Statisch zauberhaft

 

Jean-Philippe Rameau hat drei Versionen seiner dritten Tragédie en musique Dardanus in fünf Akten und einem Prolog hinterlassen. Die Uraufführung 1739 erlebte mindestens 26 Aufführungen, 1744 gab es eine radikale Umarbeitung, 1760 zusätzlich eine überarbeitete Wiederaufnahme. Für die vorliegende Aufzeichnung aus der Opéra national de Bordeaux vom April 2015 wählte man eine Mischfassung, die überwiegend auf der Erstfassung beruht und die man mit dem Prolog sowie wenigen einzelnen Nummern von 1744 ergänzt hat. Dardanus, ein Sohn Jupiters, ist der Gründer Trojas. Im Mittelpunkt der Oper steht die Liebe zwischen ihm und Iphise (der Tochter des mit Dardanus verfeindeten Königs Teucer), die beide zu Beginn nicht wissen, dass sie vom anderen ebenfalls geliebt werden. Teucer verspricht die Hand seiner Tochter dem verbündeten König Anténor. Mit Hilfe des Zauberers Isménor kann Dardanus Iphise treffen, mit Hilfe von Venus wird alles gut. Dardanus rettet Anténor vor einem Ungeheuer, dieser verzichtet auf Iphise, Teucer lenkt ein und gibt nach – ein glückliches Ende. Eine übersichtliche Geschichte, die nur durch Zauberei und göttliche Eingriffe vorankommt, „das Wunderbare bestimmt die Handlung dieser Dichtung … es wird vielleicht allzu verschwenderisch davon Gebrauch gemacht„, soll der Librettist damals schon bemerkt haben. Die Figuren bleiben zu blutleer und statisch, es entwickelt sich fast nichts, doch das

Magische eröffnet die Möglichkeit des Zauberhaften und Phantasievollen, und das steht im Zentrum dieser Aufnahme, die in der Box sowohl auf DVD als auch auf BluRay (inklusive 20 Minuten Bonusmaterial, überwiegend Probenausschnitte und Gespräche mit den Beteiligten) enthalten ist. Knapp drei Stunden dauert die Aufzeichnung, ein dreißig minütiger allegorischer Prolog ohne wesentlichen Bezug zur Handlung eröffnet das Werk; wenn die Handlung beendet ist, geht die Oper noch 20 Minuten weiter. Neben der schmalen Handlung gibt es einige Chorszenen und viele instrumentale Stellen für Tänzer. Es gibt in Dardanus keine Entwicklung entlang der Affektbandbreite – ein Mangel, der schon früh bei der Aufführung französischer Barockopern die italienische Kritik auslöste, es handele sich nicht um ein  Drama, sondern um eine Maskerade. Der berechtigte Vorwurf ist aber auch eine Eigenart, die der Regisseur Michel Fau als Stärke betonen will. Die Regie verfolgt kein zusätzliches Konzept, das man verstehen muss, keine Szene weist über sich hinaus, es gibt keinen zusätzlich integrierten roten Faden oder Wink mit dem Zaunpfahl. Dem Publikum wird vielmehr ein Zugang über die Sinne ermöglicht, man setzt auf Phantasie und Verzauberung und will so einen Zugang zum zauberhaften Sujet der Oper eröffnen. Die französische Barockoper ist dekorativ, die auffälligen Kostüme von David Belugou sind inspiriert von der damaligen Zeit und von barocken Opernkostümen, Venus hat das Frivole der Louis XV-Epoche. Dazu gibt es einige gemalte Bühnenbilder (Bühne: Emmanuel Charles) sowie Lichteffekte und starke Farbeindrücke mit gelegentlich Bonbon-bunten Neigungen. Visuell setzt man ganz auf Stimmungen und Gestimmheit, um die Dürre des Geschehens zu transformieren, der Prolog ist opulent und etwas kitschig, die großartige Traumszene des 4. Akts tänzerisch nachtverloren. Der Wechsel von Handlung, Chor und Ballett ist von Rameau nicht auf Spannung angelegt und soll es hier auch nicht sein. Die Bildregie leidet unter dieser statischen Verzauberung, sie kann oft nur Gesichter und Körper zeigen, in der Totalen passiert wenig, (abgesehen von den nicht immer originell wirkenden Tanzszenen des Choreographen Christopher Williams) und man kann vermuten, dass Dardanus als Stimmungsinszenierung live mehr hergab als in der Konserve der Aufzeichnung. Dennoch hat man hier eine bemerkenswerte Umsetzung, wenn man sich auf diese Herangehensweise des Lyrischen, Verträumten und Bunten einlassen und Dardanus auf sich wirken will. Das Orchester hat in Dardanus viele sängerlose Passagen und steht mehr als sonst bei einer Abfolgeoper aus Rezitativ und Arie im Fokus des Zuhörens. Raphaël Pichon dirigiert die sehr gut aufgelegten Chorsänger und das Orchester seines Ensembles Pygmalion und setzt dabei auf rhetorische Deutlichkeit und flüssige Tempi ohne Neigung zu aufgesetzten Effekten. Die Wahl der Sänger ist durchweg ohne Schwächen und rollendeckend, die Herausforderung bei Rameau liegt nicht in virtuosen Koloraturen, sondern im rhetorischen Ausdruck des französischen Sprechgesangs. Der Prolog gehört Karina Gauvin, die als sinnliche Venus charmant und wohlwollend eingreift, Mezzosopran Gaëlle Arquez ist beeindruckend und souverän als unglückliche Iphise, Tenor Reinoud van Mechelen in der Titelrolle als Dardanus hat seine schönste Arie im 4. Akt, in dem er die Arie „Lieux Funestes“ (aus der Fassung von 1744) hingebungsvoll singen darf. Stark besetzt sind die tiefen Männerstimmen: Bassist Nahuel di Pierò als Teucer und Isménor und Bariton Florian Sempey, der als Anténor seiner Figur ein durchgängiges Entsetzen darüber verleiht, was man ihm alles zumutet. Die anmutig singende Katherine Watson nimmt mehrere kleine Rollen ein (Amour, Une Bergère, Bellone, Un Songe), dazu sind Ètienne Bazola (Un berger) sowie in der Traumszene Giullaume Gutiérrez und Virgile Ancely dabei. (1 DVD + 1 BluRay, harmonia mundi, HMD 9859051.52) Marcus Budwitius