Wahrlich gelohnt hat sich die Mordsarbeit, die sich mit der Wiederherstellung der 1647 in Paris uraufgeführten Oper Luigi Rossis L’Orfeo stellte, deren Libretto gar nicht gedruckt und deren Musik nur in Bruchstücken erhalten geblieben war. Der französische Finanzminister Kardinal Mazarin hatte sie in Auftrag gegeben, um die Franzosen, insbesondere aber den Königshof mit der Gattung der italienischen Oper bekannt zu machen, sechs Stunden hatte sie einschließlich eines Pro- und eines Epilogs gedauert, 200 Bühnenarbeiter beschäftigt und so viel gekostet, dass sie einer der Gründe für den Aufstand von Adel und Parlament, die sogenannte Fronde, gewesen war. Danach wurde das Werk vergessen, ist seit kurzem vereinzelt wieder auf den Spielplänen anzutreffen, so in Martina Franca arg beschnitten und in Verbindung mit einer modernen Komposition, als traue man ihm nicht zu, das Publikum ganz auf sich gestellt zu interessieren. Dabei ist die Musik überaus abwechslungsreich, enthält zwar auch den monteverdischen Sprechgesang, aber bereits auch Elemente eines frühen Belcanto, wunderbare Duette und Chöre.
Anders als bei den meisten Adaptionen des Orpheus-Stoffes steht im Mittelpunkt zumindest der ersten Hälfte der Oper die Dreiecksgeschichte zwischen Orpheus, Eurydike und Aristeos, der mit allen Mitteln, zuletzt dem des Mordes mittels eines Schlangenbisses die Verbindung der beiden Liebenden zu verhindern sucht. Wahnsinn und Selbstmord sind die Strafe für das frevelhafte Vorgehen. Obwohl die Oper L’Orfeo heißt, bilden Eurydike und ihr Mörder trotz eines stattlichen Titelsängers bzw. einer Sängerin das Paar auf dem Cover von DVD und Blu-ray bei harmonia mundi. Auch spielen Götter, Grazien, Parzen eine viel bedeutendere Rolle als gewohnt, und eine ganz besondere Eigenart der „tragi-comédie“ ist das Auftauchen eines komischen Paares, Satiro und Momo, und einer komischen Alten, die, bedenkt man die Anwesenheit des erst neunjährigen Dauphins bei der Uraufführung, recht gewagte Spielchen treiben.
Regisseur Jetske Mijnssen verlegt das Werk in die Moderne, um es für das heutige Publikum zugänglicher zu machen, was vielleicht auch eine Untereschätzung desselben bedeutet. Für die Götterwelt allerdings durfte sich Gideon Davey insbesondere phantasievollen Kopfputz ausdenken, während die Szene von Ben Baur im Opernhaus von Nancy, Sitz der Opéra national de Lorraine, sich auf ein schlichtes holzverkleidetes Gemach mal mit Tisch und Stühlen für die Hochzeitsgesellschaft, mal als Trauerraum nur mit Sitzgelegenheiten versehen, beschränkt.
Vorzüglich und zum größten Teil außergewöhnlich stilgerecht singend sind die Solisten, die teilweise zwei Partien verkörpern. Eine wirklich hochattraktive Euridice, die hier den Neid der Venere erregt, ist Francesca Aspromonte mit silbrigem Sopran, der in der Todesszene seine Geschmeidigkeit und Ausdrucksvielfalt beweist. Orfeo wird von Judith van Wanroij mit schönem Glockenton verkörpert, in seiner Klage um die verstorbene Gattin weiß dieser Orpheus nicht nur ein ergreifendes Mienenspiel, sondern auch viel vokale Farbe einzusetzen. Ein leidenschaftliches Spiel und einen eleganten Mezzosopran kann Giuseppina Bridelli für den Schäfer Aristeo glänzen lassen und die Möglichkeiten, die ihr das Werk bietet, voll auszukosten. Einen zarten Sopran hat Giulia Semenzato für Venere und für Proserpina, für die Rossi herrliche Musik geschrieben hat. Markanter als Caronte denn als Vater Endimione klingt Victor Torres und ganz herrlich komisch ist Dominique Visse, der seinem Countertenor als Vecchia unvergleichliche, die Person charakterisierende Töne abgewinnt. Da kommen trotz aller Verdienste Renato Dolcini als Satiro und Marc Mauillon als Momo nicht ganz heran. Luigi de Donato als Augure und Plutone sowie Ray Chenez als Nutrice und Amore vervollständigen das hochkarätige Ensemble. Raphaël Pichon, gemeinsam mit Miguel Henry verantwortlich für die „Reconstituition“ der Oper, dirigiert das Orchester Pygmalion, und bei allen hat man das Gefühl, dass sie mit höchster Kompetenz und vollem Einsatz bei der verdienstvollen Sache sind. Unverzeihlich ist bei einem so unbekannten Werk das Fehlen einer Inhaltsangabe und einer Trackliste und auch sonst geizt man mit Informationen (Harmonia mundi 9859058.59 Blu-ray). Ingrid Wanja