Da wäre man gerne mitgefahren. Es muss eine recht kurzweilige Zugfahrt gewesen sein, auf der Rainer Simon, mit Verstärkung durch Felix von Böhm, seinen Chef Barrie Kosky von Berlin nach Bayreuth begleitete. Rund fünf Stunden dauert die Fahrt, die wie im Fluge vorbeigegangen sein muss und die sie anschließend dokumentierten: Nächster Halt: Bayreuth. Eine Zugfahrt mit Barrie Kosky (Wolff Verlag; ISBN-10: 3941461230, ISBN-13: 9783941461239). Das auf 80 Seiten gestreckte Ergebnis liest sich wie von selbst. Freilich nichts, was der auskunftsfreudige Kosky nicht schon irgendwo einmal erzählt hätte; auch die Hinweise zu seiner Meistersinger-Inszenierung, dem Grund der Reise, las man im Vorfeld der Bayreuth-Premiere. Sie lassen sich natürlich auch hinterher nochmals gut nachlesen und sind überhaupt ein guter Einstieg in die Inszenierung und Koskys differenziertes Wagner-Bild, einerseits „der Soundtrack des Dritten Reiches“, „andererseits war er nicht für das Dritte Reich verantwortlich. Verantwortlich ist er allerdings für all die schrecklichen Dinge, die er über Menschen gesagt und geschrieben hat“. Die ihm von Katharina Wagner vorgeschlagenen Meistersinger waren kein Wunschstück, „Tannhäuser und Parsifal hätte ich mir vorstellen können. Aber Die Meistersinger! Auf keinen Fall. Das Stück handelt so sehr von deutscher Nationalität und deutscher Kultur, dass ich immer das Gefühl hatte, ich müsse davor fliehen“. Und was hat ihn zur Zusage bewogen: „Und dann … bin ich auf etwas sehr Spannendes gestoßen… gestoßen, dass für mich zum Auslöser für alles Weitere wurde: Wagner hat sich mit Hans Sachs identifiziert. Er hatte großes Mitgefühl für die Figur und nennt sich in ein paar Briefen an Cosima sogar selbst Hans.“ Und schon hat man Koskys Inszenierung: „im Kern dreht sich das Stück um Wagner selbst. …Wagner schreibt nicht nur über deutsche Traditionen, deutsche Musik und deutsche Lieder, sondern behandelt auch seine eigene Rolle innerhalb dieser Tradition… Im Zentrum … steht also Wagners Eigenliebe. Dazu kommt noch die Liebe zu Cosima, die er später heiraten wird und die sich in Eva widerspiegelt“. Das weitere zentrale Thema ist für Kosky Gericht und Urteil: „Wer urteilt über wen? Wer legt fest, wie Kultur zu sein hat… Und auf welche Art und Weise wird gerichtet?“ und dadurch der Bezug zu den Nürnberger Prozessen, in denen „vor einer weltweiten Öffentlichkeit auch ein ganzes Land, dessen Gesellschaft und Kultur angeklagt (wurde) – wie kein anderes Land zuvor“.
Kosky Bahnfahren Wolff Verlag
Kosky spricht über die Kunst des Regieführens, über Musik und Theater als Droge, über die Komische Oper, über die von jüdischen Komponisten geprägte Geschichte der Berliner-Operette – und Hingabe. Immer wieder kommt er dabei auf die ungarische Großmutter zu sprechen – mit dem Akzent „wie Bela Lugosi in seinen amerikanischen Horrorfilmen“ und ihrer Mischung aus Judith und Blaubart und Gräfin Mariza – die mit Madama Butterfly Barries Liebe zur Oper entfachte. Kálmán und Bartók, Leichtes und Ernstes prägten fortan seinen Musikgeschmack, eine eminente Vielfalt der Stile und Richtungen, mit denen er sich wohlfühlt und die er von Ball im Savoy bis zu den Meistersingern virtuos beherrscht und bedient, „Am Mittwoch möchte ich Tristan und Isolde hören, am Donnerstag Carmen, am Freitage Adele, am Samstag Schostakowitsch und am Sonntag besuche ich ein Rockkonzert. … Ich würde mich zu Tode langweilen, stets nur die großen Werke des 19. Jahrhunderts zu inszenieren“. Kosky ist bekennender Zugfahrer. Die Gespräche lassen sich bequem fortsetzen. Das kann also noch nicht alles gewesen sein. R. F.