Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Telemann kompakt

 

In einer schmucken Konfektschachtel hat Warner Classics unter dem Titel  auf 13 CDs (0190295860134) wichtige Werke des Magdeburger Komponisten wieder veröffentlicht und dabei auch auf die im Übernahme- Archiv befindlichen Teldec-Aufnahmen aus den 1960er Jahren zurückgegriffen. Die Auswahl umfasst Orchesterwerke, Kammermusik und Vokalkompositionen. Letztere befinden sich auf den  CDs 11 bis 13 und bieten das „Singgedicht in vier Betrachtungen“ Der Tag des Gerichts sowie die Cantata TWV 20:41 Ino und das Intermezzo giocoso Pimpinone oder Die ungleiche Heyrath. Das Oratorium und die Kantate sind Alterswerke des Meisters, während sich in Pimpinone sein Sinn für humoristische Wirkungen verwirklicht. Siegmund Nimsgern singt die Titelrolle eloquent, mit gebührend harscher und polternder Stimme. Gekonnt ist der Wechsel zwischen seiner normalen Bassbaritonlage und dem Falsett. Uta Spreckelsen ist die munter plappernde und virtuos singende  Vespetta. Mir ist ihr Ton zu lieblich – ein paar biestige Töne würden dem Charakter der Figur nicht schaden. Die Aufnahme wurde 1974 in Wien mit dem Ensemble Florilegium Musicum unter Hans Ludwig Hirsch eingespielt. Heute würde ein Dirigent der Alte-Musik-Szene dem Stück ein mehr federndes, swingendes Klangbild geben. Das auf der Aufnahme ist weich und rund, mutet aber etwas romantisch und patinös an.

Beim Tag des Gerichts verhält sich das anders, denn Nikolaus Harnoncourt steht am Pult des Concentus Musicus Wien und sorgt für ein energisches, plastisch artikuliertes Musizieren. Er sichert dem Werk aber auch Feierlichkeit und grandeur, wie sogleich in der Einleitung zur Ersten Betrachtung zu vernehmen ist.  Großen Anteil am starken  Eindruck der Einspielung hat der Monteverdi-Chor Hamburg (Jürgen Jürgens), der seine vielfältigen Aufgaben prononciert und klangvoll absolviert. Pompös breitet er den ersten Gesang „Der Herr kommt“ aus und verströmt festlichen Glanz in „Schallt, ihr hohen Jubellieder“ zu Beginn der Vierten Betrachtung. Während der Tenor Kurt Equiluz und der Bass Max van Egmond zur Stammbesetzung des österreichischen Dirigenten zählen, sind die Sopranistin Gertraud Landwehr-Herrman und die Altistin Cora Canne-Meijer weniger bekannt. Doch sie alle vier bilden ein stilistisch vorbildliches Quartett und weisen zudem auf das Alter der Aufnahmen hin.

Ergänzt wird die CD durch die Ino-Kantate mit Roberta Alexander als Solistin – auch sie ist auf Harnoncourts Besetzungslisten mehrfach anzutreffen und überzeugt durch die Verbindung von expressiver Gestaltung und der charaktervollen Schönheit ihres Soprans.

Die Anthologie wird eröffnet mit den Sechs Darmstädter Ouvertüren TWV 55 auf CD 1 und 2, wiederum unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt, der ein Pionier der Originalklangbewegung war. Sie basieren auf Telemanns engen Kontakten zu Musikern des großherzoglich hessischen Hofes. Während seiner Frankfurter Zeit von 1712 bis 21 nutzte der Komponist die räumliche Nähe zu Darmstadt, um von dort Musiker der renommierten Hofkapelle für seine Aufführungen zu verpflichten. In Darmstadt selbst war Telemanns Musik ein Hauptpfeiler des Repertoires – auch als der Komponist bereits nach Hamburg gegangen war.

Bei den auf drei CDs (3 bis 5) angeordneten Concerti teilen sich Harnoncourt mit dem CM sowie die Berliner Barock Solisten unter Rainer Kussmaul, die Alma Musica Amsterdam unter Lucy van Dael und The Saint Paul Chamber Orchestra unter Hugh Wolff in die Ausführung.

Ein Concerto bietet das Zusammenwirken von Instrumentalisten mit einem Ensemble aus Streichern und dem Generalbass. Telemann hat hinsichtlich der Fülle seiner Kompositionen (etwa 120 Konzerte sind überliefert) und der Vielfalt der eingesetzten Instrumente Bedeutendes für dieses Genre geschaffen. So vereint CD 3 vier Konzerte in verschiedener Besetzung – das erste für Flöte, Fagott, zwei Violinen und Viola, das zweite für vier Violinen, das dritte für zwei Hörner und Violinen, das vierte für drei Oboen, drei Violinen und Kontrabass. Telemann gelangen in diesen Kompositionen reizvolle Klangwirkungen, auch spannungsvolle Dissonanzen, die von Harnoncourt und seinem Ensemble dynamisch gut abgestuft und artikuliert ausgereizt werden. Bei den weiteren Concerti wirken als Solisten u. a. Emmanuel Pahud, Albrecht Mayer, Bernhard Forck und Rainer Kussmaul mit, so dass die Ausgabe den Bogen spannt bis in die gegenwärtige Konzertszene mit heutigen Interpreten.

CD 6 und 7 sind Auszügen aus der Tafelmusik vorbehalten, hier sind das Concerto Amsterdam und Frans Brüggen die Ausführenden. Damit wird verdienstvoller Weise ein weiterer renommierter Barockinterpret in die Anthologie eingegliedert. Der holländische Musiker hat nach seiner internationalen Karriere als bedeutender Blockflötist auch als Dirigent gewirkt, 1981 das Orchestra of the Eighteenth Century gegründet und eine Reihe von bedeutenden Einspielungen verantwortet. Dazu zählt auch diese der Tafelmusik mit ihren tänzerischen Effekten und dem rhythmischen Drive.

Die CDs 8 bis 10 sind kammermusikalischen Werken gewidmet und bringen Sechs Pariser Quartette TWV 43 mit dem Flötisten Wilbert Hazelzet und dem Ensemble Sonnerie sowie Trio-Sonaten & Quartette mit diversen Solisten.

Die Pariser Quartette für Traversflöte, Violine, Viola da gamba und Bc. waren zunächst vom Komponisten in Hamburg im Eigenverlag veröffentlicht, wurden 1736/37 von einem Verleger in Paris nachgedruckt, woraufhin Telemann in die französische Metropole reiste, um solche Raubkopien zu verhindern. Er veröffentlichte dort sechs Nouveaux Quators, was später zur Eingliederung dieser insgesamt zwölf Stücke in den Werkkanon als Pariser Quartette führte. In ihnen vermischen sich französische und italienische Stilelemente. Die häufig vorkommende Satzfolge schnell-langsam-schnell entspricht dem Vorbild Vivaldis in seinen Konzerten. Telemanns Liebe zur französischen Musik spiegelt sich in den Tanzelementen und Suitensätzen (Menuet, Gigue, Courante, Air) wider. Die 1978 und 81 eingespielten Werke mit renommierten Barock-Spezialisten wie Alice Harnoncourt und Bob van Asperen sind in ihrer stilistischen Kompetenz wichtige Zeugnisse zeitlos gültiger Interpretationen. Die Warner-Ausgabe verschafft einen umfassenden Überblick von bedeutenden Telemann-Dokumenten der vergangenen fünf Jahrzehnte und bietet dem Musikfreund die Gelegenheit, sich mit dem riesigen Werk des Magdeburger Meisters in diversen Genres und Interpretationen zu befassen. Bernd Hoppe

 

Leider ohne jede Produktions-Jahre-Angaben und in der Auswahl doch recht willkührlich gibt es bei Hänssler Profil eine 8-CD-Wiederaufbereitung geistlicher Werke Telemanns, weitgehend Aufnahmen unter Ulrich Stölzel mit dem Collegium Vocale Siegen und dem Trompeten Consort Friedemann Immer (Kantaten und Oden) und den Solisten Mechthild Georg, Andreas Post, Albrecht Pohl, Dagmar Linde, Max Ciolek, Achim Ruck, Raimund Nolte, Miriam Feuersinger, Franz Vitzthum, Klaus Mertens, Stefanie Wüst, Angela Froemer, Georg Poplutz, Jens Hamann, Monika Mauch, Ralf Popken, Andreas Post, Konstanze Maxsein, und andere mehr, diese in Einspielungen von 2010 bis 2014 und bereits mehrfach veröffentlicht, auch bei Brilliant. Die Matthäus-Passion von 1746 ist die von 1995 mit Barbara Schlick, Claudia Schubert, Wilfried Jochens, Stefan Dörr, Hans-Georg Wimmer und Achim Rück, erneut unter Ulrich Stölzel. Den Abschluss macht René Jacobs, auch singend, am Pult der Akademie für Alte Musik Berlin in weiteren Kantaten (u. a. Die Einsamkeit, Tirsis am Scheidewege sowie Nach Finsternis und Todesschatten) (8 CD PH 17014). S. L.

 

Zeitgenössisches

 

Man trennt nicht einfach das seit 1893 wie siamesische Zwillinge zusammengewachsene Opern-Doppel Cavalleria Rusticana und Pagliacci. An Versuchen hat es freilich nicht gefehlt – zuletzt hat man der Cavalleria in Dessau Pierantonio Tascas A Santa Lucia zur Seite gestellt; Besseres kam aber selten nach. Im Juni 2015 kombinierte die Oper Leipzig Leoncavallos Pagliacci mit der Uraufführung von The Canterville Ghost von Gordon Getty. Der Mitschnitt kam bei Pentatone heraus (PIC 5186 541), wo auch schon die vom Leipziger Intendanten Ulf Schirmer dirigierte Aufführung von Plump Jack  sowie die Andersen-Oper vom Mädchen mit den Schwefelhölzern erschienen war. Um ihm die Uraufführung dieser Nichtigkeit an einem ersten deutschen Haus zu servieren, muss Schirmer schon ungemein angetan gewesen sein von den musikdramatischen Qualitäten des 83jährigen Amerikaners. Getty, den wikipedia als Businessman, Investor und Philanthrop beschreibt, hat ein umfangreiches kompositorisches Oeuvre vorgelegt, das an prominenten Orten zur Uraufführung gelangte, wobei ihm möglicherweise zu Hilfe kam, dass er ein Sohn des Öl-Tycoons Paul Getty ist.

An dem 60minütigen Einakter The Canterville Ghost, zu dem Getty selbst das Libretto verfasste, ist nicht viel auszusetzen. Man muss dieses altmodisch-banale, spätromantisch-illustrative Idiom schon sehr mögen, dazu die plätschernde Lieblichkeit und abrufbare Gruselromantik, mit der Oscar Wildes Erzählung 1887 und die Geschichte der Virgina Otis auf Canterville-Castle ummantelt wird, um von dieser musicalhaften Instant-Dramatik überzeugt zu sein. Die in Wildes Erzählung eingeschriebenen Brüche zwischen Satire, romantischer Liebesgeschichte und Burleske werden nicht angekratzt, die Figuren erfahren keine Vertiefung. Virginia ist die lyrische Naive (Alexandra Hutton mit klarer Pamina-Stimme), Canterville der wütende Bariton in der Verdi-Tradition (Anooshah Golesorkhi macht das allerbeste daraus) – beider Begegnung bildet die umfangreichste der aus 20 Szenen bestehenden Oper -, der Geist ein bellender Bass (Matthew Trevino); dazu kommen Timonthy Oliver als Oris, Jean Broekhuizen als Mrs. Otis sowie Danise Wernly und Rachel Marie Hauge.  Matthias Foremny und das Gewandhausorchester geben viel für das banale Stück, das mit Streichern und Xylophon, Blechbläserkaskaden und Cembalo durchaus Momente schafft, denen man sich wie gut konstruierter Filmmusik nicht entziehen kann (siehe auch die Version von Alexander Knaifel).

 

Etwas völlig Unbekanntes kommt aus Stockholm. Der Mitschnitt einer am Neujahrstag 1965 an der Kungliga Operan uraufgeführten Oper, vor der ich nie hörte. Auch nicht von dem Komponisten: Laci Boldemann. Sterling holt das Versäumnis auf zwei CD nach (Sterling CDO 1111/1112-2). Es mag daran liegen, dass es sich bei Black is White – said the Emperor/ Schwarz ist weiß, sagte der Kaiser um eine Kinder- oder Familienoper handelt, ein Genre, das damals noch nicht die derzeitige Hausse erlebte und irgendwie in die Ritze fiel. Ich habe die Aufnahme gerne gehört und das sehr hübsche Libretto und das Beiheft (schwed.., engl. und dt.) mit den Skizzen zur Uraufführung gerne gelesen.

Boldemann wurde 1921 in Helsinki geboren. Sein Großvater „war der Schriftsteller Arvid Järnefelt, dessen Bruder Armas Järnefelt erster Hofkapellmeister an der Königlichen Oper Stockholm war. Deren Schwester Aino heiratete Jean Sibelius“. Durch seinen Vater war er deutscher Staatsbürger und besuchte in Berlin die Schule. Er studierte an der Royal Academy of Music in London (u.a. bei Henry Wood) sowie Klavier in Schweden bei Gunnar de Frumerie. 1942 musste er in die deutsche Armee eintreten, diente in Russland, Polen und Italien, von wo aus er desertierte und zwei Jahre in einem amerikanischen Gefangenenlager verbrachte. Nach dem Krieg lernte er in Lübeck seine Frau Karin kennen, eine Enkelin des Bassisten Paul Bender. 1947 zogen beide nach Schweden, wo seine Großeltern lebten und Boldemann als Komponist und Musiklehrer arbeitete. Den Auftrag zu der Märchenoper erhielt er vom Set Svanholm, der ab 1956 als Chef der Königlichen Oper fungierte. Chefdirigent war damals Michael Gielen, der durch seine Kinder auf Boldemanns Kinderlieder aufmerksam gemacht worden war. Der Entwurf zur Oper stammt von Boldemanns Frau Karin, die durch die Frage eines Sechsjährige, ob Hitler wirklich so böse war und warum die Leute taten was er sagte, angeregt wurde, die Antwort darauf als Märchen zu behandeln. Im Zentrum ihrer im Orient zur Zeit von Jesu Geburt spielenden Handlung steht ein Junge, dem es gelingt die Diktatur des Kaisers zu stürzen. Außerdem gibt es die Liebesgeschichte zwischen der Prinzessin und dem Prinzen sowie Episoden mit dessen lustigen Begleitern. Den Text verfasste der Kinderbuchautor Lennart Hellsing. Boldemann komponierte eine richtige Oper, keine sparsame Kinderoper. Modern war Schwarz ist weiß, sagte der Kaiser schon zur Entstehung nicht – im Gegensatz zu Blomdahls Aniara und Werles Drömmen om Thérèse, hinter deren Entstehung auch Svanholm stand; übrigens erhielt Boldemann einen Auftrag Rolf Liebermanns, für die Hamburgische Staatsoper Lindgrens Mio, mein Mio zu schreiben. Dazu kam es nicht mehr. Boldemann starb 1969 in München nach einer Gallenoperation. Aber die Oper ist farbig, lebhaft, abwechslungsreich, mit kräftigen Akzenten, Gongs, Trompeten, volkstümlich, beispielsweise in Chören, die zeigen, weshalb seine kurz vor seinem Tod entstanden Liedersammlung bis heute zum Bestand des schwedischen Chor-Repertoires gehört, mit tänzerischem, musikdramatischem Drive im Zuge der russischen Modernen, mit liedhaften Solostellen, veritablen Arien, einem Duett, Terzett, Quartett und Quintett und kauzigen Pantomimen; als der Kaiser seine Macht verliert, kommt eine elektronische Orgel zum Einsatz, die bei der Uraufführung von dem Avantgardisten Karl-Erik Welin gespielt wurde. Der Titel bezieht sich auf zwei große Vasen, eine schwarze und weiße. Der Kaiser befiehlt dem Prinzen, die weiße zu holen, worauf dieser die weiße bringt, der Kaiser behauptet aber, dass dies die schwarze sei. Die Höflinge bestätigen die Aussage des Kaisers. Der Doktor holt die schwarze Vase und sagt, „hier ist die weiße“. Der Prinz protestiert und wird in einem Käfig eingesperrt. Der Junge kommt frei und gerät abermals in die Nähe des Kaisers, der wieder das Offensichtliche leugnet und den am Himmel leuchtenden Stern nicht sehen will. Wieder stimmen ihm alle zu. Einzig der Junge bleibt standhaft, „ich kann ihn sehen“. Als der Kaiser zum Schlag gegen den Jungen ausholt, nimmt das Leuchten an Intensität zu. “Es ist da, ob wir wollen oder nicht“, sagt der Junge. Endlich erkennt auch der Kaiser, dass es eine höhere Macht gibt. Er lässt die Gefangenen frei, überlässt die Herrschaft den Prinzen und der Prinzessin und reitet in die Wüste, wobei die Geschichte offen lässt, ob er einer der drei Heiligen Könige sein könnte. Der Junge sucht neue Abenteuer.

Die Stockholmer Oper hatte unter Per-Ake Andersson erste Kräfte (und eine engagierte Souffleuse) aufgeboten: in seiner letzten neuen Partie gibt der Sven Nilsson, der in den 1930er Jahren in Dresden gesungen und u. a in den UA von Arabella und Daphne mitgewirkt hatte, den Kaiser – nicht nur durch diese Besetzung des Kaisers mit einem dunkelschweren Bass fühlte ich mich an György Ránkis Des Kaisers neue Kleider erinnert, in dem Mihály Székely 1953 den Kaiser kreiert hatte. Als Junge debütierte Gunilla Slattegard an der Königlichen Oper, der sie bis 1989 angehörte, Laila Andersson, die frisch, anrührend und jugendlich unverstellt klingende Prinzessin, entwickelte sich zu einer dramatischen Sängerin, die als Salome oder Brünnhilde auch hierzulande gastierte. Ein Dokument.

Schwächer ist es um eine 50 Jahre jüngere Einspielung bestellt: Kurt Weill: „A Portrait from Berlin to New York“. Toll die Auswahl auf den beiden CDs (CDA 1820/1821-2), die von der Dreigroschenoper bis zu dem unfertigen Huckleberry Finn reicht und auch so Raritäten wie Love Life streift, deren deutschsprachige Erstaufführung das Theater Freiburg für die kommende Saison avisiert. Das ist alles in Ordnung. Freundlicheres lässt sich über die Box nicht sagen. Doch wer ließ diese Aufnahme passieren? Kein Wort zuviel über eine Interpretation, die in dieser Form bei einem Privatkonzert schön gewesen wäre, aber so…? Der erste Eindruck ist erschreckend. Nicht nur, weil Torsten Mossberg über eine allenfalls halb studierte Chorsängerstimme verfügt und so singt, dass man es als zusätzlichen Verfremdungseffekt auffassen könnte und auch die weiteren Beteiligten über ein engagiertes Amateurniveau (nur Karin Hultenberger ist eine deftige Mrs. Peachum) kaum hinausreichen, sondern weil die Aufnahme auch technisch seltsam antiquiert anmutet.

 

So oft werde ich die Canticles of the Holy Wind des Komponisten und Umweltaktivisten John Luther Adams (*1953) vielleicht nicht hören, obwohl die 14 rund eine Stunde währenden wortlosen Chorgesänge mit bimmelnden, kristallinen Klanggestalten subtile Landschaftsbilder beschwören. Vornehmlich den Himmel und die Wolken („Sky With Four Suns“, „Sky With Four Moons“, „Sky With Nameless Colors“, „Sky With Endless Stars“) beschreiben und daneben – sozusagen als Markenzeichen von Adams – auf vielfältigste Weise Vogelgesänge und eine unverdorbene, ursprüngliche Welt evozieren („The Hour Of The Doves“, „Cadenza Of The Mockingbird“, „The Hour oft he Owl“). Gerade mit den ätherisch gezirpten, ganz niedlichen Birdsongs erzielt Adams eine oft hypnotische Wirkung, die der ausgezeichnet instruierte Kammerchor The Crossing, der das Stück 2013 in Auftrag gegeben hatte, in dieser im August 2016 unter Donald Nally entstandenen Einspielung zu feinsinniger, oft auch komischer Wirkung bringt (cantaloupe music CA21131).  R. F.

Rolf Fath

Vergessenes vom Dresdner Hof

 

Der italienische Komponist Giovanni Alberto Ristori (1692 – 1753) gehörte  zum Umkreis von Hasse, Heinichen, Pisendel und Quantz am Dresdner Hof von August II. und seinem Sohn August III. Allerdings stand er im Schatten dieser Komponisten, trotz seiner vielen Funktionen als Mitglied der Dresdner Hofkapelle, Organist in der Katholischen Hofkirche, Cembalist in der Semperoper und Komponist von Opern, Serenaden, Kantaten und Kirchenmusik. Er war zudem Musiklehrer der königlichen Familie und unterrichtete die älteste der sächsischen Prinzessinnen, Maria Amalia. 1738 wurde ihre Hochzeit mit dem König von Neapel gefeiert und Ristori mit ihr nach Italien entsandt. Für den neapolitanischen Hof komponierte er Temistocle und Ariano in Siria. Nach dem Aufenthalt in Neapel, der seinen Kompositionsstil beeinflusste, wirkte er ab 1740 wieder in Dresden und wurde dort nach Zelenkas Tod zum Kirchenkomponisten ernannt.

Auf einer neuen CD von Audax stellt die argentinische Sopranistin María Savastano drei Kantaten des Komponisten vor (ADX 13711), deren früheste, Didone abbandonata, 1748 für eine Aufführung in Schloss Pillnitz geschaffen wurde. Ein Jahr zuvor hatte Maria Amalias Bruder, Kronprinz Friedrich Christian, die bayerische Prinzessin Maria Antonia geheiratet, die eine ausgebildete Sängerin und begabte Dichterin war. Die Texte zu den drei Kantaten stammen von ihr und Ristori, der inzwischen in das Taschenbergpalais eingezogen war, um einen ständigen Zugang für den Unterricht mit der Kronprinzessin zu haben, vertonte sie in schneller Folge.

Die berühmte und unzählige Male in Musik gesetzte Geschichte der von Aeneas verlassenen Dido beginnt bei Ristori mit einer Marcia, gefolgt von Didones erster Szene mit Rezitativ und schmerzlicher Arie. Die Stimme der Argentinierin besitzt eine schöne Fülle, ist kultiviert und farbig. Der letzte Teil der Komposition ist erfüllt von Didones Racheschwüren, dem Heraufbeschwören von Himmel, Hölle und Meer. Hier vermag die Solistin mit vehementem Einsatz ihres Soprans, der gleichwohl stets maßvoll gezügelt ist und der Virtuosität nichts schuldig bleibt, starke Akzente zu setzen.

Lavinia a Turno, welche das Programm der CD eröffnet, wurde gleichfalls 1748 erstmals aufgeführt, wiederum mit Maria Antonia als Solistin. Sie hatte diese Episode über die Tochter des Königs Lavinus, die mit Aeneas vermählt werden soll, jedoch Turnus versprochen war, ebenfalls aus Vergils Epos ausgewählt. Die Interpretin findet hier den gebührend klagenden Tonfall und weiß Ristoris ausgedehnte Accompagnato-Rezitative mit Leben zu erfüllen sowie die extremen Wechsel in der Dynamik plastisch auszureizen.

Die abschließende Kantate Nice a Tirsi ist eine arkadische Pastorale, welche Nicis Gefühle während der Abwesenheit ihres geliebten Schäfers Tirsi beschreibt. Auch dies geschieht in der bekannten Abfolge Rezitativ – Arie und mit den entsprechenden Stimmungswechseln. „Non v’è duolo uguale al mio“ ist eine reizvolle Arie mit melancholisch wiegendem Rhythmus, „È d’Amore dolce l’impero“ eine freudige Äußerung, die zum imaginären Liebesduett wird, weil die Oboe den abwesenden Geliebten ersetzt. Den heiteren Charakter dieser Musik verdeutlicht María Savastano mit munterem Duktus und eloquentem  Vortrag.

Vom Ensemble Diderot auf historischen Instrumenten unter Leitung von Johannes Pramsohler wird die Solistin sehr aufmerksam und feinsinnig begleitet. Das Kammerorchester ergänzt das Programm der Platte noch mit Ristoris Konzert für Oboe und Streicher Es-Dur – auch dies eine Weltersteinspielung wie zuvor die beiden Kantaten Didone und Nice. Ristori schrieb es für den Virtuosen Antonio Besozzi, der 1739 in die Dresdner Hofkapelle verpflichtet worden war. Hier ist eine brillante Technik gefordert, über welche der baskische Musiker Jon Olaberria in hohem Maße verfügt. Bernd Hoppe

Aus dem Deutschen Rundfunk-Archiv

 

 Albert Lortzing war einst sehr populär in Deutschland; kaum ein Stadttheater, das seine Opern nicht im Repertoire hatte. Doch allmählich ist es still geworden um ihn, Hits wie Zar und Zimmermann oder Der Wildschütz werden kaum noch aufgeführt. Jetzt hat das Schweizer Label Relief eine Oper von ihm neu herausgebracht, Die beiden Schützen.  Es scheint, dass jetzt, wo in Deutschland die Lortzing-Begeisterung abgeflaut ist, Interesse in der deutschsprachigen Schweiz aufflammt. Relief, spezialisiert auf Deutsche Spieloper mit guten Kontakten zur Lortzing-Gesellschaft, ist es gelungen, einen Schatz zu heben, der in Brandenburg lag, und zwar im Potsdamer Rundfunkarchiv, eine historische ostdeutsche Aufnahme aus dem Jahr 1951 mit Spitzenkräften der damaligen Zeit. Aufgezeichnet wurde in Leipzig unter dem Dirigenten Herbert Haarth. Das Ganze wurde sehr akzeptabel restauriert, die Musik erklingt in kristallklarem breiten Mono. (Und es ist eine kleine Sensation, dass das sonst für private Sammler so spröde Deutsche Rundfunk-Archiv in Potsdam sich  nach der Hänssler-Dresden-Initiative zu einer weiteren Veröffentlichungs-Kooperation mit einer CD-Firma entschlossen hat…/ G. H.)

Die beiden Schützen waren Lortzings großer Einstand an seinem Hauptwirkungsort Leipzig, die erste abendfüllende Oper, sofort ein großer Erfolg. Das ganze eine total albern-harmlose, fast operettige Verwechslungskomödie, in der man auch nach dem sechsten Hören noch nicht ganz versteht wer mit wem und warum. Es geht – soviel ist klar – um zwei Soldaten, deren Taschen bei einer Wirtshausrauferei vertauscht werden, so dass sie in der Kleinstadt für einst ausgewanderte Söhne des Bürgermeisters gehalten werden.

Lortzing, am Anfang seiner großen Karriere, schreibt mit Enthusiasmus und einem Charme, der heute noch wirkt, mag das Verwirrspiel selbst recht abgeschmackt sein, musikalisch finde ich das Werk überhaupt nicht angestaubt; im Gegenteil, die Musik wirkt zum Teil frischer als in späteren tümelnden Werken wie Waffenschmied oder Hans Sachs, weil eben der Komponist noch ganz unverbraucht und fast naiv sein Talent verströmt.

Naivität, wohlgemerkt, im Erfinden volksliedhafter Melodien, nicht im strukturellen Sinne – es ist bewundernswert, wie er sich hier mutig in Ensembles stürzt, und schon im ersten großen Werk keinen Zweifel daran läßt, dass er das deutsche Singspiel mit seinen ewigen Trällerliedern komplett entrümpeln will und wird; die Oper hat 16 Gesangsnummern, davon sind 10 Ensemble, mehr als die Hälfte, das ist schon beeindruckend, und viele Nummern haben einen fast schon operettenhaften Schwung.

Aufgeführt wird die Oper nicht mehr, weil der Stoff einfach zu banal ist, trotz der schönen Musik.   Es gibt aber noch zwei andere historische Aufnahmen, fast zur selben Zeit entstanden, was kein Wunder ist, denn 1951 war der 100. Todestag von Lortzing. Eine kommt von Bayerischen, eine vom Hessischen Rundfunk – beide sind viel prominenter besetzt.  Die andern warten mit größeren Namen auf: Richard Holm, Benno Kusche, Karl Schmitt-Walter etc., Trotzdem hat diese Leipziger Aufnahme für mich die beiden anderen sofort ausgestochen, denn es scheint die authentischste zu sein: kaum Striche, alle 16 Nummern plus der 3 Orchesterstücke sind da, auch die meisten Reprisen, eine stilistisch ganz erstaunlich seriöse Aufnahme, mit einem wirklich fantastischen Lortzing-Dirigenten, der den Witz der Lortzing-Musik duch feine und spitzbübische Tempowechsel lebendig macht. Das ist auch nicht schlechter als Heger oder Schüchter.

Grade weil man das Werk vermutlich nicht wiederbeleben kann und es hier in dieser Aufnahme glänzend konserviert ist, sollte der Opernfan hier zuschlagen. Denn man muss dran glauben, um diese Musik perfekt hinzukriegen, und dafür muss man wohl, wenn nicht im Jahr 1837, so doch wenigstens im Jahr 1951 leben. So stilistisch brillant und distanzlos jedenfalls wird man´s nicht wieder hinbekommen im 21. Jahrhundert. Das sind exzellente Sänger  am Start: Gert Lutze etwa, ein sehr akzeptabler Tenor, oder Ursula Richter, einer der großen Stars der Komischen Oper. Auch die kleineren Rollen sind durchaus gut besetzt. Das ist Musik für singende Schauspieler, und schauspielern konnten damals fast  alle Opernsänger in den 50er Jahren. Mir jedenfalls haben die Schützen knappe 2 Stunden lang größtes Vergnügen bereitet, auch weil die Produzenten vor 66 Jahren so gnädig waren, den kruden Text auf ein Minimum zu kürzen. Matthias Käther

 

Albert Lortzing – Die beiden Schützen; mit Gert Lutze, Ursula Richter, Theodor Horand u. a.; Chor des MDR; Mitteldeutsches Rundfunkorchester; Herbert Haarth; Historische Aufnahme aus dem Jahr 1951; RELIEF CR 1925 

 

Rosalie

 

Die Bühnenkünstlerin Rosalie ( (* 24. Februar 1953 in Gemmrigheim als Gudrun Müller) starb am 12. Juni 2017 in Stuttgart. Von 1974 bis 1978 studierte Rosalie Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Stuttgart und von 1975 bis 1982 Malerei, Grafik und Plastisches Arbeiten an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, davon von 1977 bis 1982 Bühnenbild bei Jürgen Rose. Seit 1979 war sie freischaffende Künstlerin. Sie entwarf experimentelle Raum- und Figurenkonzepte und war als Malerin, Installationskünstlerin und Bildhauerin tätig. Daneben übernahm sie Aufträge als Bühnen- und Kostümbildnerin für Oper, Schauspiel, Ballett, experimentelle Musik und Film. Seit 1995 war Rosalie an der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main Professorin mit eigenem Lehrstuhl für Bühnen- und Kostümbild. 2003 leitete sie eine Meisterklasse bei der Internationalen Sommerakademie für Bühnenbild in Salzburg. Von 2002 bis 2004 war sie Jurymitglied des Bayerischen Theaterpreises und 2002 Gründungsmitglied der Hessischen Theaterakademie Frankfurt am Main. 1982 erhielt Rosalie das Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg, 1988 den Ersten Preis für das beste Bühnenbild der 1. Münchener Biennale und einen Preis für das beste Kulturplakat der Stadt München. 2008 wurde ihr der Europäische Kulturpreis für das künstlerische Gesamtwerk durch die Europäische Kulturstiftung „Pro Europa“ verliehen. 2009 erhielt sie den Walter-Fink-Preis des ZKM | Karlsruhe für intermediale Disziplinen. Am 20. April 2013 verlieh ihr Ministerpräsident Wilfried Kretschmann den Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg (Quelle Wikipedia) .Nachstehend ein Nachruf der Oper Leipzig.

 

Die Oper Leipzig trauert um ROSALIE. Die 1953 geborene Bildende Künstlerin, Bühnenbildnerin und Kostümbildnerin verstarb am Montag, 12. Juni 2017. Seit Ende der 1970er Jahre war ROSALIE mit Ausstellungsprojekten in der zeitgenössischen Kunst sowie mit Theater- und Bühnenbildprojekten international präsent. In den letzten Jahren rückte vor allem die Lichtkunst ins Zentrum ihres Schaffens, darunter waren Ausstellungen ihrer Werke im  Museum der bildenden Künste Leipzig oder auf der Internationalen Biennale für zeitgenössische Kunst in Sevilla. Als Bühnen- und Kostümbildnerin von Opernproduktionen war sie für die Bayreuther Festspiele (»Der Ring des Nibelungen« 1994-1998), für die Semperoper Dresden und das New National Theatre Tokyo/Japan tätig. Mit dem Choreografen Uwe Scholz pflegte sie seit 1982 eine persönliche Freundschaft und war seine künstlerische Wegbegleiterin am Stuttgarter Ballett,  der Staatsoper Berlin, am Opernhaus Zürich, der Mailänder Scala, dem Bayerischen Staatsballett und der Oper Leipzig mit dem Leipziger Ballett für »Bruckner 8« (2001) und »Scholz Notizen« (2004). Zudem realisierte ROSALIE eine Vielzahl von Projekten mit zeitgenössischer Musik – zuletzt Mahlers »Sinfonie der Tausend« mit dem philharmonischen Staatsorchester Hamburg in der Elbphilharmonie im April 2017. Im Jahr 2008 wurde sie mit dem Europäischen Kulturpreis für ihr künstlerisches Gesamtwerk ausgezeichnet und 2013 mit dem Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg. Seit 1995 war ROSALIE Professorin für Bühnen- und Kostümbild an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main. Ihre letzte Arbeit ist nun das Bühnen- und Kostümbild für die Neuproduktion von Richard Strauss‘ »Salome« an der Oper Leipzig, deren Premiere am kommenden Samstag, 17. Juni stattfindet. Unser Mitgefühl gilt der Familie, den Freunden und Mitarbeitern von ROSALIE. (Quelle Oper Leipzig/ Foto oben: Rosalie/ Foto 2015 Daniel Mayer/ Oper Leipzig/ Ausschnitt)

Tempi passati

 

Beinahe noch nachträglich traurig stimmt die Erinnerung an das Galakonzert zum fünfzigjährigen Berliner Bühnenjubiläum von Plácido Domingo kürzlich in der Staatsoper/Schiller Theater, vergleicht man seine angestrengte Leistung mit der des unbeschwert aus dem Vollen schöpfenden jungen Tenors, der 1975 an Covent Garden einen in jeder Hinsicht strahlenden Riccardo in Verdis Ballo in Maschera an der Seite von Katia Ricciarelli und Piero Cappuccilli gab.  Wie nun auf Opus Arte DVD zu sehen ist.

Jürgen Rose schuf die recht provinziell wirkende Bühne, das schwedische Schloss ohne Glanz und einen Galgenberg ohne Grauen, ist wohl auch für die im letzten Bild allzu knallbunten Kostüme verantwortlich, Otto Schenk inszenierte den Chor für die damalige Zeit erstaunlich differenzierend, die Solisten scheinen sich eher auf Opernstandardgesten zu verlassen.

Domingo glänzt durch sein leidenschaftliches Spiel, ist als Silvano charmant frech und sein Tenor ist so strahlend am Schluss des ersten Bildes wie elegant geführt in der Canzone oder rauschhaft mit kräftigen Farben prunkend im Invan tu celi Amelia. Im Liebesduett übertrifft er seine Partnerin bei weitem an leidenschaftlichem Ausdruck, und nur die Intervallsprünge in die Tiefe fallen etwas aus dem kostbaren Rahmen. Katia Ricciarelli hatte durch falsche Rollenwahl zu dieser Zeit bereits etwas von ihrem wunderschönen elegischen Timbre eingebüßt, aber ihre Piani sind noch immer bewundernswert, die zweite Arie Morrò ma prima liegt ihr weitaus besser als die erste, aber im Vergleich zu Domingo klingt sie oft zu geschmäcklerisch, zu sehr säuselnd. Zwar  räumt Piero Cappuccilli nicht wie in Wien neben Pavarotti bereits mit seiner ersten Arie ab, aber sein reiches Material, seine Superfermaten (patria), seine auftrumpfende Vendetta, nicht zuletzt sein Piano am Schluss der ersten Arie verfehlen ihre Wirkung nicht – das Wunderbare ist, dass man bei ihm nie zittern muss, einfach nur genießen kann. Putzig zwitschert Reri Grist ihren Oscar, kann das Ensemble am Schluss des zweiten Bildes überstrahlen. Eine beeindruckende Haltung hat Elizabeth Bainbridge für die Ulrica, leider klingt sie oben schrill und unten grummelnd. Wie erstickt hört sich die Stimme von William Elvin als Cristiano an, bereits damals imposant klingt Gwynne Howell als Ribbing.

Ein ganz großes Plus ist der junge Claudio Abbado am Dirigentenpult, Rauschhaftes ist aus dem Orchestergraben beim Liebesduett zu hören, er ist der Garant für das Hörbarmachen der Eleganz der Partitur und  ihres elegischen Grundcharakters. Leider kann man die englischen Untertitel nicht ausschalten, solche in anderen Sprachen gibt es nicht (Opus Arte 1236D).

 

Eine wahre Kostümorgie (Michael Stennett) feierte Covent Garden mit Donizettis Lucrezia Borgia in der Regie von John Copley, und welche Diva könnte diese Wunderwerke der Theaterschneiderei  besser oder überhaupt zur Geltung bringen als Joan Sutherland?! Dazu trägt sie einander sich an Üppigkeit überbietende Frisuren und den jeweils dazu passenden Kopfputz, hat eine wahrhaft königliche Haltung und eine fast unbewegliche Miene. Das alles scheint sie nicht zum Ideal einer liebenden und leidenden Mutter zu machen, doch alles, was die Optik nicht hergeben will, wird im Gesang in Überfülle geboten: eine Superhöhe, eine unerhörte Breite von Variationsmöglichkeiten in der Farbgebung, des chiaro-scuro, der morbidezza, kurzum, eine Lektion in Belcanto. Ähnlich verhält es sich mit Alfredo Kraus als Gennaro, der über wenige Gesten, aber über unendlich viele Ausdrucksmöglichkeiten der Stimme verfügt, die elegant und stilsicher geführt wird,  auch wenn manch ein Zuhörer den Tenor als zu grell und trocken empfinden mag. Eher wie Boris Godunov als wie Alfonso d’Este wirkt  Stafford Dean dunkel dräuend und auch optisch ein rechter Finsterling. Sehr charmant, aber eher weiblich gibt Anne Howells einen Orsini geschmeidigsten Mezzosoprans, einen meckernden Charaktertenor setzt  Francis Egerton für den Alfonso-Getreuen Rustighello ein, so wie das Gefolge des Gennaro zwar optisch ideale Bilder von Renaissance-Jünglingen bietet, aber vokal eher schwächelt. Natürlich waltet am Dirigentenpult Richard Bonynge seines balcantokundigen Amtes mit einer dramatischen Sinfonia und einem hochsensiblen Vorspiel zur zweiten Szene des zweiten Akts.

Ohne diese beiden DVDs hat man für die junge Generation kaum Maßstäbe für das, was Verdigesang  (Cappuccilli) oder Belcanto (Sutherland, Kraus) sein können. Der ältere Opernfan ist zur Miesepetrigkeit beim Vergleich mit den meisten heutigen Sängern verdammt (Opus Arte 1237 D). Ingrid Wanja

Innerlichkeit und Gedenken

 

Die Übersetzungen von Homers Ilias und Odyssee durch den Altphilologen Johann Heinrich Voß (1751-1826) sind heute immer noch erhältlich. Dass Voß als Zeitgenosse Goethes auch ein beliebter Lyriker war, ist hingegen kaum im Bewusstsein. Zu Lebzeiten und später fanden sich Komponisten, die ihn vertonten, die CD Seid menschlich, froh und gut bringt einen Querschnitt von 36 Liedern des in Mecklenburg geborenen Voß, der seine Lyrik stets auch mit Blick auf eine Vertonung als Lieder dachte, Voß‘ heute wenig präsenter Freund Johann Abraham Peter Schulz (1747-1800) ist mit sechs Kompositionen vertreten. Die Zusammenarbeit von Voß und Schulz wird im Beiheft als „Komponisten-Dichter-Werkstatt“ bezeichnet und zeigt, wie Voß selber seine Lyrik musikalisch empfand. Weiterhin in die Auswahl dieser CD aufgenommen sind als ältester  Komponist C.P.E. Bach, Voß‘ Altersgefährten Johann Friedrich Reichardt, Friedrich Ludwig Kunzen, Franz Xaver Sterkel, Carl Friedrich Zelter, Johann Rudolf Zumsteeg und Hans Georg Nägeli sowie als späte Zeitgenossen Carl Maria von Weber, Fanny Hensel und Felix Mendelssohn. Weiterhin sind Franz Schubert und Johannes Brahms mit Liedern auf Lyrik von Ludwig Christoph Hölty vertreten, die Voß als Herausgeber überarbeitete. Manche Gedichte sind mehrfach dabei, bspw. das Minnelied, deren zweite Strophe als Beispiel für Voß‘ Tonfall herangezogen werden kann: „Ach! bin inniglich / Minnewund! / Gar zu minniglich / Dankt ihr Mund; / Lacht so küßlich, / Daß mir’s bebt in des Herzens Grund!“ Die Vertonungen von Carl Maria von Weber, Carl Loewe und Johann Rudolph Zumsteeg laden zum Vergleich ein.  (Auch Johannes Brahms vertonte das Minnelied in den „12 Lieder und Romanzen“ op. 44, allerdings für vierstimmigen Frauenchor). Voß bewunderte Klopstock und Pindar, zwischen Aufklärung, Naturschwärmerei und  antiken Versmaße bewegt sich auch die Spannbreite seines Schaffens. Innerlich, heiter, erhaben, unmittelbar und anti-höfisch – seine Lyrik strebte einen volksnahen und volksbildenden Ton an, Musik und Lyrik sollten sich zur Herzensbildung vereinen, sein Freund Schulz wollte „moralische Menschenlieder“ komponieren und als „Liedermann des Volkes“ gelten. Nicht alle Komponisten interessierten sich für diese Intention, die Romantiker betonten das Empfindsame. Eine spannende Zusammenstellung und auch die Interpretation ist in den richtigen Händen und Stimmbändern: der vielseitige Bass-Bariton Ulf Bästlein ist selber promovierter Philologe und Germanist und als Professor an diversen Musikhochschulen prädestiniert für dieses Projekt. Seine Stimme mag manchmal etwas Frische und Beweglichkeit vermissen lassen, Ausdruck und Engagement überzeugen umso mehr. Weiterhin aufgewertet wird die Einspielung durch Pianist Sascha el Mouissi, der auch den Vertonungen der weniger bekannten Komponisten viel abgewinnen kann. Ein ausführliches Beiheft wertet diese für Liederfreunde sehr gelungen zusammengestellte und interpretierte Raritätensammlung weiter auf. (Gramola 99118)

Der Komponist  Friedrich Kiel (1821-1885) hat sein Requiem in f-Moll op. 20 1862, sieben Jahre vor Johannes Brahms‘ innovativen  „Ein deutsches Requiem“, uraufgeführt. Es war sein Durchbruch als Komponist und brachte ihm eine Professorenstelle ein, als angesehener Kompositionslehrer war er an verschiedenen Hochschulen tätig. Das ca. einstündige, in Latein gesungene Requiem ist explizit als Konzertwerk und nicht für den sakralen Raum gedacht. Als Protestant konnte er auf keine Vertonungstradition zurückgreifen, sein Vorbild findet sich bei Mozart, vielleicht auch bei Cherubini. Musikalisch kombiniert sich „kontrapunktische Linienführung mit romantischer Harmonik und einprägsamer Melodik“, erläutert der Dirigent. Ein düsteres Introitus, ein angstvolles Kyrie, ein tonmalerisches Dies irae (dass noch weit von der Drastik Verdis entfernt ist), Verzweiflung im Lacrimosa und Hoffnung im Offertorium, Sanctus und Agnus Dei – was das spezifisch Protestantische an diesem Requiem sein soll, erschließt sich heute nur Experten und auch das zu wenig ausführliche Beiheft bietet kaum Aufklärung zur kirchengeschichtlichen Einordnung und Grundidee des Werks. Kiel mag sein Requiem mit Orchester für den Konzertsaal konzipiert haben, die vorliegende Live-Aufnahme hingegen entstand 2016 in Berlin der Heilig-Kreuz-Kirche mit Klavierbegleitung – so richtig will hier also nichts zusammenpassen. Zu hören ist eine vom Komponisten erstellte zweite Ausgabe des Werks von 1878, die vom Dirigenten dieser Aufnahme in eine nicht vom Komponisten erstellte Klavierfassung der Fassung von 1962 rückeingearbeitet wurde. Diese erste Klavierfassung erstellte Julius Stern, dessen Gesangsverein das Requiem uraufführte und bei sogenannten „stillen Aufführungen“ neue Werke einem kleinen Kreis vorstellte. Auch diese Aufnahme ist eine „stille Aufführung“ mit Klavierbegleitung und ohne Orchester – eine Entscheidung, die dem Zuhörer also nur einen reduzierten musikalischen Einblick gewährt, die südkoreanische Pianistin Sue Baek begleitet mit viel Einsatz und Leidenschaft, um diesen Mangel etwas zu kompensieren. Reduziert wird der Einblick zusätzlich durch die ordentlich agierenden, aber nie Aufmerksamkeit erregenden Sänger: weder Christina Bischoff (Sopran), Anja Schumacher (Alt), David Ameln (Tenor) und Matthias Jahrmärker (Bass) noch das ensemberlino vocale unter seinem Leiter Matthias Stoffels gelingt es, diese Rarität nachhaltig zu beleben. (Rondeau, ROP 6141Marcus Budwitius

Der Müllerbursche in der Oper

 

Daniel Behle ist ein renommierter Mozart-Interpret und auch im Liedgesang erfahren. Schuberts Zyklen Die schöne Müllerin und Winterreise gehören zu den Kernstücken seines Repertoires. Jetzt hat er bei der deutschen harmonia mundi eine CD mit Schubert-Arien herausgebracht, welche das begleitende L’Orfeo Barockorchester unter Michi Gaigg mit Ouvertüren des Komponisten ergänzt (89854 07212). Der Sänger bewegt sich mit diesem Programm auf vertrautem Terrain, hat er doch in Opern der deutschen Hoch- und Spätromantik (Wagner, Humperdinck und Strauss) bereits bedeutende Erfolge errungen. Dass er sich nun Werken des als Opernkomponisten noch immer unterschätzten Franz Schubert widmet, ist verdienstvoll und hoffentlich ein Beitrag zur dessen Rehabilitierung.

All diese Arien, in denen es um jungmännliche Gefühle geht – Schwärmerei, Liebesverlangen, Sehnsucht, Hoffnung –, verlangen eine schlanke, flexible Stimme, die dennoch leidenschaftliche Empfindungen auszudrücken vermag. Verzierungen sind dagegen weniger gefragt, ging es in Schuberts Werken doch um die Hinwendung zum Drama im Sinne der griechischen Tragödie, weg von der gesanglichen Virtuosität des Belcanto-Stils.

Die erste Romanze aus dem Zauberspiel von 1820 Die Zauberharfe mit dem Wortlaut „Was belebt die schöne Welt? – Liebe nur verschafft ihr Leben“ steht als Motto über der Arienauswahl. Behle stellt sie in der Konzertfassung als Weltersteinspielung vor und lässt in diesem emphatischen Gesang seinen wohllautenden, kultivierten Tenor hören. Aus dem Jahre 1815 stammt das Fragment des Singspiels Claudine von Villa Bella, aus welchem die Arie des Pedro „Es erhebt sich eine Stimme“ erklingt. Sie behandelt die Entscheidung zwischen aristokratischer Karriere und einem glücklichen Leben auf dem Lande,  verweist schon auf das tenorale Zwischenfach. Im selben Jahr entstand das Singspiel Die Freunde von Salamanka, aus dem der Tenor zwei Szenen ausgewählt hat. Die galante Arie des Tormes „Aus Blumen deuten die Damen gern“ ist eine weitere Premiere auf CD, Diegos Romanze „Es murmeln die Quellen“ ein lieblich wiegendes Stück mit lyrischer Substanz.

Eine veritable Rarität ist das Singspielfragment Adrast von 1819/20, aus dem zwei Arien des Titelhelden zu hören sind. Schubert verlangte von den Interpreten seiner Werke, dass deren Stimme ans Herz dringen müsse. Genau das gelingt Behle mit seinem liedhaft-schlichten Vortrag.

Gelegentlich aufgeführt wird das szenische Oratorium Lazarus (1820), aus dem die Arie des Nathanael „Wenn ich ihm nachgerungen habe“ vorgestellt wird.

Auch Alfonso und Estrella (1821/22) steht zuweilen auf den Spielplänen, ebenso wie Fierrabras von 1823. In Alfonsos Arie „Schon, wenn es beginnt zu tagen“ hat der Tenor exponierte Töne zu meistern, was Behle mühelos gelingt. Sehr gelungen ist die Gegenüberstellung von zwei verschiedenen Tenorrollen in Fierrabras – Eginhards sanfte Romanze „Der Abend sinkt“ und die aufgewühlte Arie des Titelhelden „In tief bewegter Brust“ mit ihren Ausflügen in dramatische Gefilde. Der letzte Titel der Auswahl, die Arie „Der Tag entflieht“ aus der Opéra comique Das Zauberglöckchen, offeriert eine weitere Seltenheit und Ersteinspielung. Gesungen wird sie von Azolin, der, um die Prinzessin Palmira zu erobern, die eigene Mutter in Gefahr bringt. Dieser Konflikt gestaltet sich musikalisch in einer turbulenten Szene mit heldischem Anflug, mündend in eine bravouröse Stretta mit exponiertem Schlusston. Der Tenor Franz Rosner, für den sie komponiert wurde, war danach der Interpret des Max in Webers Freischütz, was für den Anspruch dieser Musik spricht.

Mit drei Ouvertüren trägt das von Michi Gaigg 1996 gegründete und auf historischen Instrumenten musizierende L’Orfeo Barockorchester zur Vielfalt des Programms bei. Aus der Zauberharfe erklingen die zum 1. Akt mit ihren gewichtigen Einleitungsakkorden, denen ein Weber nahes, lebhaftes Allegro vivace folgt, sowie die zum 3. als stürmisches Allegro ma non troppo mit heftiger dramatischer Steigerung. Davon ist auch die Ouvertüre zu Alfonso und Estrella bestimmt, deren energischen Gestus die Dirigentin plastisch formt, wie sie überhaupt Schuberts musikalischem Sturm und Drang jederzeit gerecht wird. Bernd Hoppe

Hilde spült Gläser

 

Es hat sehr lange gedauert, bis dieser Film auf DVD gelangte: Die Dreigroschenoper – nicht ganz von sondern eher nach Bertolt Brecht und Kurt Weill. Als er um 1963 in die westdeutschen und Berliner Kinos kam, erregte er viel Aufsehen. Selbst in der DDR wurde diese deutsch-französische Co-Produktion in der Regie keines Geringeren als Wolfgang Staudte gezeigt. Ich erinnere mich noch ganz genau an den ersten Auftritt von Hildegard Knef als Spelunken-Jenny. Ihr Gesicht, von feuerroten Haaren umhüllt, schob sich im Profil auf die riesige Breitwandleinwand: „Das war Mackie Messer“, sagte sie mit ihrer unverwechselbaren heiseren Stimme. Dann erst ging es richtig los. Nach mehr als fünfzig Jahren hat dieser Moment nichts von seiner Wirkung eingebüßt – mit einem Unterschied. Der Film läuft jetzt nicht mehr im Kino, sondern auf dem heimischen Fernsehbildschirm ab. Nichts zu wünschen übrig lässt die Bildqualität. Die Firma Filmjuwelen, bei der die DVD-Ausgabe erschien, bürgt schon mit ihrer Namenswahl für hohen Standard (6416965).

„Die Dreigroschenoper“/ Cover der „Illustrierten Filmbühne“ 1963/ OBA

Die Story um den berüchtigten Gangster ist bekannt. Sie fußt auf der Beggar’s Opera von John Gay (mit der Musik von Johann Christoph Pepusch, einem Rivalen Händels, dem beide mit diesem Werk schwer zu schaffen machten). Schon wenige Jahre nach der Uraufführung der Dreigroschenoper am 31. August 1928 im Theater am Schiffbauerdamm, wo heute das Berliner Ensemble residiert, gab es die erste Verfilmung (von Georg Wilhelm Pabst 1931), die näher am Original ist als die Staudte-Version. Noch heute wird das Stück, das zu den erfolgreichsten seiner Art gehört, gespielt. Es wurden Plattenaufnahmen gemacht – gute und weniger gelungene. Helge Rosvaenge, Milva, Harald Juhnke und sogar Lale Andersen haben sich daran versucht. Einzelne Titel wurden Hits wie die Moritat von Mackie Messer, wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Einst von Ernst Busch mit messerscharfer Zunge kreiert, übernahm nun in Staudtes Film der amerikanische Entertainer, Schauspieler, Sänger und Tänzer Sammy Davis jr. diesen Part und rückte ihn, zudem englisch dargeboten, in die Nähe einer Musicalnummer. Ein Eindruck, der sich auf die gesamte Verfilmung überträgt. Der Sound ist ein anderer. In seiner Bearbeitung der Partitur hat der im Filmgeschäft sehr erfahrene Komponist Peter Sandloff eine Gruppe von Streichern hinzugefügt, die es im Original nicht gibt. Unterhalten will dieser Film seine Zuschauer und nicht sozialkritisch auf die Barrikaden bringen. Staudte, der gemeinsam mit dem Schriftsteller Günther Weißenborn auch das Drehbuch geschrieben hatte, unterliegt nicht der Versuchung, die Geschichte an originalen Schauplätzen, nämlich im Londoner Stadtteil Soho, spielen zu lassen, wo auch schon Stevensons Dr. Jekyll als sein eigener Doppelgänger Mr. Hyde Angst und Schrecken verbreitete. Die Handlung vollzieht sich wie auf einer Bühne in gemalten Kulissen. Auf diese Weise bleibt diese Dreigroschenoper ein Theaterstück.

Von Anfang an scheint kein guter Stern über der Produktion gestanden zu haben. Im Booklet wird die Geschichte von Roland Mörchen präzise und spannend erzählt. Demnach hätte der Produzent Kurt Ulrich am liebsten Yves Montand als Mackie, Pascale Petit als Polly und die Weill-Witwe Lotte Lenya als Jenny, die sie schon in der Uraufführung und in der ersten Verfilmung gespielt hatte, engagiert. Für die Verfilmungsrechte habe er laut einem Bericht des „Spiegel“ vom 7. November 1962 „an die Rechtsinhaber Helene Weigel und Lotte Lenya 80 000 Dollar, umgerechnet 320 000 Mark“ bezahlt. Zudem seien 300 000 Mark für Giulietta Masina, die Ehefrau von Federico Fellini fällig gewesen, mit der Ulrich 1959 „Das kunstseidene Mädchen“ produzierte und zeitgleich für die Dreigroschenoper unter Vertrag genommen habe, „ohne zu ahnen, dass sich die Dreharbeiten immer wieder verzögern würden“. Dann kam der Mauerbau in Berlin, in dessen Folge das Interesse an Brecht, der zuletzt in Ostberlin lebte, in Ächtung umschlug. Es dauerte, bis schließlich Staudte als Regisseur gesetzt war, der zunächst „ebenfalls keinen Dreh findet, um Brechts Stück für die Gegenwart fruchtbar zu machen“, so Mörchen. Dann habe er eine Idee gehabt. „Er will der Brecht-Handlung einen aktuellen Bezug geben, in dem das Unterwelt- und Rotlicht-Milieu angesichts wachsenden Werteverlustes der Gegenwartsgesellschaft gehörig in die Krise geraten ist.“ Daraus wurde dann doch nichts. Weil die Option auf die Verfilmung Ende 1962 ausgelaufen wäre und Einsprüche der Brecht-Witwe Weigel zu befürchten gewesen seien, arrangiert sich der Regisseur „schließlich mit der Ablehnung seines ursprünglichen Konzepts und beginnt am 22. Oktober 1962 in den Ufa-Studios von Berlin-Tempelhof zu drehen“, schreibt Mörchen. Sieben Wochen später, am 11. Dezember, sei fristgerecht die letzte Klappe gefallen. Staudte „dreht die vier Million Mark teure Produktion als großen Ausstattungsfilm (Bühne und Kostüme: Hein Heckroth) und zugleich als großen Schauspielerfilm“, fasst der Booklet-Autor zusammen.

„Die Dreigroschenoper“/ Reklamefoto für die Kinoschaukästen/ Gloria Filmverleih 1963/ OBA

Curd Jürgens, seinerzeit ein allseits gefeierter Star, bleibt dem Mackie Messer viel schuldig. Er wirkt gestelzt. Ein großer Namen allein reicht nicht. Im Booklet werden zeitgenössische Kritiken zitiert. Der schon erwähnte „Spiegel“ sprach von einem „alternden Gasparone mit Zwicker“. Nach Auffassung der „Welt“ wirkte Jürgens „innerhalb des Berufszweigs der Ganoven eher wie ein Heiratsschwindler“. Und die „Filmblätter“ urteilten: „Kein gefährlich-schillernder Gangster, sondern ein ältlicher Ver-Lebemann – unterspielt, unterkühlt.“ Von anderem Kaliber sind da schon der ewig sächselnde Gert Fröbe als glaubwürdiger Peachum, Inhaber der Firma „Bettlers Freund“, und Hilde Hildebrand als seine Frau Celia.

Gert Fröbe und Hilde Hildebrand/ Still aus der „Dreigroschenoper“-DVD bei Filmjuwelen

Sie hatte ich viel verwüsteter in Erinnerung mit ihrer „Ballade von der sexuellen Hörigkeit“ und finde sie nun eher als deutlich gealterte Anita aus dem Film „Große Freiheit Nr. 7“ wieder, dem sie mit ihrem Lied „Beim ersten Mal da tut‘s noch weh“ ein Gütesiegel erster Klasse aufgedrückt hatte. Aus England kam die Polly in Gestalt von June Ritchie, die auch keinen rechten Zugang zu ihrer Rolle fand. Lino Ventura glänzte am Ende mehr durch seinen berühmten Namen denn durch Eignung für die Figur des Tiger Brown. Großen Eindruck hinterlässt auch heute noch Walter Giller, der damals mit seiner Frau Nadja Tiller als Traumpaar des Films galt, hier als einfältiger Bettler Filch. Und Hilde? Die ist wie sie immer war und wirkt mit mehr als einem halben Jahrhundert Abstand ein wenig wie ihr eigenes Klischee. Ein schönes und bewegendes Klischee. Deshalb ist dieser Film immer noch sehr sehenswert – Filmgeschichte eben (Foto oben: „Die Dreigroschenoper“/ Reklamefoto der Gloria Filmverleih 1963 / Ausschnitt/ OBA). Rüdiger Winter

Jeffrey Tate

 

Die Hamburger Symphoniker schreiben: Die einzigartige Stimme Jeffrey Tates ist verstummt und wird doch in den Herzen, in den Gedanken und in der Erinnerung zahlloser Bewunderer und Freunde in der ganzen Welt ewig weiter klingen. Die Symphoniker Hamburg sind vom völlig überraschenden Ableben ihres geliebten und verehrten Chefdirigenten zutiefst erschüttert. Seine Musik hat die Welt zu einer besseren gemacht, und wir sind für die Stunden, Tage und Jahre, die wir mit Sir Jeffrey verbringen durften, unendlich und unsagbar dankbar. Sir Jeffrey hat unser Orchester wie kein anderer geformt. Unsere Gedanken sind bei seinem Mann Klaus Kuhlemann und bei der Familie. Möge seine Seele eingebunden sein in das Bündel des ewigen Lebens. (Quelle: Hamburger Symphoniker

 

Jeffrey Tate/ Hamburger Symphoniker/ youtube

Sir Jeffrey Tate (* 28. April 1943 in SalisburyEngland; † 2. Juni 2017 in BergamoItalien): Er studierte trotz angeborener Behinderungen wie Spina bifida und Kyphose von 1961 bis 1964 Medizin an der Universität von Cambridge und wurde Facharzt für Augenheilkunde. Tate arbeitete danach als Augenchirurg am St Thomas’ Hospital in London. Später gab er seine klinische Karriere auf und studierte Musik am London Opera Centre. Seine musikalische Laufbahn begann er als Assistent von Herbert von Karajan in Salzburg und James Levine an der Metropolitan Opera in New York. 1976 war er Assistent von Pierre Boulez beim Bayreuther ‚Jahrhundertring‘.

Jeffrey Tate dirigierte an Opernhäusern und Festivals ein breites Repertoire mit Schwerpunkten auf den Werken von Strauss, Mozart, Wagner und französischen Opern. Jeffrey Tate war Chefdirigent der Symphoniker Hamburg. Er hat außerdem mit dem London Symphony Orchestra, Berliner Philharmoniker, Cleveland Orchestra, Orchestre de la Suisse Romande, English Chamber Orchestra, Philharmonisches Orchester Rotterdam und Orchestre National de France zusammengearbeitet.

Tate wurde im Rahmen der traditionellen britischen Neujahrsehrungen (New Year’s Honours) 2017 für seine Verdienste um die britische Musik im Ausland (for services to British music overseas) zum Knight Bachelor nobilitiert.

In seinen letzten Konzerten dirigierte er die Neunte Sinfonie von Gustav Mahler mit dem Haydn Orchester von Bozen und Trient und den Studenten der beiden Städte (Fotos: Hamburger Symphoniker Trailer/ youtube). (Quelle Wikipedia

Jiří Bělohlávek

 

Mit Bestürzung hörten wir von dem Tode des tschechischen Dirigenten Jiří Bělohlávek, ein Gigant in seiner Zeit und ein Garant einer eigenen, eigenständigen nationalen Orchestersprache nicht nur in seiner Heimat. Viele Plattenaufnahmen zeugen von seiner Genius. Sein Tod ist ein schwerer Verlust nicht nur für seine tschechischen Zuhörer und die Tschechische Philharmonie, sondern für Musikliebhaber weltweit. Im Folgenden bringen wir eine Würdigung von der website seiner Stammorchesters, der Tschechischen Philharmonie, der wir unsere Anteilnahme versichern.

 

Jiří Bělohlávek/ Foto Tschechische Philharmonie

It is with deep sorrow that the Czech Philharmonic announces that last night, May 31st, the principal conductor and music director of the Czech Philharmonic Jiří Bělohlávek died after a courageous struggle with a serious illness. It is primarily to his credit that during the past five years, the Czech Philharmonic has enjoyed many extraordinary successes and has regained a place of honor in its home country and abroad – it has truly become a national orchestra, finding its way back to the stages the world’s most prestigious concert halls, and it has made a number of highly acclaimed recordings. Not only for the Czech Philharmonic, but for the entire Czech nation, the passing of Jiří Bělohlávek means the loss of both a great artist and an extraordinary human beingJiří Bělohlávek was born in Prague in 1946. His love of music became apparent at an early age, encouraged by his father, a judge, who introduced his son to an array of classical music. At the age of four, Jiří joined a children’s choir, and was soon taking piano lessons. Jiří Bělohlávek went on to learn the cello with Professor Karel Pravoslav Sádlo before continuing his studies at the Prague Conservatory and at the Academy of Performing Arts in Prague. It was during these years that Jiří Bělohlávek began conducting in earnest, receiving instruction from Robert Brock, Alois Klíma, Bohumír Liška and Josef Veselka.

In 1968, the legendary Rumanian conductor Sergiu Celibidache invited Jiří Bělohlávek to become his assistant, a collaboration which culminated in Bělohlávek winning the Czech Young Conductors’ Competition in 1970, as well as reaching the final of the prestigious Herbert von Karajan Conducting Competition in 1971. It was in 1970 that Bělohlávek began conducting the Czech Philharmonic to great acclaim; the start of his long relationship with the orchestra.

Jiří Bělohlávek was appointed Conductor of the Brno State Philharmonic Orchestra in 1972, a position he held until 1978. He then became Chief Conductor of the Prague Symphony Orchestra, a partnership which lasted until 1989, and Permanent Conductor of the Czech Philharmonic. Václav Neumann, the latter orchestra’s Chief Conductor (between 1968 and 1990) brought him to Berlin’s Komische Oper in 1979, where he debuted with Smetana’s The Secret. Bělohlávek went on to conduct Stravinsky’s The Rake’s Progress there in 1980.

A decade later, Jiří Bělohlávek succeeded Václav Neumann as Chief Conductor of the Czech Philharmonic. He built upon the orchestra’s already established reputation for excellence, particularly in its interpretations of Czech music, and became part of a long line of esteemed Czech conductors to direct the orchestra: Václav Talich, Rafael Kubelík, Karel Ančerl, and his immediate predecessor Václav Neumann.

Jiří Bělohlávek mit der Mezzosopranistin Dagmar Peckova/ Foto Tschechische Philharmonie

In 1994, Jiří Bělohlávek founded the Prague Philharmonia, whom he directed until 2005, when he became its Conductor Laureate. Alongside his work with this ensemble, Jiří Bělohlávek has conducted the world’s major orchestras, including the Berlin Philharmonic, Boston Symphony Orchestra, Cleveland Orchestra, Gewandhausorchester Leipzig, New York Philharmonic, NHK Symphony Orchestra, Philadephia Orchestra, Sächsische Staatskapelle Dresden and the San Francisco Symphony Orchestra, appearing at festivals including Berlin, Edinburgh, Lucerne, Montreaux, Perth, Prague, Salzburg and Tanglewood.

In 1994 Jiří Bělohlávek was named Principal Guest Conductor of the Prague National Theatre; then in 1995 he became the BBC Symphony Orchestra’s Guest Conductor, later becoming its Chief Conductor in 2006. Alongside these positions, Jiří Bělohlávek has continued his prestigious work in the world of opera, with acclaimed productions at Berlin, Covent Garden, Glyndebourne, the Metropolitan Opera in New York and many more.

In parallel with these roles, Jiří Bělohlávek has become a respected teacher of conducting. He was appointed Professor at the Prague Academy in 1997, and until 2009 was Director of the Department of Conducting. His protégés include the young Czech conductors Tomáš Hanus, Jakub Hrůša and Tomáš Netopil.

As Chairman of the Prague Spring International Music Festival, Jiří Bělohlávek consistently championed the music of Czech composers. His special affinity with the music of Bohuslav Martinů has been instrumental in bringing that master to the world’s attention, and Bělohlávek has also taken the more rarely-performed works of Dvořák, Janáček, Smetana and Suk and to new audiences. Furthermore, he has programmed pieces by Czech composers deserving of greater attention, including Foerster, Ostrčil, Slavický and Sommer.

Jiří Bělohlávek has an extensive discography, and, as the Naxos label noted: „His most outstanding recordings are those in which he leads the Czech Philharmonic Orchestra, where the high calibre of orchestral execution and Bělohlávek’s deep musicianship result in performances of exceptional quality.“

In May 2012 Jiří Bělohlávek was awarded the title CBE (Commander of the Most Excellent Order of the British Empire) ‘for services to music’ by the Queen Elizabeth II. In the Czech Republic he was awarded the First Grade Medal of Merit for service to the Republic.

In a much-anticipated reunion, Jiří Bělohlávek returned as Chief Conductor of the Czech Philharmonic in 2012. The outstanding musicianship of the Czech Philharmonic under Bělohlávek’s inspiring direction has made this a truly exciting collaboration. As an internationally-acclaimed conductor, Jiří Bělohlávek directed the Czech Philharmonic on the international stage, taking the orchestra forwards in music-making which has already won great acclaim, and which is sure to do so in the future. (Quelle und Fotos: Tschechische Philharmonie/ Dank an Březina Luděk)

 

Vorliebe an Männertreffen

 

Heute mehr als früher scheint Siegfried Wagners Homosexualität ein brennendes Thema, wann immer man von Siegfried Wagner spricht – vielleicht zu sehr seine Verdienste als Komponist, Organisator und Dirigent überdeckend?  Heute, wo Personen des öffentlichen Lebens schon beim geringsten Anzeichen sogar im Staats-Fernsehen geoutet werden und das Privatleben eines Donald Trump grelle Schlagzeilen produziert, ist Intimes von öffentlichem Interesse, oft überproportional und auf Kosten der Betroffenen, so auch hier.

Das Foto ist ein Screenshot auf dem ZDF-Film „Der Wagner Clan – eine Familiengeschichte“, der in Kooperation mit dem ORF 2014 im deutschen ZDF lief und als DVD zu beziehen ist (Mona-Film).

Dennoch – das Leben und die Lebensumstände dieses so im immer wieder publizierten Bannkreis der Bayreuther Familie Stehenden nun mit einer eigenen Ausstellung (zudem erstmals in Berlin) nachzuvollziehen, ist ein reizvolles Projekt, dem sich das Schwule Museum in Berlin bis zum Ende Juni 2017 mit einer umfangreichen Ausstellung widmet. Wir berichteten darüber.

Noch bevor die Pläne zur Berliner Ausstellung bekannt wurden baten wir den Autor und Professor für vergleichende Literaturwissenschaften Nikolai Endres um die Genehmingung zum „Nachdruck“ seines Artikels zur Homosexualität Siegfried Wagners, den er bereits in den Mitteilungen der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft veröffentlicht hatte. Wir danken ihm und der Gesellschaft (Achim Bahr) für die Erlaubnis, fügen doch Nikolai Endres´ Ausführungen eine wichtige Facette dem Gesamtbaild dieses in seiner Zeit gefangenen Mannes, Siegfried Wagner, hinzu.

 

Siegfried Wagner (nebenstehend in einer für die Zeit bemerkenswert knappen Badehose/ Foto Flyer Schwules Museum Berlin/ Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft) wurde am 6. Juni 1869 als Sohn von Richard Wagner und Cosima von Bülow geboren. (Cosima war noch offiziell mit Hans von Bülow verheiratet.) Nietzsche war bei der Geburt präsent und Ludwig war Siegfrieds Taufpate. Mit einem berühmten Vater und ebenso illustren Großvater (Franz Liszt) schien alles auf eine großartige Karriere hinauszulaufen. Erstes Interesse an Architektur wich dem Studium der Musik. Insgesamt 18 Opern hat Siegfried komponiert und ab 1896 dirigierte er in Bayreuth, dessen künstlerischer Direktor er von 1908 – 1930 war. Siegfried lebte seine Homosexualität mehr oder weniger offen aus. Er nahm mit Vorliebe an Männertreffen teil, wo zum Beispiel Platons Gastmahl auf griechisch rezitiert wurde. Kleinere Skandale wurden immer wieder entschärft und Erpresser wurden mit Geld zum Schweigen gebracht. Im Jahr 1914 kam es dann anders. Maximilian Harden, der schon 1906 – 1909 durch die berüchtigte Eulenburg-Affäre einige von Kaiser Wilhelm II engsten Freunden und Beratern zum Fall gebracht hatte (siehe dazu mein Artikel The Eulenburg Affair Scandalizes Germany’s Leadership), drohte Siegfried bloßzustellen.

Prinz Philipp zu Eulenburg spielt übrigens eine interessante Rolle in der Wagner-Saga. Am Morgen des 14. Juni 1886 war er einer der ersten, der Ludwigs Leiche sah, nachdem der tote König ans Ufer des Starnberger Sees geschwemmt wurde. Er hat diesen Tag in Das Ende König Ludwigs II und andere Erlebnisse festgehalten. (Unerwähnt bleibt, dass Eulenburg damals mit einem Fischer gerudert war, der später vor Gericht zugab, mit Eulenburg Sex gehabt zu haben.) 1901 hat Eulenburg Houston Stewart Chamberlain, der Gatte von Siegfrieds Schwester Eva, Kaiser Wilhelm II vorgestellt, der tief beeindruckt war von Chamberlains rassistischem Weltbild.

Siegfried Wagner/ Zeichnung von Clement Harris/ Foto entnommen aus dem Standardwerk zu Siegfried Wagner von Peter P. Pachl: Siegfried Wagner – Genie im Schatten“, Nymphenburg 1988

Hardens Artikel »Tutte le corde: Siegfried und Isolde« in der Wochenzeitschrift Die Zukunft (27. Juni 1914) wurde durch Isoldes Vaterschaftsklage ausgelöst. Obwohl die Geburtsurkunde Hans von Bülow als ihren Vater aufweist, ist sich die Wagner-Forschung ziemlich einig, dass Richard Isolde gezeugt hat. Außerdem hatte Isolde, im Gegensatz zu Cosimas anderen Kindern, einen Sohn geboren: Franz Wilhelm Beidler (1901 – 1981). Als Isolde ihren Prozess aufgrund eines Meineids Cosimas verlor (in den Zeiten vor DNA war die Geburtsurkunde bindend), begann Harden mit seinen Ermittlungen.

Der 44-jährige Siegfried – immer noch Junggeselle – war das perfekte Opfer. Harden macht keine direkten Vorwürfe, aber er wundert sich, warum so viele Gerüchte herumschwirren, und spielt dann auf einen Heiland aus andersfarbiger Kiste an (mit Kiste ist wohl das Hinterteil der Männer gemeint und andersfarbig bezieht sich anscheinend auf den Euphemismus für Schwule als vom anderen Ufer). Als Siegfried von Isolde mit seiner Sexualität konfrontiert wurde, antwortete er: »Dem größten Könige aller Zeiten, Friedrich dem Großen, wurde auch Übles nachgesagt, und Preußen wurde groß und stark durch ihn! Also sorgt nicht! Ich entweihe das Festspielhaus nicht!« Jetzt gab es nur noch einen Ausweg: Eheschließung.

Bei den Bayreuther Festspielen im Jahr 1914 wurde die 17-jährige Winifred Klindworth Siegfried vorgestellt. Nach der Hochzeit 1915 kamen vier Kinder auf die Welt: Wieland (1917 – 1966), Friedelind (1918 – 1991), Wolfgang (1919 – 2010) und Verena (1920). Mit zwei Söhnen und zwei Töchtern in schönem Jahresabstand hatte Siegfried wohl seine Schuldigkeit getan. Als Winifred sich in den Schriftsteller Hugh Walpole verliebte, war Siegfried wenig beunruhigt, denn Hughs sexuelle Wünsche stimmten mit seinen eigenen überein.

Die große Liebe? Clement Harris/ Foto entnommen aus dem Standardwerk zu Siegfried Wagner von Peter P. Pachl: Siegfried Wagner – Genie im Schatten“, Nymphenburg 1988

Siegfried starb am 4. August 1930. Winifred übernahm die Leitung der Festspiele bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Schon 1923 hatte sie Adolf Hitler getroffen, als er Villa Wahnfried besucht hatte. Als Hitler für seine Beteiligung am Münchner Putsch im Gefängnis saß, schickte Winifred ihm – so will es auf jeden Fall die Legende – Papier, worauf er dann Mein Kampf verfasst hat. Nach der Machtergreifung gab es sogar Gerüchte über eine bevorstehende Heirat zwischen den beiden. Hitler war oft zu Gast bei der Familie Wagner und unterstützte finanziell die Festspiele. Winifreds Rolle im Dritten Reich bleibt kontrovers. Siegfried fand den radikalen  Antisemitismus seiner Frau abstoßend und Friedelind erinnerte sich an ihren Vater als einen »Verfechter für Toleranz und Mitgefühl.« Allerdings muss man zugeben, dass Winifred für einige von Siegfrieds schwulen Freunden eingetreten ist und sie vor dem Konzentrationslager gerettet hat. Die Zeugenaussagen von zwei Sängern, Max Lorenz und Herbert Janssen, wirkten sich in Winifreds Entnazifizierungsverfahren nach dem Krieg strafmindernd aus. Später kümmerte sie sich um den verarmten früheren Intendanten des Deutschen Nationaltheaters in Weimar, Hans Severus Ziegler, was ihr den Spitznamen Gluckhenne aller Schwulen einbrachte. Sie starb 1980 im Alter von 82 Jahren.

Siegfried wurde von einer Anzahl von dominanten Frauen aufgezogen: seine Mutter, seine Halbschwestern Daniela und Blandine, und seine Schwestern Isolde und Eva. Als Student in Frankfurt verkleidete er sich manchmal als prima ballerina. Selbst 1926 (als Siegfried fast sechzig war) machte der 28-jährige Joseph Goebbels, Hitlers späterer Propagandaminister, folgende Eintragung in sein Tagebuch: »Siegfried ist so schlapp. Pfui! Soll sich vor dem Meister schämen … Feminin. Gutmütig. Etwas dekadent. So etwas wie ein feiger Künstler.«

Mehr als nur gute Freunde? Siggi & Henry: Siegfried Wagner und Freund Henry Thode/ Foto entnommen aus dem Standardwerk zu Siegfried Wagner von Peter P. Pachl: Siegfried Wagner – Genie im Schatten“, Nymphenburg 1988

In Siegfrieds zwanziger Jahren war Clement Harris (1871 – 1897) sein engster Freund. Unter anderem hat Harris den jungen Siegfried im Portrait gemalt und war ein literarischer Jünger von Oscar Wilde (Harris unterhielt und belehrte Wilde, indem er ihm Wagner auf dem Klavier vorspielte). Als sie via London zu einer  Weltreise aufbrachen, wurde Siegfried Wilde vorgestellt. Siegfried nahm zur Kenntnis, dass Wilde zwar sehr berühmt sei und mit seinen Paradoxien alle zum Lachen bringe, aber obwohl er sich in Vielem gut auskenne, sei er doch eher ein Poseur. Trotzdem lud Siegfried bei dieser Gelegenheit Wilde und Pierre Louÿs nach Bayreuth ein, doch aus diesem Vorhaben wurde nichts. (Zufällig kam dann Siegfried 1895 nach London zurück, als Tage zuvor der letzte Wilde Prozess zu Ende ging und Wilde wegen »gross indecency« für zwei Jahre ins Gefängnis musste.)

In seiner Autobiographie (1923) erinnert sich Siegfried gerne an sein »Clementchen« und gibt sogar einige Aufschlüsse über die Tiefe ihrer Beziehung. Zum Beispiel teilten sie sich ein Bett wie Orestes und Pylades, ein gleichgeschlechtliches Liebespaar aus der griechischen Mythologie. In Singapur fanden sie ein Stück Paradies, aber eben nur für Männer, denn sie fühlten sich wie zwei Adame und badeten dort nackt. In einer Stelle in dem privat gedruckten Reisetagebuch, die in der offiziellen Fassung gestrichen wurde, beschreibt Siegfried ihren Abschied: »äußerlich möglichst englisch … innerlich aber so herzlich und innig, wie wir uns jetzt lieben gelernt haben!« Tragischerweise starb Harris ganz jung einen byronischen Tod, als er für die Unabhängigkeit Griechenlands kämpfte. Als Andenken an die Liebe seines Lebens stellte Siegfried bis an sein Lebensende ein Portrait von Harris auf seinem Schreibtisch auf.

Szenen einer Ehe: Winifred und Siegfried Wagner/ Foto aus Peter P. Pachls Buch „Siegfried Wagner“/ Nymphenburger Verlag 1988

Es sind noch weitere Liebschaften zu berichten. Zu Cosimas großem Unbehagen, verliebte sich der jugendliche Siegfried auf den ersten Blick in den älteren famosen Bariton Theodor Reichmann (1849 – 1903), der Amfortas bei der Welt-Uraufführung von »Parsifal« sang. Als Student hatte Siegfried eine Affäre mit einem Graf von Goetzen (sonst ist fast nichts von ihm bekannt), was einige Querelen mit Harris zur Folge hatte. Außerdem widmet Siegfried in seinen Memoiren noch einem anderen Homosexuellen einen wichtigen Platz: Paul von Joukowsky (auch Zhukovski geschrieben, 1845 – 1912), Maler und spezieller Freund von Schriftsteller Henry James, der eine »besonders zarte Liebschaft« für ihn hegte und weiterhin sagte: »Er ist ganz nach meinem Geschmack und wir haben uns ewige Freundschaft geschworen.«

In reiferen Jahren entstand eine enge Freundschaft mit dem gleichaltrigen Jugendstilmaler Franz Stassen (1869 – 1949), der Siegfried als Trauzeuge diente und dem Siegfried eine Oper widmete. Stassen ist bekannt für seine Illustrationen von Richard Wagners Werken, hat aber auch homoerotische Skizzen im Stil von Paul Cadmus‘ What I Believe veröffentlicht. Stassen, der wie Siegfried verheiratet war, bekannte sich 1941 zu seiner Sexualität.

Eng befreundet: Franz Stassen, Bühnenbildner, Maler, Künstler/ Foto Wiki

Schließlich bittet Siegfried in seinen Opern um Verständnis für verbotene Liebe und prangert die Justiz an, die Hexen am Scheiterhaufen verbrennt, die Selbstmördern das Begräbnis verweigert oder die Ausgestoßene verschmäht. Außerdem verbergen viele seiner Figuren schreckliche Geheimnisse, fürchten sich vor Aufdeckung und schließen einen Bund mit dem Teufel. Hier kann man dann noch ein interessantes Detail hinzufügen. Bei seiner allerletzten Inszenierung, dem »Tannhäuser« seines Vaters, lehnte Siegfried sich an eine Idee von Aubrey Beardsleys homoerotisch geprägten Die Geschichte von Venus und Tannhäuser (1895) an; wenn nach seiner Pilgerreise nach Rom Tannhäuser zum Venusberg zurückkehrt, strecken auch halbnackte Jünglinge in suggestivem Rotlicht ihre Arme nach dem Ritter aus. Jonathan Carr betont die Schwierigkeit, Siegfrieds Charakter einzuschätzen: »Auf deutsch sind ein paar Biographien von ihm erschienen, aber seine Memoiren sind dünn, seine Briefe immer noch nicht vollständig veröffentlicht und seine wahren Gefühle oft von Ironie und Jovialität maskiert.« Warum blieb Siegfrieds Sexualität so lange ein Geheimnis? Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es doch eine relativ aufgeklärte Einstellung zur Homosexualität, besonders in einem recht liberalen Land wie Deutschland, wo schon 1897 Magnus Hirschfeld das Wissenschaftlich-Humanitäre Komitee gegründet hat. Wie dem auch sei, selbst wenn Siegfrieds Sexualität zu seiner Lebenszeit verheimlicht wurde, warum hat dann später fast niemand das Rätsel gelöst?

Siegfried Wagners Travestieren als Ballerina ist leider nicht dokumentiert; hier doubelt Thomas Hailer in Edmund Gleedes 1986 uraufgeführtem Musiktheater „Cosima Notte oder Notre Dame de Bayreuth“/ Foto entnommen aus dem Standardwerk zu Siegfried Wagner von Peter P. Pachl: „Siegfried Wagner – Genie im Schatten“, Nymphenburg 1988

Das erste Problem ist Zugang zu und Einsicht in die relevanten Dokumente. Siegfrieds Privatpapiere befinden sich im Gegensatz zu seinen Partituren nicht im Bayreuther Archiv. Als 1973 die Familienunterlagen der Richard-Wagner-Stiftung vermacht wurden, hielt Winifred Wagner Siegfrieds Privatkorrespondenz zurück. Nach ihrem Tod kamen die Manuskripte in den Besitz von Verena Lafferentz-Wagners ältester Tochter Amélie. Strikteste Geheimhaltung (Peter Pachl nennt es »Fafnerisierung«) wurde vereinbart! Das ist kaum verwunderlich, denn die Familie ist ja bekannt für ihre Geheimniskrämerei und Hinhaltungstaktiken.

Die nächste Schwierigkeit ergibt sich aus akademischer Feigheit, sogar in der deutschen Forschung, die ansonsten recht aufgeschlossen gegenüber der Homosexualität ist. Zdenko von Krafts Biographie Der Sohn (1969), ein Werk von besonders unkritischer Hagiographie, verliert kein Wort über Siegfrieds sexuelle Männerfreundschaften. Auch das überrascht wenig, denn schließlich hat Winifred das Vorwort verfasst, und wer im Index nach Maximilian Harden sucht, tut dies vergeblich.

Und dann gibt es noch eine hochbrisante Kontroverse. Anscheinend hatte Siegfried mit der Gattin eines Bayreuther Pfarrers eine Affäre, woraus ein Sohn, Walter Aign (1901 – 1977), geboren wurde. Walter, der bei seinem Vater als musikalischer Assistent arbeitete, blieb unverheiratet und war wohl selbst schwul. Trotz außerehelicher Geburt (Siegfried selbst wurde ja so geboren, wie auch Cosima und vielleicht sogar Richard) war Walter der erstgeborene Wagner Erbe (geboren am 9. Juni), noch vor Franz Wilhelm Beidler (geboren am 16. Oktober). Aber für den Scheinapostel Cosima war ein außerehelicher Sohn als Wagnererbe (ebenso wie ein Sohn von einer ihrer Töchter) natürlich völlig inakzeptabel. Siegfrieds Vaterschaft ist in der Wagner Forschung heftig umstritten, aber Fotografien zeigen eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen Walter und Siegfried.

In schwuler Gesellschaft: Viscount Drumlanrig and Lord Alfred Douglas, lover of Oscar Wilde/ Foto Wiki

Glücklicherweise hat sich in den letzten Jahren das Dunkel etwas gelichtet. Peter Pachls Siegfried Wagner: Genie im Schatten (1988) scheut nicht davor zurück, Siegfrieds Sexualität zu erwähnen; seine erstaunliche Widmung – »Wolfgang Wagner, der mich durch seine ablehnende Haltung erst auf den rechten Weg brachte« – beschreibt unverblümt und trefflich die Resistenz der Familie. Edmund Gleedes Musical Cosima Notte oder Notre Dame de Bayreuth (1986) zeigt Siegfried in Frauenkleidern. Ein Puppenspiel von Uwe Hoppe (2006) nimmt König Ludwigs Vernarrtheit in Richard Wagner zum Anlass, Siegfrieds Liebesleben zu rechtfertigen. Jonathan Carrs The Wagner Clan (2007) bietet die erste Möglichkeit für englische Leser, sich über Siegfrieds Bisexualität zu informieren, aber wegen der Fülle des Materials muss das Kapitel über Siegfried kurz bleiben. Zu guter Letzt widmet sich die Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft dem Erbe des Sohns von Richard Wagner (Foto oben ein Ausschnitt aus dem auch für die Ausstellung des Schwulen Museums Berlin verwendeten Fotos von Siegfried Wagner und Henry Thode/ ISWG mit Dank).. Nikolai Endres

 

Der Autor Nikolai Endres/ OBA

Dazu eine kurze Biographie von der Seite der Western Kentucky University, an der Nikolai Endres als Professor lehrt. Nikolai Endres received his Ph.D. in Comparative Literature from the University of North Carolina-Chapel Hill in 2000. As professor at Western Kentucky University, he teaches Great Books, British literature, classics, mythology, critical theory, film, and gay and lesbian studies. He has published on Plato, Ovid, Petronius, Gustave Flaubert, Walter Pater, Oscar Wilde, E. M. Forster, F. Scott Fitzgerald, Mary Renault, Gore Vidal, and others. He is currently on sabbatical and writing a literary biography of American novelist Patricia Nell Warren, author of the famous gay novel The Front Runner. His next projects are pornographic representations of canonical gay texts and a queer reading of the myth and music of Richard Wagner. (Foto oben: Siegfried Wagner/ aus Peter P. Pachl „Siegfried Wagner“/ Nymphenburg 1988)

 

Kein Wunder bei der starken Mutter: Cosima Wagner und Siegfried Wagner/ Foto aus Peter P. Pachls „Siegfried Wagner“/ Nymphenburger Verlag 1988

Bibliographie: Bock, Claus Victor. Pente Pigadia und die Tagebücher des Clement Harris. Amsterdam: Castrum Peregrini, 1962./ Carr, Jonathan. Der Wagner-Clan: Geschichte einer deutschen Familie. Übersetzer Hermann Kusterer. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2008./ Endres, Nikolai. The Eulenburg Affair Scandalizes Germany’s Leadership. Great Events from History: Gay, Lesbian, Bisexual, Transgender Events. Herausgeber Lillian Faderman et al. Pasadena, CA and Hackensack, NJ: Salem Press, 2007. 2 Bände: 52-55./ Hamann, Brigitte. Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth. München: Piper, 2002./ Karbaum, Michael. Studien zur Geschichte der Bayreuther Festspiele (1876 – 1976). Regensburg: Gustav Bosse, 1976./ Kraft, Zdenko von. Der Sohn: Siegfried Wagners Leben und Umwelt. Graz und Stuttgart: Stocker, 1969./ Merk, Anton. Franz Stassen, 1869 – 1949. Maler, Zeichner, Illustrator: Leben und Werk. Hanau: Museum Hanau Schloß Philippsruhe, 1999./ Pachl, Peter P. Siegfried Wagner: Genie im Schatten, mit Opernführer, Werkverzeichnis, Diskographie und 154 Abbildungen. München: Nymphenburger, 1988./ Pachl, Peter P. (Herausgeber). Siegfried Wagner-Kompendium 1: Bericht über das erste internationale Symposion Siegfried Wagner, Köln 2001. Herbolzheim: Centaurus, 2003./ Söhnlein, Kurt. Erinnerungen an Siegfried Wagner und Bayreuth. Mit einem Anhang: Siegfried Wagners Briefe an Kurt Söhnlein. Herausgeber Peter P. Pachl. Bayreuth: Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft, 1980./ Speyer, Edward. My Life and Friends. London: Cobden-Sanderson, [1937]. / Spotts, Frederic. Bayreuth: A History of the Wagner Festival. New Haven: Yale University Press, 1994./ Stassen, Franz. Erinnerungen an Siegfried Wagner. Bayreuth und Detmold: Bayreuther Bund, 1940./ Wagner, Friedelind. Siegfried Wagner: A Daughter Remembers Her Father. Opera Quarterly 7.1 (Spring 1990): 43-51./ Wagner, Siegfried. Erinnerungen. Herausgeber Bernd Zegowitz. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2005./ Wessling, Berndt W. Wieland Wagner, der Enkel: Eine Biographie. Köln-Rodenkirchen: P. J. Tonger, 1997. Nikolai Endres

Oh beaux Pays…

 

Diana Damrau schreibt im Booklet der Erato-Ausgabe: Meyerbeer – ein wahrhaftiger Europäer. Warum ein reines Meyerbeer-Album? Während meines Studiums in Würzburg wurde ich vom dortigen Universitätsorchester eingeladen, Meyerbeers Kantate Gli amori di Teolinda für Sopran, Klarinette und Orchester zu singen. Bis dato kannte ich nur Dinorahs Arie „Ombre légère“, ein Muss für jeden Koloratursopran. Dieses hochvirtuose Duo mit der Klarinette, noch dazu auf Italienisch und im italienischen Stil geschrieben, hat mich auf den Komponisten Meyerbeer neugierig gemacht. So tauchte ich ein in die Welt Meyerbeers und war begeistert von der Vielfältigkeit seines Könnens, was die Behandlung der Stimme angeht, seine Orchesterfarben, seinen theatralischen Instinkt, den kraftvollen und facettenreichen Ausdruck der Gefühle, seine herrlichen Melodien und nicht zuletzt seine Fähigkeit, genau den „Nationalton und -stil“ seiner Kompositionen zu treffen. Vergleicht man seine italienischen, deutschen und französischen Werke, meint man nicht nur einen, sondern drei unterschiedliche Komponisten zu hören. Daraus entstand die Idee, diese verschiedenen Stile erstmalig in einem Album gegenüberzustellen und diesen einzigartigen „europäischen“ Künstler mit all seinen Facetten zu zeigen, abgesehen von seinen unumgänglichen französischen Werken, deren Leichtigkeit, Sinnlichkeit, Schönheit und Eleganz ihresgleichen suchen.  

Nachstehend die Rezension zu ihrem Konzert an der Deutschen Oper Berlin – nach Paris und andernorts in Deutschland – mit eben diesem Meyerbeer-Programm und die Kritik zur neuen CD bei Erato.

 

Meyerbeer-Konzert mit Diana Damrau an der Deutschen Oper Berlin/ Foto Bettina Stoess

Diana Damrau in der DOB: Das Programm ihrer neuen Meyerbeer-CD stellt Diana Damrau (Foto Jürgen Frank/ Erato)auch in Live-Konzerten im Rahmen einer Deutschland-Tournee vor, für deren Start am 19. 5. 2017 die Sängerin die Deutsche Oper Berlin gewählt hatte. Stars treten seit einiger Zeit in den für sie kreierten Designerroben auf (welche auch die Cover der CDs schmücken) – Renée Fleming in Gianfranco Ferré oder Joyce DiDonato in den spektakulären Entwürfen von Vivienne Westwood –, doch die deutsche Sopranistin wählte erst im zweiten Teil des Abends das elegante, schwarz-glitzernde Escada-Kleid von ihrer Platte und verzichtete auf den Pelzmantel gänzlich, was bei den hochsommerlichen Temperaturen dieses Tages durchaus verständlich war. Stimmliche Schonung legte sich die Solistin allerdings nicht auf, sang insgesamt sieben große Arien, welche die stilistische Vielfalt des Komponisten eindrucksvoll widerspiegelten. Als Einstieg wählte sie überraschend eine fachfremde Partie – die Kavatine des Pagen Urbain aus den Huguenots –, welche auch nicht im Programm ihrer CD enthalten ist. Hier konnte sie mit kokettem Vortrag punkten und auf die nachgedunkelte Mittellage ihrer Stimme aufmerksam machen. Schon beim nächsten Titel, der berühmten Schattenarie aus Dinorah, musste sie in höhere Regionen aufsteigen und damit in ihr angestammtes Repertoire zurückkehren. Plastisch und suggestiv gestaltete sie das Frage- und Antwortspiel mit dem Schatten, fand dabei zarte, delikate Töne und illustrierte ihren Gesang mit gekonnten tänzerischen Einlagen, was diese Nummer besonders wirkungsvoll machte. Große lyrische Substanz erfordert die Kavatine der Isabelle, „Robert, toi que j’aime“, aus Robert le diable, welche die Sopranistin mit schmerzlicher Inbrunst begann, am Ende gewaltig steigerte und noch mit einem deliziösen Triller schmückte.

Zur französischen Sprache kamen im zweiten Teil des Abends noch die italienische und deutsche hinzu, und mit der Arie der Emma „Sulla rupe triste“ aus Emma di Resburgo und der Kavatine der Therese, „Lebe wohl, geliebte Schwester“, aus Ein Feldlager in Schlesien hörte man zudem zwei gänzlich unbekannte Stücke. In ersterem überraschte die Damrau mit einer träumerischen, raffiniert verschleierten Stimme in der Einleitung, um danach mit reichlich Zierwerk zu glänzen. Im deutschen Beitrag gab es durch die Beklommenheit im Ausdruck eine kontrastierende Stimmung. Den Schlusspunkt setzte die ausgedehnte Szene der Marguerite de Valois, „O beau pays“ aus den Huguenots, welche die Interpretin an die Grenze der stimmlichen Möglichkeiten führte, die aber dennoch das reiche Farbspektrum, die Süße und den Duft ihres Soprans ins schönste Licht rückte. Mit der Zugabe, der Arie der Inès „Adieu mon breau rivage“ aus der Africaine, krönte die Sängerin ihren Berliner Auftritt mit traumhaft gesponnenen Tönen bis in höchste Sphären.

Großen Anteil am Erfolg des Konzertes hatte der Dirigent Francesco Ivan Ciampa, der mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin Werke von Meyerbeer und dessen Zeitgenossen servierte, darunter mit Louis Joseph Ferdinand Hérolds Zampa auch eine veritable Rarität. Der straffe Zugriff des Italieners, sein Temperament und das Gespür für spannungsreich entwickelte accelerando-Effekte machten große Wirkung bei den Ouvertüren zu Rossinis Semiramide und Meyerbeers Dinorah, deren flirrende, zauberische Atmosphäre in der Einleitung er sehr stimmungsvoll formte und die Turbulenzen am Schluss spannend herausarbeitete. Nur bei der Ouvertüre zu Wagners Rienzi geriet der Schluss etwas lärmend, doch Ciampas Sinn für Pathos und Grandeur waren auch hier zu spüren. Der Abend weckte große Vorfreude auf Diana Damraus Auftritte an der Deutschen Oper in der nächsten Saison. Bernd Hoppe

 

Ihre erste Begegnung mit Meyerbeer hatte Diana Damrau noch als Studentin in Würzburg, als sie vom Universitätsorchester der Stadt eingeladen wurde, in einem Konzert die szenische Kantate für Sopran, Klarinette und Orchester „Gli amori di Teolinda“ zu singen. 2002 trat sie im Rahmen ihres Engagements an der Oper Frankfurt in einer szenischen Aufführung der Huguenots als Marguerite de Valois auf – einer anspruchsvollen Koloraturpartie, welcher Sopranlegenden dieses Fachs wie Sutherland oder Sills ihren Stempel aufgedrückt und damit die Messlatte für heutige Interpretinnen hoch gesetzt haben. Diese Arie findet sich natürlich auch auf Diana Damraus neuester CD bei Erato mit dem Titel Grand Opéra, welche die Sopranistin ganz dem deutsch-französischen Komponisten gewidmet hat (0190295848996). Sie entstand in Zusammenarbeit mit dem Palazzo Bru Zane in Rom, wo die Sängerin 2014 anlässlich des 150. Todestages des Komponisten bereits ein Konzert mit diesem Programm gegeben hatte. Die Ausgabe ist prachtvoll ausgestattet mit glamourösen Fotos der Interpretin in spektakulärer Robe, zeitgenössischen Abbildungen des Komponisten und Szenen seiner Opern sowie den Texten der Arien in drei Sprachen.

Die Kontrahentin der Rosina Stoltz an der Pariser Oper: Julie Dorus-Gras, hier als Meyerbeers Marguerite in den „Huguénots“, setzte das Beispiel für die hohen, koloraturfreudigen Meyerbeer-Soprane/HeiB

Das Programm beginnt mit der Szene der Berthe, „Mon coeur s’élance“ aus Le prophète, deren lebhaft-beschwingte Einleitung das Orchestre de l’Opéra de Lyon unter Emmanuel Villaune mit Esprit serviert und der Solistin ein idealer Partner ist. Der Sopran klingt deliziös und duftig, perlend in den Koloraturen, Der Vortrag ist so charmant wie kokett. In der folgenden Romanze  der Isabelle „Robert, toi que j’aime“ aus Robert le diable (mit Charles Workman) eine Partie, welche die Sängerin vor einigen Jahren wegen ihrer Schwangerschaft an der Royal Opera London absagen musste – kommen ihre lyrischen Qualitäten in schwärmerisch-sehnsuchtsvollem Klang zur Geltung. Allerdings hört man am Ende der Szene in der exponierten Lage Verhärtungen des Tones, was auch bei weiteren Titeln gelegentlich zu bemerken ist.

Zwei Weltersteinspielungen finden sich unter den elf Nummern – Irenes „Nun in der Dämm’rung Stille“ aus Alimelik, oder die beiden Kalifen und Thereses „Oh Schwester, find’ ich dich!/Lebe wohl, geliebte Schwester“ aus Ein Feldlager in Schlesien. Erstere stammt aus dem Frühwerk von 1814 und ist im Charakter ganz dem deutschen Singspiel verpflichtet. Entsprechend munter und beherzt klingt die Sängerin in dieser Szene. Vom Feldlager, das dann zu Vielka umgearbeitet wurde, existiert die Rundfunkaufnahme einer konzertanten Aufführung aus Berlin von 1984, die eben vom Hamburger Archiv für Gesangskunst als CD herausgegeben wurde. Aber hier ist mit der emotional aufgewühlten Szene  „Lebe wohl, geliebte Schwester“, bei der die Mezzosopranistin Kate Aldrich mitwirkt, ein Ausschnitt aus der Originalfassung zu hören – insofern ist die Bezeichnung Ersteinspielung gerechtfertigt.

Zu Meyerbeers „Feldlager in Schlesien“: Jenny Lind als Vielka/ Wiki

Die CD bietet eine gelungene Mischung aus bekannten Schlagern, wie Dinorahs „Ombre légère“ aus Le pardon de Ploërmel, und beinahe unbekannten Nummern wie Emmas „Ah questo bacio“ aus Emma die Resburgo oder Palmides „Con qual gioia“ aus Il crociato in Egitto. Letzteres Beispiel steht für  eine mehrteilige italienische Szene, eine grande scena in Rossini-Manier, in der die Interpretin ihr Gestaltungsvermögen und ihre Verzierungskunst demonstrieren kann, assistiert vom Bassisten Laurent Naouri und dem präsenten Choeur de l’Opéra de Lyon. In Dinorahs berühmter Schattenarie, bei der es mit der Einspielung von Maria Callas eine Referenzaufnahme gibt,  besticht einmal mehr Damraus Virtuosität, welche die Koloraturen tänzeln und den Dialog der Figur mit ihrem Schatten als Wechselspiel zwischen der Stimme und ihrem  piano-Echo effektvoll aufscheinen lässt. Die große Szene der Marguerite profitiert vom raffinierten Farbenspiel der Stimme in der elegischen Einleitung, dem kapriziösen Mittelteil und dem bravourösen Schluss mit seinem anspruchsvollen Zierwerk von Trillern, Ornamenten und stratosphärischen Ausflügen. Zirzensische Gesangsakrobatik erfordert Catherines Solo aus dem Ètoile du Nord, denn nach der melancholischen Einleitung zwitschert der Sopran im Wettstreit mit zwei Flöten in brillanten staccati und Vokalisen, Lucias Wahnsinnsszene vergleichbar. An Donizettis Oper erinnert auch das Harfen-Vorspiel zu Emmas gefühlvoller Kavatine aus dem Frühwerk (1819) Emma di Resburgo.

In Meyerbeers „Dinorah“: Marie Cabel war die erste Titelrollensängerin/Opera Rara

Letzter Titel des Programms ist eine weitere Szene der Inès aus der Africaine („Adieu mon doux rivage“ aus dem 1. Akt), nachdem es vorher bereits einen Ausschnitt aus dem 5. Akt der Oper („Fleurs novelles“) gegeben hatte. Beide sind Zeugnisse für Meyerbeers reiche lyrische Eingebungen – man hört sie wehmütig und sehnsuchtsvoll vorgetragen, mit sublimen Nuancen und Valeurs.

Dass die Damrau hier in drei Sprachen singt, entspricht der Vielseitigkeit des Komponisten, den sie im Booklet als „wahrhaftigen Europäer“ betitelt. In seinem Oeuvre vereinen sich die Traditionen des deutschen Singspiels und des italienischen Belcanto sowie die beiden Stilrichtungen der französischen opéra comique und grand opéra. Die deutsche Sopranistin erweist sich als versiert in all diesen Genres und balanciert gekonnt zwischen forte chanteuse und chanteuse légère à roulade. Mit ihrer verdienstvollen Initiative trägt sie hoffentlich dazu bei, dem Komponisten auch auf unseren Bühnen endlich den ihm gebührenden Platz einzuräumen (Foto oben: Diana Damrau/ Foto Jürgen Frank/ Erato). Bernd Hoppe

Indiskret

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Auf großes Interesse nicht nur in der Berliner Operngemeinde und nicht nur, weil eine von ihrem Ehemann gestiftete Büste im Foyer der Deutschen Oper an sie erinnert, dürfte eine DVD über Pilar Lorengar stoßen, die bei Arthaus erschienen ist und die sich  außer auf Aussagen von Familienmitgliedern und künstlerischen Wegbegleitern auf ein Dossier im Besitz der Berliner Akademie der Künste stützt.

Pilar Lorengar – Voice & Mystery ist der Titel, und mit dem Mysterium der Berliner Primadonna, die von allen als reserviert und jedem Starrummel abgeneigt geschildert wird, räumt der Autor des Films, Arturo Méndez, gründlich auf, wozu er sich der Aussagen allzu redefreudiger Verwandter bedient. Sicherlich hätte die Sängerin trotz allen Strebens nach Diskretion, was ihr Privatleben betraf, nichts dagegen gehabt, wenn von ihrer schweren Kindheit mit einem trunksüchtigen Vater, einer überforderten Mutter, die sie in eine Klosterschule gab, von dem Beginn der Karriere in Café-Häusern und der Protektion durch einen spanischen General, der ihren Gesangsunterricht bezahlte, gehabt. Mindestens aber peinlich berührt wie auch manch Betrachter der DVD, vor allem, wenn mit der Lorengar bekannt und mit ihrer Scheu vor zu viel Öffentlichkeit vertraut, wäre sie von den Aussagen über ihre als schmerzlich empfundene Kinderlosigkeit, über ihren Wunsch, ein Kind der Schwägerin als eigenes großzuziehen, gewesen. Ganz schlimm aber wird es, wenn einer der Brüder in diesem Zusammenhang dumpf murmelt, man wisse ja nicht, was sie in ihrer Jugend so gemacht habe.

West-Berlins unvergessene Primadonna Pilar Lorengar/ youtube

Das alles möchte man schnell wieder vergessen, und zum Glück gibt es eine Menge auf der DVD zu entdecken, was nicht nur Erinnerungen an die Karriere der Lorengar wachruft, sondern was auch ganz neu ist, besonders was die Zeit in Spanien betrifft. Da wird vor den Augen des Betrachters eine Fülle von Fotos ausgebreitet, zunächst noch von einer dunkel- und langhaarigen Schönheit, ehe die hellblonde Kurzhaarfrisur zum Markenzeichen wird, und es gibt auch Tonaufnahmen von Zarzuelamusik zu bewundern. Ganz besonders eindrucksvoll ist die Charakterisierung der Stimme durch die Freundin Teresa Berganza, die dem ausgeprägten Vibrato der ungewöhnlich reinen, klaren und höhensicheren Stimme die Eigenschaft zuweist, eine besondere Wärme auszustrahlen. Ein weiterer wertvoller Zeuge ihres künstlerischen Werdegangs ist Jesús Lopez Cóbos, lange Jahre Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin, der wohl zurecht meint, in Berlin habe das eigentliche künstlerische Leben von Lorengar begonnen. Intendant Ebert holte sie an die Deutsche Oper, zu deren Eröffnung 1961 sie an der Seite von Fischer-Dieskau die Elvira war, Maazel ermutigte sie zur Tosca, vor deren Dramatik sie sich fürchtete und die dann doch ihre Lieblingspartie wurde. Ein falscher Besetzungszettel und ein richtiger Szenenausschnitt aus dem dritten Akt sind Zeugnisse aus dem Jahr 1969, und von ihrem Abschied von der DO mit Tosca in der Produktion, die auch heute noch im Repertoire ist, gibt es die Überreichung eines Blumenstraußes durch Götz Friedrich. Dazwischen sang sie italienisches, französisches wie deutsches Fach, wovon viele, wenn auch leider naturgemäß kurze Ausschnitte berichten. Dramaturg Curt A. Roesler und Karan Armstrong werden als Zeugen für den Werdegang der Sängerin aufgerufen und würdigen ihre ganz besondere Rolle, die sie an der Deutschen Oper innehatte.

Vieles wird nicht erwähnt. Nicht erwähnt wird, dass sich Pilar Lorengar aus religiösen Gründen weigerte, im zweiten Akt von Tosca Kreuz und Kerzen um den toten Scarpia zu drapieren, weil sie dies für blasphemisch hielt. Das als Zeugnis für ihre tiefe Religiosität anzuführen, wäre vielleicht passender gewesen als die Ausführungen ihrer Stieftochter über das immerwährende Schuldgefühl deswegen, dass sie der Grund für die Auflösung der ersten Ehe ihres Mannes gewesen war, und über dessen mehrfache, wenngleich allzu bekannte Seitensprünge auch in der zweiten Ehe. Da sind die zahlreichen freundlichen Äußerungen von Berliner Freundinnen des Stars wohl viel mehr im Sinne der großen Sängerin und aufschlussreich genug, um die Neugierde des Publikums zu stillen. Und um sie verehrend und respektvoll in Erinnerung zu behalten (Arthaus 109 331). Ingrid Wanja

 

Camille Saint-Saens‘ „Proserpine“

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Für Freunde der großen französischen Oper wieder ein Leckerl  in Gestalt von Camille Saint-Saens Drame lyrique in vier Akten, Proserpine – wie schon mehrfach  vom Münchner Rundfunkorchester unter Ulf Schirmer mit den Solisten Véronique Gens, Fréderic Altoun, Marie-Adeline Henry, Andrew Foster-Williams, Jean Teitgen, vor allem Matthias Vidal (und anderen). Der Bayerische Rundfunk sendete dies am 9. Oktober 2016 zeitgleich zum Konzert, das als luxuriöse Buch-2CD-Ausgabe bei Ediciones  Singulares (ISBN 978-84-617-7213-1/ Note 1) erschienen ist.

Camille Saint-Saens 1875/ Wiki

Camille Saint-Saens 1875/ Wiki

Man mag sich fragen – wie bereits im Artikel über die kommenden Schätze vom Palazetto in der neuen Saison 2016/2017 – ob es sinnvoll ist, von einem doch durchaus populären  Komponisten gleich zwei weitere, zugegeben absolut unbekannte, Werke aufzuführen (das andere ist Le Timbre d´Argent im Juni 2017), während es noch eine Legion von kaum präsenten und oder verschollenen anderen gibt: Das liegt in den Händen der Götter, die da wirken, namentlich Bernard Dratwicki vom Palazetto Bru Zane, der eine augenscheinliche  Liebe zu Gounod und Saint-Saens zeigt und eine Art Saint-Saens-Festival angeschoben hat.  So ist gerade eine neue CD mit Mélodies des Komponisten,  gesungen von dem fabelhaften Bass-Bariton Tassis Christoyannis, bei Aparte erschienen (AP 132, die Nummer findet sich gelb auf weiß nach langem Suchen).

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Hier die Kritik zur Neuerscheinung bei den Ediciones Singulares von Matthias Käther: Camille Saint-Saëns gehört zu den berühmtesten französischen Musikern überhaupt – als Opernkomponist ist er allerdings nur wenig erfolgreich gewesen. Außer Samson et Dalila hat keine Oper so richtig überlebt. Jetzt ist eine weitere von ihm erschienen:  Proserpine. Saint-Saëns wollte immer alles in seinen Opern, aber herausgekommen sind oft komplizierte Nichtigkeiten. Vergleichbar ist für mich sein Opernschaffen (immerhin 13 Stück!) mit Balzacs Geschichte vom unvollendeten Bildnis – der Maler pinselt so lange am Bild herum, bis nichts mehr zu sehen ist. Camille Saint-Saëns war absolut fasziniert von Wagner – er liebte aber  auch Bizet und Mendelssohn. Und rührte das alles zu einem sonderbaren Brei zusammen. Anders als bei anderen französischen Wagnerianern wie Chabrier und Chausson ist das Ergebnis allerdings zuweilen eher scholastisch als amüsant. Proserpine von 1887/1899 ist ein schönes  Beispiel dafür, dass man eine extrem kurze Oper dennoch so wirr gestalten kann, dass man den Überblick verliert.  Es geht um eine Kurtisane im Rokkoko.  Saint-Saëns schleift uns durch Salons, ein Kloster, ein Boudoir, er bringt Zigeuner ins Spiel, eine Kartenleserin, Schurken und Wegelegerer, und das alles in 90 Minuten. Das rast wie im Eilzugtempo am Hörer vorbei, und wenn sich Proserpine am Ende erdolcht, fragt man sich: Warum eigentlich? Und: Was genau war jetzt nochmal die Handlung? Und: Warum erinnern eigentlich so viele Szenen optisch an Carmen, instrumentatorisch an Tschaikowski und harmonisch an Wagner, und zwar meist alles drei zugleich?

Dennoch bin ich ganz glücklich über diese Doppel-CD bei den Ediciones Singulares in der Folge des Münchner Konzertes 2016, denn dies hier ist wirklich mal eine echte CD-Oper. Ein Werk, das beim ersten Hören einfach scheußlich klingt, zweiten amüsant und dritten genial. Hinter dieser etwas sperrigen Musiksprache verbirgt sich ein hochkompliziertes, sehr bewunderungswürdiges Uhrwerk aus feinst gesponnenen Leitmotiven, ganz aparten Orchesternuancen, (die Holzbläser sind wirklich göttlich in dieser Partitur!), und trotz der sehr kruden Handlung spürt man die Phantasie dieses großen Komponisten – grade die Zeichnung die Kurtisane Proserpine ist beim näheren Hinhören anrührend: eine verzweifelte Frau, die ähnlich wie Traviata nach echter Liebe sucht.
Nicht dass die die Abgründe einer Thais oder Traviata hätte. Camille Saint-Saëns war leider ein ziemlich moralinsaurer Typ, der weniger gern mit der Sünde flirtete als Verdi oder Massenet; er neigte sich eher aus Demonstrationsgründen über den Abgrund, nicht aus Lust am Dekadenten oder dramatischem Instinkt heraus. Das macht ihn zwar als Musikdramatiker zuweilen etwas fade.  Der Musiker bleibt davon unangetastet.

Seit einiger Zeit wurde das Münchner Rundfunkorchester unter Ulf Schirmer für ein Projekt des Palazetto Bru Zane gewonnen, bei dem unbekannte Opern der französischen Romantik (meist) konzertant aufgeführt werden. (In diesem Rahmen sind beim Label Ediciones Singulares auch Gounods Oper Cinq-Mars und rund 10 weitere der französischen Romantik erschienen.)

Also deutsches Orchester, deutscher Dirigent, aber größtenteils französische Sänger.  Das ist die gerechte Strafe für einen Franzosen, der Wagner mehr liebte als seine eigenen Kollegen. Aber eine leicht zu ertragende. Wenn mir auch mitunter etwas der dramatische Schwung, die bunte Turbulenz der Handlung akustisch fehlt, macht Ulf Schirmer doch im Grunde das Beste aus einer Partitur, die schon auf dem Papier zu sehr mit Bayreuth flirtet, um noch als schäumende Opéra comique  durchzugehen. 

Besetzt wurde hier sehr zufriedenstellend bis grandios – Veronique Gens bleibt als Titelfigur manchmal etwas unstet in den expressiven Momenten, aber sie durchläuft eine schwierige stimmliche Entwicklung im Stück, und das bewältigt die Sängerin souverän. Auch die vielen anderen Rollen sind wunderbar besetzt, Frederic Antoun, Jean Teidgen, Mathias Vidal, um nur drei zu nennen, lassen kaum einen Wunsch offen. Wie so oft in letzter Zeit bei Produktionen von Ediciones Singulares wird hier eher Zweitrangiges aus der französischen Musikgeschichte erstrangig interpretiert (Saint-Saens: Proserpine mit Veronique Gens, Marie-Adeline Henry, Frederic Antoun, Andrew Foster-Williams, Jean Teidgen Flemish Radio Choir Münchner Rundfunkorchester; Ediciones Singulares, 2 CD ES 1027). Matthias Käther

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Und nun Ausführliches zum Werk: Die am 14. März 1887 in der Opéra-Comique uraufgeführte Proserpine bleibt ein verkanntes Werk, das die Beziehung von Saint-Saëns zu Wagner klar erkennen lässt, ein absoluter Bezugspunkt für jeden französischen Komponisten, wie in der Korrespondenz des französischen Musikers belegt ist. In der Tat ist die Tonsprache eine der modernsten und kühnsten des fünfzigjährigen Saint-Saëns, der Dissonanzen und Ausbrüche in einem entfesselten, vehementen und synkopierten Orchester verschwenderisch benutzt. Proserpine ist in dieser Oper nicht die unwiderstehliche Schönheit, die von Hades/Pluto begehrte Tochter der Ceres. Liebhaber der Antike, die einen Saint-Saëns, der die Mythologie verteidigte und liebte, werden enttäuscht sein:

Camille Saint-Saens: Szene "Proserpine" 1876/ Ausschnitt/ Dratwicki/BR

Camille Saint-Saens: Illustration „Proserpine“ 1876/ Ausschnitt/ Dratwicki/BR

Diese Proserpine ist eine Kurtisane aus der  Renaissance, eine betörende,  heidnische Priesterin der Lust, für die die Liebe ein Abgrund der Qual und des Leids ist, die ein Opfer der teuflischen Freuden Satans ist und wird, während die liebliche Angiola „Unschuld, Reinheit, die Verkörperung der reinen und jungfräulichen Liebe“ darstellt (so der Komponist). Keusche (und vielleicht langweilige) Liebe, leidenschaftliche (vergiftete) Liebe stehen sich hier gegenüber. Auf der einen Seite Friede, Ruhe, stumme Pflichterfüllung, auf der anderen Leidenschaft und Konflikte. Der Kontrast, der so entsteht, der Gegensatz zwischen den Charakteren von Angiola und Proserpine, der sich daraus ergibt, eröffnete für Saint-Saëns einen  fruchtbare  Palette an Ausdrucksmöglichkeiten. Saint-Saëns, der sich Wagner gegenüberstellen will, realisiert hier eine Überfülle an klanglichen Effekten in einer reichen und raffinierten Orchestrierung.

Aber so „modern“ Saint-Saens` orchestrale Vorstöße auch sein mögen – es sind doch die Bemühungen eines in tiefer Tradition befangenen Komponisten, der ein abgestandenes Sujet bevorzugte (wie der Korrespondent in der New York Times vom 6. April 1887 anlässlich der Pariser Uraufführung schreibt: …“All the names are high-sounding and musical, but the libretto is commonplace… There is no mirth or light in the plot and common sense is entirely forgotten. It begins as a comic opera, then goes to grand opera and finally ends in melodrama. The Music though… is always wonderfully clear and the orchestral portion is a constant surprise and pleasure. It is always solid, if not amusing…“)

Nach den Verunsicherungen des Franco-Deutschen Krieges 1870/71 wollte die französische bürgerliche Gesellschaft keine beunruhigenden Themen auf der Bühne sehen, sondern liebte die Geschichtsschinken wie Samson et Dalila (1877), Gounods Cinq-Mars oder die üppigen Ausstattungs-Kisten eines Massenet (1877 gab es den Roi de Lahore, Hérodiade hatte 1881 Premiere in Brüssel). Alles Vehikel, um dem Bürgertum die Angst zu nehmen, es zu beruhigen, ihm eine heile (Bühnen-)Welt vorzugaukeln. Ähnlich wie in Davids Herculanum grummelte es unter der nur scheinbar wieder beruhigten Oberfläche des französischen Alltagslebens.

1872 also Proserpine:  die – wie zu erwarten – unglücklich endende Geschichte aus dem Italien des 16. Jahrhunderts, die Geschichte einer unglücklichen Liebe einer Sünderin, der Gioconda,  Fosca oder auch vor allem Thais von Massenet (1894)  nicht unähnlich, eben die Geschichte von der edlen Hure – ein viel verwendeter Topos, bei dem Verderbtheit gegen die Unschuld steht und sich nur durch das selbstlose Opfer reinwaschen kann.  Dies ist die bekannte Moralität des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Europa, in dem die (groß-)bürgerliche Gesellschaft mit befriedigtem Grusel  den glamourösen Auf-, aber auch lustvoll-verdienten Abstieg der Sünde beklatschte. Kein Wunder, dass sozialkritische Studien wie Zolas Nana oder die realistischen Alltagsbilder wie Le ventre de Paris 1873 mit Argwohn bedacht wurden.

Proserpine – Dame lyrique in 4 Akten, auf ein Llibretto von  Louis Gallet (nach dem Bühnenstück von Auguste Vacquerie – 1872), Uraufführung  am 14. März am  1887 am Théâtre de l’Opéra-Comique in Paris. Unter der Leitung von M. J. Dansi sangen Caroline Salla/ Prosepine, Cécile Simmonet/ Angiola, Guillaume Albert Lubert/ Sabattino sowie Emil-Alexandre Taskin/ Squarocca. Im Folgenden zum Verständnis der Radioübertragung von BR Klassik am 9. Oktober einige Zeilen zur Oper selbst und zu Camille Saint-Saens, der uns nur scheinbar als der allzu bekannte Komponist des Dauerbrenners Samson et Dalila im Bewusstsein ist. Den Artikel von Florian Heurich und die Inhaltsangabe entnahmen wir den Programmheften des Münchner Rundfunkorchesters / 1. Sonntagskonzert 2016/2017 mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Müncher Rundfunkorchesters. Inhaltsangabe am Schluss G. H.

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Königin der Nacht und Engel des Tags – zu Camille Saint-Saëns’ Oper Proserpine:  Im dritten Akt von Camille Saint-Saëns’ Oper Proserpine ruft die Titelfigur ihre mythologische Namensgeberin an: Proserpina, die Göttin der Unterwelt. Hier, in der Schlüsselszene des Werks, offenbart sich die ganze Tragik dieser Frau, die sich nach der wahren Liebe sehnt, sich dabei jedoch bewusst ist, dass sie diese niemals finden wird. Proserpine, die Kurtisane, bezeichnet sich und die antike Göttin als »reines sans soleil«, als »Königinnen ohne Sonne«. So wie die Göttin fernab des Tageslichts lebt, so lebt die Kurtisane weit weg von der Liebe. Damit erschöpfen sich aber auch schon die Bezüge zur Mythologie. Proserpine ist vielmehr das Drama einer schillernden Frau, die niemals gegen die lichte Reinheit ihrer Nebenbuhlerin Angiola im Kampf um das Herz Sabatinos ankommen kann, aber dennoch die um ein Vielfaches faszinierendere Persönlichkeit ist. Der Kontrast zwischen diesen beiden Frauenfiguren, der zum Schattendasein Verdammten und der engelsgleich Leuchtenden, bildet das dramaturgische Zentrum der Oper, um das herum das gesamte Drama aufgebaut ist. Leidenschaft, Geheimnis und dunkle Glut auf der einen Seite, Klarheit und Anstand auf der anderen.

Saint-Saens: "Proserpine"/ der Autor Auguste Vacquerie, Verfasser des Bühnenstücks "Proserpine" auf einem Foto von Nadar/ Taschen

Saint-Saens: „Proserpine“/ der Autor Auguste Vacquerie, Verfasser des Bühnenstücks „Proserpine“ auf einem Foto von Nadar/ Taschen

Als Saint-Saëns auf das 1838 geschriebene Theaterstück Proserpine stieß, ein Jugendwerk des im literarischen Umfeld von Victor Hugo tätigen Schriftstellers Auguste Vacquerie, war er sofort begeistert von der geheimnisvollen Titelfigur und vom opulenten Renaissanceambiente der in Florenz angesiedelten Handlung. Komponist und Autor kamen bereits über eine Oper im italienischen Stil überein, da der Schauplatz dies nahelegte, das Projekt konnte jedoch nicht verwirklicht werden. Erst mehrere Jahre später, als sich Saint-Saëns und Vacquerie bei einem Diner im Haus Victor Hugos wiederbegegneten, wurde die Idee erneut aufgegriffen, und man zog Louis Gallet als Librettisten hinzu, der aus dem Dramentext ein Opernlibretto machen sollte: nun allerdings ein Drame lyrique »à la française«. Die Uraufführung fand schließlich am 14. März 1887 an der Opéra-Comique in Paris statt. Proserpine stand jedoch von Anfang an unter einem ungünstigen Stern, da bereits elf Tage nach der Uraufführung in der Salle Favart, der Spielstätte der Opéra-Comique, ein verheerender Brand ausbrach, der die Kulissen und einen großen Teil des Notenmaterials vernichtete. Lediglich die Orchesterpartitur wurde verschont, jedoch war an weitere Aufführungen vorerst nicht zu denken. So blieb die Oper bis heute eines der am meisten vernachlässigten Stücke von Saint-Saëns.

Saint-Saens: "Proserpine"/ der Tenor Guillaume Albert Lubert sanf den Sabattino/ Foto ipernity.com (dazu eine Legende: GUILLAUME ALBERT LUBERT/ (1859-1919)/ French Tenor/ Pupil at Societe Sainte Cecile and Conservatory of Music .Appeared in small roles at the Paris opera. His first success was in a concert in 1880 in "Damnation of Faust" at Bordeaux. From 1881-1883 at the Grand Theater Brussells where he was heard as Leopold "La Juive" ,Raymond "Robert de Diable" . Pollio "Norma" and in "La Favorita" , "Faust" & 'Lucia di Lammermoor". On his return to Paris he appeared with Marcella Sembrich in 'La Traviatta" and he remained in Paris performing Italian roles until the end of the 1885 season.He joined the Opera Comique and sang leading roles in "Romeo & Juliette ' , "Manon" , Carmen etc)

Saint-Saens: „Proserpine“/ der Tenor Guillaume Albert Lubert sang den Sabatino/ Foto operamania  ipernity.com (dazu eine Legende: GUILLAUME ALBERT LUBERT/ (1859-1919)/ French Tenor/ Pupil at Societe Sainte Cecile and Conservatory of Music .Appeared in small roles at the Paris opera. His first success was in a concert in 1880 in „Damnation of Faust“ at Bordeaux. From 1881-1883 at the Grand Theater Brussells where he was heard as Leopold „La Juive“ ,Raymond „Robert de Diable“ . Pollio „Norma“ and in „La Favorita“ , „Faust“ & ‚Lucia di Lammermoor“. On his return to Paris he appeared with Marcella Sembrich in ‚La Traviatta“ and he remained in Paris performing Italian roles until the end of the 1885 season.He joined the Opera Comique and sang leading roles in „Romeo & Juliette ‚ , „Manon“ , Carmen etc)

Für die Opéra-Comique war Proserpine ein eher ungewöhnliches Werk hinsichtlich Dramaturgie, Libretto und musikalischer Konzeption. Als Drame lyrique ohne gesprochene Dialoge entsprach es kaum mehr den Kriterien der an der Opéra-Comique bis dahin vornehmlich gespielten Gattung gleichen Namens, und in Saint-Saëns’ oftmals symphonischer Kompositionsweise, die sich über weite Strecken eher aus der Deklamation entwickelt als aus der stimmlichen Bravour, klingt deutlich der seinerzeit die französische Musik überschwemmende Wagnerismus an. Auch die Verwendung einiger Leitmotive hatte der Wagner-Verehrer Saint-Saëns von seinem deutschen Kollegen übernommen. So finden sich in der Partitur etwa Motive, die Proserpine und Angiola sowie deren unterschiedlichen Liebeskonzepten zuzuordnen sind. Genau das war es, was Kritik hervorrief und auch einer gewissen Polemik hinsichtlich französischem und deutschem Stil, die gerade in Paris aufgeflammt war, zusätzliche Nahrung gab. Während der erste Akt mit seinen Arien und seiner eingängigen Melodik sowie der zweite Akt mit seinem zarten Lyrismus uneingeschränkte Zustimmung fanden, empfand man die letzten beiden Akte als eher befremdend. Zu kompliziert sei Saint-Saëns’ Kompositionsweise, zu sehr dominiere der Symphoniker über den Bühnenkomponisten, so hieß es. Bezeichnenderweise konnte man im selben Jahr wie Proserpine überdies seine monumentale Orgelsymphonie erstmals in Paris erleben, ein halbes Jahr nach ihrer Londoner Uraufführung. Tatsächlich hört man den komplexen und ausgefeilten Orchesterklang dieses Werks stellenweise auch aus Proserpine heraus. Das, was Ende der 1880er Jahre noch vor den Kopf stieß, zumal bei einem Werk für die Opéra-Comique, macht jedoch gerade die Originalität dieser Oper aus.

Angesichts der Polemik sah sich Saint-Saëns gezwungen, seine Theaterästhetik öffentlich in der Musikzeitschrift Le ménestrel zu verteidigen: »[…] ich glaube, dass das Drama auf eine Synthese verschiedener Stile zusteuert: der Gesang, die Deklamation, die Symphonie vereint in ständigem Gleichgewicht, sodass der Schöpfer alle Mittel der Kunst ausschöpfen kann und der Zuhörer all seine legitimen Geschmäcker befriedigt sieht.« Saint-Saëns’ Konzept einer Mischung der Stile spiegelt sich auch in der musikalischen Ausgestaltung der vier Akte wider, wobei in jedem von ihnen ein anderer Ton angeschlagen wird. Der Librettist Louis Gallet, der dem Komponisten die textliche Vorlage dafür lieferte, bezeichnete den Charakter der einzelnen Akte der Reihe nach als »symphonisch, melodisch, pittoresk, dramatisch«, entsprechend der jeweiligen Bühnensituation: ein Fest im Garten von Proserpines Palast, eine Klosterszene mit dem zaghaften Kennenlernen von Angiola und Sabatino, ein farbenfrohes Zigeunerlager und schließlich die finale tödliche Konfrontation aller Beteiligten.

Saint-Saens: "Proserpine"/ der Librettist Louis Gallet/ Wiki

Saint-Saens: „Proserpine“/ der Librettist Louis Gallet/ Wiki

Insbesondere der zweite Akt, der die lyrischsten Momente der Partitur enthält, ist eine Erfindung Gallets. In Vacqueries Theaterstück kommt diese Szene im Kloster nicht vor, der Librettist erzeugt mit diesem Kunstgriff jedoch den größtmöglichen Kontrast zur Wollust im Palast Proserpines, wodurch die beiden Frauen in ihrer vollen Gegensätzlichkeit etabliert sind. Für die Renaissanceopulenz des ersten Akts ließ sich Saint-Saëns auf einer Florenzreise im Vorfeld der Komposition inspirieren, auf der er ganz ins Ambiente der Geschichte eintauchte und bereits klare Gedanken zur Szenerie formulierte. Diese solle aus Portalen und Marmortreppen bestehen, dazu »vier oder fünf hübsche Tänzerinnen, prächtig gekleidet im Stil Veroneses, die hübsche Posen einnehmen und sich mit den jungen Leuten unterhalten«. Auch die Konzeption der Titelfigur hatte er klar vor Augen als »eine seltsame und mysteriöse Frau«, die jedoch nicht allzu abstoßend und rätselhaft erscheinen dürfe.

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Zur Musik:In einem kurzen Orchestervorspiel werden zwei wichtige Motive exponiert, die sich durch das gesamte Werk ziehen: eines für Proserpine und ein weiteres für deren Sehnsucht nach Liebe. Während der erste Akt mit buntem Treiben auf einem rauschenden Fest beginnt, auf dem Proserpines Liebhaber eine Siciliana anstimmen und eine Pavane der Bühnenmusik eine entrückte Renaissance-Atmosphäre heraufbeschwört, präsentiert sich die Titelfigur zunächst von ihrer melancholischen und sehnsuchtsvollen Seite. Sabatino tritt mit einem an seinen Freund Renzo gerichteten Arioso auf. In der zentralen Auseinandersetzung zwischen Proserpine und Sabatino steigert sich die Sehnsucht der Kurtisane dann mehr und mehr zur glühenden Leidenschaft. »Sie ist vom Geblüt der großen Liebenden«, so Saint-Saëns. Sabatino sieht in ihr jedoch nur die Frau, für die Liebe gleich Geld ist. Wenn sich Proserpine, der die wahre Liebe versagt blieb, schließlich dem Banditen Squarocca hingibt, bricht wieder die dekadente Feststimmung in die Szenerie hinein, die sich zum Aktschluss in einer Art Brindisi (ital.: Trinklied) bis zur Orgie steigert.

Auf den opulenten ersten Akt folgt im zweiten Akt die Intimität des Klosters, in dem Angiola lebt. Schon das leuchtende Orchestervorspiel und der religiöse Unterton, der hier mitschwingt, unterstreichen den bereits durch ihren Namen angedeuteten engelsgleichen Charakter von Proserpines Gegenspielerin. Als Inbegriff von subtiler, hoher Liebeslyrik bringt Sabatino seiner zukünftigen Braut ein Sonett dar. Der Akt, in dem zwei zentrale Leitmotive dominieren – »Triumph der Anmut« und »eheliche Liebe« – endet in einem breit angelegten und raffiniert gestalteten Ensemble, das bei der Uraufführung wegen des großen Jubels sogar wiederholt wurde.

Der dritte Akt beginnt mit einer Genreszene im Lager der Zigeuner. Eine Tarantella bietet Raum für ein Ballett und geht dann in einen Chor der Zigeuner über. Diese Szene fügte Saint-Saëns erst nachträglich in die Partitur ein, quasi als Zugeständnis an die Pariser Opernkonventionen und den Geschmack des Publikums, das derartige Tanz- und Chornummern erwartete. Überhaupt ist dieser Akt, dessen Charakter Gallet als »pittoresk« beschrieben hatte, der kontrastreichste des ganzen Werks. Ein Trinklied Squaroccas etwa hebt das folkloristische Ambiente der Szenerie hervor, andererseits findet sich hier auch Proserpines zentrale Solonummer. Wenn sie in ihrem großen Monolog ihre Namensverwandte, die Göttin der Unterwelt, anruft, offenbart dies den zerrissenen Charakter der sich verzweifelt nach Liebe sehnenden Kurtisane, der mit Angiola ein komplett gegensätzliches Frauenbild vor Augen geführt wurde. »Angiola ist der Tag, Proserpine die Nacht«, so Saint-Saëns, doch »die Nacht ist schöner als der Tag«.

Saint-Saens: "Proserpine"/ die Sopranistin Cécile Simonnet - hier als Lakmé - sang die Angiola in der Pariser Uraufführung/ Foto operamania ipernity.com (dazu eine Legende: CECILE SIMONNET, 1865-??? French Soprano, Entered the Conservatoire de Paris in 1882. Debuted in Monte-Carlo in January 1885 under the direction of Pasdeloup. Debuted at the Opéra-Comique on September 10, 1885 in Lakmé (Lakmé) to replace Van Zandt. She sang Mignon (Philine), Mireille (Mireille), le Pré - aux - clercs, la Traviata (Violetta). The evening of the burning of the salle Favart on 25 may 1887, she sang Mignon (Philine). She created Mary one day; in 1886 the Signal; in 1887 Proserpine; in 1890 Dante; on June 18, 1891, the dream/ Angelique).

Saint-Saens: „Proserpine“/ die Sopranistin Cécile Simonnet – hier als Lakmé – sang die Angiola in der Pariser Uraufführung/ Foto operamania ipernity.com (dazu eine Legende: CECILE SIMONNET, 1865-???
French Soprano, Entered the Conservatoire de Paris in 1882. Debuted in Monte-Carlo in January 1885 under the direction of Pasdeloup. Debuted at the Opéra-Comique on September 10, 1885 in Lakmé (Lakmé) to replace Van Zandt. She sang Mignon (Philine), Mireille (Mireille), le Pré – aux – clercs, la Traviata (Violetta). The evening of the burning of the salle Favart on 25 may 1887, she sang Mignon (Philine). She created Mary one day; in 1886 the Signal; in 1887 Proserpine; in 1890 Dante; on June 18, 1891, the dream/ Angelique).

In einer Konfrontation der beiden Frauen prophezeit die sich als wahrsagende Zigeunerin ausgebende Proserpine ihrer Kontrahentin eine schlechte Zukunft. In ihrer Reinheit widersteht Angiola jedoch den Einschüchterungsversuchen Proserpines, die sich hier – halb Carmen, halb Ulrica aus Verdis Un ballo in maschera – von ihrer undurchsichtigsten und bedrohlichsten Seite zeigt.

Ein langes Zwischenspiel leitet in den vierten Akt über. Aus der überarbeiteten Fassung seiner Oper hatte Saint-Saëns diesen symphonischen Entracte wieder herausgenommen, unter anderem wohl wegen der Kritik, Proserpine sei zu orchestral und zu wenig theatralisch gedacht. In der im heutigen Konzert gespielten Version erklingt jedoch dieses klangmalerische Orchesterstück, in dem fast im Stil einer Symphonischen Dichtung nachgezeichnet wird, wie Proserpine beinahe wahnsinnig vor Eifersucht dem von ihr begehrten Sabatino durch die Berge bis zu seinem Haus hinterhereilt. Das Duett zwischen den beiden, in dem Proserpine Sabatino ihre wahren Gefühle gesteht, von ihm jedoch zurückgewiesen wird, bildet daraufhin denn auch den ergreifenden, leidenschaftlichen Höhepunkt der Partitur.

Danach geht alles sehr schnell. In einen Zwiegesang von Sabatino und Angiola, in dem sich beide in einer langen Unisonophrase ihrer Liebe versichern, mischen sich Proserpines hasserfüllte Einwürfe, durch die diese Szene zum Terzett erweitert wird. Als die Kurtisane sich schließlich mit einem Dolch auf Angiola stürzt, geht Sabatino dazwischen, und Proserpine ersticht sich selbst. Ihre letzte ersterbende Phrase führt noch einmal die gesamte Tragik dieser Frau vor Augen, während sich im Orchester erneut das Motiv der Liebessehnsucht, mit dem die Oper auch begonnen hatte, aufbaut. »Grauenvolles Problem«, so kommentiert Saint-Saëns selbst den Schluss seiner Oper und fasst damit das ganze Dilemma seiner schillernden Titelfigur zusammen: »Satan, der Aufrührer, der ewige Verdammte, erdrückt mit seiner Überlegenheit die treuen Engel.« Der ewige Konflikt zwischen hell und dunkel, zwischen der reinen, aber womöglich etwas langweiligen Lichtgestalt und der faszinierenden Königin der Finsternis kommt auch hier zu einem höchst ambivalenten Ende. Florian Heurich

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Saint-Saens: "Proserpine"/ Büste der proserpine von Hiram Powers/ Wiki

Saint-Saens: „Proserpine“/ Büste der Proserpine von Hiram Powers/ Wiki

Handlung: I. AKT Italien, 16. Jahrhundert, Abenddämmerung in den Gärten von Proserpines Palast. AI. 1. Szene Die Kurtisane Proserpine öffnet ihre Gärten für ein Fest, nachdem sie sich einen Monat lang in ihren Palast zurückgezogen hatte. Gäste haben sich versammelt und fragen sich, wem sie heute ihre Gunst erweisen wird. 2. Szene Proserpine erscheint. Sie reagiert nicht auf die Forderungen der Freier, sondern hält sehnsüchtig Ausschau nach Sabatino. Da sie ihn nicht entdecken kann, zieht sie sich wieder zurück. 3. Szene Renzo und sein Freund Sabatino erscheinen. Sabatino, der früher einen freizügigen Lebensstil pflegte und im Kreis Proserpines verkehrte, soll nun Renzos fromme Schwester Angiola heiraten. Renzo verlangt, dass sein zukünftiger Schwager sich ausdrücklich von Proserpine lossagt. 4. Szene Proserpine kehrt mit ihrer Entourage zurück und begrüßt Renzo mit übertriebenem Liebreiz, ignoriert aber Sabatino, um seine Reaktion zu prüfen. Nachdem auch er scheinbar keine Kenntnis von ihr nimmt, schickt sie alle Anwesenden zum Konzert, das in diesem Moment im Palast beginnt. 5. SzeneAllein zurückgeblieben, gesteht sich Proserpine ihre innige Liebe zu Sabatino ein, fürchtet aber, dass ihre Gefühle unerwidert bleiben werden. 6. Szene Sabatino kehrt aus dem Festsaal zurück und fragt Proserpine, warum sie ihn immer abgewiesen habe. Sie erklärt, dass sie sich nicht nach der körperlichen, mit Geld bezahlten, sondern nach echter, seelischer Liebe sehne, und deutet ihre Gefühle gegenüber Sabatino an. Um sie zu kränken und gegen sich aufzubringen, bietet er sich als bezahlender Freier an. Tief verletzt jagt sie ihn davon. Im Abgehen trifft er auf Renzo und sagt ihm, dass er getan habe, was dieser verlangte. 7. Szene Enttäuscht von Sabatino und den reichen Männern, die sich ihre Liebe nur kaufen, denkt Proserpine darüber nach, sich einem armen Schlucker hinzugeben. 8. Szene Just in diesem Moment wird der Verbrecher Squarocca herbeigebracht, der bei dem Versuch gefangen genommen wurde, in Proserpines Gemach Schmuck zu stehlen. 9. Szene Anstatt Squarocca ins Gefängnis bringen zu lassen, drängt Proserpine ihn dazu, sie aufs Fest zu begleiten. 10. Szene Die Gäste kommen aus dem Palast zurück in den Garten und sind erstaunt, Squarocca an Proserpines Seite zu sehen. Einer der Ihren erwähnt, dass Sabatino demnächst die Schwester Renzos heiraten werde, die er bereits seit zwei Jahren verehre. Proserpine ist außer sich, versichert sich aber sogleich planvoll der Ergebenheit Squaroccas. Dann eröffnet sie das Fest.

Saint-Saens: "Proserpine"/ "Venus venticorda" von Rosetti, 1868/ Wiki

Saint-Saens: „Proserpine“/ „Venus venticorda“ von Rosetti, 1868/ Wiki

II. AKIm Inneren eines Klosters. 1. Szene Junge Novizinnen und Klosterschülerinnen preisen das traumhafte Leben, das Angiola an der Seite eines schönen Mannes erwartet. Sie selbst aber hat die Hoffnung darauf verloren und glaubt, dass ihr Bruder sie nicht mehr verheiraten will. 2. Szene Der soeben angekommene Renzo verkündet seiner Schwester, dass ihr Leben hinter Klostermauern zu Ende sei, da er ihr einen Mann ausgewählt habe. Feierlich präsentiert er ihr Sabatino. 3. SzeneAngiola erschrickt beim Anblick Sabatinos. Renzo beruhigt sie aber mit dem Hinweis, dass dieser nun ein rechtschaffenes Leben führe. Die beiden verloben sich, worauf Renzo Sabatino veranlasst, heimzukehren und alles für Angiolas Ankunft vorzubereiten. Er selbst werde in drei Tagen mit seiner Schwester nachreisen. 4. Szene Das Kloster öffnet seine Tore für eine Armenspeisung. Squarocca mischt sich unter die Menge und beobachtet Angiola.

III. AKTEin Zigeunerlager in den Bergen. 1. SzeneSquarocca wird von den Zigeunern als Kamerad begrüßt und bittet sie, ihm bei der Umsetzung von Proserpines Plan behilflich zu sein. 2. SzeneProserpine erscheint als Zigeunerin verkleidet. Squarocca berichtet, dass er bereits die nötigen Vorbereitungen getroffen habe, um die Heimreise Angiolas und Renzos zu unterbrechen und die Geschwister ins Lager zu locken. 3. Szene Allein geblieben, beklagt Proserpine, dass Sabatino ihre Liebe nicht erwidert. Sie will sein Glück jedoch nicht akzeptieren, sondern die Verlobten auseinandertreiben. In einer feierlichen Anrufung der Unterweltsgöttin Proserpina fühlt sie sich ihrer Namensvetterin auch in der Dunkelheit ihrer Seele verbunden: Wie die antike Göttin des Tageslichts beraubt war, so müsse sie die Liebe entbehren. 4. SzeneSquarocca kehrt zurück und berichtet, dass Angiola und Renzo sich nähern und ihre Reise bald unterbrochen werde. Um die Hilfesuchenden ins Lager zu locken, stimmt er ein Trinklied an. 5. SzeneRenzo kommt mit seiner Schwester ins Lager und berichtet von einem Unfall mit ihrer Kutsche. Squarocca bietet an, den Schaden zu beheben, packt Riemen und Seile und geht mit Renzo zur Unfallstelle, während Angiola bei Proserpine warten soll. 6. Szene Proserpine gibt vor, aus Angiolas Hand zu lesen. Sie verkündet, dass ihre Heirat verflucht sei und dass ihr und ihrem Bruder tödliches Unheil drohe, sollte sie nicht sofort ins Kloster zurückkehren. Unverblümt fordert sie von Angiola, ihren Verzicht auf die Heirat zu schwören. Als diese sich weigert, wirft Proserpine ihre Verkleidung ab und droht der Rivalin offen, sie zu töten. 7. Szene Squarocca kehrt zurück, nachdem er Renzo gefesselt hat, und wird von Proserpine angewiesen, auch Angiola gefangen zu halten, während sie selbst zu Sabatino aufbricht. Doch in der Ferne werden Schüsse hörbar. Renzo tritt mit Soldaten auf, die ihn offenbar befreit haben und nun Squarocca festsetzen. Angiola und Renzo fallen sich in die Arme.

Saint-Saens: "Proserpine" - Sarah Bernhardt als Cleopatra/ Harvard Theatre Collection Wiki Commons

Saint-Saens: „Proserpine“ – Sarah Bernhardt als Cleopatra/ Harvard Theatre Collection Wiki Commons

IV. AKT Am Abend in Sabatinos Haus. 1. SzeneSabatino kann angesichts der bevorstehenden Hochzeit sein Glück nicht fassen. 2. SzeneÜberraschend erscheint Proserpine und gesteht Sabatino, dass sie ihn immer geliebt und stets nur zum Schein zurückgewiesen habe. Sabatino sagt ihr, sie solle auf immer verschwinden. Während er nach draußen geht, um seine Verlobte in Empfang zu nehmen, schleicht sie sich jedoch zurück und versteckt sich hinter einem Vorhang. 3. SzeneSabatino und Angiola schwören sich ewige Liebe. Wütend stürzt Proserpine hinter dem Vorhang hervor, um Angiola zu erdolchen. Sabatino wirft sich vor seine Verlobte, worauf Proserpine sich selbst tötet. Im Sterben wünscht sie den Liebenden, miteinander glücklich zu sein.

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Sehr herzlichen Dank an den Musikwissenschaftler und Autor Florian Heurich sowie an Doris Sennefeld vom Münchner Rundfunkorchester für die Übernahme der Texte aus den Programmheften des Münchner Rundfunkorchesters / 1. Sonntagskonzert 2016/2017!  Very special thanks to Gary Bryant of operamania (ipernity.com, whose phantastic collection of wonderful and incredibly many and well preserved photographs of 19th century opera singers is simply overwhelming and a must-look-at for every discerning opera lover. it´s difficult to imagine a similar collection. We are profoundly grateful for his generosity to be allowed to use some of his pictures.) Foto oben: Camille Saint-Saens: „Proserpine“/ die Sängerin der Uraufführung Caroline Salla, hier als Thomas´ Francesca neben dem Tenor Henrie Sellier/ Foto operamania ipernity.com

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