Bellinis „Bianca e Gernando“

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Bei Naxos erschien der SWR-Mitschnitt der Bellini-Oper Bianca e Gernando (das G- in Gernando ist wichtig in der Unterscheidung zur Zweitfassung der Oper als Bianca e Fernando) von 2016 – wieder eine der wirklichen Überraschungen von „Rossini in Wildbad“, dem deutschen Festival, das seit Jahren mit hoher Qualität nicht nur bei Rossini-Aufführungen (und Mitschnitten) für Überraschungen sorgt. Die Ausgrabung von Bellinis Erstling ist uns Anlass genug, die Artikel des Bellini-Forschers Carmelo Neri zum Werk selbst und den von Reto Müller (künstlerische Säule in Wildbad und Vorsitzender der Deutschen Rossini Gesellschaft) zur verwendeten Edition aus dem Programmheft der konzertanten Aufführung 2016 mit kleinen Kürzungen zu. G. H.

 

Relief Bellinis an seinem Geburtshaus in Catania/ Wiki

Dazu die Besprechung des neuen Mitschnitts von Rolf Fath: Es waren häufig andere Opern als die des Namensgebers, mit denen Rossini in Wildbad Aufmerksamkeit fand, darunter Werke von Pacini, Pavesi, Vaccaj, Meyerbeers Semiramide oder Mercadantes I Briganti nach Schillers Räuber. In letzter hatte Maxim Mironov die 1836 in Paris von Giovanni Battista Rubini kreierte Partie des Ermano, sprich Karl, gesungen. Dem 35jährigen Russen, der 2012 einen grandiosen Ermano gesungen hatte, begegnen wir neuerlich in den im Juli 2016 in Bad Wildbad mitgeschnittenen konzertanten Aufführungen von Bianco e Gernando, wo er wieder in die Fußstapfen Rubinis tritt, der in Bellinis zweiter Oper anläßlich des Namenstags des Thronfolgers und späteren Ferdinand II. im Mai 1826 in Neapel erstmals die männliche Hauptpartie gesungen hatte (Naxos 2 CD 8.660417-18). Eigentlich war sie für Giovanni David bestimmt gewesen, doch Franz I. hatte aus Respekt für seinen ein Jahr zuvor verstorbenen Vater die Verschiebung des vom Impresario des Teatro San Carlo in Auftrag gegebenen Werks erzwungen, worauf David nicht mehr zur Verfügung stand. Gleich nach der bemerkenswerten Introduction mit ihrem instrumentalen Vorspiel und der kurzen Rezitativ-Erzählung des alten Vertrauten Clemente, wodurch sich diese World Première Recording der Originalversion von der bekannteren Genueser Fassung von 1828 unterscheidet, stürmt Gernando auf die Bühne bzw. in den Herzogspalast von Agrigent, um seinen von Filippo entmachteten Vater Carlo zu rächen. Mironov singt die Cavatina „A tanto duol“ – in der Urfassung hat er keine zweite Solonummer im zweiten Akt – mit schöner Linie und Empfindung, die Stimme klingt auf der Aufnahme zarter, zerbrechlicher als ich sie von Live-Eindrücken in Erinnerung hatte, auch ein bisschen spröde, farblos und angestrengt, doch im raschen Teil entwickelt Mironov eine mitreißende Emphase, bei der der Hörer aber auch immer ein wenig mitzittert.

Vittorio Prato, der amoralische Corrado aus den Briganti, ist wieder der Bösewicht und gibt den Filippo mit bereits recht ältlich und brösligen Bariton, doch forscher Energie in den Verzierungen und der Höhe. Gernandos Schwester Bianca ist Silvia Della Benetta, eine Sopranistin, mit der man Pferde stehlen kann, eine patente Alleskönnerin mit wenig individueller Stimme, die von Bellinis Norma über Verdi bis zur Butterfly angesetzt wird und 2017 bei Rossini in Wildbad in Aureliano in Palmira und Eduardo e Cristina überzeugte. Für diesen frühen Bellini wünscht man sich freilich eine virtuos angenehmere, weniger scharfe, oder soll man fast schon sagen weniger schrille Stimme, aber auch die 46jährige Italienerin singt mit Hingabe, setzt im ersten Finale dramatische Akzente und gestaltet das Duett mit Gernando in den lyrischen Teilen mit wissender Anmut. Da auch die Nebenrollen, darunter der charakteristische Luca Dall’ Amico als entmachteter Herzog Carlo, Marina Viotti in der Hosenrolle von Filippos loyalem Freund Viscardo und Zong Shi als Clemente recht erfreulich besetzt sind, ist diese von Antonino Fogliani forsch dirigierte Aufführung (mit dem Camerata Bach Choir aus Posen und den Virtuosi Brunensis) eine mehr als gute Ergänzung zu den wenigen Aufnahmen der zwei Jahre späteren Fassung, für die Felice Romani Domenico Gilardonis Text revidiert hatte.   Rolf Fath

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Zu Bellini: König Ferdinando IV mit Familie/ Gemälde von Angelica Kaufmann/ Wiki

Nun also der Text von Carmelo Neri: Vincenzo Bellinis Debüt als Opernkomponist mit Bianca e Gernando, das zunächst am Teatro San Carlo von Neapel mit einer herausragenden Besetzung in den Hauptrollen (David, Tosi und Lablache) für den „Gala-Abend“ vom 12. Januar 1826 angesetzt worden war, wurde wenige Tage vor der geplanten Aufführung abgesagt. Dafür gab es eine offizielle Begründung. (…) Es  ist wahrscheinlich, dass man einen schwachen Vorwand benutzt hat, um eine Maßnahme zu rechtfertigen, die aus ganz anderen Gründen notwendig geworden war. Die Sopranistin Adelaide Tosi, die für die Rolle Biancas vorgesehen war, musste nämlich die Stadt verlassen, weil sie womöglich ein anderes Engagement angenommen hatte. (…) Ohne den wertvollen Beitrag der „guten“ Tosi, und weil Bellini es nicht gutheißen konnte, dass sie durch die Mezzosopranistin Adelaide Comelli ersetzt würde, also durch eine wenig verdienstvolle und für die Rolle ungeeignete Interpretin, die gerade am Ort war, liegt die Vermutung nahe, dass die Theaterleitung darum bemüht war, beim König Franz I. eine Verschiebung der Aufführung zu erwirken.

Die Oper schien unter keinem guten Stern geboren, und der Maestro hatte sich bereits mit Domenico Gilardoni begnügen müssen, einem dichterischen Mitstreiter, der eine gehobene und schwülstige Sprache pflegte, und sich nun erstmalig als Operndichter versuchte (…). Gleiches galt für den Komponisten, von dem man kein Meisterwerk erwarten konnte. Überdies kam hinzu, dass Bellini, in seiner Absicht, ein innovatives Vorhaben umzusetzen, das ihm „seit der Zeit, als er das Konservatorium verließ“ vorgeschwebt hatte , aufgrund seiner Experimentierfreude Gefahr lief, das neapolitanische Publikum vor den Kopf zu stoßen, das mit der energischen Klangfülle der Opern Rossinis und dessen Nachahmer vertraut war, die er als „schändliche Plagiatoren“ zu bezeichnen pflegte .

Zu Bellini: Sie sang die erste Bianca: Henriette Méric-Lalande/ Wiki

Vorsichtshalber zog er es vor, nicht zu weit zu gehen, und vermied es, in Bianca e Gernando übertriebene Neuerungen einfließen zu lassen, sodass seine Reformabsicht erst im darauffolgenden Jahr in aller Deutlichkeit hervortrat, als er mit Felice Romani zusammenarbeitete und mit der Oper Il pirata an der Mailänder Scala einen denkwürdigen Triumph davontrug. Bei seinem Aufenthalt in Mailand bekräftigte er während einer Konversation mit einem Korrespondenten der Leipziger «Allgemeinen musikalischen Zeitung» seinen Wunsch nach „einer Umwälzung […], die er in der modernen Oper mit der größten Zuversicht hervorzubringen gedachte“. Und er fügte hinzu: „Er als Anfänger wage es bis jetzt keineswegs, die Cabaletten und all das übrige Zeug aus der Oper auf einmal zu verbannen, und müsse also noch einem Theile des Publicums huldigen, ohne dabey den andern Theil, die Kenner, deren Beyfall ihm sehr theuer sei, zu vernachlässigen, über den Beyfall der Cabaletten aber heimlich lachte“ . Diese „Cabaletten“, die Dichter und Musiker in ihre Bühnenkompositionen einsetzen mussten, um den Sängern Gelegenheit zu geben, ihre Bravour selbst entgegen der dramatischen Konventionen zur Schau zu tragen, kommen in Bianca e Gernando noch vor. Die Oper beinhaltet nur einige wenige der neuen Auffassungen, die der Komponist allmählich zur Entfaltung brachte.

Der Aufschub der Aufführung bereitete Bellini, wie sein Biograph Francesco Pastura bemerkt, die „nicht unbedeutende Mühe, gleich mehrere Stellen der Oper an die Stimmen der beiden neuen Interpreten anpassen zu müssen, wie sich anhand einer Handschrift der ersten Bianca-Fassung feststellen lässt, die im Bellini-Museum in Catania verwahrt wird“ . Dennoch war er bei vollendeter Arbeit zufrieden. Schließlich rückte der von ihm so sehr herbeigesehnte und gefürchtete Tag heran, nämlich der 30. Mai 1826, und wieder stand ein Festabend an, „da sich der glückliche Namenstag S. K. H. des Fürsten Ferdinands, des Herzogs von Kalabrien“ jährte. Wie dies bei solchen Anlässen üblich war, rüstete sich die Stadt für ein großes Fest. (…) Im Theater, das in einer „fünffachen Beleuchtung“ erstrahlte, gab es ein hohes Publikumsaufkommen und es stellten sich Zuschauer „hoher Vornehmheit“ ein. (…) Wer der Premiere der neuen Oper des jungen Künstlers aus Catania mit den hoch angesehenen Sängern Rubini, Lalande und Lablache beiwohnte, wurde einiger Merkmale gewahr, die diesen von anderen damals beliebten Komponisten abhob. Die schönsten Stellen erzielten die erhoffte Wirkung, und es ließ sich unschwer voraussagen, dass der vielversprechende Musiker in seiner schwierigen Kunst Bekanntheit erlangen würde.

Zu Bellini: der getreue Freund Florimo in Diskussion mit Verdi/ zeitgenössische Karikatur/ Wiki

Die warmherzige Aufnahme setzte sich auch bei den weiteren Aufführungen fort, und alle waren überzeugt davon, dass diese Oper vor allem aufgrund „einer Betonung der Leidenschaft, mit der die Seele des Zuhörers sympathisierte“ bewundernswert erschien. (…)  In der Überzeugung, dass gewisse Mängel in Bianca e Gernando der geringen Erfahrung beider Autoren geschuldet seien, ging der anonyme Verfasser des Artikels im «Giornale delle due Sicilie» am 13. Juni  allein mit dem Librettisten ziemlich hart ins Gericht, dem er eine Nachahmung der Tragödien Alfieris vorwarf, und eine Reihe von Ungereimtheiten, „die gegen jeden gesunden Verstand verstoßen“, sowie „Nachlässigkeiten in der Beherrschung der Verskunst, … die bei Texten, die gesungen werden unerträglich sind“; für den blonden Tonkünstler, dem er zunächst eine „größere formale Ökonomie der Mittel, sowie eine stärkere Bemühung um die Erreichung jenes Hell-Dunkel-Kontrasts, der die Magie des Theaters ausmacht“ anempfahl, fand er schmeichelnde Worte (…).  Wie sich leicht denken lässt, machte der beträchtliche Erfolg Bellini, Gilardoni und ihre Freunde euphorisch und erfüllte den gerissenen Domenico Barbaja mit größter Zufriedenheit. Indem er sein Vertrauen zwei vielversprechenden Künstlern geschenkt hatte, war es dem Theaterimpresario gelungen, bei sehr geringen Ausgaben viel zu verdienen.

Eine interessante CD bei Naxos vereint Auftragsmusik des Intendanten Barbaja (8.578237)

Bellinis erste Auftragsoper blieb also nicht unbeachtet, wie die folgenden Zeilen aus einer alten Lebensbeschreibung (von Giuseppe Bozzo 1851) verdeutlichen: Dort, wo es heißt: „der unsterbliche Pesareser […] hatte sich damals bisweilen noch mit derartigen Gesängen hervorgetan“, wird eine unleugbare Wahrheit verfochten, denn in seinen Werken gibt es Motive, welche an die auserlesenen Melodien des großen catanesischen Opernkomponisten erinnern, auf welchen jene „Gesänge“ großen Einfluss gehabt haben dürften; anders ausgedrückt, Rossini, der in mehreren Opern rührend und sentimental war – man denke nur an Tancredi oder Semiramide –, hat einen bis dahin noch unbeschrittenen Weg aufgezeigt, den Bellini dank seiner äußerst glücklichen Intuition als erster eingeschlagen hat,  und zwar mit den allseits bekannten Ergebnissen. Carmelo Neri/ Übersetzung aus dem Italienischen von Antonio Staude

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Zur Textlage ein Bericht von Reto Müller: Wer hätte das gedacht?! Obwohl Bellini neben Rossini und Donizetti der bedeu­tendste italienische Komponist der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist und sein Werkkatalog nur elf Opern aufweist, ist sein offizielles Operndebüt bislang durch eine moderne Wiederentdeckung unbe­rücksichtigt geblieben. Das hat damit zu tun, dass man Bianca e Gernando (Neapel 1826) gemeinhin mit dessen überarbeite­ter Fassung Bianca e Fernando (Genua 1828) gleichsetzt. Das geht soweit, dass einige Opernkataloge den zweiten Titel nennen und diesen mit dem Entstehungsjahr des ersteren versehen.

Zu Bellini: Michael Spyres sang die Arie des Gernando bei der Berliner Aids-Gala 2016/ rbb

Die Geschichte der Bad Wildbader Erst­aufführung in moderner Zeit begann mit einer Ankündigung der Opera St. Moritz / Opera Basel. Dieses kleine Festival setzte im letzten Jahr ziemlich mutig Bellinis Bianca e Fernando für den Sommer 2016 auf das Programm, obwohl die Verfüg­barkeit eines Aufführungsmaterials nicht gesichert war. Denn die RAI, die italie­nische Rundfunk- und Fernsehanstalt, die die Oper ausgegraben und 1976 in Turin aufgenommen hat, verfügt nicht mehr über dieses Material. Angeblich sollte es noch in Catania existieren, wo das Werk zum letzten Mal 1991 aufgeführt wurde (dokumentiert auf einer CD von Nuova Era). Aber in der Sommerpause war dar­über nichts zu erfahren. So hatte ich die Idee, dass St. Moritz / Basel die Oper ggf. in Zusammenarbeit mit ROSSINI IN WILD­BAD produzieren könnte – das Festival im Schwarzwald hat schon mehrfach und mit Erfolg bewiesen, innerhalb eines Jahres eine Aufführungsedition erstellen zu können. Natürlich sollte es dann eine Erstaufführung sein – also nicht die längst eingespielte Version Bianca e Fernando, sondern die Urfassung Bianca e Gernando von 1826.

St. Moritz / Basel wurde schließlich in Catania fündig und führt Bianca e Fernando (im folgenden BeF) wie geplant im Juni und September 2016 auf. Bei ROSSINI IN WILDBAD passte aber Bianca
e Gernando (BeG)
perfekt ins Konzept, nicht zuletzt dank der Präsenz von Maxim Mironov, der für die 1826 von Giovan Battista Rubini gesungene Partie des Gernando eine ideale Besetzung darstellt (wie er bereits 2012 mit der Rubini-Partie des Ermano in Mercadantes I briganti bewiesen hat).

Omaggio a Bellini/ OBA

Nun stellte sich die bange Frage, ob sich die Version von 1826 überhaupt zuver­lässig rekonstruieren ließ. Wie üblich bei italienischen Opern jener Zeit war BeG nicht als Partitur (also mit der vollständi­gen Orchestrierung) im Druck erschienen – es liegen nur handschriftliche Partituren vor. Noch im Jahr der Uraufführung gab Bellinis Freund und späterer Biograf Francesco Florimo einen Klavierauszug heraus – allerdings nur mit den wichtigs­ten Nummern. Die Rezitative fehlten, und einige große Ensembles wurden für Kla­vier zu vier Händen, ohne Singstimmen, zusammengefasst. Ein Klavierauszug von BeF erschien erst 1903 bei Ricordi. Ein Vergleich zwischen dem gedruckten Libretto von 1826 und diesen beiden Klavierauszügen ließ zunächst abschätzen, welche Stücke im Klavierauszug noch neu gesetzt werden mussten, damit sie von den Sängern einstudiert werden können. Für die vollständige Partitur wäre vielleicht das Autograf, also Bellinis eigene hand­schriftliche Komposition, nützlich gewe­sen. Aber diese online verfügbare Partitur ist unvollständig und stellt möglicherweise nur eine Entwurfsphase dar. Ebenfalls online gibt es zwei Kopistenabschriften, die sich in den Bibliotheken der Konser­vatorien von Neapel und Florenz befinden. Einige Beiträge von Friedrich Lippmann gaben mir einen Überblick über die Abweichungen zwischen BeG und BeF und ließen erkennen, dass die zwei Abschriften eine Mischform der beiden Fassungen darstellen. Lippmann erwähnte auch eine Kopistenabschrift, die im Bellini-Museum in Catania aufbewahrt wird. Aber erst ein Beitrag von Domenico De Meo im Programmheft der Aufführung von 1991 erhellte, dass es sich dabei um die wohl einzige vollständige Abschrift handelte, die die Urfassung von 1826 zuverlässig widerspiegelt. Leider war sie online nicht verfügbar…

Zu Bellini: Teatro San Carlo, Neaple Innenansicht Sammlung Ragni, Neapel/ Dank an Reto Müller

Eine Anfrage beim Dokumentationszen­trum für Bellini-Studien ergab, dass auch dort keine digitale Kopie davon vorhan­den war. Fabrizio Della Seta, der Direktor der kritischen Bellini-Gesamtausgabe, bestätigte mir die schwierige Quellenlage der beiden Opern, für deren kritische Ausgabe noch kein Herausgeber bestimmt wurde. Umso spannender wurde von ihm der „Testlauf“ in Wildbad eingeschätzt.

Eine Anfrage beim Museo Belliniano ergab, dass vor Ort kein Fotograf verfüg­bar wäre, der die rund 400seitige Partitur ablichten könnte. Was tun? – Ohne diese Abschrift ließ sich die Oper nicht zuverläs­sig aufführen. EasyJet macht’s möglich! Nach Rücksprache mit Festivalintendant Jochen Schönleber beschloss ich, mich per Direktflug von Basel nach Catania zu be­geben, ausgerüstet mit meiner Kompakt-Digitalkamera, die schon in anderen Fällen gute Dienste geleistet hat. Mit dem Direk­tor des Museums hatte ich zuvor telefo­nisch vereinbart, dass ich die Abschrift auch ohne seine Anwesenheit an einem Sonntag abfotografieren durfte. Carmelo Neri, Herausgeber eines Bellini-Briefwech­sels, half mir dabei, indem er die Seiten fixierte, damit sie nicht aufblätterten. Nach einer gut zweistündigen Arbeit
war die Partitur „im Kasten“.

Bellinis „Bianca e Gernando“ an der Oper von St. Moritz/ Szene/ Foto Opera St. Moritz AG

Florian Bauer, unser erfahrener Noten­setzer, hatte nun eine zuverlässige Quelle, aufgrund derer er die vollständige Oper mit dem Notenprogramm „Finale“ erfassen konnte, um dann eine saubere Partitur und die einzelnen Orchester­stimmen Orchester­stimmen auszudrucken. Ich erstellte der­weil ein partiturgetreues Libretto, das von Antonio Staude im Hinblick auf die Über­titel wörtlich übersetzt wurde (und nun auch als zweisprachige Ausgabe des Fes­tivals vorliegt). Vor allem aber galt es fest­zustellen, welche Teile der beiden alten Klavierauszüge Verwendung finden konnten und für welche Teile es uner­lässlich war, die zeitaufwändige Arbeit der Anfertigung einer Reduktion der Partitur für Klavier und Stimme anzufertigen. Einige Teile konnten durch kleine Kor­rekturen in den Noten oder durch die Unterlegung des ursprünglichen Textes angepasst werden.

Gegenüber der späteren Fassung weist Bianca e Gernando im Wesentlichen folgende Unterschiede auf: Die Oper hat keine Ouvertüre, sondern eine Introduktion (Nr. 1) mit einem instrumentalen Vorspiel und einem Rezitativ von Clemente. Das Rezitativ von Gernando „Quest’è mia reggia“ hat einen anderen, einfacheren Verlauf. Die Kavatine Gernando (Nr. 2) weist eine andere Cabaletta auf („Il brando immer­gere“). Auch die Cabaletta der Kavatine Filippo (Nr. 3) ist anders („Cessa crudel pensier“). Der letzte Teil des Terzetts (Nr. 4) ist musikalisch unverändert, weist aber einen anderen Text auf („Tu speri superbo“).Im Finale I (Nr. 5) ist die Kavatine Biancas abweichend. Im zweiten Akt gibt es keine zweite Solonummer für Gernando. Das Schlussterzett (Nr. 10) beginnt mit einer instrumentalen Einleitung. Die Oper endet nicht mit einer „Scena“ für Bianca, sondern mit dem Terzett  plus Chor.

Bellinis Erstling „Bianca e Gernando“ aus Bad Wildbad bei Naxos

Wie man sieht, bietet die Oper in der Urfassung nicht nur unbekannte Musik, sondern auch formal einige signifikante Unterschiede, die Bianca e Gernando einen eigenständigen Charakter verleihen. Im Wesentlichen ist diese Fassung insbesondere im 2. Akt stärker auf die Wiedervereinigung und Rückgewinnung der Macht der legitimen Herrscherfamilie fokussiert, wie die Abfolge der Nummern 7 bis 10 nach der Arie Filippos zeigt: Romanze Bianca – Duett der Geschwister – Kavatine Carlo – Terzett des Vaters und der beiden Kinder.

Neben der Edition von Bianca e Gernando arbeitete ich auch an der Ausgabe des Rossini-Briefwechsels für die Jahre 1831-1835 (Fondazione Rossini, hrsg. von Sergio Ragni). Erst dadurch wurde mir wirklich bewusst, welche große Wert­schätzung die beiden Musiker verband, als Bellini als Protegé Rossinis in Paris seine letzte Oper, I puritani, herausbrachte. Es hat daher einen geradezu symbolischen Wert, wenn „Rossini in Wildbad“ den Komponisten aus Catania mit der moder­nen Erstaufführung seiner einzigen noch unbekannten Oper ehrt! Reto Müller

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Reto Müller/ DRG

(Für unsere Wiedergabe haben wir auf die Anmerkungen/Fußnoten im Artikel von Carmelo Neri verzichtet, der Autor möge uns verzeihen – Dank an Carmelo Neri, Antonio Stade und Reto Müller für die Erlaubnis des „Nachdrucks“ der bei uns leicht gekürzten Texte aus dem Programmheft Rossini in Wildbad 2016) 

Zu Reto Müller: Der Schweizer Rossini-Kenner Reto Müller war hauptberuflich Fahrdienstleiter bei der Schweizerischen Bundesbahn, bevor er das Unternehmen nach dortigen Umstrukturierungen verließ und sich selbständig machte. Seit 1979 setzt er sich als Opernbesucher, Sammler und Forscher intensiv mit Leben und Werk von Gioachino Rossini auseinander und ist mittlerweile in zahlreichen Gremien aktiv. Durch seine beratende und organisatorische Tätigkeiten bei Rossini in Wildbad hat er das Festival mitgeprägt und den Anstoß zu mancher Wiederaufführung selten zu hörender Rossini-Werke gegeben. Neben zahlreichen Beiträgen und Rezensionen für Fachpublikationen, Opernzeitschriften und Programmhefte hält er in Bad Wildbad Einführungsvorträge und Seminare. Er ist geschäftsführender Vorsitzender der Deutschen Rossini Gesellschaft und freier Mitarbeiter der Fondazione Rossini in Pesaro und mittlerweile ein vielgefragter Experte für alle Fragen rund um Rossini. Aus seiner Passion hat er nun einen Beruf gemacht und bietet Diensleistungen wie Obertitel oder Recherchen unter dem Motto Go Rossini an. E-Mail: drg@rossinigesellschaft.de

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(Die bisherigen Beträge in unserer Serie „Die vergessene Oper“ finden Sie hier)