Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Innerlichkeit und Gedenken

 

Die Übersetzungen von Homers Ilias und Odyssee durch den Altphilologen Johann Heinrich Voß (1751-1826) sind heute immer noch erhältlich. Dass Voß als Zeitgenosse Goethes auch ein beliebter Lyriker war, ist hingegen kaum im Bewusstsein. Zu Lebzeiten und später fanden sich Komponisten, die ihn vertonten, die CD Seid menschlich, froh und gut bringt einen Querschnitt von 36 Liedern des in Mecklenburg geborenen Voß, der seine Lyrik stets auch mit Blick auf eine Vertonung als Lieder dachte, Voß‘ heute wenig präsenter Freund Johann Abraham Peter Schulz (1747-1800) ist mit sechs Kompositionen vertreten. Die Zusammenarbeit von Voß und Schulz wird im Beiheft als „Komponisten-Dichter-Werkstatt“ bezeichnet und zeigt, wie Voß selber seine Lyrik musikalisch empfand. Weiterhin in die Auswahl dieser CD aufgenommen sind als ältester  Komponist C.P.E. Bach, Voß‘ Altersgefährten Johann Friedrich Reichardt, Friedrich Ludwig Kunzen, Franz Xaver Sterkel, Carl Friedrich Zelter, Johann Rudolf Zumsteeg und Hans Georg Nägeli sowie als späte Zeitgenossen Carl Maria von Weber, Fanny Hensel und Felix Mendelssohn. Weiterhin sind Franz Schubert und Johannes Brahms mit Liedern auf Lyrik von Ludwig Christoph Hölty vertreten, die Voß als Herausgeber überarbeitete. Manche Gedichte sind mehrfach dabei, bspw. das Minnelied, deren zweite Strophe als Beispiel für Voß‘ Tonfall herangezogen werden kann: „Ach! bin inniglich / Minnewund! / Gar zu minniglich / Dankt ihr Mund; / Lacht so küßlich, / Daß mir’s bebt in des Herzens Grund!“ Die Vertonungen von Carl Maria von Weber, Carl Loewe und Johann Rudolph Zumsteeg laden zum Vergleich ein.  (Auch Johannes Brahms vertonte das Minnelied in den „12 Lieder und Romanzen“ op. 44, allerdings für vierstimmigen Frauenchor). Voß bewunderte Klopstock und Pindar, zwischen Aufklärung, Naturschwärmerei und  antiken Versmaße bewegt sich auch die Spannbreite seines Schaffens. Innerlich, heiter, erhaben, unmittelbar und anti-höfisch – seine Lyrik strebte einen volksnahen und volksbildenden Ton an, Musik und Lyrik sollten sich zur Herzensbildung vereinen, sein Freund Schulz wollte „moralische Menschenlieder“ komponieren und als „Liedermann des Volkes“ gelten. Nicht alle Komponisten interessierten sich für diese Intention, die Romantiker betonten das Empfindsame. Eine spannende Zusammenstellung und auch die Interpretation ist in den richtigen Händen und Stimmbändern: der vielseitige Bass-Bariton Ulf Bästlein ist selber promovierter Philologe und Germanist und als Professor an diversen Musikhochschulen prädestiniert für dieses Projekt. Seine Stimme mag manchmal etwas Frische und Beweglichkeit vermissen lassen, Ausdruck und Engagement überzeugen umso mehr. Weiterhin aufgewertet wird die Einspielung durch Pianist Sascha el Mouissi, der auch den Vertonungen der weniger bekannten Komponisten viel abgewinnen kann. Ein ausführliches Beiheft wertet diese für Liederfreunde sehr gelungen zusammengestellte und interpretierte Raritätensammlung weiter auf. (Gramola 99118)

Der Komponist  Friedrich Kiel (1821-1885) hat sein Requiem in f-Moll op. 20 1862, sieben Jahre vor Johannes Brahms‘ innovativen  „Ein deutsches Requiem“, uraufgeführt. Es war sein Durchbruch als Komponist und brachte ihm eine Professorenstelle ein, als angesehener Kompositionslehrer war er an verschiedenen Hochschulen tätig. Das ca. einstündige, in Latein gesungene Requiem ist explizit als Konzertwerk und nicht für den sakralen Raum gedacht. Als Protestant konnte er auf keine Vertonungstradition zurückgreifen, sein Vorbild findet sich bei Mozart, vielleicht auch bei Cherubini. Musikalisch kombiniert sich „kontrapunktische Linienführung mit romantischer Harmonik und einprägsamer Melodik“, erläutert der Dirigent. Ein düsteres Introitus, ein angstvolles Kyrie, ein tonmalerisches Dies irae (dass noch weit von der Drastik Verdis entfernt ist), Verzweiflung im Lacrimosa und Hoffnung im Offertorium, Sanctus und Agnus Dei – was das spezifisch Protestantische an diesem Requiem sein soll, erschließt sich heute nur Experten und auch das zu wenig ausführliche Beiheft bietet kaum Aufklärung zur kirchengeschichtlichen Einordnung und Grundidee des Werks. Kiel mag sein Requiem mit Orchester für den Konzertsaal konzipiert haben, die vorliegende Live-Aufnahme hingegen entstand 2016 in Berlin der Heilig-Kreuz-Kirche mit Klavierbegleitung – so richtig will hier also nichts zusammenpassen. Zu hören ist eine vom Komponisten erstellte zweite Ausgabe des Werks von 1878, die vom Dirigenten dieser Aufnahme in eine nicht vom Komponisten erstellte Klavierfassung der Fassung von 1962 rückeingearbeitet wurde. Diese erste Klavierfassung erstellte Julius Stern, dessen Gesangsverein das Requiem uraufführte und bei sogenannten „stillen Aufführungen“ neue Werke einem kleinen Kreis vorstellte. Auch diese Aufnahme ist eine „stille Aufführung“ mit Klavierbegleitung und ohne Orchester – eine Entscheidung, die dem Zuhörer also nur einen reduzierten musikalischen Einblick gewährt, die südkoreanische Pianistin Sue Baek begleitet mit viel Einsatz und Leidenschaft, um diesen Mangel etwas zu kompensieren. Reduziert wird der Einblick zusätzlich durch die ordentlich agierenden, aber nie Aufmerksamkeit erregenden Sänger: weder Christina Bischoff (Sopran), Anja Schumacher (Alt), David Ameln (Tenor) und Matthias Jahrmärker (Bass) noch das ensemberlino vocale unter seinem Leiter Matthias Stoffels gelingt es, diese Rarität nachhaltig zu beleben. (Rondeau, ROP 6141Marcus Budwitius

Der Müllerbursche in der Oper

 

Daniel Behle ist ein renommierter Mozart-Interpret und auch im Liedgesang erfahren. Schuberts Zyklen Die schöne Müllerin und Winterreise gehören zu den Kernstücken seines Repertoires. Jetzt hat er bei der deutschen harmonia mundi eine CD mit Schubert-Arien herausgebracht, welche das begleitende L’Orfeo Barockorchester unter Michi Gaigg mit Ouvertüren des Komponisten ergänzt (89854 07212). Der Sänger bewegt sich mit diesem Programm auf vertrautem Terrain, hat er doch in Opern der deutschen Hoch- und Spätromantik (Wagner, Humperdinck und Strauss) bereits bedeutende Erfolge errungen. Dass er sich nun Werken des als Opernkomponisten noch immer unterschätzten Franz Schubert widmet, ist verdienstvoll und hoffentlich ein Beitrag zur dessen Rehabilitierung.

All diese Arien, in denen es um jungmännliche Gefühle geht – Schwärmerei, Liebesverlangen, Sehnsucht, Hoffnung –, verlangen eine schlanke, flexible Stimme, die dennoch leidenschaftliche Empfindungen auszudrücken vermag. Verzierungen sind dagegen weniger gefragt, ging es in Schuberts Werken doch um die Hinwendung zum Drama im Sinne der griechischen Tragödie, weg von der gesanglichen Virtuosität des Belcanto-Stils.

Die erste Romanze aus dem Zauberspiel von 1820 Die Zauberharfe mit dem Wortlaut „Was belebt die schöne Welt? – Liebe nur verschafft ihr Leben“ steht als Motto über der Arienauswahl. Behle stellt sie in der Konzertfassung als Weltersteinspielung vor und lässt in diesem emphatischen Gesang seinen wohllautenden, kultivierten Tenor hören. Aus dem Jahre 1815 stammt das Fragment des Singspiels Claudine von Villa Bella, aus welchem die Arie des Pedro „Es erhebt sich eine Stimme“ erklingt. Sie behandelt die Entscheidung zwischen aristokratischer Karriere und einem glücklichen Leben auf dem Lande,  verweist schon auf das tenorale Zwischenfach. Im selben Jahr entstand das Singspiel Die Freunde von Salamanka, aus dem der Tenor zwei Szenen ausgewählt hat. Die galante Arie des Tormes „Aus Blumen deuten die Damen gern“ ist eine weitere Premiere auf CD, Diegos Romanze „Es murmeln die Quellen“ ein lieblich wiegendes Stück mit lyrischer Substanz.

Eine veritable Rarität ist das Singspielfragment Adrast von 1819/20, aus dem zwei Arien des Titelhelden zu hören sind. Schubert verlangte von den Interpreten seiner Werke, dass deren Stimme ans Herz dringen müsse. Genau das gelingt Behle mit seinem liedhaft-schlichten Vortrag.

Gelegentlich aufgeführt wird das szenische Oratorium Lazarus (1820), aus dem die Arie des Nathanael „Wenn ich ihm nachgerungen habe“ vorgestellt wird.

Auch Alfonso und Estrella (1821/22) steht zuweilen auf den Spielplänen, ebenso wie Fierrabras von 1823. In Alfonsos Arie „Schon, wenn es beginnt zu tagen“ hat der Tenor exponierte Töne zu meistern, was Behle mühelos gelingt. Sehr gelungen ist die Gegenüberstellung von zwei verschiedenen Tenorrollen in Fierrabras – Eginhards sanfte Romanze „Der Abend sinkt“ und die aufgewühlte Arie des Titelhelden „In tief bewegter Brust“ mit ihren Ausflügen in dramatische Gefilde. Der letzte Titel der Auswahl, die Arie „Der Tag entflieht“ aus der Opéra comique Das Zauberglöckchen, offeriert eine weitere Seltenheit und Ersteinspielung. Gesungen wird sie von Azolin, der, um die Prinzessin Palmira zu erobern, die eigene Mutter in Gefahr bringt. Dieser Konflikt gestaltet sich musikalisch in einer turbulenten Szene mit heldischem Anflug, mündend in eine bravouröse Stretta mit exponiertem Schlusston. Der Tenor Franz Rosner, für den sie komponiert wurde, war danach der Interpret des Max in Webers Freischütz, was für den Anspruch dieser Musik spricht.

Mit drei Ouvertüren trägt das von Michi Gaigg 1996 gegründete und auf historischen Instrumenten musizierende L’Orfeo Barockorchester zur Vielfalt des Programms bei. Aus der Zauberharfe erklingen die zum 1. Akt mit ihren gewichtigen Einleitungsakkorden, denen ein Weber nahes, lebhaftes Allegro vivace folgt, sowie die zum 3. als stürmisches Allegro ma non troppo mit heftiger dramatischer Steigerung. Davon ist auch die Ouvertüre zu Alfonso und Estrella bestimmt, deren energischen Gestus die Dirigentin plastisch formt, wie sie überhaupt Schuberts musikalischem Sturm und Drang jederzeit gerecht wird. Bernd Hoppe

Hilde spült Gläser

 

Es hat sehr lange gedauert, bis dieser Film auf DVD gelangte: Die Dreigroschenoper – nicht ganz von sondern eher nach Bertolt Brecht und Kurt Weill. Als er um 1963 in die westdeutschen und Berliner Kinos kam, erregte er viel Aufsehen. Selbst in der DDR wurde diese deutsch-französische Co-Produktion in der Regie keines Geringeren als Wolfgang Staudte gezeigt. Ich erinnere mich noch ganz genau an den ersten Auftritt von Hildegard Knef als Spelunken-Jenny. Ihr Gesicht, von feuerroten Haaren umhüllt, schob sich im Profil auf die riesige Breitwandleinwand: „Das war Mackie Messer“, sagte sie mit ihrer unverwechselbaren heiseren Stimme. Dann erst ging es richtig los. Nach mehr als fünfzig Jahren hat dieser Moment nichts von seiner Wirkung eingebüßt – mit einem Unterschied. Der Film läuft jetzt nicht mehr im Kino, sondern auf dem heimischen Fernsehbildschirm ab. Nichts zu wünschen übrig lässt die Bildqualität. Die Firma Filmjuwelen, bei der die DVD-Ausgabe erschien, bürgt schon mit ihrer Namenswahl für hohen Standard (6416965).

„Die Dreigroschenoper“/ Cover der „Illustrierten Filmbühne“ 1963/ OBA

Die Story um den berüchtigten Gangster ist bekannt. Sie fußt auf der Beggar’s Opera von John Gay (mit der Musik von Johann Christoph Pepusch, einem Rivalen Händels, dem beide mit diesem Werk schwer zu schaffen machten). Schon wenige Jahre nach der Uraufführung der Dreigroschenoper am 31. August 1928 im Theater am Schiffbauerdamm, wo heute das Berliner Ensemble residiert, gab es die erste Verfilmung (von Georg Wilhelm Pabst 1931), die näher am Original ist als die Staudte-Version. Noch heute wird das Stück, das zu den erfolgreichsten seiner Art gehört, gespielt. Es wurden Plattenaufnahmen gemacht – gute und weniger gelungene. Helge Rosvaenge, Milva, Harald Juhnke und sogar Lale Andersen haben sich daran versucht. Einzelne Titel wurden Hits wie die Moritat von Mackie Messer, wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Einst von Ernst Busch mit messerscharfer Zunge kreiert, übernahm nun in Staudtes Film der amerikanische Entertainer, Schauspieler, Sänger und Tänzer Sammy Davis jr. diesen Part und rückte ihn, zudem englisch dargeboten, in die Nähe einer Musicalnummer. Ein Eindruck, der sich auf die gesamte Verfilmung überträgt. Der Sound ist ein anderer. In seiner Bearbeitung der Partitur hat der im Filmgeschäft sehr erfahrene Komponist Peter Sandloff eine Gruppe von Streichern hinzugefügt, die es im Original nicht gibt. Unterhalten will dieser Film seine Zuschauer und nicht sozialkritisch auf die Barrikaden bringen. Staudte, der gemeinsam mit dem Schriftsteller Günther Weißenborn auch das Drehbuch geschrieben hatte, unterliegt nicht der Versuchung, die Geschichte an originalen Schauplätzen, nämlich im Londoner Stadtteil Soho, spielen zu lassen, wo auch schon Stevensons Dr. Jekyll als sein eigener Doppelgänger Mr. Hyde Angst und Schrecken verbreitete. Die Handlung vollzieht sich wie auf einer Bühne in gemalten Kulissen. Auf diese Weise bleibt diese Dreigroschenoper ein Theaterstück.

Von Anfang an scheint kein guter Stern über der Produktion gestanden zu haben. Im Booklet wird die Geschichte von Roland Mörchen präzise und spannend erzählt. Demnach hätte der Produzent Kurt Ulrich am liebsten Yves Montand als Mackie, Pascale Petit als Polly und die Weill-Witwe Lotte Lenya als Jenny, die sie schon in der Uraufführung und in der ersten Verfilmung gespielt hatte, engagiert. Für die Verfilmungsrechte habe er laut einem Bericht des „Spiegel“ vom 7. November 1962 „an die Rechtsinhaber Helene Weigel und Lotte Lenya 80 000 Dollar, umgerechnet 320 000 Mark“ bezahlt. Zudem seien 300 000 Mark für Giulietta Masina, die Ehefrau von Federico Fellini fällig gewesen, mit der Ulrich 1959 „Das kunstseidene Mädchen“ produzierte und zeitgleich für die Dreigroschenoper unter Vertrag genommen habe, „ohne zu ahnen, dass sich die Dreharbeiten immer wieder verzögern würden“. Dann kam der Mauerbau in Berlin, in dessen Folge das Interesse an Brecht, der zuletzt in Ostberlin lebte, in Ächtung umschlug. Es dauerte, bis schließlich Staudte als Regisseur gesetzt war, der zunächst „ebenfalls keinen Dreh findet, um Brechts Stück für die Gegenwart fruchtbar zu machen“, so Mörchen. Dann habe er eine Idee gehabt. „Er will der Brecht-Handlung einen aktuellen Bezug geben, in dem das Unterwelt- und Rotlicht-Milieu angesichts wachsenden Werteverlustes der Gegenwartsgesellschaft gehörig in die Krise geraten ist.“ Daraus wurde dann doch nichts. Weil die Option auf die Verfilmung Ende 1962 ausgelaufen wäre und Einsprüche der Brecht-Witwe Weigel zu befürchten gewesen seien, arrangiert sich der Regisseur „schließlich mit der Ablehnung seines ursprünglichen Konzepts und beginnt am 22. Oktober 1962 in den Ufa-Studios von Berlin-Tempelhof zu drehen“, schreibt Mörchen. Sieben Wochen später, am 11. Dezember, sei fristgerecht die letzte Klappe gefallen. Staudte „dreht die vier Million Mark teure Produktion als großen Ausstattungsfilm (Bühne und Kostüme: Hein Heckroth) und zugleich als großen Schauspielerfilm“, fasst der Booklet-Autor zusammen.

„Die Dreigroschenoper“/ Reklamefoto für die Kinoschaukästen/ Gloria Filmverleih 1963/ OBA

Curd Jürgens, seinerzeit ein allseits gefeierter Star, bleibt dem Mackie Messer viel schuldig. Er wirkt gestelzt. Ein großer Namen allein reicht nicht. Im Booklet werden zeitgenössische Kritiken zitiert. Der schon erwähnte „Spiegel“ sprach von einem „alternden Gasparone mit Zwicker“. Nach Auffassung der „Welt“ wirkte Jürgens „innerhalb des Berufszweigs der Ganoven eher wie ein Heiratsschwindler“. Und die „Filmblätter“ urteilten: „Kein gefährlich-schillernder Gangster, sondern ein ältlicher Ver-Lebemann – unterspielt, unterkühlt.“ Von anderem Kaliber sind da schon der ewig sächselnde Gert Fröbe als glaubwürdiger Peachum, Inhaber der Firma „Bettlers Freund“, und Hilde Hildebrand als seine Frau Celia.

Gert Fröbe und Hilde Hildebrand/ Still aus der „Dreigroschenoper“-DVD bei Filmjuwelen

Sie hatte ich viel verwüsteter in Erinnerung mit ihrer „Ballade von der sexuellen Hörigkeit“ und finde sie nun eher als deutlich gealterte Anita aus dem Film „Große Freiheit Nr. 7“ wieder, dem sie mit ihrem Lied „Beim ersten Mal da tut‘s noch weh“ ein Gütesiegel erster Klasse aufgedrückt hatte. Aus England kam die Polly in Gestalt von June Ritchie, die auch keinen rechten Zugang zu ihrer Rolle fand. Lino Ventura glänzte am Ende mehr durch seinen berühmten Namen denn durch Eignung für die Figur des Tiger Brown. Großen Eindruck hinterlässt auch heute noch Walter Giller, der damals mit seiner Frau Nadja Tiller als Traumpaar des Films galt, hier als einfältiger Bettler Filch. Und Hilde? Die ist wie sie immer war und wirkt mit mehr als einem halben Jahrhundert Abstand ein wenig wie ihr eigenes Klischee. Ein schönes und bewegendes Klischee. Deshalb ist dieser Film immer noch sehr sehenswert – Filmgeschichte eben (Foto oben: „Die Dreigroschenoper“/ Reklamefoto der Gloria Filmverleih 1963 / Ausschnitt/ OBA). Rüdiger Winter

Jeffrey Tate

 

Die Hamburger Symphoniker schreiben: Die einzigartige Stimme Jeffrey Tates ist verstummt und wird doch in den Herzen, in den Gedanken und in der Erinnerung zahlloser Bewunderer und Freunde in der ganzen Welt ewig weiter klingen. Die Symphoniker Hamburg sind vom völlig überraschenden Ableben ihres geliebten und verehrten Chefdirigenten zutiefst erschüttert. Seine Musik hat die Welt zu einer besseren gemacht, und wir sind für die Stunden, Tage und Jahre, die wir mit Sir Jeffrey verbringen durften, unendlich und unsagbar dankbar. Sir Jeffrey hat unser Orchester wie kein anderer geformt. Unsere Gedanken sind bei seinem Mann Klaus Kuhlemann und bei der Familie. Möge seine Seele eingebunden sein in das Bündel des ewigen Lebens. (Quelle: Hamburger Symphoniker

 

Jeffrey Tate/ Hamburger Symphoniker/ youtube

Sir Jeffrey Tate (* 28. April 1943 in SalisburyEngland; † 2. Juni 2017 in BergamoItalien): Er studierte trotz angeborener Behinderungen wie Spina bifida und Kyphose von 1961 bis 1964 Medizin an der Universität von Cambridge und wurde Facharzt für Augenheilkunde. Tate arbeitete danach als Augenchirurg am St Thomas’ Hospital in London. Später gab er seine klinische Karriere auf und studierte Musik am London Opera Centre. Seine musikalische Laufbahn begann er als Assistent von Herbert von Karajan in Salzburg und James Levine an der Metropolitan Opera in New York. 1976 war er Assistent von Pierre Boulez beim Bayreuther ‚Jahrhundertring‘.

Jeffrey Tate dirigierte an Opernhäusern und Festivals ein breites Repertoire mit Schwerpunkten auf den Werken von Strauss, Mozart, Wagner und französischen Opern. Jeffrey Tate war Chefdirigent der Symphoniker Hamburg. Er hat außerdem mit dem London Symphony Orchestra, Berliner Philharmoniker, Cleveland Orchestra, Orchestre de la Suisse Romande, English Chamber Orchestra, Philharmonisches Orchester Rotterdam und Orchestre National de France zusammengearbeitet.

Tate wurde im Rahmen der traditionellen britischen Neujahrsehrungen (New Year’s Honours) 2017 für seine Verdienste um die britische Musik im Ausland (for services to British music overseas) zum Knight Bachelor nobilitiert.

In seinen letzten Konzerten dirigierte er die Neunte Sinfonie von Gustav Mahler mit dem Haydn Orchester von Bozen und Trient und den Studenten der beiden Städte (Fotos: Hamburger Symphoniker Trailer/ youtube). (Quelle Wikipedia

Jiří Bělohlávek

 

Mit Bestürzung hörten wir von dem Tode des tschechischen Dirigenten Jiří Bělohlávek, ein Gigant in seiner Zeit und ein Garant einer eigenen, eigenständigen nationalen Orchestersprache nicht nur in seiner Heimat. Viele Plattenaufnahmen zeugen von seiner Genius. Sein Tod ist ein schwerer Verlust nicht nur für seine tschechischen Zuhörer und die Tschechische Philharmonie, sondern für Musikliebhaber weltweit. Im Folgenden bringen wir eine Würdigung von der website seiner Stammorchesters, der Tschechischen Philharmonie, der wir unsere Anteilnahme versichern.

 

Jiří Bělohlávek/ Foto Tschechische Philharmonie

It is with deep sorrow that the Czech Philharmonic announces that last night, May 31st, the principal conductor and music director of the Czech Philharmonic Jiří Bělohlávek died after a courageous struggle with a serious illness. It is primarily to his credit that during the past five years, the Czech Philharmonic has enjoyed many extraordinary successes and has regained a place of honor in its home country and abroad – it has truly become a national orchestra, finding its way back to the stages the world’s most prestigious concert halls, and it has made a number of highly acclaimed recordings. Not only for the Czech Philharmonic, but for the entire Czech nation, the passing of Jiří Bělohlávek means the loss of both a great artist and an extraordinary human beingJiří Bělohlávek was born in Prague in 1946. His love of music became apparent at an early age, encouraged by his father, a judge, who introduced his son to an array of classical music. At the age of four, Jiří joined a children’s choir, and was soon taking piano lessons. Jiří Bělohlávek went on to learn the cello with Professor Karel Pravoslav Sádlo before continuing his studies at the Prague Conservatory and at the Academy of Performing Arts in Prague. It was during these years that Jiří Bělohlávek began conducting in earnest, receiving instruction from Robert Brock, Alois Klíma, Bohumír Liška and Josef Veselka.

In 1968, the legendary Rumanian conductor Sergiu Celibidache invited Jiří Bělohlávek to become his assistant, a collaboration which culminated in Bělohlávek winning the Czech Young Conductors’ Competition in 1970, as well as reaching the final of the prestigious Herbert von Karajan Conducting Competition in 1971. It was in 1970 that Bělohlávek began conducting the Czech Philharmonic to great acclaim; the start of his long relationship with the orchestra.

Jiří Bělohlávek was appointed Conductor of the Brno State Philharmonic Orchestra in 1972, a position he held until 1978. He then became Chief Conductor of the Prague Symphony Orchestra, a partnership which lasted until 1989, and Permanent Conductor of the Czech Philharmonic. Václav Neumann, the latter orchestra’s Chief Conductor (between 1968 and 1990) brought him to Berlin’s Komische Oper in 1979, where he debuted with Smetana’s The Secret. Bělohlávek went on to conduct Stravinsky’s The Rake’s Progress there in 1980.

A decade later, Jiří Bělohlávek succeeded Václav Neumann as Chief Conductor of the Czech Philharmonic. He built upon the orchestra’s already established reputation for excellence, particularly in its interpretations of Czech music, and became part of a long line of esteemed Czech conductors to direct the orchestra: Václav Talich, Rafael Kubelík, Karel Ančerl, and his immediate predecessor Václav Neumann.

Jiří Bělohlávek mit der Mezzosopranistin Dagmar Peckova/ Foto Tschechische Philharmonie

In 1994, Jiří Bělohlávek founded the Prague Philharmonia, whom he directed until 2005, when he became its Conductor Laureate. Alongside his work with this ensemble, Jiří Bělohlávek has conducted the world’s major orchestras, including the Berlin Philharmonic, Boston Symphony Orchestra, Cleveland Orchestra, Gewandhausorchester Leipzig, New York Philharmonic, NHK Symphony Orchestra, Philadephia Orchestra, Sächsische Staatskapelle Dresden and the San Francisco Symphony Orchestra, appearing at festivals including Berlin, Edinburgh, Lucerne, Montreaux, Perth, Prague, Salzburg and Tanglewood.

In 1994 Jiří Bělohlávek was named Principal Guest Conductor of the Prague National Theatre; then in 1995 he became the BBC Symphony Orchestra’s Guest Conductor, later becoming its Chief Conductor in 2006. Alongside these positions, Jiří Bělohlávek has continued his prestigious work in the world of opera, with acclaimed productions at Berlin, Covent Garden, Glyndebourne, the Metropolitan Opera in New York and many more.

In parallel with these roles, Jiří Bělohlávek has become a respected teacher of conducting. He was appointed Professor at the Prague Academy in 1997, and until 2009 was Director of the Department of Conducting. His protégés include the young Czech conductors Tomáš Hanus, Jakub Hrůša and Tomáš Netopil.

As Chairman of the Prague Spring International Music Festival, Jiří Bělohlávek consistently championed the music of Czech composers. His special affinity with the music of Bohuslav Martinů has been instrumental in bringing that master to the world’s attention, and Bělohlávek has also taken the more rarely-performed works of Dvořák, Janáček, Smetana and Suk and to new audiences. Furthermore, he has programmed pieces by Czech composers deserving of greater attention, including Foerster, Ostrčil, Slavický and Sommer.

Jiří Bělohlávek has an extensive discography, and, as the Naxos label noted: „His most outstanding recordings are those in which he leads the Czech Philharmonic Orchestra, where the high calibre of orchestral execution and Bělohlávek’s deep musicianship result in performances of exceptional quality.“

In May 2012 Jiří Bělohlávek was awarded the title CBE (Commander of the Most Excellent Order of the British Empire) ‘for services to music’ by the Queen Elizabeth II. In the Czech Republic he was awarded the First Grade Medal of Merit for service to the Republic.

In a much-anticipated reunion, Jiří Bělohlávek returned as Chief Conductor of the Czech Philharmonic in 2012. The outstanding musicianship of the Czech Philharmonic under Bělohlávek’s inspiring direction has made this a truly exciting collaboration. As an internationally-acclaimed conductor, Jiří Bělohlávek directed the Czech Philharmonic on the international stage, taking the orchestra forwards in music-making which has already won great acclaim, and which is sure to do so in the future. (Quelle und Fotos: Tschechische Philharmonie/ Dank an Březina Luděk)

 

Vorliebe an Männertreffen

 

Heute mehr als früher scheint Siegfried Wagners Homosexualität ein brennendes Thema, wann immer man von Siegfried Wagner spricht – vielleicht zu sehr seine Verdienste als Komponist, Organisator und Dirigent überdeckend?  Heute, wo Personen des öffentlichen Lebens schon beim geringsten Anzeichen sogar im Staats-Fernsehen geoutet werden und das Privatleben eines Donald Trump grelle Schlagzeilen produziert, ist Intimes von öffentlichem Interesse, oft überproportional und auf Kosten der Betroffenen, so auch hier.

Das Foto ist ein Screenshot auf dem ZDF-Film „Der Wagner Clan – eine Familiengeschichte“, der in Kooperation mit dem ORF 2014 im deutschen ZDF lief und als DVD zu beziehen ist (Mona-Film).

Dennoch – das Leben und die Lebensumstände dieses so im immer wieder publizierten Bannkreis der Bayreuther Familie Stehenden nun mit einer eigenen Ausstellung (zudem erstmals in Berlin) nachzuvollziehen, ist ein reizvolles Projekt, dem sich das Schwule Museum in Berlin bis zum Ende Juni 2017 mit einer umfangreichen Ausstellung widmet. Wir berichteten darüber.

Noch bevor die Pläne zur Berliner Ausstellung bekannt wurden baten wir den Autor und Professor für vergleichende Literaturwissenschaften Nikolai Endres um die Genehmingung zum „Nachdruck“ seines Artikels zur Homosexualität Siegfried Wagners, den er bereits in den Mitteilungen der Internationalen Siegfried Wagner Gesellschaft veröffentlicht hatte. Wir danken ihm und der Gesellschaft (Achim Bahr) für die Erlaubnis, fügen doch Nikolai Endres´ Ausführungen eine wichtige Facette dem Gesamtbaild dieses in seiner Zeit gefangenen Mannes, Siegfried Wagner, hinzu.

 

Siegfried Wagner (nebenstehend in einer für die Zeit bemerkenswert knappen Badehose/ Foto Flyer Schwules Museum Berlin/ Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft) wurde am 6. Juni 1869 als Sohn von Richard Wagner und Cosima von Bülow geboren. (Cosima war noch offiziell mit Hans von Bülow verheiratet.) Nietzsche war bei der Geburt präsent und Ludwig war Siegfrieds Taufpate. Mit einem berühmten Vater und ebenso illustren Großvater (Franz Liszt) schien alles auf eine großartige Karriere hinauszulaufen. Erstes Interesse an Architektur wich dem Studium der Musik. Insgesamt 18 Opern hat Siegfried komponiert und ab 1896 dirigierte er in Bayreuth, dessen künstlerischer Direktor er von 1908 – 1930 war. Siegfried lebte seine Homosexualität mehr oder weniger offen aus. Er nahm mit Vorliebe an Männertreffen teil, wo zum Beispiel Platons Gastmahl auf griechisch rezitiert wurde. Kleinere Skandale wurden immer wieder entschärft und Erpresser wurden mit Geld zum Schweigen gebracht. Im Jahr 1914 kam es dann anders. Maximilian Harden, der schon 1906 – 1909 durch die berüchtigte Eulenburg-Affäre einige von Kaiser Wilhelm II engsten Freunden und Beratern zum Fall gebracht hatte (siehe dazu mein Artikel The Eulenburg Affair Scandalizes Germany’s Leadership), drohte Siegfried bloßzustellen.

Prinz Philipp zu Eulenburg spielt übrigens eine interessante Rolle in der Wagner-Saga. Am Morgen des 14. Juni 1886 war er einer der ersten, der Ludwigs Leiche sah, nachdem der tote König ans Ufer des Starnberger Sees geschwemmt wurde. Er hat diesen Tag in Das Ende König Ludwigs II und andere Erlebnisse festgehalten. (Unerwähnt bleibt, dass Eulenburg damals mit einem Fischer gerudert war, der später vor Gericht zugab, mit Eulenburg Sex gehabt zu haben.) 1901 hat Eulenburg Houston Stewart Chamberlain, der Gatte von Siegfrieds Schwester Eva, Kaiser Wilhelm II vorgestellt, der tief beeindruckt war von Chamberlains rassistischem Weltbild.

Siegfried Wagner/ Zeichnung von Clement Harris/ Foto entnommen aus dem Standardwerk zu Siegfried Wagner von Peter P. Pachl: Siegfried Wagner – Genie im Schatten“, Nymphenburg 1988

Hardens Artikel »Tutte le corde: Siegfried und Isolde« in der Wochenzeitschrift Die Zukunft (27. Juni 1914) wurde durch Isoldes Vaterschaftsklage ausgelöst. Obwohl die Geburtsurkunde Hans von Bülow als ihren Vater aufweist, ist sich die Wagner-Forschung ziemlich einig, dass Richard Isolde gezeugt hat. Außerdem hatte Isolde, im Gegensatz zu Cosimas anderen Kindern, einen Sohn geboren: Franz Wilhelm Beidler (1901 – 1981). Als Isolde ihren Prozess aufgrund eines Meineids Cosimas verlor (in den Zeiten vor DNA war die Geburtsurkunde bindend), begann Harden mit seinen Ermittlungen.

Der 44-jährige Siegfried – immer noch Junggeselle – war das perfekte Opfer. Harden macht keine direkten Vorwürfe, aber er wundert sich, warum so viele Gerüchte herumschwirren, und spielt dann auf einen Heiland aus andersfarbiger Kiste an (mit Kiste ist wohl das Hinterteil der Männer gemeint und andersfarbig bezieht sich anscheinend auf den Euphemismus für Schwule als vom anderen Ufer). Als Siegfried von Isolde mit seiner Sexualität konfrontiert wurde, antwortete er: »Dem größten Könige aller Zeiten, Friedrich dem Großen, wurde auch Übles nachgesagt, und Preußen wurde groß und stark durch ihn! Also sorgt nicht! Ich entweihe das Festspielhaus nicht!« Jetzt gab es nur noch einen Ausweg: Eheschließung.

Bei den Bayreuther Festspielen im Jahr 1914 wurde die 17-jährige Winifred Klindworth Siegfried vorgestellt. Nach der Hochzeit 1915 kamen vier Kinder auf die Welt: Wieland (1917 – 1966), Friedelind (1918 – 1991), Wolfgang (1919 – 2010) und Verena (1920). Mit zwei Söhnen und zwei Töchtern in schönem Jahresabstand hatte Siegfried wohl seine Schuldigkeit getan. Als Winifred sich in den Schriftsteller Hugh Walpole verliebte, war Siegfried wenig beunruhigt, denn Hughs sexuelle Wünsche stimmten mit seinen eigenen überein.

Die große Liebe? Clement Harris/ Foto entnommen aus dem Standardwerk zu Siegfried Wagner von Peter P. Pachl: Siegfried Wagner – Genie im Schatten“, Nymphenburg 1988

Siegfried starb am 4. August 1930. Winifred übernahm die Leitung der Festspiele bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Schon 1923 hatte sie Adolf Hitler getroffen, als er Villa Wahnfried besucht hatte. Als Hitler für seine Beteiligung am Münchner Putsch im Gefängnis saß, schickte Winifred ihm – so will es auf jeden Fall die Legende – Papier, worauf er dann Mein Kampf verfasst hat. Nach der Machtergreifung gab es sogar Gerüchte über eine bevorstehende Heirat zwischen den beiden. Hitler war oft zu Gast bei der Familie Wagner und unterstützte finanziell die Festspiele. Winifreds Rolle im Dritten Reich bleibt kontrovers. Siegfried fand den radikalen  Antisemitismus seiner Frau abstoßend und Friedelind erinnerte sich an ihren Vater als einen »Verfechter für Toleranz und Mitgefühl.« Allerdings muss man zugeben, dass Winifred für einige von Siegfrieds schwulen Freunden eingetreten ist und sie vor dem Konzentrationslager gerettet hat. Die Zeugenaussagen von zwei Sängern, Max Lorenz und Herbert Janssen, wirkten sich in Winifreds Entnazifizierungsverfahren nach dem Krieg strafmindernd aus. Später kümmerte sie sich um den verarmten früheren Intendanten des Deutschen Nationaltheaters in Weimar, Hans Severus Ziegler, was ihr den Spitznamen Gluckhenne aller Schwulen einbrachte. Sie starb 1980 im Alter von 82 Jahren.

Siegfried wurde von einer Anzahl von dominanten Frauen aufgezogen: seine Mutter, seine Halbschwestern Daniela und Blandine, und seine Schwestern Isolde und Eva. Als Student in Frankfurt verkleidete er sich manchmal als prima ballerina. Selbst 1926 (als Siegfried fast sechzig war) machte der 28-jährige Joseph Goebbels, Hitlers späterer Propagandaminister, folgende Eintragung in sein Tagebuch: »Siegfried ist so schlapp. Pfui! Soll sich vor dem Meister schämen … Feminin. Gutmütig. Etwas dekadent. So etwas wie ein feiger Künstler.«

Mehr als nur gute Freunde? Siggi & Henry: Siegfried Wagner und Freund Henry Thode/ Foto entnommen aus dem Standardwerk zu Siegfried Wagner von Peter P. Pachl: Siegfried Wagner – Genie im Schatten“, Nymphenburg 1988

In Siegfrieds zwanziger Jahren war Clement Harris (1871 – 1897) sein engster Freund. Unter anderem hat Harris den jungen Siegfried im Portrait gemalt und war ein literarischer Jünger von Oscar Wilde (Harris unterhielt und belehrte Wilde, indem er ihm Wagner auf dem Klavier vorspielte). Als sie via London zu einer  Weltreise aufbrachen, wurde Siegfried Wilde vorgestellt. Siegfried nahm zur Kenntnis, dass Wilde zwar sehr berühmt sei und mit seinen Paradoxien alle zum Lachen bringe, aber obwohl er sich in Vielem gut auskenne, sei er doch eher ein Poseur. Trotzdem lud Siegfried bei dieser Gelegenheit Wilde und Pierre Louÿs nach Bayreuth ein, doch aus diesem Vorhaben wurde nichts. (Zufällig kam dann Siegfried 1895 nach London zurück, als Tage zuvor der letzte Wilde Prozess zu Ende ging und Wilde wegen »gross indecency« für zwei Jahre ins Gefängnis musste.)

In seiner Autobiographie (1923) erinnert sich Siegfried gerne an sein »Clementchen« und gibt sogar einige Aufschlüsse über die Tiefe ihrer Beziehung. Zum Beispiel teilten sie sich ein Bett wie Orestes und Pylades, ein gleichgeschlechtliches Liebespaar aus der griechischen Mythologie. In Singapur fanden sie ein Stück Paradies, aber eben nur für Männer, denn sie fühlten sich wie zwei Adame und badeten dort nackt. In einer Stelle in dem privat gedruckten Reisetagebuch, die in der offiziellen Fassung gestrichen wurde, beschreibt Siegfried ihren Abschied: »äußerlich möglichst englisch … innerlich aber so herzlich und innig, wie wir uns jetzt lieben gelernt haben!« Tragischerweise starb Harris ganz jung einen byronischen Tod, als er für die Unabhängigkeit Griechenlands kämpfte. Als Andenken an die Liebe seines Lebens stellte Siegfried bis an sein Lebensende ein Portrait von Harris auf seinem Schreibtisch auf.

Szenen einer Ehe: Winifred und Siegfried Wagner/ Foto aus Peter P. Pachls Buch „Siegfried Wagner“/ Nymphenburger Verlag 1988

Es sind noch weitere Liebschaften zu berichten. Zu Cosimas großem Unbehagen, verliebte sich der jugendliche Siegfried auf den ersten Blick in den älteren famosen Bariton Theodor Reichmann (1849 – 1903), der Amfortas bei der Welt-Uraufführung von »Parsifal« sang. Als Student hatte Siegfried eine Affäre mit einem Graf von Goetzen (sonst ist fast nichts von ihm bekannt), was einige Querelen mit Harris zur Folge hatte. Außerdem widmet Siegfried in seinen Memoiren noch einem anderen Homosexuellen einen wichtigen Platz: Paul von Joukowsky (auch Zhukovski geschrieben, 1845 – 1912), Maler und spezieller Freund von Schriftsteller Henry James, der eine »besonders zarte Liebschaft« für ihn hegte und weiterhin sagte: »Er ist ganz nach meinem Geschmack und wir haben uns ewige Freundschaft geschworen.«

In reiferen Jahren entstand eine enge Freundschaft mit dem gleichaltrigen Jugendstilmaler Franz Stassen (1869 – 1949), der Siegfried als Trauzeuge diente und dem Siegfried eine Oper widmete. Stassen ist bekannt für seine Illustrationen von Richard Wagners Werken, hat aber auch homoerotische Skizzen im Stil von Paul Cadmus‘ What I Believe veröffentlicht. Stassen, der wie Siegfried verheiratet war, bekannte sich 1941 zu seiner Sexualität.

Eng befreundet: Franz Stassen, Bühnenbildner, Maler, Künstler/ Foto Wiki

Schließlich bittet Siegfried in seinen Opern um Verständnis für verbotene Liebe und prangert die Justiz an, die Hexen am Scheiterhaufen verbrennt, die Selbstmördern das Begräbnis verweigert oder die Ausgestoßene verschmäht. Außerdem verbergen viele seiner Figuren schreckliche Geheimnisse, fürchten sich vor Aufdeckung und schließen einen Bund mit dem Teufel. Hier kann man dann noch ein interessantes Detail hinzufügen. Bei seiner allerletzten Inszenierung, dem »Tannhäuser« seines Vaters, lehnte Siegfried sich an eine Idee von Aubrey Beardsleys homoerotisch geprägten Die Geschichte von Venus und Tannhäuser (1895) an; wenn nach seiner Pilgerreise nach Rom Tannhäuser zum Venusberg zurückkehrt, strecken auch halbnackte Jünglinge in suggestivem Rotlicht ihre Arme nach dem Ritter aus. Jonathan Carr betont die Schwierigkeit, Siegfrieds Charakter einzuschätzen: »Auf deutsch sind ein paar Biographien von ihm erschienen, aber seine Memoiren sind dünn, seine Briefe immer noch nicht vollständig veröffentlicht und seine wahren Gefühle oft von Ironie und Jovialität maskiert.« Warum blieb Siegfrieds Sexualität so lange ein Geheimnis? Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es doch eine relativ aufgeklärte Einstellung zur Homosexualität, besonders in einem recht liberalen Land wie Deutschland, wo schon 1897 Magnus Hirschfeld das Wissenschaftlich-Humanitäre Komitee gegründet hat. Wie dem auch sei, selbst wenn Siegfrieds Sexualität zu seiner Lebenszeit verheimlicht wurde, warum hat dann später fast niemand das Rätsel gelöst?

Siegfried Wagners Travestieren als Ballerina ist leider nicht dokumentiert; hier doubelt Thomas Hailer in Edmund Gleedes 1986 uraufgeführtem Musiktheater „Cosima Notte oder Notre Dame de Bayreuth“/ Foto entnommen aus dem Standardwerk zu Siegfried Wagner von Peter P. Pachl: „Siegfried Wagner – Genie im Schatten“, Nymphenburg 1988

Das erste Problem ist Zugang zu und Einsicht in die relevanten Dokumente. Siegfrieds Privatpapiere befinden sich im Gegensatz zu seinen Partituren nicht im Bayreuther Archiv. Als 1973 die Familienunterlagen der Richard-Wagner-Stiftung vermacht wurden, hielt Winifred Wagner Siegfrieds Privatkorrespondenz zurück. Nach ihrem Tod kamen die Manuskripte in den Besitz von Verena Lafferentz-Wagners ältester Tochter Amélie. Strikteste Geheimhaltung (Peter Pachl nennt es »Fafnerisierung«) wurde vereinbart! Das ist kaum verwunderlich, denn die Familie ist ja bekannt für ihre Geheimniskrämerei und Hinhaltungstaktiken.

Die nächste Schwierigkeit ergibt sich aus akademischer Feigheit, sogar in der deutschen Forschung, die ansonsten recht aufgeschlossen gegenüber der Homosexualität ist. Zdenko von Krafts Biographie Der Sohn (1969), ein Werk von besonders unkritischer Hagiographie, verliert kein Wort über Siegfrieds sexuelle Männerfreundschaften. Auch das überrascht wenig, denn schließlich hat Winifred das Vorwort verfasst, und wer im Index nach Maximilian Harden sucht, tut dies vergeblich.

Und dann gibt es noch eine hochbrisante Kontroverse. Anscheinend hatte Siegfried mit der Gattin eines Bayreuther Pfarrers eine Affäre, woraus ein Sohn, Walter Aign (1901 – 1977), geboren wurde. Walter, der bei seinem Vater als musikalischer Assistent arbeitete, blieb unverheiratet und war wohl selbst schwul. Trotz außerehelicher Geburt (Siegfried selbst wurde ja so geboren, wie auch Cosima und vielleicht sogar Richard) war Walter der erstgeborene Wagner Erbe (geboren am 9. Juni), noch vor Franz Wilhelm Beidler (geboren am 16. Oktober). Aber für den Scheinapostel Cosima war ein außerehelicher Sohn als Wagnererbe (ebenso wie ein Sohn von einer ihrer Töchter) natürlich völlig inakzeptabel. Siegfrieds Vaterschaft ist in der Wagner Forschung heftig umstritten, aber Fotografien zeigen eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen Walter und Siegfried.

In schwuler Gesellschaft: Viscount Drumlanrig and Lord Alfred Douglas, lover of Oscar Wilde/ Foto Wiki

Glücklicherweise hat sich in den letzten Jahren das Dunkel etwas gelichtet. Peter Pachls Siegfried Wagner: Genie im Schatten (1988) scheut nicht davor zurück, Siegfrieds Sexualität zu erwähnen; seine erstaunliche Widmung – »Wolfgang Wagner, der mich durch seine ablehnende Haltung erst auf den rechten Weg brachte« – beschreibt unverblümt und trefflich die Resistenz der Familie. Edmund Gleedes Musical Cosima Notte oder Notre Dame de Bayreuth (1986) zeigt Siegfried in Frauenkleidern. Ein Puppenspiel von Uwe Hoppe (2006) nimmt König Ludwigs Vernarrtheit in Richard Wagner zum Anlass, Siegfrieds Liebesleben zu rechtfertigen. Jonathan Carrs The Wagner Clan (2007) bietet die erste Möglichkeit für englische Leser, sich über Siegfrieds Bisexualität zu informieren, aber wegen der Fülle des Materials muss das Kapitel über Siegfried kurz bleiben. Zu guter Letzt widmet sich die Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft dem Erbe des Sohns von Richard Wagner (Foto oben ein Ausschnitt aus dem auch für die Ausstellung des Schwulen Museums Berlin verwendeten Fotos von Siegfried Wagner und Henry Thode/ ISWG mit Dank).. Nikolai Endres

 

Der Autor Nikolai Endres/ OBA

Dazu eine kurze Biographie von der Seite der Western Kentucky University, an der Nikolai Endres als Professor lehrt. Nikolai Endres received his Ph.D. in Comparative Literature from the University of North Carolina-Chapel Hill in 2000. As professor at Western Kentucky University, he teaches Great Books, British literature, classics, mythology, critical theory, film, and gay and lesbian studies. He has published on Plato, Ovid, Petronius, Gustave Flaubert, Walter Pater, Oscar Wilde, E. M. Forster, F. Scott Fitzgerald, Mary Renault, Gore Vidal, and others. He is currently on sabbatical and writing a literary biography of American novelist Patricia Nell Warren, author of the famous gay novel The Front Runner. His next projects are pornographic representations of canonical gay texts and a queer reading of the myth and music of Richard Wagner. (Foto oben: Siegfried Wagner/ aus Peter P. Pachl „Siegfried Wagner“/ Nymphenburg 1988)

 

Kein Wunder bei der starken Mutter: Cosima Wagner und Siegfried Wagner/ Foto aus Peter P. Pachls „Siegfried Wagner“/ Nymphenburger Verlag 1988

Bibliographie: Bock, Claus Victor. Pente Pigadia und die Tagebücher des Clement Harris. Amsterdam: Castrum Peregrini, 1962./ Carr, Jonathan. Der Wagner-Clan: Geschichte einer deutschen Familie. Übersetzer Hermann Kusterer. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2008./ Endres, Nikolai. The Eulenburg Affair Scandalizes Germany’s Leadership. Great Events from History: Gay, Lesbian, Bisexual, Transgender Events. Herausgeber Lillian Faderman et al. Pasadena, CA and Hackensack, NJ: Salem Press, 2007. 2 Bände: 52-55./ Hamann, Brigitte. Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth. München: Piper, 2002./ Karbaum, Michael. Studien zur Geschichte der Bayreuther Festspiele (1876 – 1976). Regensburg: Gustav Bosse, 1976./ Kraft, Zdenko von. Der Sohn: Siegfried Wagners Leben und Umwelt. Graz und Stuttgart: Stocker, 1969./ Merk, Anton. Franz Stassen, 1869 – 1949. Maler, Zeichner, Illustrator: Leben und Werk. Hanau: Museum Hanau Schloß Philippsruhe, 1999./ Pachl, Peter P. Siegfried Wagner: Genie im Schatten, mit Opernführer, Werkverzeichnis, Diskographie und 154 Abbildungen. München: Nymphenburger, 1988./ Pachl, Peter P. (Herausgeber). Siegfried Wagner-Kompendium 1: Bericht über das erste internationale Symposion Siegfried Wagner, Köln 2001. Herbolzheim: Centaurus, 2003./ Söhnlein, Kurt. Erinnerungen an Siegfried Wagner und Bayreuth. Mit einem Anhang: Siegfried Wagners Briefe an Kurt Söhnlein. Herausgeber Peter P. Pachl. Bayreuth: Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft, 1980./ Speyer, Edward. My Life and Friends. London: Cobden-Sanderson, [1937]. / Spotts, Frederic. Bayreuth: A History of the Wagner Festival. New Haven: Yale University Press, 1994./ Stassen, Franz. Erinnerungen an Siegfried Wagner. Bayreuth und Detmold: Bayreuther Bund, 1940./ Wagner, Friedelind. Siegfried Wagner: A Daughter Remembers Her Father. Opera Quarterly 7.1 (Spring 1990): 43-51./ Wagner, Siegfried. Erinnerungen. Herausgeber Bernd Zegowitz. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2005./ Wessling, Berndt W. Wieland Wagner, der Enkel: Eine Biographie. Köln-Rodenkirchen: P. J. Tonger, 1997. Nikolai Endres

Oh beaux Pays…

 

Diana Damrau schreibt im Booklet der Erato-Ausgabe: Meyerbeer – ein wahrhaftiger Europäer. Warum ein reines Meyerbeer-Album? Während meines Studiums in Würzburg wurde ich vom dortigen Universitätsorchester eingeladen, Meyerbeers Kantate Gli amori di Teolinda für Sopran, Klarinette und Orchester zu singen. Bis dato kannte ich nur Dinorahs Arie „Ombre légère“, ein Muss für jeden Koloratursopran. Dieses hochvirtuose Duo mit der Klarinette, noch dazu auf Italienisch und im italienischen Stil geschrieben, hat mich auf den Komponisten Meyerbeer neugierig gemacht. So tauchte ich ein in die Welt Meyerbeers und war begeistert von der Vielfältigkeit seines Könnens, was die Behandlung der Stimme angeht, seine Orchesterfarben, seinen theatralischen Instinkt, den kraftvollen und facettenreichen Ausdruck der Gefühle, seine herrlichen Melodien und nicht zuletzt seine Fähigkeit, genau den „Nationalton und -stil“ seiner Kompositionen zu treffen. Vergleicht man seine italienischen, deutschen und französischen Werke, meint man nicht nur einen, sondern drei unterschiedliche Komponisten zu hören. Daraus entstand die Idee, diese verschiedenen Stile erstmalig in einem Album gegenüberzustellen und diesen einzigartigen „europäischen“ Künstler mit all seinen Facetten zu zeigen, abgesehen von seinen unumgänglichen französischen Werken, deren Leichtigkeit, Sinnlichkeit, Schönheit und Eleganz ihresgleichen suchen.  

Nachstehend die Rezension zu ihrem Konzert an der Deutschen Oper Berlin – nach Paris und andernorts in Deutschland – mit eben diesem Meyerbeer-Programm und die Kritik zur neuen CD bei Erato.

 

Meyerbeer-Konzert mit Diana Damrau an der Deutschen Oper Berlin/ Foto Bettina Stoess

Diana Damrau in der DOB: Das Programm ihrer neuen Meyerbeer-CD stellt Diana Damrau (Foto Jürgen Frank/ Erato)auch in Live-Konzerten im Rahmen einer Deutschland-Tournee vor, für deren Start am 19. 5. 2017 die Sängerin die Deutsche Oper Berlin gewählt hatte. Stars treten seit einiger Zeit in den für sie kreierten Designerroben auf (welche auch die Cover der CDs schmücken) – Renée Fleming in Gianfranco Ferré oder Joyce DiDonato in den spektakulären Entwürfen von Vivienne Westwood –, doch die deutsche Sopranistin wählte erst im zweiten Teil des Abends das elegante, schwarz-glitzernde Escada-Kleid von ihrer Platte und verzichtete auf den Pelzmantel gänzlich, was bei den hochsommerlichen Temperaturen dieses Tages durchaus verständlich war. Stimmliche Schonung legte sich die Solistin allerdings nicht auf, sang insgesamt sieben große Arien, welche die stilistische Vielfalt des Komponisten eindrucksvoll widerspiegelten. Als Einstieg wählte sie überraschend eine fachfremde Partie – die Kavatine des Pagen Urbain aus den Huguenots –, welche auch nicht im Programm ihrer CD enthalten ist. Hier konnte sie mit kokettem Vortrag punkten und auf die nachgedunkelte Mittellage ihrer Stimme aufmerksam machen. Schon beim nächsten Titel, der berühmten Schattenarie aus Dinorah, musste sie in höhere Regionen aufsteigen und damit in ihr angestammtes Repertoire zurückkehren. Plastisch und suggestiv gestaltete sie das Frage- und Antwortspiel mit dem Schatten, fand dabei zarte, delikate Töne und illustrierte ihren Gesang mit gekonnten tänzerischen Einlagen, was diese Nummer besonders wirkungsvoll machte. Große lyrische Substanz erfordert die Kavatine der Isabelle, „Robert, toi que j’aime“, aus Robert le diable, welche die Sopranistin mit schmerzlicher Inbrunst begann, am Ende gewaltig steigerte und noch mit einem deliziösen Triller schmückte.

Zur französischen Sprache kamen im zweiten Teil des Abends noch die italienische und deutsche hinzu, und mit der Arie der Emma „Sulla rupe triste“ aus Emma di Resburgo und der Kavatine der Therese, „Lebe wohl, geliebte Schwester“, aus Ein Feldlager in Schlesien hörte man zudem zwei gänzlich unbekannte Stücke. In ersterem überraschte die Damrau mit einer träumerischen, raffiniert verschleierten Stimme in der Einleitung, um danach mit reichlich Zierwerk zu glänzen. Im deutschen Beitrag gab es durch die Beklommenheit im Ausdruck eine kontrastierende Stimmung. Den Schlusspunkt setzte die ausgedehnte Szene der Marguerite de Valois, „O beau pays“ aus den Huguenots, welche die Interpretin an die Grenze der stimmlichen Möglichkeiten führte, die aber dennoch das reiche Farbspektrum, die Süße und den Duft ihres Soprans ins schönste Licht rückte. Mit der Zugabe, der Arie der Inès „Adieu mon breau rivage“ aus der Africaine, krönte die Sängerin ihren Berliner Auftritt mit traumhaft gesponnenen Tönen bis in höchste Sphären.

Großen Anteil am Erfolg des Konzertes hatte der Dirigent Francesco Ivan Ciampa, der mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin Werke von Meyerbeer und dessen Zeitgenossen servierte, darunter mit Louis Joseph Ferdinand Hérolds Zampa auch eine veritable Rarität. Der straffe Zugriff des Italieners, sein Temperament und das Gespür für spannungsreich entwickelte accelerando-Effekte machten große Wirkung bei den Ouvertüren zu Rossinis Semiramide und Meyerbeers Dinorah, deren flirrende, zauberische Atmosphäre in der Einleitung er sehr stimmungsvoll formte und die Turbulenzen am Schluss spannend herausarbeitete. Nur bei der Ouvertüre zu Wagners Rienzi geriet der Schluss etwas lärmend, doch Ciampas Sinn für Pathos und Grandeur waren auch hier zu spüren. Der Abend weckte große Vorfreude auf Diana Damraus Auftritte an der Deutschen Oper in der nächsten Saison. Bernd Hoppe

 

Ihre erste Begegnung mit Meyerbeer hatte Diana Damrau noch als Studentin in Würzburg, als sie vom Universitätsorchester der Stadt eingeladen wurde, in einem Konzert die szenische Kantate für Sopran, Klarinette und Orchester „Gli amori di Teolinda“ zu singen. 2002 trat sie im Rahmen ihres Engagements an der Oper Frankfurt in einer szenischen Aufführung der Huguenots als Marguerite de Valois auf – einer anspruchsvollen Koloraturpartie, welcher Sopranlegenden dieses Fachs wie Sutherland oder Sills ihren Stempel aufgedrückt und damit die Messlatte für heutige Interpretinnen hoch gesetzt haben. Diese Arie findet sich natürlich auch auf Diana Damraus neuester CD bei Erato mit dem Titel Grand Opéra, welche die Sopranistin ganz dem deutsch-französischen Komponisten gewidmet hat (0190295848996). Sie entstand in Zusammenarbeit mit dem Palazzo Bru Zane in Rom, wo die Sängerin 2014 anlässlich des 150. Todestages des Komponisten bereits ein Konzert mit diesem Programm gegeben hatte. Die Ausgabe ist prachtvoll ausgestattet mit glamourösen Fotos der Interpretin in spektakulärer Robe, zeitgenössischen Abbildungen des Komponisten und Szenen seiner Opern sowie den Texten der Arien in drei Sprachen.

Die Kontrahentin der Rosina Stoltz an der Pariser Oper: Julie Dorus-Gras, hier als Meyerbeers Marguerite in den „Huguénots“, setzte das Beispiel für die hohen, koloraturfreudigen Meyerbeer-Soprane/HeiB

Das Programm beginnt mit der Szene der Berthe, „Mon coeur s’élance“ aus Le prophète, deren lebhaft-beschwingte Einleitung das Orchestre de l’Opéra de Lyon unter Emmanuel Villaune mit Esprit serviert und der Solistin ein idealer Partner ist. Der Sopran klingt deliziös und duftig, perlend in den Koloraturen, Der Vortrag ist so charmant wie kokett. In der folgenden Romanze  der Isabelle „Robert, toi que j’aime“ aus Robert le diable (mit Charles Workman) eine Partie, welche die Sängerin vor einigen Jahren wegen ihrer Schwangerschaft an der Royal Opera London absagen musste – kommen ihre lyrischen Qualitäten in schwärmerisch-sehnsuchtsvollem Klang zur Geltung. Allerdings hört man am Ende der Szene in der exponierten Lage Verhärtungen des Tones, was auch bei weiteren Titeln gelegentlich zu bemerken ist.

Zwei Weltersteinspielungen finden sich unter den elf Nummern – Irenes „Nun in der Dämm’rung Stille“ aus Alimelik, oder die beiden Kalifen und Thereses „Oh Schwester, find’ ich dich!/Lebe wohl, geliebte Schwester“ aus Ein Feldlager in Schlesien. Erstere stammt aus dem Frühwerk von 1814 und ist im Charakter ganz dem deutschen Singspiel verpflichtet. Entsprechend munter und beherzt klingt die Sängerin in dieser Szene. Vom Feldlager, das dann zu Vielka umgearbeitet wurde, existiert die Rundfunkaufnahme einer konzertanten Aufführung aus Berlin von 1984, die eben vom Hamburger Archiv für Gesangskunst als CD herausgegeben wurde. Aber hier ist mit der emotional aufgewühlten Szene  „Lebe wohl, geliebte Schwester“, bei der die Mezzosopranistin Kate Aldrich mitwirkt, ein Ausschnitt aus der Originalfassung zu hören – insofern ist die Bezeichnung Ersteinspielung gerechtfertigt.

Zu Meyerbeers „Feldlager in Schlesien“: Jenny Lind als Vielka/ Wiki

Die CD bietet eine gelungene Mischung aus bekannten Schlagern, wie Dinorahs „Ombre légère“ aus Le pardon de Ploërmel, und beinahe unbekannten Nummern wie Emmas „Ah questo bacio“ aus Emma die Resburgo oder Palmides „Con qual gioia“ aus Il crociato in Egitto. Letzteres Beispiel steht für  eine mehrteilige italienische Szene, eine grande scena in Rossini-Manier, in der die Interpretin ihr Gestaltungsvermögen und ihre Verzierungskunst demonstrieren kann, assistiert vom Bassisten Laurent Naouri und dem präsenten Choeur de l’Opéra de Lyon. In Dinorahs berühmter Schattenarie, bei der es mit der Einspielung von Maria Callas eine Referenzaufnahme gibt,  besticht einmal mehr Damraus Virtuosität, welche die Koloraturen tänzeln und den Dialog der Figur mit ihrem Schatten als Wechselspiel zwischen der Stimme und ihrem  piano-Echo effektvoll aufscheinen lässt. Die große Szene der Marguerite profitiert vom raffinierten Farbenspiel der Stimme in der elegischen Einleitung, dem kapriziösen Mittelteil und dem bravourösen Schluss mit seinem anspruchsvollen Zierwerk von Trillern, Ornamenten und stratosphärischen Ausflügen. Zirzensische Gesangsakrobatik erfordert Catherines Solo aus dem Ètoile du Nord, denn nach der melancholischen Einleitung zwitschert der Sopran im Wettstreit mit zwei Flöten in brillanten staccati und Vokalisen, Lucias Wahnsinnsszene vergleichbar. An Donizettis Oper erinnert auch das Harfen-Vorspiel zu Emmas gefühlvoller Kavatine aus dem Frühwerk (1819) Emma di Resburgo.

In Meyerbeers „Dinorah“: Marie Cabel war die erste Titelrollensängerin/Opera Rara

Letzter Titel des Programms ist eine weitere Szene der Inès aus der Africaine („Adieu mon doux rivage“ aus dem 1. Akt), nachdem es vorher bereits einen Ausschnitt aus dem 5. Akt der Oper („Fleurs novelles“) gegeben hatte. Beide sind Zeugnisse für Meyerbeers reiche lyrische Eingebungen – man hört sie wehmütig und sehnsuchtsvoll vorgetragen, mit sublimen Nuancen und Valeurs.

Dass die Damrau hier in drei Sprachen singt, entspricht der Vielseitigkeit des Komponisten, den sie im Booklet als „wahrhaftigen Europäer“ betitelt. In seinem Oeuvre vereinen sich die Traditionen des deutschen Singspiels und des italienischen Belcanto sowie die beiden Stilrichtungen der französischen opéra comique und grand opéra. Die deutsche Sopranistin erweist sich als versiert in all diesen Genres und balanciert gekonnt zwischen forte chanteuse und chanteuse légère à roulade. Mit ihrer verdienstvollen Initiative trägt sie hoffentlich dazu bei, dem Komponisten auch auf unseren Bühnen endlich den ihm gebührenden Platz einzuräumen (Foto oben: Diana Damrau/ Foto Jürgen Frank/ Erato). Bernd Hoppe

Indiskret

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Auf großes Interesse nicht nur in der Berliner Operngemeinde und nicht nur, weil eine von ihrem Ehemann gestiftete Büste im Foyer der Deutschen Oper an sie erinnert, dürfte eine DVD über Pilar Lorengar stoßen, die bei Arthaus erschienen ist und die sich  außer auf Aussagen von Familienmitgliedern und künstlerischen Wegbegleitern auf ein Dossier im Besitz der Berliner Akademie der Künste stützt.

Pilar Lorengar – Voice & Mystery ist der Titel, und mit dem Mysterium der Berliner Primadonna, die von allen als reserviert und jedem Starrummel abgeneigt geschildert wird, räumt der Autor des Films, Arturo Méndez, gründlich auf, wozu er sich der Aussagen allzu redefreudiger Verwandter bedient. Sicherlich hätte die Sängerin trotz allen Strebens nach Diskretion, was ihr Privatleben betraf, nichts dagegen gehabt, wenn von ihrer schweren Kindheit mit einem trunksüchtigen Vater, einer überforderten Mutter, die sie in eine Klosterschule gab, von dem Beginn der Karriere in Café-Häusern und der Protektion durch einen spanischen General, der ihren Gesangsunterricht bezahlte, gehabt. Mindestens aber peinlich berührt wie auch manch Betrachter der DVD, vor allem, wenn mit der Lorengar bekannt und mit ihrer Scheu vor zu viel Öffentlichkeit vertraut, wäre sie von den Aussagen über ihre als schmerzlich empfundene Kinderlosigkeit, über ihren Wunsch, ein Kind der Schwägerin als eigenes großzuziehen, gewesen. Ganz schlimm aber wird es, wenn einer der Brüder in diesem Zusammenhang dumpf murmelt, man wisse ja nicht, was sie in ihrer Jugend so gemacht habe.

West-Berlins unvergessene Primadonna Pilar Lorengar/ youtube

Das alles möchte man schnell wieder vergessen, und zum Glück gibt es eine Menge auf der DVD zu entdecken, was nicht nur Erinnerungen an die Karriere der Lorengar wachruft, sondern was auch ganz neu ist, besonders was die Zeit in Spanien betrifft. Da wird vor den Augen des Betrachters eine Fülle von Fotos ausgebreitet, zunächst noch von einer dunkel- und langhaarigen Schönheit, ehe die hellblonde Kurzhaarfrisur zum Markenzeichen wird, und es gibt auch Tonaufnahmen von Zarzuelamusik zu bewundern. Ganz besonders eindrucksvoll ist die Charakterisierung der Stimme durch die Freundin Teresa Berganza, die dem ausgeprägten Vibrato der ungewöhnlich reinen, klaren und höhensicheren Stimme die Eigenschaft zuweist, eine besondere Wärme auszustrahlen. Ein weiterer wertvoller Zeuge ihres künstlerischen Werdegangs ist Jesús Lopez Cóbos, lange Jahre Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin, der wohl zurecht meint, in Berlin habe das eigentliche künstlerische Leben von Lorengar begonnen. Intendant Ebert holte sie an die Deutsche Oper, zu deren Eröffnung 1961 sie an der Seite von Fischer-Dieskau die Elvira war, Maazel ermutigte sie zur Tosca, vor deren Dramatik sie sich fürchtete und die dann doch ihre Lieblingspartie wurde. Ein falscher Besetzungszettel und ein richtiger Szenenausschnitt aus dem dritten Akt sind Zeugnisse aus dem Jahr 1969, und von ihrem Abschied von der DO mit Tosca in der Produktion, die auch heute noch im Repertoire ist, gibt es die Überreichung eines Blumenstraußes durch Götz Friedrich. Dazwischen sang sie italienisches, französisches wie deutsches Fach, wovon viele, wenn auch leider naturgemäß kurze Ausschnitte berichten. Dramaturg Curt A. Roesler und Karan Armstrong werden als Zeugen für den Werdegang der Sängerin aufgerufen und würdigen ihre ganz besondere Rolle, die sie an der Deutschen Oper innehatte.

Vieles wird nicht erwähnt. Nicht erwähnt wird, dass sich Pilar Lorengar aus religiösen Gründen weigerte, im zweiten Akt von Tosca Kreuz und Kerzen um den toten Scarpia zu drapieren, weil sie dies für blasphemisch hielt. Das als Zeugnis für ihre tiefe Religiosität anzuführen, wäre vielleicht passender gewesen als die Ausführungen ihrer Stieftochter über das immerwährende Schuldgefühl deswegen, dass sie der Grund für die Auflösung der ersten Ehe ihres Mannes gewesen war, und über dessen mehrfache, wenngleich allzu bekannte Seitensprünge auch in der zweiten Ehe. Da sind die zahlreichen freundlichen Äußerungen von Berliner Freundinnen des Stars wohl viel mehr im Sinne der großen Sängerin und aufschlussreich genug, um die Neugierde des Publikums zu stillen. Und um sie verehrend und respektvoll in Erinnerung zu behalten (Arthaus 109 331). Ingrid Wanja

 

Camille Saint-Saens‘ „Proserpine“

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Für Freunde der großen französischen Oper wieder ein Leckerl  in Gestalt von Camille Saint-Saens Drame lyrique in vier Akten, Proserpine – wie schon mehrfach  vom Münchner Rundfunkorchester unter Ulf Schirmer mit den Solisten Véronique Gens, Fréderic Altoun, Marie-Adeline Henry, Andrew Foster-Williams, Jean Teitgen, vor allem Matthias Vidal (und anderen). Der Bayerische Rundfunk sendete dies am 9. Oktober 2016 zeitgleich zum Konzert, das als luxuriöse Buch-2CD-Ausgabe bei Ediciones  Singulares (ISBN 978-84-617-7213-1/ Note 1) erschienen ist.

Camille Saint-Saens 1875/ Wiki

Camille Saint-Saens 1875/ Wiki

Man mag sich fragen – wie bereits im Artikel über die kommenden Schätze vom Palazetto in der neuen Saison 2016/2017 – ob es sinnvoll ist, von einem doch durchaus populären  Komponisten gleich zwei weitere, zugegeben absolut unbekannte, Werke aufzuführen (das andere ist Le Timbre d´Argent im Juni 2017), während es noch eine Legion von kaum präsenten und oder verschollenen anderen gibt: Das liegt in den Händen der Götter, die da wirken, namentlich Bernard Dratwicki vom Palazetto Bru Zane, der eine augenscheinliche  Liebe zu Gounod und Saint-Saens zeigt und eine Art Saint-Saens-Festival angeschoben hat.  So ist gerade eine neue CD mit Mélodies des Komponisten,  gesungen von dem fabelhaften Bass-Bariton Tassis Christoyannis, bei Aparte erschienen (AP 132, die Nummer findet sich gelb auf weiß nach langem Suchen).

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Hier die Kritik zur Neuerscheinung bei den Ediciones Singulares von Matthias Käther: Camille Saint-Saëns gehört zu den berühmtesten französischen Musikern überhaupt – als Opernkomponist ist er allerdings nur wenig erfolgreich gewesen. Außer Samson et Dalila hat keine Oper so richtig überlebt. Jetzt ist eine weitere von ihm erschienen:  Proserpine. Saint-Saëns wollte immer alles in seinen Opern, aber herausgekommen sind oft komplizierte Nichtigkeiten. Vergleichbar ist für mich sein Opernschaffen (immerhin 13 Stück!) mit Balzacs Geschichte vom unvollendeten Bildnis – der Maler pinselt so lange am Bild herum, bis nichts mehr zu sehen ist. Camille Saint-Saëns war absolut fasziniert von Wagner – er liebte aber  auch Bizet und Mendelssohn. Und rührte das alles zu einem sonderbaren Brei zusammen. Anders als bei anderen französischen Wagnerianern wie Chabrier und Chausson ist das Ergebnis allerdings zuweilen eher scholastisch als amüsant. Proserpine von 1887/1899 ist ein schönes  Beispiel dafür, dass man eine extrem kurze Oper dennoch so wirr gestalten kann, dass man den Überblick verliert.  Es geht um eine Kurtisane im Rokkoko.  Saint-Saëns schleift uns durch Salons, ein Kloster, ein Boudoir, er bringt Zigeuner ins Spiel, eine Kartenleserin, Schurken und Wegelegerer, und das alles in 90 Minuten. Das rast wie im Eilzugtempo am Hörer vorbei, und wenn sich Proserpine am Ende erdolcht, fragt man sich: Warum eigentlich? Und: Was genau war jetzt nochmal die Handlung? Und: Warum erinnern eigentlich so viele Szenen optisch an Carmen, instrumentatorisch an Tschaikowski und harmonisch an Wagner, und zwar meist alles drei zugleich?

Dennoch bin ich ganz glücklich über diese Doppel-CD bei den Ediciones Singulares in der Folge des Münchner Konzertes 2016, denn dies hier ist wirklich mal eine echte CD-Oper. Ein Werk, das beim ersten Hören einfach scheußlich klingt, zweiten amüsant und dritten genial. Hinter dieser etwas sperrigen Musiksprache verbirgt sich ein hochkompliziertes, sehr bewunderungswürdiges Uhrwerk aus feinst gesponnenen Leitmotiven, ganz aparten Orchesternuancen, (die Holzbläser sind wirklich göttlich in dieser Partitur!), und trotz der sehr kruden Handlung spürt man die Phantasie dieses großen Komponisten – grade die Zeichnung die Kurtisane Proserpine ist beim näheren Hinhören anrührend: eine verzweifelte Frau, die ähnlich wie Traviata nach echter Liebe sucht.
Nicht dass die die Abgründe einer Thais oder Traviata hätte. Camille Saint-Saëns war leider ein ziemlich moralinsaurer Typ, der weniger gern mit der Sünde flirtete als Verdi oder Massenet; er neigte sich eher aus Demonstrationsgründen über den Abgrund, nicht aus Lust am Dekadenten oder dramatischem Instinkt heraus. Das macht ihn zwar als Musikdramatiker zuweilen etwas fade.  Der Musiker bleibt davon unangetastet.

Seit einiger Zeit wurde das Münchner Rundfunkorchester unter Ulf Schirmer für ein Projekt des Palazetto Bru Zane gewonnen, bei dem unbekannte Opern der französischen Romantik (meist) konzertant aufgeführt werden. (In diesem Rahmen sind beim Label Ediciones Singulares auch Gounods Oper Cinq-Mars und rund 10 weitere der französischen Romantik erschienen.)

Also deutsches Orchester, deutscher Dirigent, aber größtenteils französische Sänger.  Das ist die gerechte Strafe für einen Franzosen, der Wagner mehr liebte als seine eigenen Kollegen. Aber eine leicht zu ertragende. Wenn mir auch mitunter etwas der dramatische Schwung, die bunte Turbulenz der Handlung akustisch fehlt, macht Ulf Schirmer doch im Grunde das Beste aus einer Partitur, die schon auf dem Papier zu sehr mit Bayreuth flirtet, um noch als schäumende Opéra comique  durchzugehen. 

Besetzt wurde hier sehr zufriedenstellend bis grandios – Veronique Gens bleibt als Titelfigur manchmal etwas unstet in den expressiven Momenten, aber sie durchläuft eine schwierige stimmliche Entwicklung im Stück, und das bewältigt die Sängerin souverän. Auch die vielen anderen Rollen sind wunderbar besetzt, Frederic Antoun, Jean Teidgen, Mathias Vidal, um nur drei zu nennen, lassen kaum einen Wunsch offen. Wie so oft in letzter Zeit bei Produktionen von Ediciones Singulares wird hier eher Zweitrangiges aus der französischen Musikgeschichte erstrangig interpretiert (Saint-Saens: Proserpine mit Veronique Gens, Marie-Adeline Henry, Frederic Antoun, Andrew Foster-Williams, Jean Teidgen Flemish Radio Choir Münchner Rundfunkorchester; Ediciones Singulares, 2 CD ES 1027). Matthias Käther

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Und nun Ausführliches zum Werk: Die am 14. März 1887 in der Opéra-Comique uraufgeführte Proserpine bleibt ein verkanntes Werk, das die Beziehung von Saint-Saëns zu Wagner klar erkennen lässt, ein absoluter Bezugspunkt für jeden französischen Komponisten, wie in der Korrespondenz des französischen Musikers belegt ist. In der Tat ist die Tonsprache eine der modernsten und kühnsten des fünfzigjährigen Saint-Saëns, der Dissonanzen und Ausbrüche in einem entfesselten, vehementen und synkopierten Orchester verschwenderisch benutzt. Proserpine ist in dieser Oper nicht die unwiderstehliche Schönheit, die von Hades/Pluto begehrte Tochter der Ceres. Liebhaber der Antike, die einen Saint-Saëns, der die Mythologie verteidigte und liebte, werden enttäuscht sein:

Camille Saint-Saens: Szene "Proserpine" 1876/ Ausschnitt/ Dratwicki/BR

Camille Saint-Saens: Illustration „Proserpine“ 1876/ Ausschnitt/ Dratwicki/BR

Diese Proserpine ist eine Kurtisane aus der  Renaissance, eine betörende,  heidnische Priesterin der Lust, für die die Liebe ein Abgrund der Qual und des Leids ist, die ein Opfer der teuflischen Freuden Satans ist und wird, während die liebliche Angiola „Unschuld, Reinheit, die Verkörperung der reinen und jungfräulichen Liebe“ darstellt (so der Komponist). Keusche (und vielleicht langweilige) Liebe, leidenschaftliche (vergiftete) Liebe stehen sich hier gegenüber. Auf der einen Seite Friede, Ruhe, stumme Pflichterfüllung, auf der anderen Leidenschaft und Konflikte. Der Kontrast, der so entsteht, der Gegensatz zwischen den Charakteren von Angiola und Proserpine, der sich daraus ergibt, eröffnete für Saint-Saëns einen  fruchtbare  Palette an Ausdrucksmöglichkeiten. Saint-Saëns, der sich Wagner gegenüberstellen will, realisiert hier eine Überfülle an klanglichen Effekten in einer reichen und raffinierten Orchestrierung.

Aber so „modern“ Saint-Saens` orchestrale Vorstöße auch sein mögen – es sind doch die Bemühungen eines in tiefer Tradition befangenen Komponisten, der ein abgestandenes Sujet bevorzugte (wie der Korrespondent in der New York Times vom 6. April 1887 anlässlich der Pariser Uraufführung schreibt: …“All the names are high-sounding and musical, but the libretto is commonplace… There is no mirth or light in the plot and common sense is entirely forgotten. It begins as a comic opera, then goes to grand opera and finally ends in melodrama. The Music though… is always wonderfully clear and the orchestral portion is a constant surprise and pleasure. It is always solid, if not amusing…“)

Nach den Verunsicherungen des Franco-Deutschen Krieges 1870/71 wollte die französische bürgerliche Gesellschaft keine beunruhigenden Themen auf der Bühne sehen, sondern liebte die Geschichtsschinken wie Samson et Dalila (1877), Gounods Cinq-Mars oder die üppigen Ausstattungs-Kisten eines Massenet (1877 gab es den Roi de Lahore, Hérodiade hatte 1881 Premiere in Brüssel). Alles Vehikel, um dem Bürgertum die Angst zu nehmen, es zu beruhigen, ihm eine heile (Bühnen-)Welt vorzugaukeln. Ähnlich wie in Davids Herculanum grummelte es unter der nur scheinbar wieder beruhigten Oberfläche des französischen Alltagslebens.

1872 also Proserpine:  die – wie zu erwarten – unglücklich endende Geschichte aus dem Italien des 16. Jahrhunderts, die Geschichte einer unglücklichen Liebe einer Sünderin, der Gioconda,  Fosca oder auch vor allem Thais von Massenet (1894)  nicht unähnlich, eben die Geschichte von der edlen Hure – ein viel verwendeter Topos, bei dem Verderbtheit gegen die Unschuld steht und sich nur durch das selbstlose Opfer reinwaschen kann.  Dies ist die bekannte Moralität des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Europa, in dem die (groß-)bürgerliche Gesellschaft mit befriedigtem Grusel  den glamourösen Auf-, aber auch lustvoll-verdienten Abstieg der Sünde beklatschte. Kein Wunder, dass sozialkritische Studien wie Zolas Nana oder die realistischen Alltagsbilder wie Le ventre de Paris 1873 mit Argwohn bedacht wurden.

Proserpine – Dame lyrique in 4 Akten, auf ein Llibretto von  Louis Gallet (nach dem Bühnenstück von Auguste Vacquerie – 1872), Uraufführung  am 14. März am  1887 am Théâtre de l’Opéra-Comique in Paris. Unter der Leitung von M. J. Dansi sangen Caroline Salla/ Prosepine, Cécile Simmonet/ Angiola, Guillaume Albert Lubert/ Sabattino sowie Emil-Alexandre Taskin/ Squarocca. Im Folgenden zum Verständnis der Radioübertragung von BR Klassik am 9. Oktober einige Zeilen zur Oper selbst und zu Camille Saint-Saens, der uns nur scheinbar als der allzu bekannte Komponist des Dauerbrenners Samson et Dalila im Bewusstsein ist. Den Artikel von Florian Heurich und die Inhaltsangabe entnahmen wir den Programmheften des Münchner Rundfunkorchesters / 1. Sonntagskonzert 2016/2017 mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Müncher Rundfunkorchesters. Inhaltsangabe am Schluss G. H.

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Königin der Nacht und Engel des Tags – zu Camille Saint-Saëns’ Oper Proserpine:  Im dritten Akt von Camille Saint-Saëns’ Oper Proserpine ruft die Titelfigur ihre mythologische Namensgeberin an: Proserpina, die Göttin der Unterwelt. Hier, in der Schlüsselszene des Werks, offenbart sich die ganze Tragik dieser Frau, die sich nach der wahren Liebe sehnt, sich dabei jedoch bewusst ist, dass sie diese niemals finden wird. Proserpine, die Kurtisane, bezeichnet sich und die antike Göttin als »reines sans soleil«, als »Königinnen ohne Sonne«. So wie die Göttin fernab des Tageslichts lebt, so lebt die Kurtisane weit weg von der Liebe. Damit erschöpfen sich aber auch schon die Bezüge zur Mythologie. Proserpine ist vielmehr das Drama einer schillernden Frau, die niemals gegen die lichte Reinheit ihrer Nebenbuhlerin Angiola im Kampf um das Herz Sabatinos ankommen kann, aber dennoch die um ein Vielfaches faszinierendere Persönlichkeit ist. Der Kontrast zwischen diesen beiden Frauenfiguren, der zum Schattendasein Verdammten und der engelsgleich Leuchtenden, bildet das dramaturgische Zentrum der Oper, um das herum das gesamte Drama aufgebaut ist. Leidenschaft, Geheimnis und dunkle Glut auf der einen Seite, Klarheit und Anstand auf der anderen.

Saint-Saens: "Proserpine"/ der Autor Auguste Vacquerie, Verfasser des Bühnenstücks "Proserpine" auf einem Foto von Nadar/ Taschen

Saint-Saens: „Proserpine“/ der Autor Auguste Vacquerie, Verfasser des Bühnenstücks „Proserpine“ auf einem Foto von Nadar/ Taschen

Als Saint-Saëns auf das 1838 geschriebene Theaterstück Proserpine stieß, ein Jugendwerk des im literarischen Umfeld von Victor Hugo tätigen Schriftstellers Auguste Vacquerie, war er sofort begeistert von der geheimnisvollen Titelfigur und vom opulenten Renaissanceambiente der in Florenz angesiedelten Handlung. Komponist und Autor kamen bereits über eine Oper im italienischen Stil überein, da der Schauplatz dies nahelegte, das Projekt konnte jedoch nicht verwirklicht werden. Erst mehrere Jahre später, als sich Saint-Saëns und Vacquerie bei einem Diner im Haus Victor Hugos wiederbegegneten, wurde die Idee erneut aufgegriffen, und man zog Louis Gallet als Librettisten hinzu, der aus dem Dramentext ein Opernlibretto machen sollte: nun allerdings ein Drame lyrique »à la française«. Die Uraufführung fand schließlich am 14. März 1887 an der Opéra-Comique in Paris statt. Proserpine stand jedoch von Anfang an unter einem ungünstigen Stern, da bereits elf Tage nach der Uraufführung in der Salle Favart, der Spielstätte der Opéra-Comique, ein verheerender Brand ausbrach, der die Kulissen und einen großen Teil des Notenmaterials vernichtete. Lediglich die Orchesterpartitur wurde verschont, jedoch war an weitere Aufführungen vorerst nicht zu denken. So blieb die Oper bis heute eines der am meisten vernachlässigten Stücke von Saint-Saëns.

Saint-Saens: "Proserpine"/ der Tenor Guillaume Albert Lubert sanf den Sabattino/ Foto ipernity.com (dazu eine Legende: GUILLAUME ALBERT LUBERT/ (1859-1919)/ French Tenor/ Pupil at Societe Sainte Cecile and Conservatory of Music .Appeared in small roles at the Paris opera. His first success was in a concert in 1880 in "Damnation of Faust" at Bordeaux. From 1881-1883 at the Grand Theater Brussells where he was heard as Leopold "La Juive" ,Raymond "Robert de Diable" . Pollio "Norma" and in "La Favorita" , "Faust" & 'Lucia di Lammermoor". On his return to Paris he appeared with Marcella Sembrich in 'La Traviatta" and he remained in Paris performing Italian roles until the end of the 1885 season.He joined the Opera Comique and sang leading roles in "Romeo & Juliette ' , "Manon" , Carmen etc)

Saint-Saens: „Proserpine“/ der Tenor Guillaume Albert Lubert sang den Sabatino/ Foto operamania  ipernity.com (dazu eine Legende: GUILLAUME ALBERT LUBERT/ (1859-1919)/ French Tenor/ Pupil at Societe Sainte Cecile and Conservatory of Music .Appeared in small roles at the Paris opera. His first success was in a concert in 1880 in „Damnation of Faust“ at Bordeaux. From 1881-1883 at the Grand Theater Brussells where he was heard as Leopold „La Juive“ ,Raymond „Robert de Diable“ . Pollio „Norma“ and in „La Favorita“ , „Faust“ & ‚Lucia di Lammermoor“. On his return to Paris he appeared with Marcella Sembrich in ‚La Traviatta“ and he remained in Paris performing Italian roles until the end of the 1885 season.He joined the Opera Comique and sang leading roles in „Romeo & Juliette ‚ , „Manon“ , Carmen etc)

Für die Opéra-Comique war Proserpine ein eher ungewöhnliches Werk hinsichtlich Dramaturgie, Libretto und musikalischer Konzeption. Als Drame lyrique ohne gesprochene Dialoge entsprach es kaum mehr den Kriterien der an der Opéra-Comique bis dahin vornehmlich gespielten Gattung gleichen Namens, und in Saint-Saëns’ oftmals symphonischer Kompositionsweise, die sich über weite Strecken eher aus der Deklamation entwickelt als aus der stimmlichen Bravour, klingt deutlich der seinerzeit die französische Musik überschwemmende Wagnerismus an. Auch die Verwendung einiger Leitmotive hatte der Wagner-Verehrer Saint-Saëns von seinem deutschen Kollegen übernommen. So finden sich in der Partitur etwa Motive, die Proserpine und Angiola sowie deren unterschiedlichen Liebeskonzepten zuzuordnen sind. Genau das war es, was Kritik hervorrief und auch einer gewissen Polemik hinsichtlich französischem und deutschem Stil, die gerade in Paris aufgeflammt war, zusätzliche Nahrung gab. Während der erste Akt mit seinen Arien und seiner eingängigen Melodik sowie der zweite Akt mit seinem zarten Lyrismus uneingeschränkte Zustimmung fanden, empfand man die letzten beiden Akte als eher befremdend. Zu kompliziert sei Saint-Saëns’ Kompositionsweise, zu sehr dominiere der Symphoniker über den Bühnenkomponisten, so hieß es. Bezeichnenderweise konnte man im selben Jahr wie Proserpine überdies seine monumentale Orgelsymphonie erstmals in Paris erleben, ein halbes Jahr nach ihrer Londoner Uraufführung. Tatsächlich hört man den komplexen und ausgefeilten Orchesterklang dieses Werks stellenweise auch aus Proserpine heraus. Das, was Ende der 1880er Jahre noch vor den Kopf stieß, zumal bei einem Werk für die Opéra-Comique, macht jedoch gerade die Originalität dieser Oper aus.

Angesichts der Polemik sah sich Saint-Saëns gezwungen, seine Theaterästhetik öffentlich in der Musikzeitschrift Le ménestrel zu verteidigen: »[…] ich glaube, dass das Drama auf eine Synthese verschiedener Stile zusteuert: der Gesang, die Deklamation, die Symphonie vereint in ständigem Gleichgewicht, sodass der Schöpfer alle Mittel der Kunst ausschöpfen kann und der Zuhörer all seine legitimen Geschmäcker befriedigt sieht.« Saint-Saëns’ Konzept einer Mischung der Stile spiegelt sich auch in der musikalischen Ausgestaltung der vier Akte wider, wobei in jedem von ihnen ein anderer Ton angeschlagen wird. Der Librettist Louis Gallet, der dem Komponisten die textliche Vorlage dafür lieferte, bezeichnete den Charakter der einzelnen Akte der Reihe nach als »symphonisch, melodisch, pittoresk, dramatisch«, entsprechend der jeweiligen Bühnensituation: ein Fest im Garten von Proserpines Palast, eine Klosterszene mit dem zaghaften Kennenlernen von Angiola und Sabatino, ein farbenfrohes Zigeunerlager und schließlich die finale tödliche Konfrontation aller Beteiligten.

Saint-Saens: "Proserpine"/ der Librettist Louis Gallet/ Wiki

Saint-Saens: „Proserpine“/ der Librettist Louis Gallet/ Wiki

Insbesondere der zweite Akt, der die lyrischsten Momente der Partitur enthält, ist eine Erfindung Gallets. In Vacqueries Theaterstück kommt diese Szene im Kloster nicht vor, der Librettist erzeugt mit diesem Kunstgriff jedoch den größtmöglichen Kontrast zur Wollust im Palast Proserpines, wodurch die beiden Frauen in ihrer vollen Gegensätzlichkeit etabliert sind. Für die Renaissanceopulenz des ersten Akts ließ sich Saint-Saëns auf einer Florenzreise im Vorfeld der Komposition inspirieren, auf der er ganz ins Ambiente der Geschichte eintauchte und bereits klare Gedanken zur Szenerie formulierte. Diese solle aus Portalen und Marmortreppen bestehen, dazu »vier oder fünf hübsche Tänzerinnen, prächtig gekleidet im Stil Veroneses, die hübsche Posen einnehmen und sich mit den jungen Leuten unterhalten«. Auch die Konzeption der Titelfigur hatte er klar vor Augen als »eine seltsame und mysteriöse Frau«, die jedoch nicht allzu abstoßend und rätselhaft erscheinen dürfe.

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Zur Musik:In einem kurzen Orchestervorspiel werden zwei wichtige Motive exponiert, die sich durch das gesamte Werk ziehen: eines für Proserpine und ein weiteres für deren Sehnsucht nach Liebe. Während der erste Akt mit buntem Treiben auf einem rauschenden Fest beginnt, auf dem Proserpines Liebhaber eine Siciliana anstimmen und eine Pavane der Bühnenmusik eine entrückte Renaissance-Atmosphäre heraufbeschwört, präsentiert sich die Titelfigur zunächst von ihrer melancholischen und sehnsuchtsvollen Seite. Sabatino tritt mit einem an seinen Freund Renzo gerichteten Arioso auf. In der zentralen Auseinandersetzung zwischen Proserpine und Sabatino steigert sich die Sehnsucht der Kurtisane dann mehr und mehr zur glühenden Leidenschaft. »Sie ist vom Geblüt der großen Liebenden«, so Saint-Saëns. Sabatino sieht in ihr jedoch nur die Frau, für die Liebe gleich Geld ist. Wenn sich Proserpine, der die wahre Liebe versagt blieb, schließlich dem Banditen Squarocca hingibt, bricht wieder die dekadente Feststimmung in die Szenerie hinein, die sich zum Aktschluss in einer Art Brindisi (ital.: Trinklied) bis zur Orgie steigert.

Auf den opulenten ersten Akt folgt im zweiten Akt die Intimität des Klosters, in dem Angiola lebt. Schon das leuchtende Orchestervorspiel und der religiöse Unterton, der hier mitschwingt, unterstreichen den bereits durch ihren Namen angedeuteten engelsgleichen Charakter von Proserpines Gegenspielerin. Als Inbegriff von subtiler, hoher Liebeslyrik bringt Sabatino seiner zukünftigen Braut ein Sonett dar. Der Akt, in dem zwei zentrale Leitmotive dominieren – »Triumph der Anmut« und »eheliche Liebe« – endet in einem breit angelegten und raffiniert gestalteten Ensemble, das bei der Uraufführung wegen des großen Jubels sogar wiederholt wurde.

Der dritte Akt beginnt mit einer Genreszene im Lager der Zigeuner. Eine Tarantella bietet Raum für ein Ballett und geht dann in einen Chor der Zigeuner über. Diese Szene fügte Saint-Saëns erst nachträglich in die Partitur ein, quasi als Zugeständnis an die Pariser Opernkonventionen und den Geschmack des Publikums, das derartige Tanz- und Chornummern erwartete. Überhaupt ist dieser Akt, dessen Charakter Gallet als »pittoresk« beschrieben hatte, der kontrastreichste des ganzen Werks. Ein Trinklied Squaroccas etwa hebt das folkloristische Ambiente der Szenerie hervor, andererseits findet sich hier auch Proserpines zentrale Solonummer. Wenn sie in ihrem großen Monolog ihre Namensverwandte, die Göttin der Unterwelt, anruft, offenbart dies den zerrissenen Charakter der sich verzweifelt nach Liebe sehnenden Kurtisane, der mit Angiola ein komplett gegensätzliches Frauenbild vor Augen geführt wurde. »Angiola ist der Tag, Proserpine die Nacht«, so Saint-Saëns, doch »die Nacht ist schöner als der Tag«.

Saint-Saens: "Proserpine"/ die Sopranistin Cécile Simonnet - hier als Lakmé - sang die Angiola in der Pariser Uraufführung/ Foto operamania ipernity.com (dazu eine Legende: CECILE SIMONNET, 1865-??? French Soprano, Entered the Conservatoire de Paris in 1882. Debuted in Monte-Carlo in January 1885 under the direction of Pasdeloup. Debuted at the Opéra-Comique on September 10, 1885 in Lakmé (Lakmé) to replace Van Zandt. She sang Mignon (Philine), Mireille (Mireille), le Pré - aux - clercs, la Traviata (Violetta). The evening of the burning of the salle Favart on 25 may 1887, she sang Mignon (Philine). She created Mary one day; in 1886 the Signal; in 1887 Proserpine; in 1890 Dante; on June 18, 1891, the dream/ Angelique).

Saint-Saens: „Proserpine“/ die Sopranistin Cécile Simonnet – hier als Lakmé – sang die Angiola in der Pariser Uraufführung/ Foto operamania ipernity.com (dazu eine Legende: CECILE SIMONNET, 1865-???
French Soprano, Entered the Conservatoire de Paris in 1882. Debuted in Monte-Carlo in January 1885 under the direction of Pasdeloup. Debuted at the Opéra-Comique on September 10, 1885 in Lakmé (Lakmé) to replace Van Zandt. She sang Mignon (Philine), Mireille (Mireille), le Pré – aux – clercs, la Traviata (Violetta). The evening of the burning of the salle Favart on 25 may 1887, she sang Mignon (Philine). She created Mary one day; in 1886 the Signal; in 1887 Proserpine; in 1890 Dante; on June 18, 1891, the dream/ Angelique).

In einer Konfrontation der beiden Frauen prophezeit die sich als wahrsagende Zigeunerin ausgebende Proserpine ihrer Kontrahentin eine schlechte Zukunft. In ihrer Reinheit widersteht Angiola jedoch den Einschüchterungsversuchen Proserpines, die sich hier – halb Carmen, halb Ulrica aus Verdis Un ballo in maschera – von ihrer undurchsichtigsten und bedrohlichsten Seite zeigt.

Ein langes Zwischenspiel leitet in den vierten Akt über. Aus der überarbeiteten Fassung seiner Oper hatte Saint-Saëns diesen symphonischen Entracte wieder herausgenommen, unter anderem wohl wegen der Kritik, Proserpine sei zu orchestral und zu wenig theatralisch gedacht. In der im heutigen Konzert gespielten Version erklingt jedoch dieses klangmalerische Orchesterstück, in dem fast im Stil einer Symphonischen Dichtung nachgezeichnet wird, wie Proserpine beinahe wahnsinnig vor Eifersucht dem von ihr begehrten Sabatino durch die Berge bis zu seinem Haus hinterhereilt. Das Duett zwischen den beiden, in dem Proserpine Sabatino ihre wahren Gefühle gesteht, von ihm jedoch zurückgewiesen wird, bildet daraufhin denn auch den ergreifenden, leidenschaftlichen Höhepunkt der Partitur.

Danach geht alles sehr schnell. In einen Zwiegesang von Sabatino und Angiola, in dem sich beide in einer langen Unisonophrase ihrer Liebe versichern, mischen sich Proserpines hasserfüllte Einwürfe, durch die diese Szene zum Terzett erweitert wird. Als die Kurtisane sich schließlich mit einem Dolch auf Angiola stürzt, geht Sabatino dazwischen, und Proserpine ersticht sich selbst. Ihre letzte ersterbende Phrase führt noch einmal die gesamte Tragik dieser Frau vor Augen, während sich im Orchester erneut das Motiv der Liebessehnsucht, mit dem die Oper auch begonnen hatte, aufbaut. »Grauenvolles Problem«, so kommentiert Saint-Saëns selbst den Schluss seiner Oper und fasst damit das ganze Dilemma seiner schillernden Titelfigur zusammen: »Satan, der Aufrührer, der ewige Verdammte, erdrückt mit seiner Überlegenheit die treuen Engel.« Der ewige Konflikt zwischen hell und dunkel, zwischen der reinen, aber womöglich etwas langweiligen Lichtgestalt und der faszinierenden Königin der Finsternis kommt auch hier zu einem höchst ambivalenten Ende. Florian Heurich

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Saint-Saens: "Proserpine"/ Büste der proserpine von Hiram Powers/ Wiki

Saint-Saens: „Proserpine“/ Büste der Proserpine von Hiram Powers/ Wiki

Handlung: I. AKT Italien, 16. Jahrhundert, Abenddämmerung in den Gärten von Proserpines Palast. AI. 1. Szene Die Kurtisane Proserpine öffnet ihre Gärten für ein Fest, nachdem sie sich einen Monat lang in ihren Palast zurückgezogen hatte. Gäste haben sich versammelt und fragen sich, wem sie heute ihre Gunst erweisen wird. 2. Szene Proserpine erscheint. Sie reagiert nicht auf die Forderungen der Freier, sondern hält sehnsüchtig Ausschau nach Sabatino. Da sie ihn nicht entdecken kann, zieht sie sich wieder zurück. 3. Szene Renzo und sein Freund Sabatino erscheinen. Sabatino, der früher einen freizügigen Lebensstil pflegte und im Kreis Proserpines verkehrte, soll nun Renzos fromme Schwester Angiola heiraten. Renzo verlangt, dass sein zukünftiger Schwager sich ausdrücklich von Proserpine lossagt. 4. Szene Proserpine kehrt mit ihrer Entourage zurück und begrüßt Renzo mit übertriebenem Liebreiz, ignoriert aber Sabatino, um seine Reaktion zu prüfen. Nachdem auch er scheinbar keine Kenntnis von ihr nimmt, schickt sie alle Anwesenden zum Konzert, das in diesem Moment im Palast beginnt. 5. SzeneAllein zurückgeblieben, gesteht sich Proserpine ihre innige Liebe zu Sabatino ein, fürchtet aber, dass ihre Gefühle unerwidert bleiben werden. 6. Szene Sabatino kehrt aus dem Festsaal zurück und fragt Proserpine, warum sie ihn immer abgewiesen habe. Sie erklärt, dass sie sich nicht nach der körperlichen, mit Geld bezahlten, sondern nach echter, seelischer Liebe sehne, und deutet ihre Gefühle gegenüber Sabatino an. Um sie zu kränken und gegen sich aufzubringen, bietet er sich als bezahlender Freier an. Tief verletzt jagt sie ihn davon. Im Abgehen trifft er auf Renzo und sagt ihm, dass er getan habe, was dieser verlangte. 7. Szene Enttäuscht von Sabatino und den reichen Männern, die sich ihre Liebe nur kaufen, denkt Proserpine darüber nach, sich einem armen Schlucker hinzugeben. 8. Szene Just in diesem Moment wird der Verbrecher Squarocca herbeigebracht, der bei dem Versuch gefangen genommen wurde, in Proserpines Gemach Schmuck zu stehlen. 9. Szene Anstatt Squarocca ins Gefängnis bringen zu lassen, drängt Proserpine ihn dazu, sie aufs Fest zu begleiten. 10. Szene Die Gäste kommen aus dem Palast zurück in den Garten und sind erstaunt, Squarocca an Proserpines Seite zu sehen. Einer der Ihren erwähnt, dass Sabatino demnächst die Schwester Renzos heiraten werde, die er bereits seit zwei Jahren verehre. Proserpine ist außer sich, versichert sich aber sogleich planvoll der Ergebenheit Squaroccas. Dann eröffnet sie das Fest.

Saint-Saens: "Proserpine"/ "Venus venticorda" von Rosetti, 1868/ Wiki

Saint-Saens: „Proserpine“/ „Venus venticorda“ von Rosetti, 1868/ Wiki

II. AKIm Inneren eines Klosters. 1. Szene Junge Novizinnen und Klosterschülerinnen preisen das traumhafte Leben, das Angiola an der Seite eines schönen Mannes erwartet. Sie selbst aber hat die Hoffnung darauf verloren und glaubt, dass ihr Bruder sie nicht mehr verheiraten will. 2. Szene Der soeben angekommene Renzo verkündet seiner Schwester, dass ihr Leben hinter Klostermauern zu Ende sei, da er ihr einen Mann ausgewählt habe. Feierlich präsentiert er ihr Sabatino. 3. SzeneAngiola erschrickt beim Anblick Sabatinos. Renzo beruhigt sie aber mit dem Hinweis, dass dieser nun ein rechtschaffenes Leben führe. Die beiden verloben sich, worauf Renzo Sabatino veranlasst, heimzukehren und alles für Angiolas Ankunft vorzubereiten. Er selbst werde in drei Tagen mit seiner Schwester nachreisen. 4. Szene Das Kloster öffnet seine Tore für eine Armenspeisung. Squarocca mischt sich unter die Menge und beobachtet Angiola.

III. AKTEin Zigeunerlager in den Bergen. 1. SzeneSquarocca wird von den Zigeunern als Kamerad begrüßt und bittet sie, ihm bei der Umsetzung von Proserpines Plan behilflich zu sein. 2. SzeneProserpine erscheint als Zigeunerin verkleidet. Squarocca berichtet, dass er bereits die nötigen Vorbereitungen getroffen habe, um die Heimreise Angiolas und Renzos zu unterbrechen und die Geschwister ins Lager zu locken. 3. Szene Allein geblieben, beklagt Proserpine, dass Sabatino ihre Liebe nicht erwidert. Sie will sein Glück jedoch nicht akzeptieren, sondern die Verlobten auseinandertreiben. In einer feierlichen Anrufung der Unterweltsgöttin Proserpina fühlt sie sich ihrer Namensvetterin auch in der Dunkelheit ihrer Seele verbunden: Wie die antike Göttin des Tageslichts beraubt war, so müsse sie die Liebe entbehren. 4. SzeneSquarocca kehrt zurück und berichtet, dass Angiola und Renzo sich nähern und ihre Reise bald unterbrochen werde. Um die Hilfesuchenden ins Lager zu locken, stimmt er ein Trinklied an. 5. SzeneRenzo kommt mit seiner Schwester ins Lager und berichtet von einem Unfall mit ihrer Kutsche. Squarocca bietet an, den Schaden zu beheben, packt Riemen und Seile und geht mit Renzo zur Unfallstelle, während Angiola bei Proserpine warten soll. 6. Szene Proserpine gibt vor, aus Angiolas Hand zu lesen. Sie verkündet, dass ihre Heirat verflucht sei und dass ihr und ihrem Bruder tödliches Unheil drohe, sollte sie nicht sofort ins Kloster zurückkehren. Unverblümt fordert sie von Angiola, ihren Verzicht auf die Heirat zu schwören. Als diese sich weigert, wirft Proserpine ihre Verkleidung ab und droht der Rivalin offen, sie zu töten. 7. Szene Squarocca kehrt zurück, nachdem er Renzo gefesselt hat, und wird von Proserpine angewiesen, auch Angiola gefangen zu halten, während sie selbst zu Sabatino aufbricht. Doch in der Ferne werden Schüsse hörbar. Renzo tritt mit Soldaten auf, die ihn offenbar befreit haben und nun Squarocca festsetzen. Angiola und Renzo fallen sich in die Arme.

Saint-Saens: "Proserpine" - Sarah Bernhardt als Cleopatra/ Harvard Theatre Collection Wiki Commons

Saint-Saens: „Proserpine“ – Sarah Bernhardt als Cleopatra/ Harvard Theatre Collection Wiki Commons

IV. AKT Am Abend in Sabatinos Haus. 1. SzeneSabatino kann angesichts der bevorstehenden Hochzeit sein Glück nicht fassen. 2. SzeneÜberraschend erscheint Proserpine und gesteht Sabatino, dass sie ihn immer geliebt und stets nur zum Schein zurückgewiesen habe. Sabatino sagt ihr, sie solle auf immer verschwinden. Während er nach draußen geht, um seine Verlobte in Empfang zu nehmen, schleicht sie sich jedoch zurück und versteckt sich hinter einem Vorhang. 3. SzeneSabatino und Angiola schwören sich ewige Liebe. Wütend stürzt Proserpine hinter dem Vorhang hervor, um Angiola zu erdolchen. Sabatino wirft sich vor seine Verlobte, worauf Proserpine sich selbst tötet. Im Sterben wünscht sie den Liebenden, miteinander glücklich zu sein.

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Sehr herzlichen Dank an den Musikwissenschaftler und Autor Florian Heurich sowie an Doris Sennefeld vom Münchner Rundfunkorchester für die Übernahme der Texte aus den Programmheften des Münchner Rundfunkorchesters / 1. Sonntagskonzert 2016/2017!  Very special thanks to Gary Bryant of operamania (ipernity.com, whose phantastic collection of wonderful and incredibly many and well preserved photographs of 19th century opera singers is simply overwhelming and a must-look-at for every discerning opera lover. it´s difficult to imagine a similar collection. We are profoundly grateful for his generosity to be allowed to use some of his pictures.) Foto oben: Camille Saint-Saens: „Proserpine“/ die Sängerin der Uraufführung Caroline Salla, hier als Thomas´ Francesca neben dem Tenor Henrie Sellier/ Foto operamania ipernity.com

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Abseits der Hauptpfade

 

Eine veritable Entdeckung ist Fernand de La Tombelle. Es entspricht dem Selbstverständnis von Palazzetto Bru Zane, dass bei der ehrenwerten Erforschung der französischen Musik auch die Pflänzchen abseits der Hauptwege gepflückt werden, sprich erstmals 23 unbekannte Mélodies Antoine Louis Joseph Gueyrand Fernand Fouant de La Tombelle veröffentlicht werden. Die Lieder korrigieren oder bereichern die Epoche des französischen Kunstlieds, der Mélodies, des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht, allenfalls bieten sie eine kleine Abrundung. De la Tourelle wird als virtuoser Organist beschrieben, geschätzter Pädagoge, er war zusammen u.a. mit d’ Indy Mitbegründer der Schola Cantorum, darüber künstlerisch vielseitig bewandert, begabt und interessiert. Er hat um die hundert Lieder komponiert, die offenbar vornehmlich im privaten Kreis zur Aufführung gelangten, also spätromantische Solonpiècen, geschmackvoll und mit viel Gefühl für die Flektionen der Texte eingefangen, auch mit schöner Behandlung der Singstimme, ein bisschen im Stil von Massenet und Saint-Saens, häufig Liebeslieder, lyrisch, rezitativisch, meist durchkomponierte Bilder. Die Texte der Auswahl stammen von Victor Hugo, Alphonse de Lamartine und Théophile Gautier, doch auch weniger bekannte Autoren befinden sich darunter, etwa Pierre Barbier, der Sohn von Jules, und die Baronin de La Tombelle. Als Hausbariton von Palazzetto Bru Zane bringt Tassis Christoyannis für diese im Januar 2017 in Bourges eingespielten Raritäten ein Höchstmaß an Einfühlungs- und Anverwandlungsvermögen mit, einfach eine sachkundige Professionalität; er wird unterstützt von Jeff Cohen, der ihm bei allen Lied-Exkursionen treu zur Seite stand (AP 148). Seine eminente Stilsicherheit, die er bei der Interpretation von Liedern von Lalò, Godard oder Saint-Sanes unter Beweis gestellt hat, verleiht den Interpretationen von Christoyannis fast schon so etwas wie ein Gütesiegel. Sanft beschreibt er Naturstimmungen („Hier au soir“, „Passez nuages roses“), ländliche Idyllen („La Croix de bois“) oder Schmetterlinge, wobei er mit seinem dunklen Bariton die Worte in sanften Pianobereichen beleuchtet, wie um die Patina dieser Gesänge aufzufrischen. Das Exotische dringt in Gestalt des martialischen „Cavalier mongol“ in den Salon, intensives Liebesbegehren kommt in „Promenade nocturne“ zum Ausdruck, volksnahe Szenen in „Vieille chanson“; das 1917 veröffentlichte „Chant-Prière pour les Morts de France“ ist ein elegischer Trauermarsch, wo sich La Tombelle ausnahmsweise auch einen expressiven Ausdruck gestattet, die „Couplets de Chérubin“ nach Beaumarchais bilden eine pralle bühnennahe Genreszene nach.

 

Da übertreibt sie aber gewaltig. Die Sängerin Miriam Alexandra, die mitgerissen von ihrem Forschungsgegenstand, über den sie 2014 an der Karlsruher Musikhochschule promovierte, meint, Pauline Viardot (1821-1910) ist eine jener Künstlerinnen, deren Name ebenso wie ihre Kompositionen mit ihrem Tod in Vergessenheit gerieten.“ Für ihre Kompositionen mag das gelten, doch der Name der Salonienne, Sängerin und Muse wird im Zusammenhang mit allen, die bei ihr ein und aus gingen, stets mit höchster Achtung genannt. Die Tochter Manuel Garcias und die Schwester der Malibran prägte eine Ära des Opern- und Kunstgesangs, inspirierte Komponisten und Literaten. Eine Vergessene ist sie also keineswegs.

Miriam Alexander widmet sich Viardots Deutschen Liedern (Oehms Classics OC 1878), wozu sie sich im August und September 2016 der Mitarbeit des vielseitigen, kompetenten Eric Schneider versicherte. Die Lieder entstanden ab 1863 während Pauline Viardots Zeit in Baden-Baden, also nach Ende ihrer aktiven Bühnenkarriere, die sie im April des gleichen Jahres mit dem Orphée in Berlioz’ Bearbeitung von Glucks Orphée et Eurydice aufgegeben hatte. Dazu gehören auf der vorliegenden Aufnahme u.a. acht Mörike-Lieder, dazu Lieder auf Texte von Ivan Turgenjew und Alexander Puschkin, die 1865 in deutscher Übersetzung in ihrer Sammlung „12 Gedichte von Puschkin, Feth und Turgenjew für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte“ erschienen, aber auch Texte von Emanuel Geibel, Wilhelm Müller, Uhland, Richard Pohl und Rellstab. Besonders hübsch sind die Mörikeaden gelungen, für die sich Alexandras luftig leichter, lyrischer Koloratursopran besonders zu eignen scheint. Für die gewichtigen Puschkin-Gedichte, „Auf Grusiens Hügeln“, „O sing, du Schöne, singe mir nicht“ und „Der Gefangene“, leidenschaftliche Georgien-Beschreibungen die ersten beide, ein Symbol der Freiheit am Beispiel des aasenden Adlers im dritten, fehlt es an tonlicher Rundung und Intensität. Vielleicht streift Viardot hier auch nur über die Oberfläche der Gedichte. Die Sopranistin wahrt einen unverstellten Ton, hat eine gute Diktion, der Ausdruck neigt aber durchgehend zur Einfarbigkeit.

 

Intime Stimmungsbilder sind auch die Neun Deutschen Arien von Georg Friedrich Händel. Im Gegensatz zu seinen italienischen Opernarien spüren sie der „Spiritualität des Helleschen Pietismus“ nach, wie Wolfgang Katschner im Beiheft der von ihm und seiner Lautten Compagney begleiteten Einspielung der Sopranistin Ina Siedlaczek betont (audite 97.729). Ausgangspunkt für Händel waren die Texte des Hamburger Dichters Berthold Heinrich Brockes aus dessen 1721 erschienener Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott. Konsequent hat Katschner die Deutschen Arien um Arien aus der Brockes-Passion, dem 1716 vertonten und drei Jahre später aufgeführten Passionsoratorium Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus ergänzt, „Im Ergebnis sehen wir die beiden einigen Gelegenheiten, bei denen sich Händel mit der Vertonung von Texten in deutscher Sprache, seiner Muttersprache, für Stimme und obligates Soloinstrument beschäftigt hat“. Es liegen einige schöne Aufnahmen der Arien vor, doch in dieser Zusammenstellung dürften sie einzig sein. Siedlaczek wechselt zwischen den Arien, für die es keine vorgegebene Reihenfolge gibt, und den Arien der Passion ab. Wir finden in allen Arien eine Gefühlstiefe, wie wir sie aus den langsamen italienischen Arien der Opern kennen, doch kreisen sie diesmal nicht um Liebespein und -qual, sondern eröffnen in ihrer kontemplativen Weltbetrachtung eine eigene Gedankenwelt, loben und preisen auf eine Weise, die man heute einfältig nennen könnte, die Natur, sei es in „Meine Seele hört im Sehen“ oder „Die ihr aus dunklen Grüften“. Mit ihrem reinen Sopran, der sich gut für die instrumentale Anlage der Arien eignet, vermitteln Siedlaczek und die in wechselnder, dabei stets farbiger Begleitung spielende Lautten Compagney mit Traversflöte, Violine, Oboe, Voloncello, Cembalo, Laute, Harfe und Fagott und Laute das naiv-fröhliche, auch meditative „Irdische Vergnügen“ an der Natur und der Schöpfung.  Rolf Fath

„Ich muss mich einfach verschenken…“

 

„Wer „La Manzel noch nicht zu Füßen liegt, wird es spätestens nach diesem Buch tun“, droht die Rückseite der „Autobiographie“ der Schauspielerin und Sängerin dem potentiellen Leser, dessen Neugierde natürlich auch darauf gereizt wird, ob er dieser verheißenden Versuchung widerstehen kann. Eine Autobiographie, auch eine, wie angekündigt, „in Gesprächen“ ist dieses Buch allerdings nicht, diese müsste neben den vielen anderen Anlagen auch eine mit den Lebensdaten der Künstlerin haben, die dem Leser aber vorenthalten werden wie die Namen der beiden (?) Gatten, den Vätern ihrer beiden Kinder. An die Stelle von präzisen Daten und der Schilderung prägender Ereignisse tritt allzu oft nur die von Seelenzuständen, die der Vereinigung von Gegensätzen in einer anbetungswürdigen Person, die dominant und kollegial zugleich, witzig und melancholisch, selbstsicher und schüchtern, in ihrem Spiel östlich brechtorientiert und westlich sich identifizierend, zart und schnoddrig, harmoniesüchtig und kämpferisch, mutig und selbstzweifelnd, mithin alles ist. Bereits im Vorwort des Gesprächspartners  fallen diesem bei einem Spaziergang mit der auch perfekten Gärtnerin viele, viele lobende Attribute ein, eine Art Einführung, die immer misslich ist, weil sie den Leser, ist er der darzustellenden Person nicht ohnehin verfallen, auf Widerstand bürstet, so wie es auch seine Nachteile hat, wenn Frager und Antworterin sich privat zu gut kennen wie der Filmjournalist Knut Elstermann seine Gesprächspartnerin.

Trotz dieser Nähe oder vielleicht auch wegen derselben verläuft das Frage- und Antwortspiel oft nach dem Schema: Er versucht ihr Präzises auch aus dem privaten Bereich zu entlocken, sie antwortet mit Elogen auf Rollen, Regisseure, Kollegen und das Familienleben, auf das Glück, das sie selbst im Unglück hatte, was alles legitim und verständlich ist, aber dann sollte man kein Buch über sich schreiben lassen. Immer wieder wird das Interview durch Intermezzi unterbrochen, in denen sich Familienangehörige, Kollegen und ganz zuletzt Barrie Kosky, der sie zum Operettenstar an der Komischen Oper Berlin machte und gar nicht glauben mag, dass sie bei all ihren Talenten keine jüdischen Wurzeln habe, äußern.

„Menschenskind“ heißt das Werk wie bereits ein Hollaender-Abend, den die Manzel gestaltete, und viel zutreffender als das vorangestellte Bobrowski-Gedicht wird dieser Ausdruck interpretiert als das unschuldige Neugeborene, aber auch die damit zurechtzuweisende Berliner Göre. Nicht streng, aber doch in etwa chronologisch wird die Karriere nachvollzogen, von Dresden nach Berlin ans Deutsche Theater und Berliner Ensemble führend, zum Film und zum Fernsehen und schließlich an die Komische Oper, für deren Operettenaufführungen sie zwar keine Opern-, aber eine ausgebildete Stimme prädestiniert.

Auch wer weder an Theater noch an Oper und Operette interessiert ist, könnte wissen wollen, warum der Vater nach fünfjähriger Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion ausgerechnet als Kommunist zurückgekehrt ist und die Tochter dazu animierte, ebenfalls in die SED einzutreten. Davon erfährt man leider nichts, auch nur wenig über die Einflussnahme des Staates auf die Theater in der DDR. Dagmar Manzel scheint unter einer Glasglocke der Unberührbarkeit nur ihrem Beruf nachgegangen zu sein, wollte auch nach der Wende nicht ihre Stasiakte einsehen und ein erklärter Schnüffler blieb trotzdem ihr Freund. Zu beiläufig klingt da ein :“Natürlich sind auch furchtbare, unverzeihliche Dinge geschehen“, aber „ich hatte in der DDR eine schöne Zeit“. Dafür wird aber hart und undifferenziert mit der Treuhand ins Gericht gegangen, ihr der Untergang der DDR-Betriebe und das Unglück der arbeitslos Gewordenen angelastet, nicht der Misswirtschaft des Regimes, das auch den Verfall der ostdeutschen Städte, deren Wiederauferstehung dank westdeutschen Geldes ihr nicht entgangen sein sollte, zu verantworten hatte. Die Gängelung der Menschen, denen Paris und Venedig, Spiegel und Stern und vieles andere zumindest bis zum Rentenalter verboten wurden, scheint da gar nicht erst zur Kenntnis genommen zu werden, oder ein Nachdenken darüber verbot sich, weil man doch nichts ändern konnte, dies zumindest glaubte.  Dass für sie persönlich die Maueröffnung ein großes Glück war, wird wiederholt betont. Geliebäugelt wird aber auch mit einem eigenständigen Staat als Nachfolger der DDR mit eigener Brecht-Eisler-Kinderhymne, die nach Meinung des Interviewers doch viel schöner sei als die von Einigkeit und Recht und Freiheit.

Interessant ist, dass Dagmar Manzel, wohl auch durch den Einfluss einer Tante, gläubig und nach der Wende Katholikin wurde, aber wieder aus der Kirche austrat, als ein Priester (!) ihr Vorhaltungen wegen ihres Umgangs mit Schwulen und Lesben machte. Aber Papst Francesco verehrt sie, was aber wohl keinen Wiedereintritt in die Kirche bewirken wird.

Es gibt auch eine ganze Reihe  nachdenkenswerter Passagen in dem Buch, so die über die Heilsamkeit des Abschiednehmens, über die Besonderheit der Anforderungen beim Filmen im Vergleich zum Theater, über Rollen wie Anna I und Anna II, Maria Stuart, Tatortkommissarin im Franken-Tatort, und man nimmt es ihr ab, wenn sie meint: „Ich muss einfach auf die Bühne springen und mich verschenken“ (240 Seiten, Aufbau-Verlag 2017; ISBN 978 3 351 03649 2/ Das Foto oben zeigt die bei DGG herausgekommene CD von Dagmar Manzel gleichnamigen Titels, Michael Abramovich dirigiert das Orchester der Komischen Oper Berlin, 0289 479 2328 2). Ingrid Wanja

Barocke Seelenlaute

 

Die kanadische Mezzosopranistin Julie Boulianne ist hierzulande noch eher unbekannt, an der Frankfurter Oper singt sie in der Spielzeit 2017/18 die Charlotte in Massenets Werther, in Aix-en-Provence singt sie im Sommer in der Uraufführung von Philippe Boesmans Pinocchio, Rollen wie Rossinis La Cenerentola, Mozarts Donna Elvira, Berlioz‘ Béatrice gehören zu ihrem Repertoire, ihr Fokus liegt auf der Epoche zwischen Barock und Rossini. 2014 erschien ihre Solo-CD Händel & Porpora, nun folgt Alma Oppressa mit Arien von Händel und Vivaldi, mit denen Boulianne die besungene Liebe im barocken Affektspektrum in ihren Facetten zwischen Tragik und Triumph auskosten will und dabei eine beachtenswerte Visitenkarte hinterlässt. Die Sängerin scheut nicht den Vergleich, sie wählt Bekanntes und Beliebtes wie die von ihr hingebungsvoll gesungene Arie Sestos „Cara speme“ (Giulio Cesare), bei Almirenas berühmten und geläufigen „Lascia ch’io pianga“ (Rinaldo) hört man ihr auch zum wiederholten Male gerne zu, das freudvolle „Con l’ali di costanza“ (Ariodante) mit seinen langen Koloraturläufen und das in sich zufrieden ruhende „Qui d’amor nel suo linguaggio“ (Ariodante) überzeugen. Bei der die CD eröffnenden Titelarie „Alma oppressa“ aus Vivaldis La Fida Ninfa kann man als Vergleich Vivica Genauxs Aufnahme aus ihrem Vivaldi-Album (2009) mit Europa Galante und Fabio Biondi heranziehen und feststellen, dass sich beide Einspielungen musikalisch und sängerisch auf Augenhöhe bewegen, beide Interpretationen sind erregt und seelenbewegt, Genaux ist vielleicht etwas agiler, aber beide trennt nicht viel. Weniger bekannt sind Teseos selbstsicheres „Salda in quercia“ (Arianna) und Tirintos männlich klagendes „Se potessero i sospir‘ miei“ (Imeneo), im melodiösen „Sovente il sole“ (Andromeda liberata) trumpft Boulianne mit einer schönen, ausdrucksvollen Tiefe auf, „Dite, oimè! Ditelo, al fine“ (La Fida Ninfa) ist eine ergreifende Verzweiflungsarie. Julie Boulianne singt hier mit weichem, lyrischem Mezzosopran und sehr gutem Ausdrucksvermögen, man hört geschmeidige Stimmakrobatik und sicher sitzende Koloraturen, Affekte klingen bei ihr nie affektiert oder sogar übertrieben. Man kann Alma Oppressa ohne Ermüdungserscheinungen am Stück durchhören – ein Verdienst, das auch die Musiker betrifft. Der Cembalist Luc Beauséjour und das kanadische Ensemble Clavecin En Concert spielen hörbar mit Freunde und Engagement und belegen ihr eloquentes Orchesterspiel mit der Ouvertüre zu Armida al campo d’Egitto, Dario und der Gavotte aus der Ouvertüre zu Lotario. Das karge Beiheft enthält leider keine Arientexte, aber das ist auch das einzige Manko dieser gelungenen Visitenkarte. (Analekta, AN 2 8780). Marcus Budwitius

Dorothy Dorow

 

Dorothy Dorow (August 22, 1930 – April 15, 2017) was an English soprano. Dorow debuted in London in 1958. She has sung world-premieres of works by such composers as György LigetiHans Werner HenzeLuigi DallapiccolaSylvano Bussotti and Luigi Nono. She is also noted for her performances of the vocal works of Igor Stravinsky. Dorow performed internationally including at the Kraków Philharmonic. After several years of living abroad (including the Netherlands) she retired in 1992 and was living in Cornwall. (Quelle Wikipedia.org)

Der Musiksammler/ Musikwissenschaftler John Caroll schreibt auf seiner website  divalegacy.com: Modern Coloratura Legacy – Dorothy Dorow is a singer who made a considerable reputation singing modern music.  She also made an uncharacteristic recording in 1976 for BIS of turn-of-the-century virtuoso showpieces in the domain of Galli-Curci and Tetrazzini.  Intermixed with intelligent and charming renditions of waltzes, variations, and bird songs by Adam, Benedict, Bishop, and others, is a modern song of her own composition. Apparently, she studied to become a composer and won some awards in that realm before concentrating on vocal performance.  Dream is a wordless piece she wrote for the album at the producer’s request to provide some contrast to the twittering chestnuts and to showcase the four different flutes used by her accompanist, Gunilla von Bahr.  From Dorow’s own notes: „The dreamy beginning leads to a movement of anguish and fear which calms down and is followed by a bossa nova calling up a glamorous Hollywood dream.  Then follows a tittering part which recedes.“ The voice hums, sighs, and coos in this musically remote piece.  Only the bossa nova section is melodic; the rest of the piece comprises swooping and whipped vocal lines up and down the scale. (Mit Dank an John Caroll!)

BIS RecordsEtcetera RecordsCaprice RecordsPhono SueciaNorwegian Composers

Meyerbeers „Feldlager in Schlesien“

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Eine Sopranarie mit obligater Flötenbegleitung und ein obskurer Titel sind so ziemlich das einzige, was – wenn überhaupt – im öffentlichen Bewusstsein von Giacomo Meyerbeers Singspiel Ein Feldlager in Schlesien übrig geblieben ist. 1843 an der Königlichen Hofoper von Berlin gilt die Oper als Vehikel für die berühmte Primadonna Jenny Lind, was auch nicht ganz stimmt, denn Leopoldine Tuczek sang die Premiere wie auch die danach bearbeitete Vielka 1847 in Wien. Die Lind stieg in Berlin später ein und wurde dann erneut von der Tuczek abgelöst. Dennoch – für den gelernten Belcanto-Fan und Meyerbeer-Freund ist diese frühe Oper Meyerbeers ein ganz wichtiger Meilenstein. Und die Genesis des Feldlagers mit ihren Etappen zur Vielka, dann zum Etolie du Nord  und auch dem Nordstern ist eine spannende.

Zu Meyerbeers „Feldlager in Schlesien“/ der junge Giacomo Meyerbeer/ Wiki

Meines Wissens ist die nun beim Hamburger Archiv für Gesangskunst (HAfG) herausgegebene Radioaufnahme von 1984 (ohne Dialoge)  die einzige dokumentierte (von der späteren Vielka fehlt jede Spur, ebenso vom deutschen Nordstern, allerdings gibt es den französischen Etoile du Nord mehrfach, so bei Naxos aus Wexford). Deshalb sei dem damaligen Opernchef des Berliner SFB, Einhard Luther, hier noch einmal ein großer Lorbeerkranz gewunden, denn seine Phantasie, seine konstruktiven Bemühungen, seltene Operntitel mit seinen vielen Konzerten in deutscher Sprache „an´s Volk“ zu bringen, können nicht hoch genug gelobt werden. Vom Dvorákschen Jakobiner über Leoncavallos Roland von Berlin bis hin zur Halévyschen Jüdin oder Lortzings Hans Sachs spannte sich der weite Bogen der Entdeckungen. Dazu kamen beste Kräfte wie der junge Peter Seifert, Gabriele-Maria Ronge, Jörn W. Wilsing, Wieslav Ochman, Volker Horn, Norma Sharp und Andrea Trauboth, Helmut Krebs oder Ruthild Engert, die meisten aus der Berliner Opernlandschaft, Wilsing und Ochman aus Stuttgart und Warschau. Dies alles meist unter der Leitung von Fritz Weisse am Pult des Symphonischen Orchesters Berlin. Ein später Dank an Einhard Lutter also, ohne den viele dieser Sammlerstücke nicht zustande gekommen wären (denn der geneigte Fan hat sowas natürlich).

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Meyerbeers „Feldlager in Schlesien“ 2022 an der Oper Bonn/Szene/ Foto Thilo Beul

Als eingeschobenes PS. hier ein Zusatz von 2023, weil nämlich der verstorbene Operndirektor Andreas Meyer an der Oper Bonn die szenische Nachkrieg-Erstraufführung der Oper im Dezember 2022 an der Oper Bonn herausbrachte, Hermes Helferich dirigierte. Allerdings wurden die Dialoge gestrichen (wieder einmal) zugunsten eines ins Stück eingebauten Sprechers. Wegen Corona und Dauerausfällem im Personal kam es nur zu einer Vorstellung, und die Radioübertragung war eine Art Pastiche aus den Proben und der Aufführung; eine CD war geplant und wurde nicht realisiert.

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Ein Dank nun an das HAFG für die CD-Ausgabe, der wir den nachstehenden Artikel von Joachim Leufgen entnommen haben. Es singen Jörn W. Wilsing/ Saldorf, Ruthild Engert/ Therese, Norma Sharp/ Vielka, Volker Horn/ Conrad, Helmut Krebs/ Steffen, Theo Römer/ Tronk sowie Josef Hopferwieser/ Ein schwarzer Husar unter Fritz Weisse am Pult des Berliner Konzertchors und des Philharmonischen Orchesters Berlin (34018, 2 CD ohne Libretto). G. H.

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Zu Meyerbeers „Feldlager in Schlesien“: Brand des Berliner Opernhauses 1843/ Wikipedia

1842 kehrte Giacomo Meyerbeer (1791-1864)  von Paris in seine Geburtsstadt Berlin zurück und übernahm dort die Stellung des Generalmusikdirektors der Königlichen Oper. Nach Amtsantritt dirigierte er selbst die deutsche Erstaufführung seiner eigenen Oper Die Hugenotten (Les Huguenots) sowie den Wilhelm Tell von Rossini und Linda di Chamounix von Donizetti.

In der Nacht vom 18. auf den 19. August 1842 verlor Berlin durch einen furchtbaren Brand sein königliches Opernhaus. Unmittelbar nach der Brandkatastrophe ordnete Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) den Wiederaufbau an. Während der nur siebzehn monatigen Bauphase wurden die Aufführungen in das Schauspielhaus verlegt. Die neue Oper konnte neben technischen Verbesserungen auch einen mit vier Rängen und annähernd 1800 Plätzen deutlich großzügigeren Zuschauerraum aufweisen.

Zu Meyerbeers „Feldlager in Schlesien“:Leopoldine Tuczek sang die Vielka erstmals in Berlin/ Wiki

Anlässlich der Wiedereröffnung erlebte das Feldlager in Schlesien seine Uraufführung am 7. Dezember 1843. König Friedrich Wilhelm IV. hatte Meyerbeer den Auftrag für eine Oper mit einem Stoff aus der deutschen Geschichte erteilt. Vielleicht war es auch Meyerbeers eigene Idee, als deutscher Komponist eine deutsche Oper in Berlin zu präsentieren. Es lag nahe, den berühmten königlichen Vorfahren Friedrich II., genannt „Der Große“, zum Thema des Werks zu wählen. Allerdings war es nicht statthaft, Mitglieder der königlichen Familie auf der Bühne darzustellen. Meyerbeer löste das Problem, in dem er den König nicht als Person, sondern akustisch, durch ein aus dem Hintergrund erklingendes königliches Flötenspiel, in die Oper einbezog. Schauplatz und Titel der Oper wurde das für den Verlauf des Siebenjährigen Kriegs so wichtige Feldlager in Oberschlesien.

Zu Meyerbeers „Feldlager in Schlesien“: das Königliche Opernhaus Berlin/ Wiki

Das Libretto für dieses Auftragswerk stammte eigentlich von Eugène Scribe (1791-1861), ein langjähriger Freund und von Meyerbeer und ein von ihm überaus geschätzter Librettist. Scribe offerierte Meyerbeer seinen Text für eine komische Oper in drei Akten mit dem französischen Titel Premier flutiste du roi, episode de la guerre de sept ans. Für 5.000 Francs erwarb Meyerbeer die vollständigen Eigentumsrechte des Librettos für alle europäischen Theater, ausgenommen Paris und andere französische Bühnen. Sehr zum Missfallen Meyerbeers mischte sich der preußische König nun höchstpersönlich ein und forderte die Vergabe des Auftrags an den von Meyerbeer nur wenig geschätzten Ludwig Rellstab (1799-1860). Ein französischer Bühnenautor schien dem König als Librettist für eine preußische Repräsentationsoper nicht angemessen. Heimlich einigte man sich darauf, dass Scribe das Libretto verfassen, jedoch nicht auf seine Urheberschaft bestehen sollte. Rellstab war letztlich nur für die Übersetzung des bereits ausgearbeiteten Librettos zuständig, sollte das Werk aber als sein eigenes ausgeben. Scribe versicherte ehrenwörtlich, niemals öffentlich als wahrer Verfasser in Erscheinung zu treten. Seine Mitwirkung wurde erst viel später aufgedeckt. Die Verpflichtung von Rellstab hatte einen großen praktischen Vorteil, denn der gefürchtete Musikkritiker der Vossischen Zeitung stand nun auf Seiten der Hofoper und schied als gefährlicher Fach-Rezensent aus.

Zu Meyerbeers „Feldlager in Schlesien“: Jenny Lind als Vielka/ Wiki

Neben der Sorge um das Libretto bereitet auch die Besetzung der Rollen einige Schwierigkeiten. Das Stammensemble der Berliner Hofoper war keinesfalls erstrangig und eine nach den Maßstäben Meyerbeers geeignete Sopranistin für die Rolle der Vielka, die zentrale Partie der Oper, war in Berlin nicht zu finden. Im Herbst 1841 hatte Meyerbeer die schwedische Sängerin Jenny Lind (1822-1887), eine Schülerin Manuel Garcias‘, in Paris gehört und wollte diese nun unbedingt für die Rolle der Vielka im Feldlager engagieren. Jenny Lind hatte schon als Agathe (Freischütz), Alice (Robert le Diable) und Valentine (Les Huguenots) Aufsehen erregt. Die Einladung nach Berlin nahm sie mit großer Begeisterung an. Es gab jedoch zeitliche Probleme. Da die schwedische Sängerin zur Zeit der Proben zeitweise in Stockholm engagiert war, wurde der  Koloratursopranistin Leopoldine Tuscek, die schon lange dem Stammensemble der Hofoper angehörte, in Aussicht gestellt, die Rolle der Vielka für die eine oder andere Vorstellung alternierend mit Jenny Lind zu übernehmen. Sehr zum Leidwesen Meyerbeers wählt der dem Ensemble verpflichtete Generalintendant Karl Theodor von Küstner die hauseigene Primadonna Tuscek nun auch für den Eröffnungsabend aus. Der Streit wurde schließlich von König zugunsten der Tuscek entschieden und der Widerspruch Meyerbeers blieb erfolglos. Zu den weiteren Sängern der Berliner Premiere gehörten Pauline Marx, Eduard Manthius, Louis Botticher, Heinrich Blume und andere. Die berühmte Pauline Lucca war zudem eine der späteren Interpretinnen für die Vielka in Berlin und Wien wie auch im Etoile du Nord.

Jenny Lind sang die Vielka in Berlin also tatsächlich erst am 5. Januar 1845.  Der Erfolg der Oper blieb zunächst hinter den Erwartungen zurück, was man auch der Tuczek anlastete. Bereits nach fünf Aufführungen wurde das Feldlager wieder aus dem Programm genommen. Erst mit dem glanzvollen Debut der Jenny Lind konnte das Feldlager das Berliner Publikum erobern. Insbesondere der Höhepunkt der Oper, ein hochvirtuoses Duett zwischen Sopran und Flöte, wurde von Jenny Lind eindrucksvoll dargeboten und blieb fortan eng mit der schwedischen Sängerin verbunden. Das gilt auch für ihren Wiener Auftritt, den sie sich mit  Leopoldine Tuscek in der gleichnamigen Vielka (ab 1847) teilte. Joseph Staudiunger und andere waren am Theater an der Wien  ihre Kollegen.

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Meyerbeers „Feldlager in Schlesien“ an der Oper Bonn/Szene/ Foto Thilo Beul

Zur Vielka findet man bei Wikipedia: Der Direktor des Theaters an der Wien, Pokorny, bat um die Erlaubnis für eine Inszenierung von Feldlager mit Jenny Lind. Dies stellte aufgrund der historischen Rivalität zwischen den Dynastien Hohhenzollern und Hanbsburg ein Problem dar. Das Libretto wurde daher umgeschrieben, zunächst von Rellstab, später von Birch-Pfeiffer. In der neuen Fassung wurde Vielka, der König, zum Herzog und Saldorf zum General. Während die ersten beiden Akte eine ähnliche Handlung wie in Feldlager aufweisen, spielt der letzte Akt im Schloss des Grafen Aubitz und hat einen ganz anderen Handlungsstrang. Es gibt eine komplexe Reihe von Verkleidungen, Verwechslungen und Anschlägen auf das Leben des Herzogs, bei denen Vielka eine Kugel abfängt und getötet wird. In ihrer letzten Arie hat sie eine Vision vom Himmel, die am 18. Februar 1847 in Wien uraufgeführt wurde. Lind übernahm die Rolle der Vielka bei der vierten Aufführung.

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Zu Meyerbeers „Feldlager in Schlesien“: Eduard Manthius sang die Tenorpartie in Berlin/ Wiki

Die Oper: Das Feldlager in Schlesien ist keine Oper im eigentlichen Sinne, sondern mehr ein  patriotisches Huldigungs-Festspiel, aus gegebenem Anlass komponiert, dem militärisch geprägten Zeitgeist des preußischen Obrigkeitsstaates verpflichtet und vor allem als Dank Meyerbeers an seinen König zu verstehen. Der militärische Charakter des Werks wird betont durch Märsche, Soldatenlieder, Trommeln, Fanfaren und Kanonendonner. In den 1850er Jahren rückte das Feldlager in Schlesien in den Rang einer preußischen Nationaloper auf und erlebte mehr als 60 Aufführungen.  In der Bearbeitung von Charlotte Birch-Pfeiffer feierte die Oper unter dem Titel Vielka am 18. Februar 1847 mit Jenny Lind in der Titelrolle im Theater an der Wien Premiere (andere Quellen geben auch hier Leopoldine Tuczek als Premierenbesetzung an, zumindest übernahm sie danach die Rolle von der Lind wieder). Es wurde ein sensationeller Erfolg, vor allem für Jenny Lind, die allerdings nur zwei Jahre später für immer von der Opernbühne abtrat.

Einhard Luther war lange Chef der SFB-Opernabteilung und Initiator vieler seltener Operntitel in Sendung und Aufführung – Danke Einhard!/ Foto OBA

Einige Nummern des Werks nahm Meyerbeer in seine Oper L’étoile du nord auf, die am 16. Februar 1854 an der Pariser Opéra Comique uraufgeführt wurde. Diese Oper spielt fünfzig Jahre früher als das Feldlager. Friedrich der Große wird durch Zar Peter den Großen ersetzt und die Handlung orientiert sich sehr deutlich an der bereits 1837 in Leipzig uraufgeführten Oper Zar und Zimmermann von Albert Lortzing. Ort der Handlung ist ein Dorf am Finnischen Meerbusen. In Paris erlebte das Werk mehr als hundert Wiederholungen. Eine von Rellstab unter dem Namen Der Nordstern herausgebrachte deutsche Fassung der Oper  wurde Ende 1854 uraufgeführt, konnte sich aber in Deutschland nicht gegen die beim Publikum weitaus beliebtere Fassung Zar und Zimmermann von Lortzing durchsetzen.  Joachim Leufgen/ Ergänzungen G. H.

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Zu Meyerbeers „Feldlager in Schlesien“: Jörn W. Wilsing singt auf der neuen Aufnahme den Saldorf/ Foto Staatsoper Stuttgart

Die Handlung – 1. Aufzug: Friedrich II. hat sich während einer Schlacht in das Haus des pensionier­ten Hauptmann Salsdorf retten können. Er ist in Gefahr, von ungari­schen Reitern gefangen genommen zu werden. Salsdorfs Tochter Therese und vor allem seine Ziehtochter Vielka, die Tochter einer Zigeune­rin, lenken die Verfolger ab, während Salsdorfs Pflegesohn Konrad mit dem König die Kleidung tauscht, ihm zur Flucht verhilft und sich für ihn gefangen nehmen lässt.

2. Aufzug: In einem preußischen Feldlager wird während einer Kampfpause ge­sungen, gezecht und getanzt. Da verbreitet sich die falsche Nachricht, dass der König gefangen genommen wurde und daran Salsdorf schuld sei. Schon will die aufgebrachte Menge den Hauptmann wegen Verrats töten, als der wirkliche König unversehrt eintritt und Salsdorf retten kann.

3. Aufzug: Vielka und Konrad kommen nach Sanssouci, um bei dem König für Kon­rads Bruder Leopold, welcher der Desertion beschuldigt wird, um Gnade zu bitten. Der König, der seine einstigen Retter freudig begrüßt, lässt dem zum Tode Verurteilten die Freiheit wiedergeben. Auf der Flöte wetteifern der König hinter und Konrad vor den Kulissen mit Vielkas Koloraturen (Foto oben: Illustration aus dem Schul-Dokumentarfilm „Absolutismus“ bei www.dukumentarfilm.com).

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Romanzen und Lieder

 

Der Mezzosopranistin Cornelia Lanz sind thematische Bezüge ihrer Programme wichtig. So ist es nicht verwunderlich, dass sie ihre neue CD (HC16019) unter das Motto „Frauenrollen und Frauengestalten bei Schubert, Rossini und Verdi“ stellt und veritable Charaktere herausarbeitet. Da gelingt aus der ersten Schubert-Gruppe „Die junge Nonne“ besonders gestaltungsintensiv, und „Der Zwerg“ erzielt mit eingestreutem Sprechgesang deutliche Effekte. Was dieser klangvollen, gut durchgebildeten Stimme allerdings durchweg fehlt, ist saubere Intonation in der bequemen Mittellage; da zerfließen die sauberen Konturen der Töne zu häufig an der unteren Grenze, ohne Obertöne auszuloten. Das stört vor allem in den Mignon-Liedern, aber auch in Ellens Gesängen aus  „Das Fräulein am See“, die recht kopfgesteuert daher kommen.

Etwas Besonderes sind die vier Lieder aus „Sei Romanze“ von Verdi, die mit nur wenig Anklang an Opernhaftes gefällig präsentiert werden. Die „Ariette à l’ancienne“, eine von Rossinis „Pêches de viellesse“ („Alterssünden“) passt sehr gut in dieses Programm, während seine ca. 18-minütige Liedkantate „Giovanna d’Arco“ fast den Rahmen sprengt. Hier sind dann auch geläufige Koloraturen und ein großer Stimmumfang gefordert; Cornelia Lanz löst diese Aufgabe sehr solide. Insgesamt wird sie elegant unterstützt von Stefan Laux am Flügel, der nicht nur begleitet, sondern eigenständig fordert und ein gutes Miteinander herstellt.

Der Bariton Martin Hempel und die Pianistin Katharina Kegler legen eine teilweise interessante CD (HC16051) mit Schumann, Duparc, Martin und Schubert vor. Die „Dichterliebe“ ist mir allerdings zu brav, fast abgeklärt; da fehlt es an Drängendem bereits im „wunderschönen Monat Mai“. Recht intensiv dagegen gelingt „Und wüßten’s die Blumen…“, in dem noch im Nachspiel die Zerrissenheit des Herzens deutlich gemacht wird. Sehr differenziert erklingt auch „Ich hab im Traum geweinet“. Der weichen, extrem lyrischen Stimme liegen aber besonders die viel zu selten zu hörenden  Mélodies et Chansons von Duparc: Hier trifft Hempel den Kern und Gehalt der einzelnen kleinen Episoden sehr gut. Den Konzertzyklus „Sechs Monologe aus ‚Jedermann‘“ komponierte Frank Martin zwar für Orchester, so dass die Klavierbegleitung natürlich nicht alle farbigen Facetten ausschöpfen kann. Aber durch die ausgezeichnete Diktion des Sängers, bei dem man wirklich jedes Wort versteht, kommt die Wandlung des Jedermann gut zum Tragen; mangelt es beispielsweise bei „Ach Gott, wie graust mir vor dem Tod“ an schärferer Attacke, so kann er in den beiden abschließenden Gebeten noch einmal seine Stärken zeigen. Schuberts „Litanei“ setzt einen passenden Schlusspunkt.

Die beiden in Russland geborenen, aufgewachsenen und weitgehend ausgebildeten Künstlerinnen Julia Sukmanova (Sopran) und Elena Sukmanova (Klavier) haben eine neue CD (HC16024) mit Liedern von Sergei Rachmaninoff eingespielt.  24 seiner 82 im Zeitraum  von 1890 bis 1916 entstandenen Lieder haben sie ausgewählt, um so einen Überblick über die künstlerische Entwicklung seines Liedschaffens zu ermöglichen. In den meisten Liedern herrscht schwermütige Melodik vor; das beginnt schon mit der Puschkin-Vertonung aus op.4 „O schönes Mädchen“, die die ganze Tristesse und Verlorenheit des einsamen Landsitzes wiederspiegelt, wo das Lied entstand. Neben drei Liedern aus op.8, dessen „Die Frau des Soldaten“ z.B. typische Motive des russischen Klageliedes verwendet, bilden elf der zwölf in Bezug zu seinem Privatleben stehende Lieder aus op.14 den Kern der Aufnahme; daraus ragt „Die Frühlingsfluten“ hervor, das auch für die Pianistin Höchstschwierigkeiten enthält, die die beiden Künstlerinnen mit jubelndem Ausbruch eindrucksvoll meistern. Da im russischen Original gesungen wird, ist es sehr vorteilhaft, dass das Beiheft so ausführliche Erklärungen zu Rachmaninovs Kompositionen gibt, wenn schon keine Texte dabei sind. Allerdings ist darin auch das Lied „Diese sommerlichen Nächte“ aus op.14 beschrieben, das aber auf der Aufnahme nicht zu finden ist. Die weiteren Lieder aus op.21 (Thema: Ehe), op.26 (Bloße Kleinigkeiten) und op.38 (inhaltsschwere Texte) bilden noch enger gewachsene Einheiten zwischen Text und Musik. Julia Sukmanova breitet diesen russischen Bilderbogen mit großvolumigem, durch alle Lagen sauber geführten Sopram aus, während Elena Sukmanova durch differenzierten Anschlag und weit aufrauschende Melodien mit typischen Rachmaninov-Passagen überzeugt. Marion Eckels