aus dem Text. Sie trägt den goldenen Lorbeer, ein Geschenk des Midas, der bei ihrem von Geldsorgen geplagten Vater Pollux – Wolfgang Ablinger-Sperrhacke ist mit grell gleisnerisch eigenwilligem Charaktertenor eine Klasse für sich – um ihre Hand anhält, ebenso mit Würde wie das goldene Kleid, das sie in einen unförmigen Vogel verwandelt. Die Inszenierung von Alvis Hermanis, der sich selbst die weiß und gold geflieste Bühne mit ihren weißen Kachelstufen schuf, zu der Juozas Statkevicius die keinen Stoffballen scheuenden Kostüme beisteuerte, ist ein wunderfitziges Märchentheater aus Tausendundeiner Nacht, in dem der Hofstaat des Pollux große Turbankugeln und reichen Kopfputz, ausgestellte Röcke und Pluderhosen trägt, dazu kommen popanzige Aufmärsche, viel Schreiten und Gleiten, goldene Figuren, gestreute Blumen. Gleich schauen in dieser eigentlich in Griechenland spielenden Handlung irgendwo Ali Baba oder Aladin um die Ecke. Eine kitschige Show, ein Talmimärchen, eine Operette ohne Augenzwinkern, eine Revue ohne wirklichen Glanz, die die Brüche der Entstehungszeit nicht aufnimmt und ein herziges Weihnachtsmärchen zur Sommerzeit zeigt. Alles ohne Ironie, ohne Seitenhiebe, Dekor ohne Inhalt. Stattdessen protziges Breitwandtheater, pompöses Zurschaustellen. Ernstes und steifes Schreiten, Sitzen, Posieren. Langweilige Eurythmie der Goldbetressten, ein albernes Getue, das die Lächerlichkeit streift. Jupiter erscheint auf einem großen weißen Elefanten. Wenigstens ein Hingucker. Was hätte man aus dem Thema machen können.

Der sehr geschätzte Tomasz Koniecny vergegenwärtigt die schwer singbare Partie des Jupiter, die auf der einzigen vollständigen Aufnahme von Franz Grundheber gegeben wird, mit einem festen, steten und geerdeten Klang und perfekt sitzendem Kraftbariton mehr als gut. Vielleicht zu einfarbig. Er kann ihr, natürlich auch von der Regie völlig im Stich gelassen, in der letzten, sehr berührenden halben Stunde in Jupiters Abschied sogar etwas wie Leben einhauchen und den Plunder vergessen machen; da nimmt freilich nicht nur der alternde Gott Abschied von Danae, sondern der greise Komponist von der zerbrechenden Welt. Zwei lange Akte muss man allerdings auf diese spätherbstliche Abschiedsfeier warten. Sonst scheint keine der Figuren zu leben. Gerhard Siegel hat als Midas die sichere Höhe, Norbert Ernst ist ein gewitzter Merkur, Franz Welser-Möst, der dieser überreifen Klangzauberei nicht so viel Reiz abgewinnt wie seinen sonstigen Strauss-Aufführungen, verlässt sich auf die hymnischen Klänge und weiten Melodiebögen und leitet gleichwohl eine musikalisch luxuriöse, doch laute Aufführung. Vor die Entscheidung gestellt Gold oder Liebe bzw. Bild oder Ton, fällt uns die Wahl so leicht wie Danae.  Rolf Fath

Zurück in die Heimat

 

Ihre nunmehr vierte CD legt Olga Peretyatko mit  Russian Light vor, ein Kontrastprogramm zur dritten, die sich unter der Stabführung des jüngst verstorbenen Alberto Zedda ganz Rossini gewidmet hatte. Zwar scheint das Repertoire ein ganz anderes zu sein, nicht aber ist es die Art des Singens, die auch hier in der schönsten Weise an ihre Lehrerin Mariella Devia, italienische Königin des Belcanto, erinnert, so dass es zu einer interessanten, raffinierten Mischung einer frischen, herben, durchaus slawische Akzente aufweisenden Sopranstimme eines soprano lirico leggero mit ausgesprochen italienischem Legato kommt, jedes Pathos, das slawische Sängerinnen so gern ihrem heimatlichen Repertoire angedeihen lassen, vermieden wird. Das macht sich besonders bei Rachmaninoff, so seinem „Hier ist es schön“, angenehm bemerkbar.

„Light“ im Sinne von leicht kommt das zartfarbige Cover einher, das sich an ein Portrait des russischen Malers Michael Vrubel von seiner Gattin Nadeschda –Zabela-Vrubel, der ersten Zarenbraut, anlehnt. Leicht beginnt es auch mit der Arie der Ludmila, die durchaus Rossini-Anklänge vernehmen lässt und deren Arie von einer frischen Mädchenhaftigkeit spricht, von einer Stimme voller Leuchtkraft und ausgesprochen leichter Emission. Es folgt die Hymne an die Sonne aus Der goldene Hahn, in der die Stimme auch in der Höhe und dem Piano sehr gut anspricht. Natürlich fehlt die Wahnsinnsarie der Marfa nicht, die Peretyatko in Berlin und Mailand gesungen hat, und in ihrem zweiten Teil erklingt eine wundersame Traurigkeit, sind die Farben der Stimme den jeweils begleitenden Instrumenten angepasst.  Eine zarte Elegie ist auf dieser CD das Wiegenlied der Volkhova aus Sadko, spricht von Todesnähe, und auch hier harmoniert die Stimme perfekt mit dem Orchester, das übrigens bewusst keines der großen europäischen, sondern das Ural Philharmonic Orchestra unter Dmitry Liss ist.

Außer Glinka und Rimsky-Korsakov sind Rachmaninoff, Strawinsky und Shostakovich vertreten, letzterer mit zwei Nummern aus seiner Operette Moskau-Cheryomushki ( gab es in der Werkstatt der Berliner Staatsoper), von denen die in Moll besonders gefallen kann. Natürlich hat man die Vocalise Rachmaninovs schon spektakulärer, nie aber schöner gehört, besonders die Mühelosigkeit, mit der die Höhen erreicht werden, muss man bewundern und die Tatsache, dass die Raffinesse sich hinter scheinbarer Schlichtheit verbirgt, ja eine Innigkeit erzeugt wird, die man in dem Stück nicht vermutete. Stravinskys Nachtigall erfreut mit einem schillernden Piano und mit einer absoluten Beherrschung der Stimme. Zum Ärgern gibt es bei dieser CD nur einen Grund: Sie dauert nicht einmal 55 Minuten (Sony Music 88985352232). Ingrid Wanja    

Entdeckungen

 

„Angenehme Melodei“ nennt sich eine neue CD bei der dhm, die mit den beiden Huldigungskantaten BWV 216a und 210a unbekannte Werke des Barockmeisters vorstellt (dhm 88985410522). In dieser Ersteinspielung musiziert die Deutsche Hofmusik unter der Leitung von Alexander Grychtolik, der den Versuch unternommen hat, die zwischen 1730 und 40 entstandenen Werke zu rekonstruieren (wie zuvor schon weitere verlorene Schöpfungen Bachs). Die beiden Kompositionen sind von heiterer Natur, beschwingtem Rhythmus und filigranem Gefüge. Entsprechend leichtfüßig und transparent werden sie vom Ensemble wiedergegeben. Die Kantate 216a, „Erwählte Pleißenstadt“, ist eine Huldigung an die Stadt Leipzig und deren reiche Kaufleute als ein Dialog zwischen den beiden Göttern Apoll und Merkur. Ersterer als Gott des Lichts und der Künste steht für den Glanz der Metropole, sein Bruder, der Götterbote, ist Schutzherr der Kaufleute der wirtschaftlich prosperierenden Handelsstadt. Die ausgedehnte Solokantate „Angenehme Melodei preist die göttliche Musik, welche mit Hilfe von Förderern ihre wundersame Wirkung entfalten kann. Die Komposition ist die Parodiefassung der bekannten Hochzeitskantate „O holder Tag, erwünschte Zeit“ (BWV 210), die wahrscheinlich anlässlich eines Besuches des Herzogs Christian von Sachsen-Weißenfels am 12. Januar 1729 in Leipzig entstand.

Unterschiedlichen Eindruck hinterlassen die drei Solisten – die Sopranistin Katja Stuber, der Altus Franz Vitzhum und der Tenor Daniel Johannsen. Die beiden Herren bestreiten mit je einer Arie und zwei Duetten die sieben Sätze von BWV 216a. Die Stimmen mischen sich perfekt; die Interpreten singen flexibel mit leicht getippten Koloraturen und gerundet. Parodievorlage der Kantate ist die Hochzeitskantate „Vergnügte Pleißenstadt“ (BWV 216), aus der die Tenorarie „Angenehmes Pleiß-Athen“ stammt. Johannsen singt sie kultiviert und mit weicher Klanggebung. Der Altus findet für „Mit Lachen und Scherzen“ einen vergnügten Tonfall und behenden Fluss der Koloraturen. In „Heil und Segen“, das aus „Der zufriedene Aeolus stammt, vereinen sich die beiden Stimmen noch einmal zu einer  Huldigung an die Pleißenstadt.

Ganz der Sopranistin vorbehalten ist BWV 210a mit fast 30 Minuten Dauer. Der spitze, bohrende Ton von Katja Stuber ist gewöhnungsbedürftig, wird im Laufe des Vortrages gar quälend. Die langen Koloraturgirlanden bewältigt sie mit hörbarer Mühe und auch in den getragenen Teilen (wie der Arie „Ruhet hie, matte Sinne“) ist das Hören wegen des larmoyanten Klanges der Solistin nicht angenehmer. Auch die beiden letzten Soli, die sich ausdrücklich an die Gönner Leipzigs wenden, können in Stubers Interpretation den Titel der Komposition „Angenehme Melodei“ nicht einlösen. Bernd Hoppe

Resteverwertung

 

Die 1976 im lettischen Riga geborene Elina Garanča ist in den besten Jahren und in einem für Sänger noch so jungen Alter, dass man fragen darf, wohin es geht, welche Rollen geplant sind und welche Aufnahmen veröffentlicht werden. 2017 singt sie hochdramatische Rollen, u.a. Carmen, La Favorite/ Lénor, Eboli, Santuzza und Dalila an den großen Opernhäusern der Welt. Garanča gehört zweifellos zu den vielseitigsten, beliebtesten und gefragtesten Mezzosopranistinnen unserer Zeit, seit einigen Jahren ist sie bei der Deutsche Grammophon unter Vertrag.

Umso überraschender scheint es, dass bei Erato nun eine CD mit ihr erschienen ist. Es handelt sich dabei aber um bereits bekannte Aufnahmen aus den Jahren 2004 und 2005, die wieder veröffentlicht wurden. Schlicht Mozart Vivaldi heißt die eigenwillige Zusammenstellung, die Arien aus zwei CDs kombiniert, die beide noch erhältlich sind und beide von der Kritik beim Erscheinen hoch gelobt wurden. Aus der Mozart-CD „Opera & Concert Arias“ (2005), die mit der Camerata Salzburg unter Louis Langrée eingespielt wurde, sind sechs der damals zehn veröffentlichten Arien vertreten. Garančas Stimme klingt hörbar jung und frisch, ihr Timbre war damals schon kühl und herb, ihr Ansatz für Mozart ist extrovertiert – ein kaltes Feuer unter Hochspannung. Aus Cosi fan tutte singt Garanča jeweils eine Arie von Fiordiligi und Dorabella. Man kann diskutieren, ob ihr Dorabellas „Ah, scostati!… Smanie implacabili“ oder Fiordiligi „Temerari! … Come scoglio“ besser liegt, die Spannweite zwischen unnahbar und sinnlich kann man in beiden Figuren erkennen. Sehr schön klingen auch die Arie der Vitellia „Deh, se piacer mi vuoi“ aus La clemenza di Tito, zwei Arien des Ramiro aus Aus La finta giardiniera: „Se l’augellin sen fugge“ und „Va‘ pure ad altri in braccio“ sowie die Konzertarie „Ch’io mi scordi di te… Non temer, amato bene“, bei der  Pianist Frank Braley unterstützt.

Zwischen jeweils drei Mozart-Arien zu Beginn und am Ende hat man Auszüge aus Vivaldis Bajazet gepackt und zwar alle vier Arien des Andronicus mit Rezitativen sowie das Opernfinale. Vivaldis Oper entstand 1735 für den Karneval in Verona und ist eines der originellsten und komplettesten Pasticcio-Werke. Mit prominenter Besetzung wurde es 2004 aufgenommen und erregte viel Aufmerksamkeit, Dirigent Fabio Biondi hatte sich gründlich mit der Partitur auseinander gesetzt, Europa Galante spielte rasant, in Kombination mit den Sängern wirkt die Einspielung noch heute wie ein auf Effekt setzendes Feuerwerk. An der Seite von Elina Garanča singen Größen wie Vivica Genaux, Patricia Ciofi, Marijana Mijanovic, David Daniels sowie Ildebrando d’Arcangelo in der Titelrolle. Für alle Freunde der Barockoper ist diese Vivaldi-Oper noch immer ein Maßstab und auch erneut als Gesamtoperneinspielung auf Scheibe gepresst erhältlich. Wie bereits im letzten Jahrzehnt enthält die Box weiterhin eine Bonus-DVD mit Aufzeichnungen der Aufnahme – jeder Sänger wird beim Singen einer Arie gezeigt. Wer Elina Garanča mag, sollte sich sowohl die Mozart-CD als auch Vivaldis Bajazet in Gänze besorgen, die Sinnhaftigkeit von Mozart Vivaldi erschließt sich kaum. (Erato 0190295905996 / Vivaldi – Bajazet, 2 CD + 1 DVD, Erato 5099945645921) Marcus Budwitius

Die Macht und die Kunst

 

Zwei Ansätze gibt es, sich dem neuen Band über Spontini und die napoleonische Oper zu nähern, beide sind ebenso politisch wie äthetisch belegt. Oper als Propaganda-Instrument Napoleons ist uns als Erscheinung in unserer Zeit eine interessante Paralelle zum faschistischen Kunstverständnis, wenngleich das napoleonische Zeitalter noch nicht über die totalitären Mittel der späteren Epoche verfügte oder sie anwenden wollte.

Wilhelm Titel (1784-1862). Double portrait of the composer Gaspare Spontini (1774-1851) and his wife Celeste (1790-1878). The landscape through the window is of Maiolati, Spontini’s birthplace near Ancona in Italy (now called Maiolati-Spontini). Signed, ‘G. Titel Sueco Pomerania Pinxit 1813’. (The ‘G’ is for the Italian version of Wilhelm; ‘Sueco Pomerania’ is Swedish Pomerania, Titel’s birthplace)/ Wikipedia/Pommersches Landesmuseum

Wilhelm Titel (1784-1862). Double portrait of the composer Gaspare Spontini (1774-1851) and his wife Celeste (1790-1878). The landscape through the window is of Maiolati, Spontini’s birthplace near Ancona in Italy (now called Maiolati-Spontini).
Signed, ‘G. Titel Sueco Pomerania Pinxit 1813’. (The ‘G’ is for the Italian version of Wilhelm; ‘Sueco Pomerania’ is Swedish Pomerania, Titel’s birthplace)/ Wikipedia/Pommersches Landesmuseum

Und natürlich war Oper wie Theater stets ein geeignetes Vehikel zur Vermittlung politischer Inhalte (vergl. Friedrich der Große/Montezuma oder Gustav Adolf/ Eneas i Carthago). Zum anderen gibt es in diesem Buch eine opern-ästhetische Diskussion über Form und Musik in der Folge der barocken Oper hin zur Grand Opéra, die ganz unmissverständlich auf Spontinis Beitrag und der von ihm vorangetriebenen Entwicklung der Oper fußt. Berlioz, Meyerbeer, Wagner wären ohne ihn nicht möglich gewesen.  Und die Geschichte es Dirigierens hat nachhaltig von ihm profitiert.

Gaspare Spontini zählt zu den am meisten verleumdeten Gestalten der  Musikgeschichte, vielleicht noch mehr als Salieri. Seine Herrschsucht, seine Neigung zum Pomp, seine vielen übertrieben scheinende Akribie, seine Vorstellungen von einem „modernen“ Orchester und dessen Disziplin ebenso wie dessen Effekte, seine angebliche Feindschaft Weber und deutschen Komponisten gegenüber und vieles mehr aus seiner  Berliner Zeit sind als Legenden in die Literatur eingegangen und nur selten widerlegt worden. Was also ist „dran“ an Spontini, dem „Hofkomponisten“ Napoleons?

spontini und die oper im napoleonischen zeitalterDer vorliegende Band in der Reihe Musik und Theater, No. 11 im Weimarer Studiopunkt-Verlag (Hrsg. Detlev Altenburg) vereinigt die Beiträge der internationalen musikwissen­schaftlichen Konferenz „Gaspare Spontini und die Oper im Zeitalter Napoleons“, die in Kooperation mit dem Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena anlässlich der Wiederaufführung der Oper Fernand Cortez am Theater Erfurt vom 26. bis 28. Mai 2006 im Rahmen des „Deutsch-Französischen Jahres“ in Thüringen zum 200. Jahrestag der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt stattfand. Der nachfolgende Auszug aus dem Vorwort der Herausgeber Detlef Altenburg, Arne Jacobshagen, Arne Langer, Jürgen Maehder und Saskia Woyke beschreibt die Spannbreite des avsierten Projektes:

Gaspare Spontini (1774-1851) war der führende Repräsentant der französischen Oper in der Epoche Napoleons. Wie kaum ein zweiter Komponist seiner Zeit verkörperte er im frühen 19. Jahrhundert die europäische Dimension des Musik­theaters: In Italien geboren und mit der italienischen Theater- und Musikkultur aufgewachsen, diente er sowohl französischen als auch preußischen Monarchen und vermochte eine ganze Epoche künstlerisch zu beeinflussen. Nach ersten Erfol­gen auf dem Gebiet der italienischen Oper wirkte er von 1803 bis 1820 in Paris, wo er mit französischen Werken zunächst im Genre der Opera-comique reüssier­te (1804 Milton, 1805 Julie). 1807 gelang ihm mit der Tragedie lyrique La Vestale ein sensationeller Erfolg an der Pariser Opéra (Academie Imperiale de Musique). In der Verbindung von statuarisch-klanglicher Monumentalität und einem mo­dernen Verständnis von psychologischer Dramatik im Medium der Musik reprä­sentiert La Vestale exemplarisch die Opernkultur der Napoleonischen Epoche. Der Kaiser selbst gab daraufhin den Anstoß für die Komposition der zweiten Tragedie lyrique Spontinis, Fernand Cortez ou La Conquete du Mexique (1809), de­ren Sujet, die spanische Eroberung des Aztekenreiches im 16. Jahrhundert, als Reflex der damals aktuellen Spanienfeldzüge Napoleons verstanden werden musste. Als zweites Hauptwerk der Oper des Empire markiert Fernand Cortez den Über­gang von klassizistischen zu neuzeitlich-historischen Sujets exotischer Couleur und zugleich zu einer romantischen Bühnenästhetik. Das zugrunde liegende Hand­lungsmodell einer in einem historischen Konflikt eingebetteten tragischen Liebes­geschichte zwischen europäischem Eroberer und eingeborener Frau wurde in den folgenden Jahrzehnten für die Dramaturgie der französischen Grand Opera ebenso prägend wie die von Spontini ins Werk gesetzten musikalischen Innova­tionen.

 

Tela raffigurante il momento più drammatico dell’opera "La Vestale"/Museo Sponbtini/Maiolati Spontini

Tela raffigurante il momento più drammatico dell’opera „La Vestale“/Museo Spontini/Maiolati Spontini

Die Beiträge sind vielfältig und mehrsprachig. Anno Mungen schreibt zu Beethoven und Spontini und stellt die offensichtlichen Parallelen her. Rüdiger Hillmer lässt uns einen Blick auf das komplexe Aufgabengebiet der napoleonischen Theaterpolitik werfen, auf die Entwicklung der Pariser Theater, auf die staatlichen und zunehmend auch privaten Unternehmungen vor und nach der Gesetzgebung von 1806/1807 und die politische wie gesellschaftliche Funktion der Theater in dieser postrevolutionären Zeit. Olivier Bara lässt sich über Funktion und Bedeutung des Librettos aus (in Französisch – ich erinnere mich an heftige Schlafanwandlungen bei den französischen Beiträge im Meyerbeer-Syposium in Berlin an der Deutschen Oper – aber Französisch muss man eben für Spontini und Meyerbeer können, da hilft nichts).

Tela raffigurante l’opera "Fernando Cortez" andata in scena al Teatro dell’Accademia Imperiale di Musica il 28 Novembre 1809/Museo Spontini/Maiolati Spontini

Tela raffigurante l’opera „Fernando Cortez“ andata in scena al Teatro dell’Accademia Imperiale di Musica il 28 Novembre 1809/Museo Spontini/Maiolati Spontini

Ein spannender Beitrag ist der von Matthias Brzoska über die Finaldramaturgie bei Spontini, also das lieto fine und das dramatische Finale, der überraschende deus ex machina und die „véritée historique“, auch im Gegensatz zu Meyerbeer, wo´s meistens tödlich endet, während bei Spontini ja doch das zwar überraschende, aber glückliche Ende angesagt ist. Julia wird befreit, die exotische Amazili kriegt ihren Helden – dies alles auch im Gegensatz zum Sprechdrama, das immer noch im Fahrwasser der alten tragédie steht. Arne Langer widmet sich dem „Künstlerdrama“ Milton, das nur scheinbar im Gegensatz zur heroischen Tragödie steht und das ein anderes Ideal des locus amoenus, das  der Kunst und der Zürückgezogen heit, propagiert, wie Napoleon und Josèphine es mit ihrem Landsitz Malmaison vorgaben. Spannend ist auch der Beitrag von Claudio Toscani: „La Vestale – una cornice classice per un conflitto borghese“, also: ein klassischer Rahmen für einen bürgerlichen Konflikt, begleitet von informativen Abbildungen der schleierumflorten Vestale von Corradini bis Canova, ein Topos der bildenden Kunst der Zeit.

Tela raffigurante l’opera "Milton" andata in scena all’Opéra-Comique il 27 novembre 1804

Tela raffigurante l’opera „Milton“ andata in scena all’Opéra-Comique il 27 novembre 1804/Museo Spontini/Maiolati Spontini

Wie propagandistisch ebenso wie stilbildend Spontinis Vestale im französischen Königreich Neapel (1806 – 1815) wirkte belegt Arnold Jacobshagen. Paisiello (Proserpine), Sacchini (Oedipe a Colonne) und vor allem Spontini mit seiner Vestale und später dem Cortez sind hier die Grundfesten des von Murat, später dem Bonaparte-Schwager Joseph und dessen Frau Caroline geförderten französischen Programms an San Carlo. Wie sehr sich die Vestale als feste Größe durchsetzte zeigt die Tatsache, dass sogar Rossini sie in Neapel unter Barbaja dirigierte. Einschneidend und wichtig ist vor allem auch die Entscheidung Josephs, keine Kastratenstimmen für die soprani und Frauen für die musici zuzulassen. Mit Andrea Nozzari als Tenor-Licinius/Licinio  auf der Bühne gab es eine ganz entscheidende Wendung im Opernleben Italiens. Man spielte die Übersetzung von Giovanni Schmidt, wie überhaupt namentlich Spontinis Opern in Italienisch gegeben wurden (in dieser Form waren sie lange in Italien verbreitet und länger als in Frankreich zu hören, bis heute). So stand nun ab 1810 erstmals der jugendliche Held als strahlender Tenor im Mittelpunkt und nicht mehr der Kastrat (wie vorher Vellutti im Oedipe).

Tela raffigurante l’opera "Olimpia" andata in scena al Teatro dell’Accademia Reale di Musica il 22 Dicembre 1819/Museo Spontini/Maiolati Spontini

Tela raffigurante l’opera „Olimpia“ andata in scena al Teatro dell’Accademia Reale di Musica il 22 Dicembre 1819/Museo Spontini/Maiolati Spontini

Dass die Verbreitung der Vestale im italienischen Settecento viel häufiger war als bislang angenommen, beweist Saskia Maria Woiyke in ihrem akribisch auflistenden Aufsatz. Parallel dazu schreibt Herbert Schneider über Spontinis Vestale in ihren deutschen Editionen, woran sich gut nach Axel Schröters Ausführungen zur Vestale und dem Fernand Cortez  im Goetheschen Weimar der gegen Ende des Bandes erscheinende Artikel von Anne Henrike Wasmuth anschließt, die im Rahmen ihrer Dissertation über die stürmische Rezeptionsgeschichte der Spontini-Opern in Berlin (E. T. A. Hoffmann, Rellstab, Weber, Graf Brühl etc.) viele Fehlurteile und Überlieferungen beleuchtet und korrigiert, auf den akribischen Dirigenten Spontini hinweist, über Werktreue und Zustand des preußischen Musikwesens der Zeit referiert,. Sehr eindrucksvoll.

Parigi 15 Dicembre 1807. Prima recita de "La Vestale", bozzetto del costume di Giulia interpretato dal soprano Branchu/Museo Spontini/Maiolati Spontini

Parigi 15 Dicembre 1807. Prima recita de „La Vestale“, bozzetto del costume di Giulia interpretato dal soprano Branchu/Museo Spontini/Maiolati Spontini

Dazu passen auch die Ausführungen von Thomas Betzwieser über die Bedeutung des Metronoms in Spontinis Musik: Die Verwendung des Metronoms hat unzweifelhaft zu einer weitergehenden Differen­zierung von Spontinis Partituren geführt, welche sich auch auf andere Parameter des musikalischen Satzes erstreckte. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Spontini deutlich von seinen französischen Komponistenkollegen, deren Werke eine kaum vergleichbare Qualität hinsichtlich des musikalischen Notats aufweisen. Gleichwohl stellt sich vor dem Hintergrund immer ausgefeilter und dichter werdender Anweisungen zu Tempo, Dynamik und Deklamation die Frage nach der Realisierbarkeit dieser Vorschriften.

Joachim Herz steuert einen Aufsatz zu Spontinierlebt von Richard Wagner – bei. Emilio Sala behandelt eine Parallel-Oper von Persuis, Nina ou la folle par armour von 1813 (die Paisiellos Nina assoziiert) und fügt umfangreiches Notenmaterial zur Dramaturgie des „Ri-uso musicale“ bei. Aber es sind – last but in keinem Falle least – die beiden Aufsätze von Sieghard Döhring und Jürgen Maehder, die in profunder Weise die Thematik des Symposiums erfüllen.

Parigi 15 Dicembre 1807. Prima recita de "La Vestale", bozzetto del costume di Licinio interpretato dal tenore Lainez

Parigi 15 Dicembre 1807. Prima recita de „La Vestale“, bozzetto del costume di Licinio interpretato dal tenore Lainez/Museo Spontini/Maiolati Spontini

Döhring, Grand-Seigneur der Meyerbeer- und Belcanto-Forschung an der Uni Bayreuth, schreibt über „Spontinis Cortez im Vergleich zu Cherubis Abencérages als musiktheatralischer Spiegel von Napoleons Spanienpolitik“, schreibt über die Wichtigkeit und den Wandel der Bedeutung des Balletts in diesen Opern, über Montage-Strukturen, über die exotische Heldin (wie sie später auch bei Berlioz und Meyerbeer auftritt) und über den Wandel des Ästhetischen zum Politischen  und das Aufkommen der romantischen Stimmung. Das Zusammenspiel von gezielter Propaganda angesichts der Eroberungszüge Napoleons mit der sich verändernden Naturauffassung findet hier eine dertailreiche Ausbreitung. Jürgen Maehder, der bedeutende Musikwissenschaftler gerade in diesem Feld, schreibt über die „Eroberung Mexikos im Übergang von der opera seria des Settecentos zur Oper des Empire“. Er streift Grauns Montezuma auf dem Wege zum Fernand Cortez (der Topos des Edlen Wilden, die exotische Heldin, Rousseau und die Folgen etc.), beleuchtet den Zusammenprall der Kulturen und die Kenntnisse Europas von der amerikanischen Welt und deren Rezeption (Marmontel, Voltaire, Vivaldi etc.). Auch dies ein außerordentlich gebildeter Beitrag zu einem spannenden, bis heute gültigen Thema.

 

Alexandrine Caroline Branchu, nata Chevalier, fu nel 1807, all'età di 27 anni la prima protagonista de "La Vestale"/Musero Spontini, Maiolati Spontini

Alexandrine Caroline Branchu, nata Chevalier, fu nel 1807, all’età di 27 anni la prima protagonista de „La Vestale“/Musero Spontini, Maiolati Spontini

Angesichts der bekannten Schwierigkeiten, Beiträge zu einem Symposium dieser Art überhaupt zu publizieren, wiegt die kleine Mäkelei, keinen Index/Glossar zu finden, geringer, wenngleich die Wiederauffindung bestimmter, wiederkehrender Begriffe dadurch erleichtert würde. So ist man als interessierter Leser dankbar für diesen Sammelband der Vielfalt (sehr viele weiterleitende Fußnoten!) und hofft auf Gleiches von der Deutschen Oper in Sachen Meyerbeer-Syposium, was als Begleitung zum Vasco da Gama im Herbst ebendort versprochen wurde! Diese Sammelbände sind wie gute Ausstellungskataloge: kompakter bekommt man´s wirklich nicht. G. H.

 

Altenburg/ Jacobshagen/ Langer/ Maeder/ Woyke (Hrsg): Spontini und die Oper im Zeitalter Napoleons, Musik und Theater 11, 288. S.; Studiopunkt-Verlag, ISBN 978-3-89564-150-3.

Streng

 

Noch gar nicht so lange ist es her, da ist der Decca mit Händels unbekannter Oper Arminio einen Überraschungserfolg gelungen. Jetzt, ein Jahr später, legt sie nach mit einer weiteren Händel-Entdeckung, Ottone. Wieder mit dabei: Countertenor Max Emanuel Cencic und Dirigent George Petrou. Die Decca setzt auf den Fortsetzungsgedanken, nicht nur die Titelhelden sind gleich besetzt, auch thematisch knüpft man an den Arminio an; er geht auch hier wieder um einen deutschen Helden, diesmal um Otto den Zweiten, einen frühen deutschen Kaiser.

Faktisch ist Ottone ein Meisterwerk, trotzdem gehört er zu den langweiligsten Opern, die ich je gehört habe. Glucks Iphigenien nehmen sich dagegen aus wie James-Bond-Thriller.  Würde man einen Querschnitt extrahieren aus den besten Nummern, wäre das Ganze  eine spitzenmäßige Händel-Platte: Es gibt in dieser Dreistundenoper eine Handvoll äußerst genialer Arien und Duette. Aber in diesem Fall sind diese Highlights mit den restlichen Stücken sehr ungeschickt kombiniert worden. Das Werk hat insgesamt einen starken Hang zur depressiven Stimmung, es gibt nur wenige lebhafte Nummern. Oft, wie zu Beginn des dritten Aktes, folgen drei große Arien gleichen Charakters (largissimo!) aufeinander. Das widerspricht eigentlich den Gesetzen der klassischen Nummernoper überhaupt. Kein Wunder, dass die Cuzzoni, Händels erste Teofane, das so nicht singen wollte, und Händel sie deshalb beinahe aus dem Fenster geworfen hätte. Früher in der Schule, als ich diese Anekdote zum ersten Mal hörte, fand ich die Cuzzoni sehr zickig und Händel mit seiner Einschüchterungstaktik ziemlich cool. Inzwischen neige ich zu der Ansicht, dass die Cuzzoni eine sehr kluge Frau war. 

Weil der barocke Schwung fehlt, der für viele Händel-Opern typisch ist, hält sich die Popularität des Werks in bescheidenen Grenzen. Bezeichnenderweise ist diese Gesamtaufnahme erst die dritte des Werkes überhaupt. Wenn auch manchmal angesichts so viel edler Langweile die Gähnmuskeln im Kinn rebellieren,  an der Einspielung hat´s nicht gelegen. Ich bin zwar immer noch der Meinung, das eine gute Mezzosopranistin oder Sopranistin, je nach Stimmlage, Besseres leistet als ein sehr guter Spitzencounter, aber wenn man schon unnötigerweise die Barockopern mit Falsettisten in Kastratenpartien besetzt (Händel wäre entsetzt gewesen und hätte jede Mezzosopranistin vorgezogen), dann sollten es wenigstens Männer wie Cencic sein. Er macht einen sehr guten Job,  und das, obwohl ihm eigentlich die ruhigen, langsam temperierten Stücke nicht ganz so liegen wie die feurigen Koloraturkaskaden. Nicht alle Arien finde ich gleichermaßen überzeugend gesungen, aber Respekt vor seiner Leistung; das ist alles sehr genießbar , nichts gegreint und gebellt – was man vom zweiten Counter Xavier Sabata nicht immer sagen kann.

 Aber mehr Damen bitte! In einer schwachen Stunde werde ich mich wohl irgendwann den Decca-Verantwortlichen vor die Füße werfen und sie anflehen, pro Oper immer nur einen Counter zu besetzten. Das lässt sich gut aushalten, mehr wird anstrengend und am Ende auch stilistisch allzu schräg. Zumal alle Damen hier exquisit besetzt sind. Der Mezzo Ann Hallenberg (Gismonda): wie immer voluminös und fast rossinisch souvrän. Anna Starushkevych als Matilda: ebenfalls ein sehr gut besetzter und beachtenswert junger ukrainischer Mezzosopran.

Die große Entdeckung für mich war aber Laureen Snouffer in der Rolle er Teofane, der eigentlichen Heldin des Stücks; eine junge amerikanische Sopranistin, die zum Ensemble in Karlsruhe gehört, und von der man wohl noch einiges hören wird. Eine, allürenlose, klare Sopranstimme mit prächtiger silberner Mittellage.  Matthias Käther

Georg Friedrich Händel: Ottone, Re di Germania mit Max Emanuel Cencic, Lauren Snouffer, Ann Hallenberg, Xavier Sabata; Il Pomo d’oro; Leitung: George Petrou; 3 CD Decca 4831814

Gipfelstürmerin

 

Mit ihrem Konzert in der Hallenser Ulrichskirche hatte Ann Hallenberg für einen Höhepunkt der diesjährigen Händelfestspiele gesorgt. Carnevale 1729 nannte sich das Programm der schwedischen Mezzosopranistin, denn es stellte ausschließlich Werke vor, die in der Karnevalssaison 1729 in Venedig erklungen waren. Wie schön, dass man es nun dank einer Initiative der Firma Pentatone auf 2 CDs nachhören kann (PIC 5186 678).

Gegenüber dem Konzert ist die Reihenfolge der Arien in der Einspielung verändert und deren Anzahl noch erweitert. Die Auswahl auf CD 1 beginnt mit einer Arie des Cosrovio, „Mi par sentir la bella“, aus Giacomellis Gianguir, die in Venedig Senesino gesungen hatte. Mit diesem zärtlich kosenden Siciliano (konzertierend die Oboe) kann auch Ann Hallenberg betören. Die Stimme klingt hier besonders schmeichelnd, weich und warm. Später gibt es aus dieser Oper noch eine an Modulationen reiche Arie der Semira, „Vanne, si“, mit der bei der venezianischen Premiere die große Faustina Bordoni brilliert hatte. Dazwischen finden sich vier Beispiele aus Orlandinis Adelaide, die am 8. Februar 1729, wieder mit der Bordoni in der Titelrolle, aus der Taufe gehoben wurde. Deren Arie aus dem 3. Akt, „Non sempre invendicata“ ist in ihrem energisch-kämpferischen Duktus und der furiosen Koloraturattacke ein starker Kontrast zu der aus dem 2. Akt, „O del mio caro sposo“, die eine schier endlose schmerzlich schwebende Klage in getragenem Tempo darstellt. „Scherza in mar“ ist dann wieder eine effektvolle Primadonnen-Nummer, während das letzte Beispiel, „Vedrò più liete e belle“, ein  Solo des Ottone vorstellt, mit dem Senesino triumphiert hatte. In diesem Stück mit Solovioline in französischem Stil sind vor allem delikate Empfindung und sublime Pianokultur gefragt – Hallenberg vermag alle diese Anforderungen und Stimmungen imponierend zu erfüllen.

CD 2 beginnt mit zwei Auszügen aus Albinonis Filandro, der am 24. Januar 1729 herauskam – als Wiederaufnahme eines früheren Erfolgsstückes von 1727 (L’incostanza schernita), wegen der zahlreichen Veränderungen aber wie eine Premiere gehandelt wurde. Die Primadonna Teresa Peruzzi sang die weibliche Hauptrolle der Corina, deren Arien „Il tuo core“ aus dem 1. und „Fior, che a spuntar“ aus dem 3. Akt hier zu hören sind. Ist die erste von zärtlich-kokettem Charakter, gibt sich die zweite energisch auftrumpfend mit virtuosen Koloraturgirlanden. Aus Porporas Semiramide riconosciuta (12. Februar 1729) erklingen die Arie der Titelheldin aus dem 2. Akt („Il pastor“) sowie zwei Soli des Mirteo, mit dem der Kastratenstar Farinelli in Venedig triumphiert hatte. „Bel piacer“ stammt aus dem 1., „In braccia a mille furie“ aus dem 3. Akt. Letzteres ist ein von vielen Sängern dieses Repertoires gern gegebenes cavallo di battaglia wegen seiner immensen Anforderungen an stimmliche Bravour und die einzige Arie dieser Zusammenstellung von insgesamt 14 Nummern, welche keine Weltersteinspielung darstellt. Hallenberg singt die Arie der Semiramide in ihrem wiegenden siciliano-Rhythmus mit schmeichelnder Tongebung, die erste des Mirteo gleichfalls in betörender Sanftheit. Einem Vulkanausbruch gleicht dagegen„In braccia a mille furie“ mit dem furiosen Ausdruck und den halsbrecherischen Koloraturrouladen. Hallenberg klopft damit an die Pforte des Mirakulösen.

Leos Catone in  Unica hatte im Teatro San Grisostomo die Karnevalssaison eröffnet – in einer Gipfelbesetzung mit drei Kastraten. Hallenberg interpretiert eine Arie des Cesare („Soffre talor“) und eine der Emilia („Ombra cara“). Erstere ist eine jener beliebten Sturmarien, hier jedoch in einem ungewöhnlich getragenen Tempo, freilich gespickt mit höchsten Schwierigkeiten. Die zweite ist ein klagender Gesang der Witwe des von Caesar besiegten Pompeus von bewegender Größe.

Mit Vincis Pasticcio L’abbandono di Armida, in welchem auch Musik von Porpora und Albinoni zu hören war, endet das Programm. Die Arie „Nave altera“ stammt aus seinem Sigismondo und wurde vom Komponisten von der Tenor- in die Sopranlage verändert. Mit dieser lebhaft bewegten und an Zierwerk reichen Nummer sorgt Ann Hallenberg für einen imponierenden Ausklang ihrer wunderbaren Platte.

Wie in Halle ist auch hier Il pomo d’oro das begleitende Ensemble und ein Glücksfall für die Produktion. Denn unter dem Leiter Stefano Montanari werden die Schönheiten der Musik – ihre Affekte und lyrischen Gefühlsäußerungen – mit inspirierendem Einsatz und höchster Kultur zum Leben erweckt. Ich stehe nicht an zu sagen, dass diese Veröffentlichung die Sängerin auf dem Höhepunkt ihrer Kunst zeigt und unbedingt einen  Schallplattenpreis verdient – ob in der Kategorie Vokales oder Alte Musik. Am besten gleich in beiden. Bernd Hoppe

Louis Niedermeyers „Marie Stuart“

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Louis Niedermeyer? Der Name klingt wie der eines Marzipanfabrikanten oder eines Handtaschenherstellers. Aber nein – gerade ist bei Alpha ein Recital von Véronique Gens erschienen, auf dem sie eine Arie aus einer Oper  von Niedermeyer singt, zumal aus seiner erfolgreichsten, Stradella. Und Rossini-Fans werden sicher den Mitschnitt des Robert Bruce (nach Rossini) aus Martina Franca 2002 im Regal haben. Also: Louis Niedermeyer ist ein heute kaum mehr bekannter, aber zu seiner Zeit sehr renommierter Bonvivant des französischen Musiklebens gewesen, sicher kein so genialer wie manche seiner berühmteren Zeitgenossen, aber doch ein ebenso fleißiger wie erfinderischer.

Louis Niedermeyer/ OBA

Das Festival von Martina Franca, das ja stets an Raritäten interessiert ist, stellte im Sommer 2002 eben diesen Robert Bruce vor, ein Pasticcio nach Rossini (mit dessen Wohlwollen), das von Louis Niedermeyer realisiert wurde, einem Komponisten und Pädagogen, dessen 200. Geburtstag in dasselbe Jahr fiel. Dieser, vor allem als Reformer der religiösen Musik und besonders durch seine nach ihm benannte Schule bekannt, komponierte auch Opern, Lieder und Stücke für Klavier – Facetten, die das Festival 2002 damals ebenfalls würdigte.

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Und wer war nun Louis Niedermeyer? Am 27. April 1802 tatsächlich im schweizerischen  Nyon geboren, lebte er mehr als sechsunddreißig Jahre in Paris. Als Freund von Rossini und vom Theater besessen, war er dort allerdings eher glücklos. Obwohl protestantisch getauft, tat er sich durch die Wiederbelebung der katholischen Kirchenmusik hervor. Seine strenge Lehre erinnert zwar an Fauré, besitzt aber auch schon die Verve späterer Operettenkomponisten – etwa Messager oder Audran. Seine Leidenschaft für die Musik der Renaissance und den Kirchengesang hielt nicht an einer erstarrten Vergangenheit fest, sondern wirkte nachhaltig auf Spätere wie Ravel , Debussy, Dukas, Schmitt, Fauré oder Messiaen.

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Herkunft und Weg: Die Niedermeyers stammten aus Bayern. Der Großvater war Baron Niedermeyer von Altenbourg und Singenbach. Einer geplanten geistlichen Karriere widersetzte sich der ältere der beiden Söhne, indem er nach Genf floh, wo er vom Cembalo-Unterricht lebte und mit 32 eine Protestantin heiratete. Er trat dann die Nachfolge seines Schwiegervaters an der Spitze der Porzellanmanufaktur von Nyon an. Sein ältester Sohn wiederum war Louis, der später eine Protestantin heiratete, während dessen Enkelkinder wieder zur katholischen Kirche zurückkehrten. Religion war also wichtig in dieser Familie.

Illustration zu Niedermeyers Oper „Stradella“/ OBA

Mit 17 Jahren vollendete der frühbegabte Louis seine musikalische Ausbildung in Wien, bei Moscheles für Klavier und bei Förster für Harmonielehre und Komposition. Danach begab er sich 1820 nach Rom zum Studium bei Fioranvanti, dann nach Neapel bei Zingarelli. In diese Zeit fällt seine Freundschaft mit Rossini. Mit dessen Ratschlägen komponierte er seine erste Oper II reo per amore, am Teatro del Funde in Neapel uraufgeführt und heute verschollen. Aber das Zentrum des Opernlebens war damals unzweifelhaft Paris. Als Niedermeyer dort 1825 eintraf, befand sich Rossini in den Vorbereitungen für seinen Viaggio a Reims am Theätre Italièn anlässlich der Krönung von Charles X. Auch gab man an der Opéra Liszts Don Sanche, während in der Opéra-Comique La Dame blanche von Boieldieu ihre triumphale und unendlich scheinende Herrschaft antrat. Niedermeyer, der von liebenswerter und diskreter Wesensart war, suchte anfangs nicht den Beifall eines Zirkustreibens (i. e. die Oper), sondern wählte ein Genre,  das in den königlichen salons beliebt war, die Romanze. Mit Beziehungen erreichte er beim Verleger Pacini (nicht verwandt mit dem Komponisten, aber ebenfalls bekannt als Bearbeiter der Partituren anderer) die Publizierung seiner originellen und dramatischen Partitur auf das Gedicht Le Lac von Lamartine, mit sofortigem Erfolg in Paris und in ganz Europa. Eine umfangreiche Zahl von mélodies folgte, von denen etwa dreißig durch die Verleger Pacini und Choudens herausgegeben und durch Chöre und Szenen vervollständigt wurden . Zu den vertonten Autoren gehörten Hugo, Millevoye, Deschamps, Delavigne, Pacini Sohn, Racine und  andere.

Saint-Saens, der sich rühmte, bei Niedermeyer Schüler und dann Professor gewesen zu sein, urteilte, dass dieser es verstanden habe, den traditionellen Rahmen  des  Klavierliedes  zu  sprengen und „ein neues Genre von hoher Kunst, ähnlich dem deutschen Lied“ geschaffen und so den Weg für Gounod und seine Nachfolger gebahnt zu haben, was zu beurteilen heute schwierig ist, da man so gut wie nichts aus diesem Bereich des Schaffens Niedermeyers (und wenig von anderen) kennt, aber sein rein mengenmäßiger Ausstoß an Kompositionen ist erstaunlich .

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Zu Niedermeyer: Teresa Stoltz als Marie in „Robert Bruce“/ BNO/ Programmheft Martina-Franca

Opern: Es ist ebenso schwierig, etwas über die theatralischen Verdienste des Wahl-Parisers zu sagen. Wo hört man heute schon auf der Bühne Stradella, Marie Stuart oder La Fronde? Dennoch war seine Opern-Karriere auch darin relativ erfolgreich und begann am 15. Juli 1828 im Théâtre Italien mit der Uraufführung von La casa nel bosco. Die Kritik lobte den Einfluss Mozarts und die Eleganz der Instrumentation. Niedermeyer legte aus familiären Gründen eine Pause in der Schweiz ein, heiratete und präsentierte 1833 zurück in Paris seine Oper Stradella auf das Libretto von Emilien Pacini  (Arrangeur von Ivanhoé nach Rossini – zwei Aufführungen des Ivanhoé aus Montpellier und Martina Franca kursieren unter Sammlern) und Emile Deschamps auf die durch von Flotow bekannte Geschichte. Man geizte nicht an Kostümen und den sieben von vier verschiedenen Malern entworfenen Bühnenbildern und kündigte einen musikalischen Stil an, „der der italienischen Schule, die Rossini vorangegangen war, angehörte“. Adolphe Nourrit sang glanzvoll den Stradella. Cornelie Falcon, bereits triumphal erfolgreich neben ihm in La Juive und Les Huguenots, sang die Léonor.

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Zu Niedermeyer: „Robert Bruce“ ist bei Dynamic erschienen

Der MusikerKollege und Schriftsteller Castil-Blaze meinte, dass die Partitur „sehr schöne Teile enthalte, die ein besseres Schicksal verdient hätten.“ Andere vermissten mehr Nähe zum Originalkomponisten Stradella.  Der Tenor Duprez,  der danach die Rolle übernahm, sagte, dass „das Werk schön, melodisch und dramatisch ist. Es hat die wichtigsten Elemente jeder Musik, Melodie, Harmonie und Rhythmus, die die Neuen heute durch eine sinnlose und lärmende orchestrale Wissenschaft ersetzen“. Ab 1840 auf drei Akte reduziert und zusammen mit Balletten gegeben, blieb Stradella bis 1845 auf dem Spielplan. Das finanzielle Ergebnis war nicht unbeachtlich – die durchschnittlichen Einnahmen waren beispielsweise 6900 Francs – also höher als die der ersten zwölf Vorstellungen von Guillaume Tell, die sich durchschnittlich auf 6800 Francs beliefen.

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Niedermeyer gründete 1840 die „Gesellschaft für vokale und religiöse Musik“, um Werke für Gesang, mit oder ohne Orgelbegleitung, hauptsächlich von italienischen, deutschen, belgischen und französischen Komponisten des 16. und 17. Jahrhunderts mit begabten Amateuren aufzuführen. Ende 1843 schlug der Direktor der Opera, Leon Pillet, Niedermeyer das Libretto für ein neues Werk vor: Marie Stuart, ein drâme lyrique „in fünf Morden und sechs Kostümen für Madame Stoltz“ (Castil-Blaze). Die erste Vorstellung wurde durch die Anwesenheit des Königs Louis-Philippe geehrt; und die Tränen der Königin Marie-Amelie bei der Romanze  „Les Adieux brachten dem Komponisten das Kreuz der Ehrenlegion ein. Theophile Gautier fand die Musik „voll von Kunst, Wissenschaft, Anmut und Melodie“, warf Niedermeyer  aber vor, zu wenig Schwungwie auch zu häufig die Molltonart eingesetzt  zu haben,  was  der  Musik gelgentlich eine  etwas glanzlose Farbe gebe. Der Erfolg hielt dennoch drei Jahre an, dann wurde die Oper auf den Spielplan des Königlichen Theaters Stuttgart (!!!) gesetzt.

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Zu Niedermeyer: Szene aus „La Fronde“/ BNO/ Programmheft Martina-Franca

Die Freundschaft mit Rossini hatte während des Aufenthaltes in Neapel begonnen und führte zu einem merkwürdigen Ergebnis. Nach Marie Stuart forderte die Musikakademie eine neues Werk von Rossini. Dieser stimmte dann zu, einige Werke zu adaptieren, und vertraute Niedermeyer die undankbare Aufgabe an, die Teile zusammenzufügen. Im Jahr 1845 ließ sich Niedermeyer also in Bologna bei Rossini nieder und machte sich an die Arbeit für Robert Bruce. Es wurden nicht weniger als fünf Opern – Zelmira, La donna del lago, Torvaldo e Dorliska, Bianca e Falliero und Armida – „geplündert“. „Wir haben nicht den Mut, Skandal zu rufen, da diese Nachahmung das französische Repertoire mit sehr schönen Melodien aus Opern, die man nicht mehr spielt, bereichert hat“, schrieb die Kritik. Die Premiere am 30. Dezember 1846 – dasselbe Jahr wie das von La Damnation de Faust von Berlioz – verlief stürmisch. La Stolz, von den Logisten bepöbelt, lief wütend über die Bühne und zerriss ihr Taschentuch mit den Zähnen. Skan­dal!!! Castil-Blaze beurteilte die Ausführung als lächerlich in jeder Hinsicht. Er erzählte, dass Rossini sich selbst über „diesen edlen Abklatsch“ lustig gemacht habe.

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Niedermeyer hatte kaum mehr Glück mit seinem letzten  Opern-Versuch auf ein Libretto von Auguste Marquet und Jules Lacroix La Fronde mit einem historischen Thema. Denn trotz der vielen Intrigen, die zum Misserfolg führten, findet man auch viele Stellen, die aus anderen Opern der Zeit abgeschrieben sind.

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Zu Niedermeyer: Szene aus „Marie Stuart“ auf einer Beilage der Firma Chcolat Guèrin-Boutron/ OBA

Nein, das Interesse am opernnahen Werk Niedermeyers orientiert sich eher an der Unzahl der Klavierfassungen von Arien und Szenen für Klavier und andere Instrumente. Im Alter von 59 Jahren wurde er durch eine Angina pectoris dahingerafft und hinterließ seine Familie in Armut. Der Zauber des Melodikers wie auch der des Theatermannes wurde durch die Umstände der Zeit überschattet. Er war jedoch der erste, der das Modalsystem in der modernen Musik einführte, dank seiner Arbeit über die Begleitung des (gregorianischen) Chorals. Seine theoretische und praktische Lehrtätigkeit, die durch die Abhandlung von Lefevre konkretisiert wurde, bildete den Fokus der Harmonik von Fauré, Méssager, Chabrier, Debussy und Ravel. Schließlich erlaubte die bemerkenswerte Popularisierung der Werke des 16. und 17. Jahrhunderts einer großen Anzahl von Menschen, sie ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu hören, zu verstehen, sie zu verbreiten und so der Musik einen weiten Forschungsbereich zu öffnen. Stefan Lauter

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(Der Artikel von Stefan Lauter orientiert sich an einem Aufsatz von Benedicte Palaux Simonnet in der französischen Zeitschrift Opera International/Juli 2002; Dank an Ingrid Englitsch für die Übersetzungshilfen und Wolfgang Denker für die Archivarbeit; Robert Bruce erschien bei Dynamic, weitere kleine Werke von Niedermeyer gibt es bei youtube, und eine Arie aus Stradella gesungen von Véronique Gens bei Alpha. Das Foto oben zeigt Maria Stuart in der Illustration für Schillers Drama von Ramberg 1859/ OBA)

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Seit dem Jahr 2000 bringt die Oper im Knopfloch Zürich Jahr für Jahr ein Stück vernachlässigten Musiktheaters auf die Bühne, von Barock bis Gegenwart, von Hasse über Hahn zu Heggie, von zwei Vertonungen von The Importance of Being Earnest (Paul Burkhard und Castelnuovo-Tedesco) über Prestami tua moglie von Leoncavallo zu Offenbachs Geneviève de Brabant, Sullivans Zoo und Waltons Bear nach Tschechov, um nur das Feld abzustecken – stets mit mehr Einfallsreichtum und Charme als Platz und Mitteln. 2018 hat diese Pêcheuse de perles unter den freien Opernkompanien der Deutschschweiz sich nichts Geringeres als eine Grand Opéra vorgenommen, die 1844 uraufgeführte Marie Stuart von Louis Niedermeyer (Première am 20.10. 2018). Dem Nichtspezialisten ist der 1802 in Nyon am Genfersee geborene Komponist mit bayerischen Wurzeln, der ab 1825 bis zu seinem Tode 1861 in Paris lebte und wirkte, am ehesten noch ein Begriff als Gründer und Direktor der École Niedermeyer daselbst, zu deren Zöglingen u.a. Saint-Saëns, Fauré und Messager zählen.

Diese Grand Opéra nun also im rund 80 Plätze zählenden Kellertheater Stok in Zürich, vom Publikum für die Atmosphäre, die Steinmauern, Pfeiler und Gewölbe geliebt, von der Regie für die maximal 24 m2 Spielfläche ohne Hinterbühne, dafür mit Publikum auf drei Seiten, gefürchtet. Ohne Chor, ohne Ballett, mit sechs Sängerinnen und Sängern und einem dirigentenlosen Holzbläserquartett – zweifellos ein kühnes Unterfangen, aber im vorliegenden Fall gewusst wie. Angefangen bei dem gelungenen Bläserarrangement von Jiří Slabihoudek, ein Klangkörper, der sich für den aufgrund der Mauern resonanzreichen Raum, wo schon ein Flügel überakustisch werden kann, ausgezeichnet eignet. Ob die Oboe Hornrufe imitiert oder die Flöte mit Flatterzunge Streichertremolos ersetzt – Isabell Weymann (Flöte), Elena Gonzalez (Oboe), Gurgen Kakoyan (Klarinette) und Alessandro Damele (Fagott) sind ein fabelhaft farbenreiches Orchester, von Kateryna Tereshchenko bestens einstudiert, und begleiten die Sänger/-innen mit aller gebotenen Aufmerksamkeit.

Regisseur Yaron David Müller-Zach findet ebenfalls einen überzeugenden Weg, die für eine Ausstattungsschlacht konzipierte Grand Opéra als Kammerspiel in Bild und Szene zu setzen. Fünf Stühle, Herbstlaub auf dem Boden und einige markante Requisiten reichen. Eine Krone (die im Lauf des Abends ebenso oft auf Köpfen wie auf dem Boden zu sehen ist), ein Kranz aus weißen Rosen als ihr Gegenstück (Macht und Liebe…), ein Dolch, je eine Fahne für die drei Spielorte Frankreich, Schottland und England – ach ja, die Oper beginnt mit Marie Stuarts Abschied von Frankreich, von wo sie aufbricht, um Königin von Schottland zu werden. Etwas französische Erde nimmt sie in der gefalteten französischen Lilienfahne mit, wo sie sie zuletzt im englischen Kerker wiederfindet. Weitere Stationen der Handlung: Maries Hochzeit mit Lord Darnley; dessen Verschwörung mit Maries missgünstigem Halbbruder Murray zu Ermordung von Rizzio, dem Sekretär und Liebhaber der Königin; Marie in Hausarrest nach der Ermordung ihres Gatten, wo sie zur Abdankung zu Gunsten Murrays gezwungen wird; schließlich die Begegnung mit Elizabeth I. im englischen Kerker – anders als die Akte davor nun zweifellos von Schiller inspiriert, auch ohne figlia impura di Bolena.

Oper im Knopfloch, Zürich: „Marie Stuart“ von Louis Niedermeyer/ Szene/ Foto wie auch oben  Bernard Fuchs

Auch die große Geste verbietet sich in der intimen Theatersituation – sie wird ersetzt durch konzentriertes, psychologisch glaubwürdiges Spiel im eben stets angedeuteten Bühnenbild. Rosina Zoppi, die künstlerische Leiterin der Oper im Knopfloch, vollbringt darin eine großartige Leistung mit sparsamer, aber ausdrucksstarker Gestik und Mimik. Ihre Marie Stuart ist frei von falschem Pathos, glaubwürdig in jeder Lage und hoheitsvoll durch die selbe Schlichtheit, mit der sie z.B. das Adieu von Frankreich auch musikalisch tiefempfunden gestaltet. Bothwell, der sich noch in Frankreich in sie verliebt und bis zur misslingenden Flucht aus der schottischen Haft ihr treu bleibt, ist Raimund Wiederkehr mit geschmeidig geführtem Tenor, dem die Eleganz der lyrischen Nummern ebenso zu Gebote steht wie die Intensität für die heldischen Momente. Mit seinem lebendigen Spiel ist er schon als Verliebter eine interessante Figur; packend in dem Duett, wo er Marie sowohl gestehen muss, dass er bei Rizzios Ermordung mit von der Partie war, als auch Fluchthilfe anbieten will. Im A-capella-Trio der Herren ist er die klangschöne Stütze. Den schmierigen Intriganten Murray portraitiert der Bariton Fabrice Raviola vom ersten Moment an plastisch; in seiner zweiteiligen Arie zeigt er unerwartet differenzierte Aspekte (von Niedermeyer komponiert, von Raviola eindringlich interpretiert): im langsamen Teil Gewissensbisse Marie gegenüber, im schnellen die wütende Gier nach der Krone, durch seine Demütigung als Bastard der Stuarts motiviert. Den andern beiden tiefen Männerpartien – Maries Gatten Darnley und ihrem Widersacher Lord Ruthven – leiht Aram Ohanian seinen kernigen, angemessen dunkleren Bariton. Die Rollen wechselt er z.T. auf offener Bühne per einfachem Jackettwechsel. Bei der Gelegenheit ein Lob an die kleidsamen und die drei Nationalitäten mit Einzelelementen anzeigenden Kostüme von Antonia Stadlin.

Als Page Georges erfreut Nicole Hitz mit höhensicherem und agilem Sopran. Im Duett mit der Königin stellt sie offenbar auch den gleich danach gemeuchelt werdenden Hofmusiker und Favorit Rizzio dar. Ob die Ensemblenummer, die den Mord an Rizzio (und zugleich die Pause) rahmt und auf Auld lang syne beruht, auch originaler Niedermeyer ist, der sich einer schottischen Melodie bedient, entzieht sich meiner Kenntnis.

Erst im letzten Akt tritt Elizabeth I. auf – Stephanie Bühlmann, die zunächst als Figur überraschend jung und unsicher wirkt, bezieht Autorität aus ihrem schön gerundeten Sopran und erlangt in der Auseinandersetzung mit Marie auch szenisch Postur. Die Szene ist kraftvoll komponiert, eine echte Alternative zu Donizettis Version. Überhaupt wirkt Niedermeyers Musik auf mich melodisch inspiriert und voller verschiedener Tonfälle für die Stimmungen von lieblich-idyllisch bis zu dramatischen Konflikten und Racheensembles. Vergleiche fallen mir nach einmaligem Anhören schwer, aber der Rossini des Tell und Auber scheinen mir am nächsten zu sein. Bei einer Spielzeit von rund 2 Stunden (ohne die Pause) ist sicher einiges gestrichen worden (wohl vor allem Chöre, Ballette und andere Massennummern), aber selbst wenn das Gestrichene alles schwächer als das Gehörte sein sollte, würde ich diese inspirierte und bühnenwirksame Komposition sehr gern vollständig an einem großen Haus hören. Bis zum 28. Oktober kann man diese Rarität noch in der gelungenen Fassung der Oper im Knopfloch kennen lernen (www.operimknopfloch.ch) – nichts wie hin! Samuel Zinsli

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Neue Recitals

 

 

Classic Vienna klingt irgendwie nach André Rieu. Nicht doch. Dahinter verbirgt sich ein anspruchsvoll ausgewogenes Programm, das Lena Belkina auf ihrem zweiten Album vorlegt (Sony Classics 88985441842). Die in Taschkent geborene, in der Ukraine aufgewachsene und in Kiew sowie in Leipzig ausgebildete Mezzosopranistin war ab 2009 für drei Jahre Ensemblemitglied der Oper Leipzig und sang dann Kleines an der Wiener Staatsoper (Flora und die Zweite Elfe), aber auch die Zweite Dame und Cherubino. Sie trat in Pesaro auf, war häufig Rossinis Aschenputtel und wird im Herbst in Genf die Rosina und 2018 in Lausanne die Elena in La donna del lago singen. Bereits im Frühjahr 2015 hat sie in Wien mit dem Radio Sinfonieorchester des ORF unter dem 33jährigen Noch-GMD des Gerhart-Hauptmann-Theaters Andrea Sanguinetti, die gleich mit der Così-Ouverture aufhorchen lassen (es folgen noch Glucks Armide-Ouverture und die Sinfonia aus Haydns Acide e Galatea) das stilsichere Mozart-Gluck-Haydn-Programm aufgenommen. Mit ihrem klangvoll dunklen, weich abschattierten, bruchlos durchgebildeten Mezzosopran gibt Belkina dem Sesto („Parto, ma tu ben mio“) und Idamante („Il padre adorato“) ein Gesicht und singt Szene und Rondo „Ch’io mi scordi di te“ ebenso brillant wie in den lyrischen Passagen erfüllt. Belkina ist eine geschmackvolle und kultivierte Sängerin, deren Vortrag Eleganz und Ausdruck verbindet und deren Stimme sich in den lyrisch-elegischen Gluck-Szenen (Orfeos „Che puro ciel“ und Parides „Oh, del mio dolce ardor“) und Haydns freilich auch leidenschaftlich geschärfter Szene der Berenice („Berenice, che fai?“), wo sie manchmal von verhangener Grobkörnigkeit ist, am schönsten entfaltet. Temperament zeigt sie in Costanzas „Se non piange un’ infelice“ aus Haydns Isola disabitata.

 

Bei ihrem Bayreuth-Debüt 2013 als Freia in Castorfs Ring hatte die damals 37jährige Schwedin Elisabet Strid wenig Fortune. Noch einmal kehrte sie im folgenden Jahr zurück, dann suchte sie, die in ihrer Geburtsstadt Malmö und in Stockholm ausgebildet wurde und ihren Durchbruch 2006 als Rusalka hatte, ihr Glück andernorts. Als Senta in Düsseldorf, Chrysothemis in Helsinki, Salome und Siegfried-Brünnhilde in Leipzig. Oder es zog sie nach Sofia, wo sie im Mai 2016 mit dem Bulgarian National Radio Symphony Orchestra unter Ivan Anguelov Leuchtende Liebe aufnahm, eine Leistungsschau in Sachen Wagner von der Ada in Die Feen über Elisabeth, Senta, Elsa, Isolde und Sieglinde bis zu Brünnhildes „Ewig war ich“, der sie Leonores „Abscheulicher! Wo eilst hin? vorangestellt hat (Oehms Classics OC 1882). Die Fidelio-Leonore gerät ihr noch zögerlich, ein wenig flach in der Tiefe und vorsichtig in der Höhe, doch bereits ihrer Senta merkt man die Bühnenerfahrung an. Strid singt mit heller, klarer, jugendlich-dramatisch zupackender Attacke und rechter Durchschlagskraft, ohne jedoch besonders individuell zu wirken. In der sauber austarierten „Hallenarie“ der Elisabeth ist der Klang raumgreifend groß und leuchtend, doch in der Höhe auch unstet flackernd; bei „Allmächt’ ge Jungfrau“ wirkt sie, wie auch bei Elsas „Einsam in trüben Tagen“, nicht sehr involviert bzw. fehlt es der Stimme an Wärme und Innigkeit. Ein wenig davon zeigt sie in Isoldes „Liebestod“, als Sieglinde („Der Männer Sippe“ und „Du bist der Lenz“), aber auch in Brünnhildes zartem „Ewig war ich“, doch insgesamt scheinen ihr die dramatischen Höhepunkte eher zu liegen. Da ist man dann auch zufrieden, dass die Aufnahme mit 53 Minuten nicht übervoll ausgefallen ist.

 

Fast schon ein Altmeister mit einer umfangreichen Diskographie ist der Erfurter Stephan Gentz, der bereits seit zwei Jahrzehnten im Geschäft ist bzw. auf den Konzertprodien, seltener auf der Opernbühne, aber als Lehrer auch am Pariser Conservatoire anzutreffen ist. Ebenso lange währt die Partnerschaft mit Michel Dalberto, mit dem er im Frühjahr 2017, ergänzt um das Klavierstück D 946, Schuberts Schwanengesang aufnahm (aparté music AP 151) und die André Tubeuf im Beiheft (frz., engl. und dt.) sehr schön beleuchtet. In der posthum als Schwanengesang veröffentlichten Sammlung von 14 Liedern auf Texte von Rellstab, Heine und Seidl zeigen Gentz und Dalberto wie eng und meisterhaft sie als Duo verschmolzen sind, wie gleichermaßen instinktiv und klug beobachtend sie auf einander reagieren und Momente von theatralischer Intensität erzeugen. Das zeigt sich in den behutsam und dicht ausgebreiteten Rellstab-Liedern, deren Texte nicht das Niveau Heines erreichen – und die bei der Aufnahme von den restlichen Liedern durch das zweite Klavierstück D 946 getrennt wurden. Das Duo beschwört eine feine, grau getönte, intensive Winterreise-Atmosphäre, die den Schwanengesang aber nicht duster einebnet, sondern auch das heitere „Ade! Du muntere, du fröhliche Stadt“ zur Geltung bringt. Genz singt mit fahlen Farben, gebrochen im Ausdruck, sehr zurückgenommen im Klang, behutsam, leise, fast flüsternd und uneitel, Die Diktion ist fabelhaft. Wie gekonnt er über die gesamte Palette an Klangfarben und einen schönen Ton verfügt, zeigt Genz mit seinem hier kraftvoll und energisch eingesetzten Bariton beispielsweise in „Am Meer“ und „Der Doppelgänger“.

 

Einen leichteren Spaziergang unternimmt die französische Harfenistin Sandrine Chatron, die sich für A British Promenade durch die englische Musik des 20. Jahrhunderts die Cellistin Ophélie Gaillard und den Tenor Michael Bennett als Begleiter geholt hat (aparté music AP 140). Der Spaziergang führt vorbei an Bedeutendem und (viel) weniger Bedeutendem. Im (nur englischsprachigen) Beiheft wird darauf hingewiesen, dass die Mehrzahl der ausgewählten Komponisten an den Hochschulen des Königreiches ausgebildet wurde und einige später wiederum hier lehrten – Herbert Howells, Eugène Goossens, Edmund Rubbra und Britten am Royal College of Music, Granville Bantock und York Brown an der Royal Academy of Music; Die Stücke entstanden in den 1920er bis 60er Jahren und dürften für interessierte Hörer eine Fundgrube sein. Wann hört man schon Werke von Cyrill Scott und Grace Williams, die allerdings insofern eine Ausnahme darstellen, da sie in Frankfurt und Wien ausgebildet wurden. Rolf Fath

Unersättlich

 

Noch eine Bariton-Partie: Längst auf dem Weg in die Hölle wähnt der Zuschauer Macbeth, als dieser, die Hand auf die reichlich blutende Wunde gepresst, noch einmal auf die Bühne wankt und die Arie singt, die Verdi in seiner Bearbeitung der Oper zugunsten des Salve-Chors gestrichen hatte. Nichts umkommen lassen, was irgendwie singbar ist, will offensichtlich Plácido Domingo, plant auch bereits eine Aufnahme aller Bariton-Arien Verdis und kann es sich natürlich als Intendant der Oper von Los Angeles leisten,  derartige dem Stück nicht dienliche Änderungen vorzunehmen.

Die Inszenierung von Darko Tresnjak ebensort ist eine sehr ordentliche mit einem Chor halb aus Hexen, halb aus Teufelinnen, geschwänzt und rotgeflügelt, die letztere auch eifrig die Wände hoch- und runterkletternd allgegenwärtig sind und so den Eindruck entstehen lassen, Macbeth und Lady könnten gar nicht anders handeln, als sie es boshaft und verwerflich tun.  Die Bühne von Colin McGurk zeigt eine sich in einigen Details verändernde Säulenhalle mit einer Empore, von der herab die Hexen ihre Prophezeiungen verkünden. Die Kostüme von Suttirat Anne Larlarb sind historisch und geographisch festlegbar, für das unedle Paar sehr prächtig, die Erscheinungen zeigen sich mit riesigen Köpfen auf dünnen Beinchen eher lächerlich als bedrohlich. Eine hübsche Idee ist es, aus dem Vertriebenenchor ein kleines verstörtes Mädchen und sein Schicksal besonders hervorzuheben.

Man muss es Domingo hoch anrechnen, dass er sich nicht mit mittelmäßigen Kollegen umgibt, um etwa zu kaschieren, dass er selbst nicht mehr als ein mittelmäßiger Sänger im neuen, dem Baritonrepertoire, ist. Kein Zufall dürfte es allerdings sein, dass die Stimmen aller Solisten etwas oberhalb ihres Faches angesiedelt sind, das dem Tenorbariton (den gab es  in der Musikgeschichte einmal) Domingo ein Bassbariton als Banquo und ein sehr hellstimmiger Tenor als Macduff zur Seite gestellt sind. Joshua Guerrero kräht die Arie des um sein Familienglück gebrachten Macduff mit unbedarfter Nicht-Verdi-Stimme, Ildebrando D’Arcangelo hat eine sehr schöne, geschmeidige, aber halt nicht abgrundtief schwarze Stimme für den Banquo.

Eigenartigerweise machen die beiden Highlights der Oper, die Wahnsinnsszene der Lady und Pietà, rispetto, amore keinen besonderen Eindruck, auch wenn das Publikum die Baritonarie begeistert feiert. Dazu ist die Phrasierung Domingos  zu wenig generös, das Legato nicht ausgeprägt genug, tritt das Bewältigen zu sehr gegenüber dem Gestalten in den Vordergrund. Ekaterina Semenchuk ist eine vorzügliche Lady mit einer Stimme, wie sie sich Verdi gewünscht hatte, mit schneidender Höhe und dunkel verhangener, sehr präsenter Mittellage. Sie  mogelt nicht bei den kleinen Notenwerten und gestaltet singend, wenn sie die Stimme bei der Wiederholung des Brindisi verändert,  lässt außerdem der Dama keine Chance, sich im ersten Finale in den Vordergrund zu singen. Wahrscheinlich liegt es an der Regie, dass ihre Schlussszene verhältnismäßig unspektakulär ausfällt.

Der Chor unter Grant Gershon singt phantastisch die Hexen, weniger eindrucksvoll das Patria oppressa, wo man sich eine reichere Agogik gewünscht hätte, Dirigent James Conlon ist ein Kapellmeister, wie ihn eine Verdi-Oper braucht (Sony blu-ray 88985403589). Ingrid Wanja

Les Francais Romantiques

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Die französische Sopranistin Véronique Gens ist so etwas wie die Hausprimadonna des Palazetto Bru Zane geworden, über dessen Aktivitäten – zuletzt das 5. Festival der französischen romantischen Musik in Paris im Juni 2017 (dazu auch die Artikel zu Halévys Reine de Chypre und die Kritik zur Aufführung von Saint-Saens´ Timbre d´argent an der Opéra-Comique – wir in operalounge.de mehr als ausreichend berichtet haben, den obsessiven Neigungen des Herausgebers zur französischen Oper folgend…). La Gens hat nicht nur in zahlreichen Konzerten und Einspielungen des Palazetto in jüngerer Zeit mitgewirkt, sondern auch unabhängig davon zahlreiche CDs mit einem weitgefächerten Programm von französischen Mélodies bis zu Opernarien herausgebracht. Die neuste nun kommt von Alpha und steht wiederum in Verbindung mit dem Palazetto Bru Zane, dessen künstlerischer Direktor Alexandre Dratwicki auch den Text zur vorliegenden CD geschrieben hat, den wir nachstehend in seiner deutschen Übersetzung bringen. Véronique Gens singt hier Frauenarien aus zwölf verschiedenen Opern der französischen Romantik. Und dem Hörer wirbelt der Kopf ob der teils extrem unbekannten Titel wie Févriers Gismonda oder Godards Les Guelfes – mythische Titel fürwahr, die nur der ausgewiesene Musikwissenschaftler kennt. Nach Frau Gens´ Ausflügen in die französische Klassik vor und nach Napoléon ist dies eine Schatzkiste mit Perlen und Juwelen. Die Sängerin ist – wie man gerade in Paris im Konzert der Reine de Chypre hören konnte – bei  bester Stimme, mit exemplarischer Diktion und mit eben jener Identität, das die französische Oper ausmacht: Sprache singen! G. H.

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Und nun der Aufsatz von Alexandre Dratwicki zur neuen CD von Véronique Gens mit dem Münchner Rundfunkorchester unter Hervé Niquet bei Alpha: Visions:Paradies, ich sehe dich, Oh Strom des Lichts, Der Harmonie und der Liebe.“ (aus Massenets Oratorium La Vierge, „Extase“) Das Jahrhundert der Romantik verzichtet zwar auf die barocke Vorliebe für das „Wunderbare“, doch nicht auf die Inspiration durch das Fantastische. Geister und Erscheinungen sind oft auf der Opernbühne zu sehen, und das Übernatürliche findet häufig seinen originellsten Ausdruck in der „Vision“, die Mystizismus mit Fantastischem kombiniert. Hinter diesem Begriff verbergen sich sehr vielfältige, ja gegensätzliche Gemütszustände, die ebenso mit der Metaphysik wie mit der Psychologie in Zusammenhang stehen. Und da die Romantik die vielen Facetten ihrer Helden gern im Detail darstellt, den Charakteren auf den Grund geht und die Seele in die Enge treibt, ist es nicht erstaunlich, dass die Visionen – in der Oper – immer häufiger sind, bis sie zu einem ständig neu interpretierten Gemeinplatz werden. Die Figur ist nicht mehr sie selbst, sie ist mehr als sie selbst und geht so weit, danach zu streben, ihr Leben zu opfern.

Vanni Marcoux als Giudo Colonna in Fevriers „Monna Vanna“/Wikipedia

Der spektakulärste Ausdruck dieses Zustands ist wahrscheinlich die Exaltation, die zur Ekstase oder zur Glückseligkeit führt, wobei beide das Ergebnis der Andacht sind. So bewirkt das Gebet der Clotilde (Bizet), dieser „himmlische Balsam und Trost“ das Heil des Clovis, indem es „die arme Menschheit zu Gott zurückführt“. Einige Heldinnen Halévys oder Massenets verzichten sogar auf die Welt, indem sie sich in einem Kloster einschließen (La Magicienne) oder die Qual des Todes auf sich nehmen (La Vierge). Diese bedingungslose Frömmigkeit ist jedoch nichts Natürliches für die menschliche Seele, die immer fürchtet und oft zweifelt. Wenn die Genevieve Bruneaus nach vorübergehendem Zögern („Herr, bin ich es, die du erwählt hast?“) akzeptiert, eine potentielle Märtyrerin zu werden, so hört Fevriers Gismonda verständnislos die frommen Gesänge der Nonnen, die sie umgeben („0, meine Schwestern, warum ist mein Herz nicht wie die euren resigniert?“). Für sie ist es unmöglich, den Versuchungen der Wollust zu entgehen, denn in der romantischen Oper ist die Grenze zwischen Frömmigkeit und Sinnlichkeit schmal. Für sie ist die Religion das Palliativum gegen die körperliche Liebe. „Oh, schöne zerronnene Träume, […] ihr kommt nicht wieder“, ruft die unglückliche Beatrix von Saint-Saens (Etienne Marcel) aus, während Lalla-Roukh selbst beschließt, die Erinnerungen an die Liebe zu meiden, ihnen aber doch noch eine letzte Romanze von berückendem Charme zugesteht („Unter den dunklen Blättern, in der Stille und im Schatten“).

Louis Niedermeyer/ OBA

Weniger außergewöhnlich erlaubt es die flüchtige oder vorübergehende Vision, die Theatralität bestimmter Monologe bedeutend zu bereichern. Die aus dem Zweifel entstandene Unruhe hat dann oft den Stellenwert einer Vorahnung (Godard, Les Guelfes, „Nichts möge mein Entzücken stören. […] Ah! Dennoch zittre ich“), die bis zum Wahnsinn führen kann (Niedermeyer, Stradella, „Ah! Welch furchtbarer Traum […] Es war kein Traum! Unglück!“). In allen Fällen sind diese momentanen Halluzinationen Störelemente und ermöglichen es, die Struktur einer Arie zu variieren, in der somit ein Maximum an widersprüchlichen Gefühlen zum Ausdruck kommt.

Visionen und Albträume rufen selbstverständlich Trugbilder und Erscheinungen hervor. Daher kommen die unzähligen Wahnsinnsszenen, unter denen die der Ophelie (Hamlet von Ambroise Thomas) die berühmteste der französischen Oper ist. Dazu kommt die Arie „des Giftes“ aus Gounods Roméo et Juliette, in der sich die Heldin von den Geistern ihrer verstorbenen Vorfahren umgeben glaubt. Das französische Oratorium – mit ausgesprochen erzieherischen Absichten – konnte nicht umhin, auch in Kirche und Konzert das Entsetzen auszulösen, das die Opernorakel hervorriefen. Vom Erzengel des Paradis perdu von Dubois bis zur Redemption von Franck ergreifen die sakralen Erscheinungen den Zuhörer, der dadurch umso aufmerksamer der göttlichen Nachricht folgt. In Les Beatitudes erlebt die – verklärte – Jungfrau Maria selbst Christi Tod auf Golgota, den sie voll Mut und Ergebenheit akzeptiert („Ich opfere meinen Sohn zum Heil der Menschheit“), wobei die stürmischen Wellen des Orchesters den Monolog spektakulär beleben.

Cornelie Falcon ist der Prototyp des dunklen Soprans/ hohen Mezzos für die französischen Opern der Nach-Napoleon-Ära/ OBA/ BNO

Die Musik begleitet subtil diese Gemütszustände, die von den erlesenen Kompositionen Bizets und Massenets – die die Zeit anzuhalten scheinen – bis zur rhythmischen Hartnäckigkeit und der harmonischen Heftigkeit der bewegten Allegri bei Niedermeyer oder der entfesselten Fluten bei Franck gehen. Die Verwendung oder das Imitieren von Orgeln, Glocken und himmlischen Stimmen verleiht vielen Stellen eine besondere Farbe. Die Blechbläser werden auch gern herangezogen, um durch wildes, kriegerisches Geschmetter die Ruhe der Frömmigkeit zu unterbrechen und die Heldin zu veranlassen, ihrem Schicksal entgegenzueilen (Bruneau). Das vorliegende Programm wechselt zwischen allen Gattungen ab, die in der Romantik en vogue waren: die Oper (Saint-Saens, Halévy, Godard, Fevrier), die Opéra comique (David), das Oratorium (Franck, Massenet) bis zu den bescheidensten Kantaten, im vorliegenden Fall den für den Prix de Rom komponierten (Bizet, Bruneau).

Der Autor Alexandre Dratwicki (Palazetto Bru zane)

Dieses Recital von Veronique Gens gibt der Sängerin die Gelegenheit, die Reife ihres „Falcon-Soprans“ zur Geltung zu bringen, einer zentralen Stimmlage, die für die romantische französische Oper typisch war. Der Name bezieht sich auf Cornelie Falcon, die bei den Uraufführungen der Opern von Meyerbeer und Halévy in den 1830er Jahren die Hauptrolle sang. Veronique Gens würdigt hier auch Komponisten, von denen sie als erste einige unbekannte Werke interpretierte: David (Herculanum, 2014), Godard (Dante, 2016), Saint-Saens (Proserpine, 2016) und in allerletzter Zeit Halévy (La Reine de Chypre, 2017). Alexandre Dratwicki/ Deutsch N. N.

 

Véronique Gens: Visions (Arien von Bruneau, Franck, Niedermeyer, Goidard, David, Février, Saint-Saens, Massenet, Halévy und Bizet); Münchner Rundfunkorchester; Dirigent Hervé Niquet; Alpha 279

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Programm für Févriers „Monna Vanna“ 1909 an der Pariser Oper/ OBA

PS.: Und natürlich ist kaum etwas auf der Welt einmalig: Manche der hier genannten Titel gibt es bereits auf CD, so – wie von Alexandre Drawicki erwähnt – mit Véronique Gens Davids Herculanum, Saint-Saens Proserpine und ab Oktober 2017 auch Halévys Reine de Chypre, alle auf Ediciones Singulares, dem Hauslabel des Palazetto.

Andere wie La Vièrge von Massenet gibt es mehrfach (Amazon). Etienne Marcel von Saint-Saens ist nach Aufführungen in Compiegne und Montpellier 1974 nicht auf CD erschienen, kursiert aber unter Kennern. Halévys Magicienne aus Montpellier gibt es bei Ediciones Singulares, Lalla-Roukh von David hat Ryan Brown von der Opéra Lafayette bei Naxos eingespielt. Bizets Clovis et Clotilde gab es in einer bizarren Aufnahme mit Montserrat Caballé bei Erato. Und die Béatitudes von Franck sind mehrfach vorhanden (Amazon). Wirklich vergessen ist Henry Février, dessen Monna Vanna kurzlebig in Frankreich 1958 in Rennes und Besancon herumgeisterte und von Radio France in Teilen dokumentiert wurde, dessen hier gesungene Gismonda aber wirklich unbekannt ist. Das gilt auch für Bruneaus Geneviève, von ihm gibt es nur (und auch dokumentiert 1952 beim rtf) seine Attaque du Moulin (zuletzt 2010 in Bern und dann 2011 in Erfurt aufgeführt).Und von Louis Niedermeyer hat Malibran ein antikes Requiem der Schellackzeit (daraus singt Bocelli ein „Pietà Signore“ bei  Sugarmusic Lucitana Lda) – aber sein Name ist mit der Pastiche Robert Bruce zu Musik aus La Donna del Lago von Rossini verbunden (Dynamic), er war ein Fleißiger (Foto oben: „Visions“: Emma Calvé sang 1885 die Lalla-Roukh Davids / Foto OBA). G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Durch Gesang das Herz sprechen lassen

 

Am 7. Dezember 2016 wurde Annalisa Stroppa einem breiten Publikum als Suzuki in der auch im internationalen Fernsehen übertragenen Madama Butterfly bei der Spielzeiteröffnung der Mailänder Scala bekannt. Die Mezzosopranistin mit der starken Präsenz stand nun im deutschsprachigen Raum am 20. Mai 2017  in der Bonner Aids-Gala auf der Bühne, im Juli / August wird sie die Carmen in der Neuproduktion der Bregenzer Festspiele singen. Mit Dieter Schaffensberger sprach sie nach ihrem Auftritt bei der Bonner Gala unter anderem über die Mailänder Butterfly, die Zusammenarbeit mit großen Dirigenten, die Partie der Carmen.

 

Annalisa Stroppa / Foto Victor Santiago/ Stroppa

Wie haben Sie entdeckt, dass Sie ein Talent zum Singen haben? Als Kind verbrachte ich einen Großteil meiner Nachmittage nach der Schule bei meinen Großeltern mütterlicherseits, die Pavarotti, Domingo, Carreras und Mario del Monaco hörten. So entdeckte ich viele Opernarien und fing an, diese großen Tenöre zu imitieren. Ich erinnere mich, dass ich, als acht oder neun war, während Familienfesten Verwandte und Freunde unterhielt, indem ich “Nessun dorma” oder “O sole mio“, “Parlami d’amore Mariù” oder “Un amore così grande” sang! Ich bin immer sehr extrovertiert gewesen und beim Singen ging es mir gut und ich war glücklich. Außerdem war die Natur großzügig mit mir und hat mir eine besondere Stimme geschenkt, und auch deshalb entstanden meine Passion und das Verlangen zu singen. Ich fing also an, Musiktheorie, Klavier und nach und nach, als die Stimme soweit war, Operngesang zu lernen. Meine Familie hat an mich geglaubt und mich immer ermutigt und unterstützt, obwohl ich nicht aus einer Musikerfamilie stamme. Ich hatte großes Glück, und auch ihrem Vertrauen sei Dank konnte ich mit dieser Entschlossenheit meinen Weg beschreiten. Ich studierte also am Konservatorium von Brescia, und gleichzeitig bereitete ich mich auf meine Prüfungen an der Universität vor. Ich unterrichtete Teilzeit in einer Grundschule und obwohl es recht anstrengend war, machten mir das gleichzeitige Unterrichten, die Uni und vor allem die Gesangsstunden großen Spaß.

 

Was können Sie uns über die Anfänge Ihrer Karriere erzählen? Während der letzten Jahre am Konservatorium nahm ich an verschiedenen nationalen und internationalen Wettbewerben teil, um meine Fähigkeiten zu testen und zu verstehen, ob der Gesang wirklich der richtige Weg für mich war, ob ich wirklich eine Karriere machen konnte. Denn wie wir alle wissen, ist das heutzutage sehr schwer. Die Ergebnisse waren immer sehr gut und das waren für mich wichtige Bestätigungen, die mir dabei geholfen haben daran zu glauben, diesen Weg zu gehen. Ich fing an, Kammerkonzerte zu singen und anschließend kleine Rollen und so ging es los… Es folgten immer wichtigere Partien auf immer wichtigeren Bühnen. Meine ersten Hauptrollen waren Carmen in Tragedy de Carmen in Perugia für das Teatro Sperimentale von Spoleto und anschließend Carmen von Bizet im Theater von Trento. Anschließend habe ich Cherubino in I due Figaro gesungen. Das war mein Druchbruch und es folgten großartige Engagements, die mich in alle Welt geführt haben.

 

Annalisa Stroppa als Carmen in Limoges/ Foto Lagarde/ Stroppa

Maestro Riccardo Muti spielte eine wichtige Rolle in der Entwicklung Ihrer Karriere? Ich hatte die einzigartige Gelegenheit, ihm zusammen mit Cristina Muti und dem künstlerischen Leiter des Theaters von Ravenna, Angelo Nicastro, kurz nachdem ich mein Gesangsdiplom erhalten hatte, vorzusingen. Erfahrung auf der Bühne hatte ich kaum, ich hatte bis zu diesem Moment Konzerte und ein paar kleine Partien gesungen. Das Vorsingen ging gut und mir wurde angeboten, das Cover für Carmi in Mozarts Betulia liberata zu übernehmen, dirigert von Maestro Muti in Salzburg. Anschließend wurde mir dann angeboten,  den Cherubino in Mercadantes I due Figaro zu lernen, um Riccardo Muti und dem Regisseur Emilio Sagi und seinem Team diese Rolle vorzusingen. Und ich bekam die Partie!

So wurde der Cherubino in I due Figaro die erste Hauptrolle, die ich international gesungen habe. Eine wunderbare Hosenrolle! Die Premiere fand im Salzburger Haus für Mozart statt und anschließend wurde die Produktion im Teatro Alghieri von Ravenna, am Teatro Real von Madrid und im Colón von Buenos Aires wiederaufgenommen. Es handelte sich um eine Wiederentdeckung und eine Erstaufführung in moderner Zeit. Bis dahin wurde das Stück nicht mehr gespielt, die Vorstellungen im Haus für Mozart erregten große Aufmerksamkeit in der Opernwelt. Ich war natürlich sehr aufgeregt, da ich spürte, dass dieser Moment der Beginn meiner Karriere sein würde. Damals war ich international völlig unbekannt. Ich bin Maestro Muti und allen, die mich damals für die Produktion ausgewählt haben, sehr dankbar für diese Möglichkeit, durch die ich viel gelernt habe und weitergekommen bin. Wirklich eine wunderschöne Erinnerung! Nach der Premiere war ich so glücklich und zufrieden, ich hatte es geschafft! Wie man so schön sagt war das Eis gebrochen!

 

Neben Muti haben Sie mit anderen erstrangigen Dirigenten wie Christian Thielemann, Zubin Mehta, Fabio Luisi oder Riccardo Chailly gearbeitet: Könnten Sie uns von Ihren Erfahrungen mit diesen Maestros und vielleicht auch anderen, die gerade nicht genannt wurden, berichten? Das waren unglaublich tolle Gelegenheiten! Wenn man mit Dirigenten dieses Kalibers arbeitet, kann man nicht anders als zuzuhören und sich jeden Hinweis und Vorschlag zu eigen zu machen. Ich bin mir darüber im Klaren, wie lange mein Weg noch ist und wie viel ich noch lernen kann. Wenn ich die Gelegenheit habe, einem Dirigenten mit so viel Erfahrung, der weiß, wie er mir hilft und mir Ratschläge gibt, gegenüberzustehen, bin ich einfach glücklich. Ich weiß, dass man mit konstruktiver Zusammenarbeit als Künstler wächst. Es gibt noch einige Dirigenten, die man an dieser Stelle nennen kann, unter anderem Campanella, Palumbo, Steinberg, Humburg, Rizzi…

Auf der Bühne messen wir uns stets mit uns selbst, mit unseren Grenzen und unseren Möglichkeiten. Die Chance zu haben, mit diesen Dirigenten zu arbeiten, war für mich außerordentlich wichtig. Ich versuche immer, bei jeder Gelegenheit dazuzulernen und mein Spektrum an musikalischen Ideen stetig zu erweitern. Besonders mit großen Dirigenten, aber auch mit allen anderen, denn jeder bringt andere Erfahrungen mit, die einen weiterbringen.

 

Annalisa Stroppa als Suzuki in der Scala-„Butterfly“/ Foto Brescia e Amisano/Teatro alla Scala/ Stroppa

Ihr Repertoire ist sehr breit gefächert, vom Barock bis zum Verismo: Wo fühlen Sie sich am wohlsten, und mit welchen Rollen können Sie sich besonders identifizieren? Ich bin ein lyrischer Mezzosopran. Vor allem singe ich Belcantopartien und französisches Fach. Ich denke, dass dieses Repertoire meiner Stimme und meinem Charakter besonders liegt. Ich versuche immer, mich so weit wie möglich mit jeder meiner Rollen zu identifizieren und die Charaktere, die ich spiele, so weit wie möglich zu verinnerlichen. Deshalb fühle ich eine besondere Bindung zu allen Rollen, die ich gesungen habe. Von Hänsel in Hänsel und Gretel bis hin zu Carmen! Es ist fantastisch, sich jedes Mal, wenn man die Bühne betritt, aufs Neue verwandeln zu können. Einige meiner Lieblingspartien sind Rosina in Il Barbiere di Siviglia, Adalgisa in Norma, Romeo in I Capuleti e i Montecchi, Carmen und Charlotte im Werther.

 

Letzten Dezember (2016) haben Sie die Mailänder Scala als Suzuki in Madama Butterfly eröffnet. Wie haben Sie dieses  Opernevent erlebt? Ich war natürlich sehr aufgeregt! Die Spielzeit der Mailänder Scala zu eröffnen, ist ein unbeschreibliches Gefühl. Einer der Momente, an die man sich sein ganzes Leben erinnert! In den Jahren habe ich immer mit großem Interesse die Fernsehübertragung dieses Abends live verfolgt und hätte mir nie ausgemalt, eines Tages unter den Hauptdarstellern zu sein. Nach eineinhalb Monaten intensiver Probenzeit, habe ich die Größe des Events eigentlich erst am selben Abend realisiert. Ich wusste zwar schon vorher, wie wichtig dieser Abend war, aber nachdem ich am 7. Dezember in meiner Garderobe angekommen war und sah, dass das Theater innen und außen völlig abgeriegelt war, realisierte ich plötzlich alles wirklich! Es war ein Mix von Gefühlen zur selben Zeit! Nach Jahren und Jahren des Studiums und der Opfer war mein großer Moment gekommen! Ich war glücklich und ungläubig, fühlte mich geehrt, aber war mir gleichzeitig der großen Verantwortung bewusst, war zufrieden und dankbar zugleich. Ich durchlief in Gedanken einen Moment lang meinen ganzen künstlerischen Werdegang, der mit 12 Jahren begann und nun war ich angekommen! Ein einzigartiges Gefühl! Auch, dass die Vorstellung auf RAI1 übertragen wurde, fand ich wunderbar, denn so konnten nicht nur das anwesende Publikum, sondern viele andere Personen, Verwandte und Freunde die Vorstellung sehen. Ich liebe die Rolle der Suzuki sehr und in der Inszenierung von Alvis Hermanis ganz besonders, da sie bei ihm eine Art Spiegel der Gefühle Butterflys ist. Sie ist in dieser Inszenierung nicht nur die Dienerin Cio-Cio-Sans, sondern viel mehr eine Art Alter Ego, fast eine Schwester Cio- Cio-Sans und die einzige Person, die sie versteht und die ihr bis zum Ende zur Seite steht. Und das waren auch die Aspekte, die ich hervorheben und denen ich Gewicht geben wollte. Mit Maestro Riccardo Chailly und dem Regisseur Alvis Hermanis zu arbeiten, war für mich ein großes Privileg, ihrer aufmerksamen und tiefgründigen Lesart habe ich es zu verdanken, dass meine Rolle musikalisch und dramaturgisch Form annahm und an Format und Menschlichkeit hinzu gewann. Ich hatte mir die Gefühle Suzukis so stark zu eigen gemacht, dass ich mich nach den Vorstellungen leer und doch tief gerührt fühlte. Ich hatte die Rolle wirklich gelebt und verinnerlicht.

 

 

Annalisa Stroppa als Cherubino in Mercadantes Oper „I due Figaro“/ Foto Lelli/ Stroppa

Was bedeutete es für Sie, am 20. Mai dieses Jahres am Benefizkonzert der Deutschen Aids-Stiftung in Bonn teilzunehmen? Es bedeutet mir viel, bei diesem Konzert mitzuwirken, und ich bedanke mich bei den Organisatoren des Konzerts für die Einladung. Es handelt sich um ein prestigeträchtiges Event, das noch dazu einem guten Zweck dient, und es ist bewundernswert, wie Theater, Sponsoren oder einzelne Menschen aktiv werden und kostenlos einen Teil dazu beitragen, dass bei diesem Benefizkonzert so viele Spenden wie möglich gesammelt werden. Viele Tropfen zusammen können ein Meer entstehen lassen, und ich freue mich, dass auch ich meinen kleinen Beitrag leisten und an dem Konzert teilnehmen kann. Wir Künstler haben ein Geschenk erhalten und es ist wunderbar die Möglichkeit zu haben, mit unserer Kunst denjenigen zu helfen, die nicht so viel Glück haben wie man selbst.

 

Unter Ihren nächsten Verpflichtungen ist eine Neuproduktion von Carmen bei den Bregenzer Festspielen. Können Sie uns etwas über diese Paradepartie für jede Mezzosopranistin erzählen und was es für Sie bedeutet, die Partie bei solch einem renommierten Festival zu singen? Ich fühle mich sehr geehrt, bei diesem berühmten Festival auftreten zu dürfen. Bei dieser Gelegenheit werde ich mich einem neuen Publikum vorstellen können, das mich noch nicht kennt und das in einer Partie, die ich ganz besonders liebe. Ich liebe Carmen, weil sie eine außergewöhnlich moderne und tiefgründige Frau ist. Sie ist konsequent in ihren Gedanken und glaubt stark an alles, was sie macht und verfolgt ihr Ideal von Freiheit bis zum Tod. Sie opfert sich für ihre Freiheit. Es handelt sich um einen vielseitigen Charakter und mich fasziniert ihr Charisma. Ich denke, dass man kein Stereotyp einer faszinierenden aber leichtlebigen und oberflächlichen Zigeunerin verkörpern sollte, die nicht länger als sechs Monate verliebt ist, sondern über dieses Bild hinausgehen und versuchen sollte, sie besser kennenzulernen.

 

Annalisa Stroppa / Foto Victor Santiago/ Stroppa

Die Bühne in Bregenz ist sehr speziell: Sie befindet sich im Bodensee. Können Sie uns schon etwas über die Inszenierung verraten? Was erwarten Sie sich von dieser sehr speziellen Bühnensituation? Es handelt sich um eine Neuproduktion von Kasper Holten, die Maestro Paolo Carignani dirigieren wird, und ich freue mich sehr, die Carmen mit diesen beiden Künstlern interpretieren zu können. Das Gefühl, auf einer Bühne zu singen, die sich in einem See befindet, wird sicher ganz neu und anders sein! Auf einer derartigen Bühne bin ich noch nie aufgetreten, ich bin sehr neugierig, wie das sein wird! Sicherlich wird die Atmosphäre ganz einzigartig und magisch sein und diese Carmen noch mitreißender und bedeutungsvoller machen. Was ich schon von der Inszenierung verraten kann ist, dass auch der See eine Rolle  spielen wird.

 

Können Sie uns etwas über Ihre zukünftigen Engagements verraten und gibt es eine Rolle, die Sie bisher noch nicht gesungen haben, aber gerne ihrem Repertoire hinzufügen würden? Im Oktober/November werde ich die Fenena in Nabucco an der Mailänder Scala singen und nächsten Februar werde ich einen Liederabend in der Londoner Wigmore Hall geben. Außerdem werde ich als Rosina an die Dresdner Semperoper zurückkehren. Und Lieblingsrollen? Charlotte im Werther, Leonora in La Favorita und Sara in Roberto Devereux. Ich finde, das sind wunderbare Rollen, sowohl stimmlich als auch darstellerisch interessant. Es würde mich sehr reizen, diese tollen Partien zu singen. Das sind starke Frauen, die gleichzeitig sehr sensibel sind und große Emotionen durchleben. Sie lassen durch den Gesang ihr Herz sprechen. Dieter Schaffensberger

Die Künstlerin versichert, im Besitz der Veröffentlichungsrechte für die hier verwendeten Fotos zu sein; Foto oben: Annalisa Stroppa als Suzuki in der Scala-„Butterfly“/ Ausschnitt/ Foto Lelli/ Scala

Telemanns Oper „Emma und Eginhard“

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2017 jährte sich Georg Philipp Telemanns Todesdatum zum 250. Mal (14. März 1681 – 25. Juni 1767) – gewiss ein Anlass, uns diesem bedeutenden, großen deutschen Komponisten vor Johann Christian Bach und Carl Maria von Weber zu widmen. Wir machen dies mit seiner Oper Die Last tragende Liebe oder Emma und Eginhard von 1728. Die Telemann-Pflege ist in Deutschland nicht sonderlich ausgeprägt, nur ein Spezialist wie René Jacobs setzte mit der nun fast legendären Aufführung von Emma und Eginhard an der Berliner Staatsoper 2015 und vorher mit dem sensationell inszenierten Orpheus in Innsbruck 1993 und erneut an der Berliner Staatsoper 1994 (allerdings nicht wirklich nachhaltige) Signale. Es bleibt weitgehend der Magdeburger Telemann-Pflege vorbehalten, sich noch vor den DDR-Tagen (1929) um dieses Erbe zu kümmern, so neben manchen anderen Titeln mit Emma und Eginhard 1973 und erneut 1998. Weitere Telemann-Opern fanden ihre Interpreten dort und andernorts, auch in Hamburg, aber durchgesetzt hat sich der Komponist als Operngröße bei uns nicht: Trotz des relativ vollen Operntitelkatalogs bei Amazon (so Don Quichiotte, Damon, Orpheus, Miriways, Flavius Bertaridus   u. a.)   bleibt er in der Öffentlichkeit als Pimpinone-Autor in  Erinnerung. Und als viel schreibender Komponist nur beliebig scheinender Unterhaltungsmusik.

Und vielleicht ist dies auch eine gute Gelegenheit, auf das neue Telemann-Festival in Hamburg hinzuweisen, vom 24. November 2017 bis zum 3. Dezember 2017 – u. a. wird dann mit der Akademie für Alte Musik die Oper Miriways und das Oratorium Das jüngste Gericht aufgeführt!

Zu „Emma und Eginhard“: Telemann, Titelkupfer zur „Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste“ nach dem Porträt von Lichtensteger (1764)/Wiki

Im Folgenden bringen wir als Hommage an diesen großen, ersten wirklich demokratischen Komponisten für ein breites Publikum aus dem Volke und des Bürgertums (am Hamburger Gänsemarkt-Theater) einen Artikel von Detlef Giese, den dieser zur Berliner Aufführung von Emma und Eginhard in Berlin 2015 schrieb und in dem er auf die Bedeutung von Telemann als Opernkomponist eingeht. Zum Werk selbst folgt ein Aufsatz von Bernd Baselt, damals zur ersten Aufführung von Emma und Eginhard in moderner Zeit, in Magdeburg 1973. G. H.

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Nun also der Text von Detlef Giese: Telemann, der Opernkomponist – von Magdeburg bis Hamburg. Bereits mit elf oder zwölf Jahren, wenn er sich recht erinnere, habe er seine erste Oper geschrieben, so Georg Philipp Telemann in einem von Ende 1729 datierten Brief an den Komponisten und Musikgelehrten Johann Gottfried Walther, dem Verfasser eines Musicalischen Lexicons, das 1732 das gegenwärtige Wissen über die Musik einschließlich ihrer Protagonisten zusammenfasste. Dem jungen, musikalisch hochbegabten Pfarrerssohn aus Magdeburg gelang es sogar, eine Aufführung dieses Werkes mit dem Titel Sigismundus, das so wie viele seiner späteren Opern auch verloren gegangen ist, zu initiieren. Offenbar war er bei dieser Darbietung auch als Sänger aktiv, sehr zum Missfallen der es vorgeblich gut meinenden Bekanntschaft und Verwandtschaft, die »mit Schaaren« bei Telemanns Mutter vorstellig wurden und suggerierten, dass der Knabe Gefahr liefe, ein »Gauckler, Seiltäntzer, Spielmann, Murmelthierführer etc. [zu] werden«, wenn ihm »die Musik nicht entzogen würde.«

Der fast 60-jährige, inzwischen zu einem überaus prominenten, europaweit bekannten und gefeierten Musiker aufgestiegene Telemann hat diese Episode in jenen autobiographischen Mitteilungen festgehalten, die er für die 1740 in Hamburg erschienene Grundlage einer Ehren-Pforte seines Komponistenkollegen Johann Mattheson (mit dem er einerseits befreundet war und andererseits konkurrierte) verfasst hatte. In dieser für das Verständnis der Person Telemanns ungemein wichtigen Quelle, zumal von seiner eigenen Hand, lassen sich wertvolle Informationen zu Leben und Werk – und verschiedentlich auch zu seinem Opernschaffen – finden, auch wenn manche Dinge, die dort zur Sprache kommen, kaum mit letzter Sicherheit zu verifizieren sind. Die Erinnerung dürfte den Autor das eine oder andere Mal getäuscht haben.

Zu „Emma und Eginhard“: Szene aus der Berliner Aufführung 2015/ Foto Monika Rittershaus

So berichtet er etwa davon, an seinem nächsten Wirkungsort, der sächsischen Universitätsstadt Leipzig, wohin er sich eigentlich zum Jurastudium begeben hatte, »etliche und zwantzig« Opern komponiert zu haben. Nur Weniges von dieser Musik, von der wir gerne annehmen mögen, dass sie tatsächlich existiert habe, ist der Nachwelt erhalten geblieben. Immerhin konnte ein Werk, die Oper Germanicus, zumindest in ihren Grundzügen rekonstruiert werden; anlässlich des Leipziger Bachfestes 2007 ist sie erstmals wieder zur Aufführung gebracht worden. Und immerhin sind auch einige Textbücher und Arien überliefert, die einen Eindruck von der Opernästhetik und dem Opernleben der Stadt vermitteln, dem der junge, in seinen frühen Zwanzigern stehende Telemann von 1701 bis 1704 spürbare Impulse gab. Ausgehend von der Leitung eines neu gegründeten studentischen Collegium musicum, dessen Mitglieder auch in der seinerzeit bestehenden Leipziger Bürgeroper aktiv waren, wurde Telemann auch mit der Direktion dieser Einrichtung betraut – eine Tätigkeit im Übrigen, die er auch nach seinem Weggang aus der Messestadt nicht aufgab, da er bis um 1710 regelmäßig mit neuen musiktheatralischen Werken auf den Plan trat, nicht selten dabei in Personalunion von Textdichter und Komponist, zuweilen wohl auch als Sänger.

Zu „Emma und Eginhard“: „Emma et Eginhard ou les stragèmes d´amour“, Gemälde von Vafflard 1809, Museum Avreux

Die Oper, für Telemann offenbar ein Genre von höchster Attraktivität, blieb somit auch zu jenen Zeiten im Fokus, als er von Amts wegen eigentlich nichts mit ihr zu tun hatte. Sowohl in den Diensten von Graf Erdmann von Promnitz in Sorau in der Lausitz von 1704 bis 1708 als auch während der anschließenden Jahre bis 1712 als Konzert- und Kapellmeister der Hofkapelle in Eisenach waren andere Verpflichtungen bestimmend, vor allem in Richtung Kirchen- und Tafelmusik. Wiederholt hat sich Telemann jedoch über das Operngeschehen seiner Zeit und seines Umfeldes informiert, nicht zuletzt auch durch mehrere Besuche in Berlin, wo unter dem ersten preußischen König Friedrich I. und seiner musikliebenden Gattin Königin Sophie Charlotte die Hofmusik eine erste Blüte erlebte. Sowohl Werke italienischer Komponisten, wie etwa von Giovanni Bononcini, dem späteren Rivalen Händels in London, als auch von deutschen Künstlern wie August Stricker und Gottfried Finger gerieten so in seinen Gesichtskreis. Schon zuvor hatte sich Telemann in Residenzen wie Braunschweig und Hannover begeben, um dort das Opernwesen kennenzulernen, ebenso wie er einige Jahre darauf, 1719, nach Dresden reiste, um dort jene Werke zu hören und zu sehen, die zur Hochzeitsfeier des Kurprinzen und nachmaligen Königs Friedrich August II. gespielt wurden. War es im Niedersächsischen vor allem der Italiener Agostino Steffani, dessen Musik ihn begeisterte, so empfing er im schönen Elbflorenz bleibende Eindrücke von Opern aus der Feder Antonio Lottis und Johann David Heinichens, zudem zeigte er sich von einer Reihe glänzender Sängerinnen und Sänger fasziniert.

Zu „Emma und Eginhard“: die Hamburger Oper am Gänsemarkt/ Wiki

Zu dieser Zeit war Telemann in Frankfurt am Main beschäftigt, als Kapellmeister in kirchlichen Diensten. So sehr ihm das offene kulturelle Klima der freien Reichsstadt auch zusagte, ein Mangel ließ sich nicht beheben: Es gab keine Institution, die sich explizit der Aufführung von Opern widmete. Als sich zu Beginn der 1720er Jahre die Chance bot, nach Hamburg zu wechseln, mag ein Grund für diese Entscheidung auch darin gelegen haben, dort die Möglichkeit zu besitzen, wieder regulär – und unter guten Bedingungen – für die Oper arbeiten zu können.

Hamburg verfügte diesbezüglich bekanntlich über eine Tradition. 1678 war das am Gänsemarkt errichtete, rund 2.000 Zuschauer fassende Opernhaus eröffnet worden und hatte durch seinen quantitativ wie qualitativ auf einem hohen Niveau stehenden Spielbetrieb große Ausstrahlungskraft weit über die Grenzen der florierenden Hansestadt hinaus entwickelt. Vornehmlich mit dem Namen Reinhard Keiser ist diese von der Hamburger Bürgerschaft getragene Institution verbunden, die im Laufe von sechs Jahrzehnten mehrere hundert Werke auf die Bühne und unter die Leute brachte – wenngleich nicht immer zum Gefallen der ansässigen Theologen, die der Kunstform Oper generell vorwarfen, zum Verfall der öffentlichen Moral beizutragen. In der Generation danach waren es Komponisten wie Georg Friedrich Händel, Johann Mattheson und eben Georg Philipp Telemann, die hier wirkten und dem Unternehmen Gesicht und Stimme gaben. Während Händel, der schon bald zum erfolgreichsten Opernkomponisten des Hoch- und Spätbarock avancieren sollte, in Hamburg seine ersten Schritte auf diesem Gebiet unternahm, bevor er nach London übersiedelte, waren Mattheson und Telemann über längere Zeit dort aktiv, Ersterer auch – und gerade – in seiner Eigenschaft als wirkungsmächtiger Musikschriftsteller, Letzterer als fähiger Administrator ebenso wie als fruchtbarer Komponist. Wie in der besagten Ehren-Pforte bei der Aufzählung seines schon damals riesenhaften Werkbestandes zu lesen ist, hat Telemann »etwa fünf und dreißig Stücke hiesiger Oper« zu Papier gebracht, eine enorme Zahl, die durch andere Quellen jedoch nicht bestätigt werden kann. Ungefähr gut die Hälfte davon – und auch das ist ja keineswegs wenig – ist bezeugt, wovon wiederum zehn Opern vollständig erhalten sind, zu einer Reihe weiterer Werke sind immerhin einige Arien auf uns gekommen.

Zu „Emma und Eginhard“: Szene aus der Berliner Aufführung 2015/ Foto Monika Rittershaus

Noch vor seinem Amtsantritt in Hamburg, wo er, neben anderen Aktivitäten, in erster Linie als Kantor für den Musikunterricht am Johanneum sowie für die Musik an den fünf Hauptkirchen zuständig war und zudem als Angestellter des Senats für die Ausgestaltung von offiziellen, repräsentativen Veranstaltungen zu sorgen hatte, schrieb er 1721 mit Der geduldige Sokrates ein Werk, das sehr genau auf die Erfordernisse des Hauses am Gänsemarkt zugeschnitten war – sie könnte durchaus als eine Art »Visitenkarte« gedacht gewesen sein. Das Interesse an der Oper war bei Telemann ja ausgeprägt genug, allein die Einrichtung selbst befand sich gerade in einer Krise. 1718 hatte die Bürgeroper Bankrott anmelden müssen, finanziell war das Unternehmen bereits in den Jahren zuvor in Schieflage geraten. Mit Telemann, dem tatkräftigen, hoch produktiven und zudem hervorragend vernetzten Musiker, sollte nun ein Neustart gewagt werden. Und in der Tat vermochte er es, das Haus wieder auf ein hohes künstlerisches Niveau zu führen und ihm den von der städtischen Öffentlichkeit – Telemann war von einer Gruppe einflussreicher Adliger wie Bürger eigens mit der Opernleitung betraut worden und erfuhr zunächst auch vielfältige Unterstützung – erwarteten Glanz zu verleihen.

Zu „Emma und Eginhard“: Stich von Chodowiecki/ Kohl, um 1800/ Foto: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel © Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Vor allem war dies die Folge einer klugen Spielplangestaltung: Telemann bemühte sich mit Erfolg darum, international renommierte Werke auf die Bühne zu bringen, u. a. einige Londoner Opern seines Freundes Georg Friedrich Händel, die er z. T. durch hinzukomponierte musikalische Nummern bereicherte, auch der »Altmeister« Reinhard Keiser war nach mehreren Jahren der Abstinenz wieder im Programm vertreten. Überdies gab es des Öfteren Stücke, die nicht allein in deutscher Sprache gesungen wurden, sondern auch italienische sowie französische Arien enthielten und somit ein gewisses weltläufiges Flair ausstrahlten. Oft hat dabei Telemann selbst, der über bemerkenswerte poetische Fähigkeiten verfügte, Hand an die Libretti gelegt, sofern er nicht mit einem der kompetenten Hamburger Textdichter zusammenarbeitete.

Bedeutsam wurde diese Phase, die 1738 mit der Schließung des Hauses, dessen ökonomischer Niedergang sich auf Dauer nicht aufhalten ließ, ihr Ende fand, jedoch zuvorderst durch Telemanns eigene Opernwerke. Neben dem Geduldigen Sokrates von 1721 schrieb er mit Genserich oder Der Sieg der Schönheit (1723/25), Der neumodische Liebhaber Damon (1724), mit Orpheus oder Die wunderbare Beständigkeit der Liebe (1726), mit Miriways (1728), Flavius Bertaridus, König der Langobarden (1729) weitere hochoriginelle Werke, oft mit einer Mischung aus tragischen und komischen Elementen. Einen Höhepunkt dieses Schaffenszweiges markiert gewiss Die Last-tragende Liebe oder Emma und Eginhard, die bewusst als Festoper  zum 50-jährigen Bestehen 1728 der Oper am Gänsemarkt konzipiert und ausgestaltet wurde.

Zu „Emma und Eginhard“: Szene aus der Berliner Aufführung 2015/ Foto Monika Rittershaus

Während diese zumeist recht umfangreichen dreiaktigen Opern erst nach und nach wieder entdeckt und in modernen Aufführungen präsentiert werden, galt Telemann schon beizeiten als Meister der kleinen, kurzweiligen musikalischen Komödie. Verantwortlich hierfür war das 1725 komponierte Intermezzo Pimpinone oder Die ungleiche Heirat, das in der Tat durch seinen Humor und seine Charakterisierungskunst besticht. Dieses bis heute vergleichsweise oft gespielte »Operchen« besaß schon zu Lebzeiten einen Sonderstatus, war es doch das einzige musiktheatralische Werk, das zum Druck befördert wurde und deshalb eine weit größere Verbreitung erreichte als die lediglich in Manuskripten fixierten Partituren der großen Opern. Sein ausgeprägtes Talent für komische Stoffe bewies Telemann ein letztes Mal 1761, wenige Jahre vor seinem Tod, mit dem zweiaktigen Werk Don Quichotte auf der Hochzeit des Comacho – eine eindrucksvolle Spätblüte seiner Opernkunst.

Gemessen an seinem gewaltigem Schaffen auf anderen Feldern (u. a. seinen geistlichen Kantaten, seinen Oratorien und Passionen sowie seiner Orchester- und Kammermusik) wirkt Telemanns »Output« an Opern keineswegs unüberschaubar. Rund 50 Werke mögen es in der Summe wohl gewesen sein, die er komponiert hat, die meisten von ihnen in Leipzig und Hamburg. Aber auch die Höfe in Weißenfels sowie Bayreuth, mit denen er in Verbindung war, hat er nach eigenen Angaben mit vier bzw. zwei Opern beliefert, so dass nicht nur der numerische, sondern auch der räumliche Radius seiner Opernaktivitäten durchaus beachtlich ist: Telemann wusste somit auch diese Kunstform wesentlich zu bereichern. Immerhin scheint es zuzutreffen, dass die Erkenntnis sich durchzusetzen beginnt, der zu Lebzeiten berühmteste deutsche Komponist ist neben vielem anderem auch ein großer Opernkünstler gewesen. Die schrittweise Entdeckung seines facettenreichen Œuvres ist jedenfalls im Gange und wird hoffentlich noch weiter andauern. Bernd Giese

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Zu „Emma und Eginhard“: Szene aus der Magdeburger Aufführung 1973/ Telemann-Zentrum Magdeburg

Und Bernd Baselt schreibt: Georg Philipp Telemanns Opernschaffen, dessen Bedeutung zumindest auf dem Gebiet der heiteren deutschen Spieloper seit dem Beginn der Magdeburger Telemann-Pflege unumstritten ist, verdankt seine schlagkräftige Wirkung nicht zuletzt den originellen volkstümlichen Sujets, die darin zum Tragen kommen. (…)  Dieses Gespür für dramatisch wirkungsvolle, dabei aber auch leichtgeschürzte und wirklich humorvolle Stoffe ist Telemann in seiner gesamten Schaffenszeit treu geblieben. In diesen Stoffkreis gehört auch die heitere Oper Die Last tragende Liebe oder Emma und Eginhard, die Telemann nach einem Libretto von Christoph Gottlieb Wend für die Hamburger Gänsemarktoper schrieb und dort am 12. November 1728 zum ersten mal aufführte.

Der Oper Emma und Eginhard waren u. a. zwei umfangreiche  Werke vorausgegangen: neben der im persisch-orientalischen Milieu spielenden Zauberoper Miriways (Text von J. S. Müller) hatte Telemann  mehrere Werke anderer Komponisten  überarbeitet und herausgebracht. Emma und Eginhard beschloss somit eine aufreibende Saison und fand auch in den Jahren 1731 und 1732 wieder Aufnahme in den Spielplan des Hamburger Opernhauses, dem Telemann zu dieser Zeit als verantwortlicher musikalischer Leiter vorstand.

Der Textdichter C. G. Wend, der nach dem Vorbild Christian Heinrich Postels, eines der talentiertesten Hamburger Librettisten der ersten Jahrhunderthälfte, die historisch-nationalen Sujets mit patriotischem Hintergrund bevorzugte, wählte als Fabel für sein Stück die tragikomische Liebesgeschichte zwischen Emma, einer Tochter Karls des Großen, und dessen Geheimsekretär Eginhard, die – wenn auch historisch nicht verbürgt – vor ihm und nach ihm Dichter und Maler beschäftigte und bekanntlich u. a. noch Wilhelm Busch zu einer komischen Bildergeschichte inspirierte.  Das Motiv von der „ungleichen Heirat, ein Hauptanliegen der Dichtung der deutschen Aufklärung, das die Überwindung überlebter Standesvorurteile mit starken gesellschaftlichen Akzenten verfolgte, bildet also auch hier das eigentliche Handlungsmoment, dessen Quelle Wend in einem niederländischen Volksbuch fand, an das er sich bei der Gestaltung seines Librettos auch in der äußeren Diktion stark anlehnte.

Zu „Emma und Eginhgard“: Wilhelm Busch in „Fliegende Blätter“, um 1845/ Wiki

Zur Handlung: Das Stück spielt in der Residenz Karls des Großen in Aachen, der dort nach einem der Feldzüge gegen die Sachsen mit seinem Hofstaat in den Thermen Erholung sucht. Das emsige Leben und Treiben in dieser Umgebung, die Eifersüchteleien der Hofbediensteten untereinander und die Überlegungen Karls, sein Reich weiter zu festigen und mit den Mitteln friedlichen Nebeneinanderlebens der einzelnen Völkerschaften in Mitteleuropa zur Blüte zu bringen, bildet den reizvollen Hintergrund zum eigentlichen Spannungskonflikt, der aufkeimenden Liebe der Kaiser-Tochter Emma zu dem zwar unedel geborenen, aber auf Grund seiner überragenden Intelligenz und seiner Ergebenheit Karls gegenüber stark  protegierten geheimen Sekretär  Eginhard. Der sächsische Prinz Heswin, den Karl als Geisel mit nach Aachen brachte, um damit die widerspenstigen Sachsen im Zaum zu halten, verliebt sich gleichfalls in Emma, die ihm jedoch keine Zuneigung entgegenbringen kann und ihrer Freundin Hildegard das Feld überlässt. Eginhard, der viele Neider unter den älteren Hofbeamten hat, die ihm seine exponierte Stellung in Karls engster Umgebung  missgönnen und ihn nur zu gern stürzen sehen würden, ist unvorsichtig genug, Emmas offenherzigen Sympathiebeweisen rückhaltlos nachzugeben. Es kommt unter dem Vorwand, dass Emma bei Eginhard Schreibunterricht  nehmen möchte, zu mehrfachen zärtlichen Begegnungen der beiden Liebenden, die in dem begreiflichen Wunsch gipfeln, trotz der unüberwindbaren Standesunterschiede einander für immer anzugehören. Nach einem geheimen nächtlichen Rendezvous will Emma Eginhard ungesehen wieder aus dem Schloss bringen und kommt auf die Idee, ihren Liebhaber auf dem Rücken aus dem Schloss zu tragen, damit die Wachen in dem frisch gefallenen Schnee nur die Abdrücke eines weiblichen Fußes erkennen könnten. Unglücklicherweise entdeckt Karl, der an Schlaflosigkeit leidet und deshalb auf der Galerie des Schlosses frische Luft schöpft, in dieser Nacht die “ lasttragende Liebe“ und gibt sofort Befehl, das Paar zu verhaften. Beiden wird nun der Prozess gemacht, und trotz aller Fürbitten der Freunde der Beschuldigten will der sonst so gnadenreiche Kaiser aus Enttäuschung über den Verrat seiner liebsten Tochter ein Exempel statuieren und verurteilt sie zum Tode. In letzter Minute, als schon das Schafott aufgebaut ist, gelingt es, den Kaiser umzustimmen, der einer inneren Stimme Gehör schenkt und Gnade vor Recht ergehen lässt. Er verzeiht beiden und setzt Eginhard als Grafen ein. Nun kann dieser offen um Emma werben und seine Geliebte heimführen. Nach einer heiteren Persiflage au f die kaiserliche „Huld“ durch ein lustiges Dienerpaar schließt die Oper mit einer Tanzszene.

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Die Musik: Diesen bühnenwirksamen und von vielerlei heiteren Szenen umrahmten Vorwurf hat Telemann auf gewohnt sorgfältige Weise vertont. Die reich instrumentierte Partitur der Oper, die vor allem in einer Reihe von Sätzen mit obligaten Instrumenten die Bläser (Blockflöte und Querflöte, Oboe und Horn ) zu farbigen Klangwirkungen heranzieht und beinahe jede Arie mit charakteristischem  instrumentalen Kolorit versieht, bildet selbst unter den in dieser Hinsicht herausragenden Schöpfungen Telemanns ein besonders schönes Beispiel für diese Stileigentümlichkeit seiner Schreibweise. Das beginnt schon mit der als Violinkonzert (nach dem Vorbild  Vivaldis) angelegten Ouvertüre und zieht sich bis in die Schluss-Szenen hinein. Das Klangbild der Oper vermeidet daher bewusst jene stereotypen Wirkungen, wie sie manch ältere Bühnenwerke des 18. Jahrhunderts in der Instrumentierung bis zum Überdruss strapazieren und damit das Interesse des heutigen Hörers an den formalen und melodischen Schönheiten dieser Kunst leicht ermüden lassen.

Zu „Emma und Eginhard“, Stich voin Moritz von Schwindt um 1860, Wiki

Die formalen Eigenschaften der Musik zu Emma und Eginhard erschöpfen sich aber keineswegs nur in bestimmten instrumentationstechnischen Effekten. Auch innerhalb der melodischen Charakterisierung der einzelnen Handlungsträger entwickelt Telemann ein hohes Maß von schöpferischer Individualität und Einfallsreichtum. Der stolzen Herrschergestallt  Karls verleiht er durch unaufdringliches melodisches Pathos ehrfurchterheischende Züge, durch einprägsamen freundlichen Gestus aber auch rührende menschliche Qualität, während seine Gemahlin Fastrath, die Stiefmutter der Emma, ganz Würde, ganz Herrscherin darstellend, mehr äußerlich repräsentierend den überholten Standesgesetzen mit allen Mitteln Geltung zu verschaffen sucht. Emma und Eginhard, deren leidenschaftliche, über alle Vorurteile triumphierende Liebe sich in Sätzen voller ergreifender melodischer Schönheit und einer von innigen, lyrischen Stimmungen bis ins Ekstatische reichenden Ausdrucksskala äußert, werden demgegenüber auch formal von den anderen Personen des Stückes auffällig abgegrenzt. (…)  Die fränkische Prinzessin Hildegard und der sächsische Prinz Heswin, die im Verlaufe der Handlung nach anfänglicher Zurückhaltung ganz zueinander finden, bewähren sich in edlen Gesängen als treue Freunde der Titelgestalten, wobei Hildegard wohl der formal interessanteste Satz der ganzen Oper zufällt: In ihrer Arie „Meine Tränen werden fließen“ im 2. Akt schreibt Telemann eine regelrecht ausgeführte Tripelfuge, deren Themen mit malerischer Phantasie die Tränen mit den Wellen, die Seufzer mit einem Orkan vergleichen, die das steuerlose Liebesschifflein an den Klippen der Hoffnungslosigkeit zerschellen lassen wollen. Dagegen werden die verschiedenen Höflinge, soweit sie in länger ausgeführten Arien zu Wort kommen, mit plastischen melodischen Gesten nach ihrer charakterlichen Eigenart bestimmt: der General Alvo als einfältige, nur sein wildes Soldatenleben schätzende Landsknechtsgestalt bramabrasierend, fluchend und oberflächlich, Wolrad, geheimer Rat und  Oberkammerherr, diplomatisch, listig und vermittelnd, und Steffen, die lustige Person des Stückes, „des Kaisers kurzweiliger Rat“ (sprich Hofnarr) nach alter Hamburger Komödiensitte die Standespersonen parodierend und in volkstümlichen Liedern das gesunde Volksempfinden verkörpernd. Bernd Baselt

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Den einleitenden Artikel zu Telemann als Opernkomponist überließ uns in sehr liebenswürdiger Weise Detlef Giese, er ist Dramaturg für Musiktheater und Konzert an der Berliner Staatsoper und betreut dort seit einigen Jahren die Barockproduktionen mit dem Dirigenten René Jacobs, so die Aufführung von Emma und Eginhard an der Berliner Staatsoper 2015, eine der ganz wenigen außerhalb Magdeburgs und in Deutschlands überhaupt. Der Artikel zum Werk von Bernd Baselt stammt aus dem Programmheft der Magdeburger Produktion 1973 und wurde uns von dem Telemann-Zentrum Magdeburg überlassen – unser besonderer Dank gilt Carsten Lange ebendort. Foto oben: „Emma und Eghinhard“/ Hermann Schoenfeld/ in:  Women of the Teutonic nations. Philadelphia, Barrie, 1910

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Strauss-Tage in Leipzig

Die Neuinszenierung der Salome markierte das Zentrum eines Strauss-Wochenendes an der Oper Leipzig, an dem noch Aufführungen von Arabella und Die Frau ohne Schatten zu sehen waren.

Oper Leipzig: „Salome“/ Szene/ Foto Kirsten Nijhof

Die umjubelte Salome-Premiere am 17. 6. 2017 widmete das Team der wenige Tage zuvor verstorbenen Künstlerin Rosalie, die mit der Ausstattung zu Strauss’ Musikdrama ihre letzte Arbeit geschaffen hatte. Ihr turmhoher Aufbau ist eine utopische Szenerie, ein faszinierender Kunstraum, inspiriert von der Welt der science fiction, mit milchigen Platten, die wie zu einem Eisgebirge gefügt und von farbigen, treppenförmig aufsteigenden Blitzen durchsetzt sind. An den Wänden kriecht von unten der Moder empor als Zeichen maroder Verkommenheit, auf dem schwarzen Boden sind sperrige Paletten verteilt, aus einem alten Autowrack entspringt eine kümmerliche Fontäne. In einer höheren Ebene befindet sich der Palast des Herodes, wo der Tetrarch mit der Festgesellschaft bei einem Gelage zu sehen ist. Hier spiegelt sich an mehreren Objekten  – einer rätselhaften schwarzen Tonfigur in Rückenansicht, einer Lampe als das Auge eines Chamäleons, einer erstarrten roten Fahne aus lackiertem Plastik – Rosalies bizarre Phantasie wider. Weniger spektakulär sind ihre heutigen Kostüme. Vor allem für die Titelheldin hatte sie keine zündende Idee. Elisabet Strid mit blonden Rasterlocken  – optisch zwischen Lolita-Girlie und Rockerbraut – trägt einen schwarz glänzenden Frack über einem langen weißen Hemd mit Federkrause. Aber die Schwedin macht ihr blasses Erscheinungsbild darstellerisch mehr als wett und lässt zudem einen potenten jugendlichen Sopran hören, welcher die strapaziöse Partie bis zum Schluss ohne Ermüdung durchsteht. In der Auseinandersetzung mit Jochanaan steigert sich die Sängerin zu expressiver Körperlichkeit und in einen vokalen Ausnahmezustand, ist dennoch im Schlussgesang, bei dem der Raum in goldenem Licht magisch aufstrahlt (Michael Röger), noch zu blühenden Bögen fähig und verliert auch nicht in einem Moment ihren jugendlichen Wohlklang. Regisseur Aron Stiehl führt sie – wie auch die anderen Darsteller – klug und schlüssig mit dem Ergebnis spannender Charakterporträts. Und gemeinsam mit dem Choreografen Ramses Sigl findet er für den heiklen „Tanz der sieben Schleier“ eine originelle Lösung. In einem Maskenspiel auf kleinem Podium, das anfangs von einem blutverschmierten Theatervorhang verdeckt ist, wird die Geschichte von Herodes’ Brudermord, seiner Heirat mit Salomes Mutter und die permanente Schändung ihrer Tochter dargestellt. Erst am Ende tanzt Salome selbst und mit Herodes, der sie danach zu oralem Sex zwingt. Der Schwede Michael Weinius in dieser Rolle ist gleichfalls ein Ereignis – fies und fett (was der rosa Seidenanzug noch betont), singt er mit wuchtigem Charaktertenor und schneidender Diktion, führt die lüsterne Gier, die perverse Geilheit des Herrschers mit beklemmender Deutlichkeit zu abstoßender Wirkung. Neben ihm ist Karin Lovelius als blonde Herodias im rosa Hosenanzug mit grün glitzerndem Top ähnlich verkommen, offenbart aber gesanglich eine deutliche Überforderung mit der Partie. Keifende Spitzentöne sollen hier Ausdrucksmittel sein, sind aber Zeichen stimmlicher Nöte.

Grandios der Jochanaan von Tuomas Pursio nach irritierendem Beginn in der Zisterne, aus der die Stimme (offenbar durch technisch mangelhafte Verstärkung) verquollen und tremolierend klang. Aber auf der Szene gewinnt der Finne sofort an Format mit markantem, durchschlagendem Bassbariton von nie versagender Kraft. Sein biederes Erscheinungsbild in Hemd und Weste passt allerdings kaum zu dem fanatischen Eiferer, den er abgibt. Salomes erotische Handgreiflichkeiten registriert er irritiert und verunsichert. Sergei Pisarev ist ein jugendlicher Narraboth mit schmeichelndem Tenor in schwarz/weißer Camouflage-Uniform, wie sie auch die Soldaten tragen, Sandra Maxheimer ein androgyner Page der Herodias was auch in dem charaktervoll-maskulinen Mezzo zum Ausdruck kommt. Sind all diese Figuren von Rosalie nicht sonderlich originell gewandet, kommt im extravaganten, schrillen Designer-Chic der Party-Gäste ihr extremer Gestaltungswille mit oft skurrilen Ergebnissen zu besonderer Wirkung.

Am Pult des Gewandhausorchesters Leipzig sorgt dessen Generalmusikdirektor Ulf Schirmer für eine vielschichtige Deutung der Komposition mit schillernden, flirrenden Passagen, schwelgerischem Rausch, aber auch aufgetürmten Klangblöcken, schneidendem Blech und exzessiv hoch gepeitschter Attacke. Faszinierend geformt ist die Schluss-Szene mit ihren ächzenden Floskeln zu Beginn, mit denen der Dirigent eine schier unerträgliche Spannung aufbaut, die sich dann im großen Ausbruch des gesamten Orchesters entlädt. Mit seinem geballten Klang fordert Schirmer seiner Solistin das Letzte ab – und sie hält diesem Anspruch stand bis zum tragischen Ende. Rot leuchtet der Raum auf bei ihrem Kuss und hinten reißt die Wand auseinander bei den tödlichen Schüssen auf Herodes’ Geheiß.

 

Oper Leipzig: „Arabella“/ Szene/ Foto Kirsten Nijhof

Ulf Schirmer dirigierte auch die beiden anderen Opern im Rahmen des Strauss-Wochenendes. Bei der Arabella am 16. 6. 2017 hielt er allerdings nicht immer die Balance zwischen Graben und Bühne mit dem Ergebnis strapazierter Stimmen. Vor allem die in Leipzig überaus beliebte ukrainische Sopranistin Olena Tokar ließ als Zdenka schmerzend grelle und steife Töne im oberen Bereich hören. Die Stimme der Titelheldin Betsy Horne gefiel in der Mittellage durch das angenehme, feminine Timbre, nur die exponierten Noten gerieten etwas eng. Unterbesetzt waren Graf Waldner (Jan-Hendrik Rootering mit schütterem Bass, der erst im letzten Akt an Präsenz gewann) und Adelaide (Renate Behle mit kurzatmiger, tremolierender Stimme). Ein sympathischer Matteo war Markus Francke mit tenoral-jugendlicher Emphase bei leichten Problemen in der hohen Lage. Die Besetzung dominierte Thomas J. Mayer als Mandryka mit imposanter Erscheinung und blendendem Bariton. Die markige Stimme strömte prachtvoll, erklomm die hohen Töne souverän und vermochte bei der ersten Begegnung mit Arabella auch ungemein zu berühren. Im Duett mit der Angebeteten geriet allerdings auch sie durch Schirmers aufgetürmte Klangfluten in Bedrängnis.

Jan Schmidt-Garre wartet in seiner Inszenierung mit einigen seltsamen Einfällen auf – so wenn Arabella bei ihrem ersten Auftritt im Bett liegt, statt vom Spaziergang heimzukehren, wenn sie auf dem Grafen Elemer reitet oder zu ihrem Monolog am Ende des 1. Aktes mit der Champagnerflasche erscheint. Gewöhnungsbedürftig ist auch die spartanische, stimmungsarme Bühne (Heike Scheele), die sich nach und nach aus einzelnen Art-déco-Segmenten zusammensetzt und erst ganz am Ende an Wirkung gewinnt. Beim Ball werden gar deren nüchterne Rückwände gezeigt, was der Szene jede Atmosphäre nimmt. Im Finale gibt der Regisseur noch ein Rätsel auf, wenn unerwartet die Kartenlegerin und Elemer auftreten und für Arabellas Glas Wasser zuständig sind.

 

Oper Leipzig: „Die Frau ohne Schatten“/ Szene/ Foto Kirsten Nijhof

Den Abschluss dieses Strauss-Festes bildete die 9. Vorstellung der Frau ohne Schatten. (Die Produktion von Balázs Kovalik/Regie, Heike Scheele/Bühne und Sebastian Ellrich/Kostüme wurde anlässlich ihrer Premiere auf diesen Seiten ausführlich besprochen.) Der Abend hatte im Vorfeld besonderes Interesse erweckt durch die Mitwirkung von Franz Grundheber in einer seiner Glanzrollen als Barak. Der Bariton, seit über fünfzig Jahren auf den größten internationalen Bühnen tätig, präsentierte eine völlig intakte, unverbrauchte  Stimme, die lange Bögen hören ließ, ein souveränes Fundament in der Tiefe, eine virile Höhe  und vor allem einen menschlichen Klang. Für Jennifer Wilson war überraschend und sehr kurzfristig als Baraks Frau Elena Pankratova eingesprungen, die die Partie aus den Noten an der Rampe sang. Der dunkel getönte, hochdramatische Sopran besitzt enorme Durchschlagskraft und Fülle, satte Tiefe und machtvollen Aplomb in der Höhe. Sie war Schirmers exzessiven Turbulenzen im Graben mühelos gewachsen – wie auch Simone Schneider als Kaiserin, die ihren glänzenden Eindruck von der Premiere bestätigte. In Volumen und Strahlkraft scheint der Sopran noch weiter gewachsen zu sein. Burkhard Fritz als Kaiser hatte nach solidem Beginn dagegen in seiner Falknerszene keine Chance gegen das hochgepeitschte Gewandhausorchester. Der verzerrte, klirrende Klang von Karin Lovelius’ Mezzo bei den exponierten Tönen der Amme störte einmal mehr empfindlich, zuverlässig dagegen der Geisterbote von Tuomas Pursio mit präsenter, energischer Stimme.

Drei große Werke von Strauss an drei Abenden mit großem Publikumszuspruch  – eine imponierende Serie als Zeugnis der beeindruckenden Leistungsfähigkeit des Hauses (Foto oben: Oper Leipzig: „Salome“/ Szene/ Foto Kirstren Nijhof). Bernd Hoppe

Sensibler Gestalter

 

An der Oper Stuttgart wurde Matthias Klink kürzlich mit Ovationen für seine sensible Gestaltung des Gustav von Aschenbach in einer Neuinszenierung von Benjamin Brittens Death in Venice  gefeiert. Hanns-Horst Bauer hat sich mit dem lyrischen Tenor über sein Künstlerleben zwischen Ensemble und Gastauftritten in aller Welt unterhalten.

 

Matthias Klink als Aschenbach in der Stuttgarter Inszenierung von „Death in Venice“/ Foto: Oper Stuttgart

Nach der Premiere von Benjamin Brittens Death in Venice  wurden Sie als Gustav von Aschenbach mit Ovationen gefeiert, wie man sie in der Stuttgarter Oper noch selten erlebt hat. Was geht in solchen Momenten in Ihnen vor? Vor der Premiere kam einer unserer wunderbaren Assistenten zu mir, wünschte mir toi-toi-toi und meinte vielsagend: Du weißt schon, was dieser Abend für dich bedeuten kann. Darüber hatte ich mir bis dahin noch gar keine Gedanken gemacht, da ich so auf die Arbeit fokussiert war, die ich zu leisten hatte. Natürlich hatte ich mir schon gewünscht, dass sich alles, was ich mir erarbeitet, erfühlt hatte, nach außen hin zusammen kommt, dass der Abend so gelingt, wie wir uns das erhofft hatten. Als ich dann mit Ovationen förmlich überschüttet wurde, war ich einfach überwältigt. Das war ganz wunderbar. Ich bin ja nicht unverwöhnt, habe immer wieder sehr viel Zuspruch für meine Arbeit bekommen. Aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Mit einer Rolle wie der des Aschenbach habe ich als Sänger und Darsteller allerdings auch etwas in die Hand bekommen, was eine immense Kraft entwickeln kann. Was man da an Nuancen, an Fallhöhen herausarbeiten kann, ist natürlich enorm. Mit anderen Partien geht das nur bedingt, egal, wie sehr man darin auch aufgeht.

 

Wie haben Sie sich auf diese schwierige Partie vorbereitet? Als mir diese Rolle angeboten wurde, war ich begeistert. Auf die Tenorpartien in Brittens Opern hatte ich schon lange gewartet. Das Britten-Repertoire hatte ich bis dato nur in der Kammermusik gemacht, natürlich auch das fantastische War Requiem. Da ich in der laufenden Spielzeit nur Stücke gemacht habe, die ich schon kannte – etwa Carmen in Stuttgart, Nacht in Venedig in Lyon oder Lulu in Hamburg –  konnte ich mich, Tag für Tag die Britten-Partitur unter´m Arm, ganz auf den Aschenbach konzentrieren. Die Vorbereitung auf eine Rolle ist natürlich grundlegend wichtig, aber mit der ersten szenischen Probe geht für mich die intensive Auseinandersetzung mit einer Partie erst richtig los.

 

Matthias Klink (Gustav von Aschenbach), Georg Nigl (Dionysos) in der Stuttgarter Inszenierung des „Death in Venice“/ Foto Oper Stuttgart

Die Stuttgarter Aufführung ist eine Koproduktion von Oper und Ballett. Regisseur ist Demis Volpi, Hauschoreograph beim Stuttgarter Ballett. Wie sind Sie mit dieser tänzerischen Herausforderung umgegangen? Das war zunächst eine ganz formale, technische Arbeit, weil ich mich in die Schrittfolgen einarbeiten musste. Ich war sozusagen der Spielball des Balletts. Das war für mich eine willkommene Aufgabe, weil ich immer versuche, meine Rollen über eine bestimmte Körperlichkeit zu erfassen, umzusetzen. Deshalb habe ich schon bei den Vorgesprächen Demis Volpi gefragt, ob es auch eine tänzerische Annäherung Aschenbachs an Tadzio geben darf.

 

Dieser Britten-Abend dürfte sicher zu den Highlights Ihrer  Karriere gehören. An welche anderen Glanzpunkte der vergangenen Jahre erinnern Sie sich gerne? Die für meine Karriere Weg bestimmende Rolle war zweifellos der Belmonte in Hans Neuenfels´ Inszenierung von Mozarts Entführung 1998 in Stuttgart. Das war für mich ein richtiges Erweckungserlebnis. Neuenfels hat mir gezeigt, wie man die Musik durch vielschichtige Bebilderung einer Szene auf eine ganz neue, psychologische Ebene von Kraft- und Energiefeldern bringen kann. Mozart ist für Tenöre übrigens eine ganz besondere Herausforderung, weil er eine perfekte Balance zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen verlangt. Es ist eine konstante Gratwanderung zwischen schwer und leicht, Körper und Kopf. Am besten ist mir das, vielleicht ein etwas verklärter Rückblick, bei einem Tamino bei den Salzburger Festspielen 1999 gelungen, Regisseur war damals Achim Freyer, am Pult Christoph von Dohnányi. 2009 hatte ich noch einige Taminos an der Met in New York, die mir allerdings nur leidlich Freude bereitet haben. Ich habe gespürt, dass ich da gar nicht hinpasse. Man arbeitet dort natürlich hoch professionell, clean. Alles scheint auswechselbar. Wenn man seine Arbeit mit einem Anspruch an Tiefe und Vielschichtigkeit machen will, ist man dort fehl am Platz. Und diese Zauberflöte war auch noch eine wahnsinnig oberflächliche Inszenierung.

 

Welche weiteren Highlights gab es neben dem Mozart-Repertoire? In Köln hat man mir 2009 den Hoffmann in einer Wiederaufnahme von Offenbachs Hoffmanns Erzählungen angeboten. Das war schon immer eine meiner Wunschpartien. Über diesen Hoffmann kam für mich eine Reihe von vielschichtigen Charakterrollen: Jimmy Mahoney in Kurt Weils Mahagonny, Pierre Besuchow in Prokofjews Krieg und Frieden oder Tom Rakewell in Strawinskys The Rake’s Progress. Das öffnete mir den Weg, meinem Selbstverständnis als singendem Schauspieler immer näher zu kommen.

 

„Fausts Verdammnis“ an der Oper Stuttgart: Auf dem Bild: Matthias Klink (Faust), Simon Bailey (Méphistophélès)/ Foto: A.T. Schaefer

In Köln wurden Sie 1995 zunächst für ein Jahr Mitglied des Opernstudios und waren danach im Ensemble engagiert, das allerdings nur für zwei Spielzeiten. Danach waren Sie bis zu Ihrem Eintritt ins Ensemble der Stuttgarter Oper (2006 – 2010) freischaffend tätig. In der Spielzeit 2013/14 kehrten Sie dann wieder fest nach Stuttgart zurück. Welche Erfahrungen haben Sie freischaffend und in den Ensembles gemacht? In Köln hatte ich damals im ersten Jahr im Ensemble gut 80 Abende, und im zweiten Jahr waren es plötzlich nur noch zwölf. Das war natürlich völlig indiskutabel. Ich musste doch, um mich konstant weiterzuentwickeln, gefordert sein.

Im Jahr darauf hatte ich dann wieder mehr Auftritte, wurde aber kaum für Gastspiele (vor allem in Stuttgart) freigestellt. Die Folge: Ich habe meinen Vertrag unter sehr unerfreulichen Umständen aufgelöst und war plötzlich bereits am Beginn meiner Karriere freischaffend tätig. Dabei wäre ich sehr gerne fest in Köln geblieben. Im Laufe der Jahre habe ich eine Form gefunden, die mir beide Möglichkeiten bietet, freischaffend und fest im Ensemble zu arbeiten. Bei meinem aktuellen Vertrag in Stuttgart, wo optimal geplant wird, habe ich genügend Freiraum für Gastspiele.  Ich habe eigentlich immer eine Form gesucht, wo ich einerseits im geschützteren Raum eines Ensembles arbeiten, andererseits aber auch an anderen Häusern wichtige Erfahrungen sammeln kann.

 

Matthias Klink als Adam im „Vogelhändler“ bei den Staufer Festspielen/ Foto Staufer Festspiele

Dabei spielen Dirigenten und Regisseure eine wichtige Rolle. Mit welchen haben Sie denn besonders gern zusammen gearbeitet? Wichtig beim Dirigenten ist, dass man sich gegenseitig zuhört. Wenn ich in der Probenatmosphäre den Eindruck habe, wir hier oben auf der Bühne machen etwas, und unten im Orchestergraben rührt jemand in der Musik herum, stört mich das immer wahnsinnig. Wir haben doch nur diese eine Lebenszeit, und Arbeitszeit ist Lebenszeit. Deshalb sollten wir uns bemühen, diese Zeit sinnvoll zu nutzen, sinnfällig zu machen. Und die Magie entsteht erst, wenn wir uns gegenseitig wirklich zuhören.    Dabei muss der Dirigent  vom Pult aus in der Szene mit agieren. Nahezu perfekt verwirklicht das für mich  Kirill Petrenko, aber natürlich auch Sylvain Cambreling hier in Stuttgart. Leuchttürme im Regiebereich waren für mich natürlich Hans Neuenfels, aber auch Nicolas Brieger oder Jossi Wieler & Sergio Morabito. Nicht zu vergessen die wunderbare Arbeit mit Kirill Serebrennikov in der Stuttgarter Salome.

 

Sie singen auch gerne Operette, haben sogar im vergangenen Jahr bei den lokalen Stauferfestspielen im baden-württembergischen Göppingen den Adam im Vogelhändler gesungen, bei dem nicht nur Ihre Frau, sondern auch Ihr jüngster Sohn Julius (7) mitgewirkt haben. Was reizt Sie an diesem Genre? Operette ist einfach faszinierend und bietet lyrischen Tenören ganz tolle, aber auch immens schwierige Traumpartien. Man muss hier eine gute Mischung finden zwischen der relativ tiefen Tessitura, die ein gewisses Gewicht verlangt, und der Kraft, die Stimme wieder nach oben zu führen. In dieser Musik stecken außerdem so viele Nuancen wie in einer Mozart-Arie oder in einem Schubert-Lied. Dazu kommt bei der Operette noch ein fast Dada-hafter Wortwitz. Damit kann man ungeheuer spielen. Bei meiner Abschlussprüfung an der Stuttgarter Musikhochschule habe ich „Schatz, ich bitt´ dich, komm heut´ Nacht“ aus Lehárs Frasquita gesungen. Operette war schon immer ein Teil meiner stimmlichen Entwicklung.

 

Simone Schneider (Salome) und Matthias Klink (Herodes) in der Stuttgarter „Salome“/ Foto: A.T. Schaefer

Und das auch mit Ihrer Frau, der Sopranistin Natalie Karl, zusammen? Auf der Bühne stehen wir ja nur noch selten zusammen. Aber wir haben  eine Operetten-CD aufgenommen, Die ganze Welt ist himmelblau. Im vergangenen Jahr haben wir beim Bayerischen Rundfunk Tonfilmschlager gemacht. Und die gibt´s noch mal mit dem WDR zum nächsten Jahreswechsel. Wie gehen Sie denn als Sänger-Ehepaar mit gegenseitiger Kritik um? Wir können uns ganz gut kritisieren. Das haben wir gewissermaßen „von klein auf“ gelernt, denn wir kennen unsere Stimmen in- und auswendig schon seit Studienzeiten. Das ist etwas sehr Wertvolles.

 

„Die ganze Welt ist himmelblau“ mit Nathalie Karl und Matthias Klink/ http://www.neuerkunstverlag.de/musik/

Wie haben Sie denn Ihre Begeisterung fürs Singen entdeckt? Ich komme aus einer hausmusikalischen Familie. Meine Eltern waren passionierte Chorsänger, unter anderem auch in Wolfgang Gönnenweins Süddeutschem Madrigalchor. So ist meine früheste Opern-Erinnerung, da war ich zwei oder drei Jahre alt, die Generalprobe  einer  Zauberflöte im Ludwigsburger Schloss. In meiner Familie wurde eigentlich immer gesungen. Daneben habe ich Geige gelernt, die ich allerdings in der Pubertät durch eine E-Gitarre ersetzt habe, die ich heute noch im Keller spiele. Dort finden jetzt Sessions mit meinem älteren Sohn Linus (12) am Schlagzeug statt, der, glaube ich, einmal richtig gut wird.  Die Rockmusik hatte einen sehr großen Einfluss auf mich. Die Musik der Beatles war die erste, mit der ich mich analytisch beschäftigt habe, die mich auf einer intellektuelleren Ebene berührt und gefesselt hat. Daneben habe ich auch immer im Schulchor gesungen. Dann hatte ich das Glück einer großartigen Theater-AG an unserem Gymnasium. Bei einer Produktion von Jesus Christ Superstar habe ich in der Band gespielt und durfte den Superstar-Song aus dem Off singen. Damit war klar: So will ich mich ausdrücken. Ich will auf die Bühne.

 

In welchen neuen Rollen wollen Sie sich in den kommenden Jahren noch weiter ganz persönlich ausdrücken? Das französische Fach reizt mich sehr. Ganz konkret mache ich in der nächsten Spielzeit  Mime im Siegfried in Düsseldorf und in der Folge in Chicago. Und ich finde, dass ich mich irgendwann mal einem Lohengrin aussetzen sollte. Ob das andere auch finden, weiß ich natürlich nicht… (Und ein Blick zu Amazon zeigt, was es alles auf CD und DVD von Matthias Klink gib – von Lèhar über Strauss bis zu Rihm! Foto oben: Matthias Klink als Golozin in der Stuttgarter „Chowanschtschina“/ Szene/ Foto: A.T. Schaefer)

 

 

Matthias Klink im Stuttgarter Opernhaus/ Foto Hanns-Horst Bauer

Zur Person: Matthias Klink wird 1969 in Waiblingen geboren. Gesangsstudium an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart und an der Indiana University Jacobs School of Music in Bloomington. 1995 Mitglied des Opernstudios, ein Jahr darauf Ensemblemitglied der Städtischen Bühnen Köln. Ab 1998 freischaffend tätig, 2006-2010 festes Ensemblemitglied der Oper Stuttgart. Er gastierte u.a. in Hamburg, Dresden, Frankfurt, an den drei großen Berliner Opernhäusern und an der Mailänder Scala. Auftritte führten ihn zu den Festspielen in Baden-Baden, Aix-en-Provence und der Ruhrtriennale. Seit seinem Salzburger Debüt 1999 bei der Uraufführung von Berios Cronaca del luogo ist Matthias Klink dort regelmäßig zu Gast. Er war als Tamino (Die Zauberflöte) und Matteo (Arabella) an der Wiener Staatsoper sowie im September 2009 ebenfalls als Tamino an der Metropolitan Opera zu erleben. 2010 wirkte Klink als Ein Gast/Apollon in der Uraufführung von Wolfgang Rihms Dionysos bei den Salzburger Festspielen mit. In den vergangenen Jahren hat er sein Repertoire um Partien wie Don José, Erik, Alfredo, Tom Rakewell, Hoffmann und Herodes erweitert. 2015 sang er Alwa (Lulu) unter Kirill Petrenko an der Staatsoper München und Der Kavalier (Cardillac) unter Franz Welser-Möst an der Staatsoper Wien. 2016/17 gastiert Klink u.a. als Alwa in der Regie von Christoph Marthaler an der Staatsoper Hamburg unter der Leitung von Kent Nagano. Als Ensemblemitglied der Oper Stuttgart seit 2014/15 ist Matthias Klink in der laufenden Spielzeit als Don José in Carmen und als Gustav von Aschenbach in der Neuinszenierung von Der Tod in Venedig zu erleben.Quelle Oper Stuttgart

 

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