Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Ochs erfüllt ganz sein Klischee

 

Dieser Rosenkavalier ist schon seit Jahrzehnten in Umlauf. Zunächst als Schallplattenkassette, zwischenzeitlich sogar als Opernquerschnitt, zuletzt auf CD bei Gala. Jetzt haben das Deutsche Rundfunkarchiv und der Mitteldeutsche Rundfunk die originalen Bänder herausgerückt und zur Veröffentlichung bei Profil Günter Hänssler freigegeben. Ihre Logos stehen vielsagend auf dem Cover. Die Aufnahme ist im Rahmen der Dresdner Semperoper-Edition erschienen (PH16071). Eingespielt wurde sie 1950 mit der Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Rudolf Kempe. Im selben Jahr war der Dirigent als Nachfolger Joseph Keilberth zum Generalmusikdirektor von Oper und Kapelle aufgestiegen. Bereits 1953 ging Kempe in den Westen, blieb Dresden aber bis zu seinem Tod verbunden. Mehrfach kehrte er zu Plattenaufnahmen und Aufführungen zurück. In die späte Phase dieser fruchtbaren Zusammenarbeit fallen die sinfonischen Dichtungen von Richard Strauss bei der EMI, jetzt Warner. Ein Zyklus von Opern des Komponisten blieb im Ansatz stecken. Kempe starb 1977 und konnte nur die Ariadne auf Naxos mit Gundula Janowitz (Titelpartie), Sylvia Geszty (Zerbinetta) und James King (Bacchus) abschließen. Eine Produktion, die sich ihre Frische und ihren Zauber bewahrt hat und bis heute als maßstäblich gelten darf.

„Der Rosenkavalier“ unter Kempe von 1950 in seiner LP_Erstausgabe bei Urania/ OBA

Für die Neuerscheinung, die vom Kempes entfesseltem Schwung und genauer Partiturkenntnis lebt, hat Hänssler vier CDs springen lassen, drei für die Oper, eine für den Bonus, der sich aus unterschiedlichen Aufnahmen mit Bezügen zu Dresden zusammensetzt, wo der Rosenkavalier 1911 uraufgeführt worden war. Darunter finden sich vier Szenen mit daran beteiligten Sängern. Margarethe Siems ist die Marschallin, Eva Plaschke von der Osten der Octavian und Minnie Nast die Sophie. Der feine Ton der Siems im gekürzten Monolog vermittelt immer noch eine genaue Vorstellung ihrer Wirkung und ihres Erfolgs in dieser Rolle, die sie bis zum Ende ihrer Karriere nie mehr loswurde. Tiana Lemnitz ist auszugsweise in zwei Versionen als Octavian zu hören, nämlich von 1936 und 1942. In dieser Rolle wurde sie auch – inzwischen dreiundfünfzig Jahre alt – für die Gesamtaufnahme herangezogen. In Dresden hatte es 1948 den ersten Nachkriegs-Rosenkavalier gegeben, der ästhetisch noch sehr an der Uraufführung in den Dekorationen von Alfred Roller klebte. Als Marschallin war Dora Zschille besetzt. Sie kam aus dem Westen nach Sachsen, hatte Engagements in Duisburg und Hannover hinter sich und hielt Dresden, wo sogar eine Straße nach ihr benannt ist, bis zu ihren Bühnenabschied 1971 die Treue. Die Zschille sang alles, was ihre Stimme, die sich vom lyrischen zum hochdramatischen Sopran entwickelte, hergab. Sie blieb weitgehend eine lokale Erscheinung und wurde lediglich für einige Rundfunkaufnahmen herangezogen, in denen sie sich als tüchtige Kammersängerin erweist. Frauen wie die Zschille waren damals die Stützen jedes Ensembles.

Und auch auf CD gab es den „Rosenkavalier“ von 1950 unter Kempe bei Gala, wenngleich wohl nicht von den originalen Masterbändern/ OBA

Für die Aufnahme, die nach ihrer Urania-LP-Erstausgabe natürlich im Westen bekannt war und auf weiteren Labels kursierte, wurde ihr Margarete Bäumer vorgezogen, die in einer ganz anderen Liga spielte, ihre besten Tage allerdings hinter sich hatte. Sie klingt betulich und bedient das Klischee der alternden Fürstin, die sich aus dem Leben zurückzieht und fortan nur noch „in die Kirch’n“ geht und mit Onkel Greifenklau, der „alt und gelähmt ist“, zu Mittag speist. Auch für die Lemnitz kam die Rolle viel zu spät. Den Jahren nach könnte sie die Großmutter des stürmischen adligen Jünglings aus großem Hause sein, den die Marschallin in Liebesdingen unterweist. Stimmlich ebenfalls. Sie klingt überreif und vermag sich nicht einen Tag jünger zu machen, als sie ist. Ja, es scheint sogar, als verblühte sie mit Fortschreiten der Aufnahme noch mehr. Im Zweiten Aufzug droht sie mit der intriganten Annina verwechselt zu werden, im dritten bekommt ihr der zweifache Rollentausch, dieses raffinierte Markenzeichen der Oper, gar nicht. Sie gurgelt vor sich hin, einer Parodie nahe. Mikrophone sind gnadenlos. Und es stellt sich die Frage, warum nicht die viel jüngere burschikose Christel Goltz, die den Octavian auf der Bühne sang, genommen wurde? Einzig Ursula Richter, deren Geburtsdatum für die Kurzbiographie im Booklet offenbar nicht zu ermitteln war, kommt mit ihrem Sopran der munteren Sophie nahe.

Und der Ochs? Der wurde von Kurt Böhme damals regelrecht in Beschlag genommen. Er hatte ein Abo auf die Rolle, schien darin zu baden und wurde dafür auch von Karl Böhm in der zweiten Gesamtaufnahme aus Dresden, die 1958 für die Deutsche Grammophon entstand, herangezogen. Er ist ein polternder Schwerenöter und als solcher beim Publikum sehr beliebt gewesen. Die Vorstellung, dass mit Ochs ein feister alter Fettwanst aus der entlegensten Provinz in das kaiserliche Wien einfällt, um dort einem vermeintlichen jungen Stubenmädchen unter den Rock zu greifen, hat sich bis heute gehalten. Ochs ist aber auch Opfer. Der steinreiche Armeelieferant Faninal ist scharf wie Dracula auf sein adliges Blut und will nur deshalb seine Tochter mit ihm verkuppeln. In seiner ländlichen Beschränktheit lässt sich Ochs erbarmungslos vorführen. Er ist „diesem Wien“, diesem Schlangennest, nicht gewachsen, sieht die Fallen nicht, die ihm gestellt werden und tapst prompt hinein.

Sogar Highlights aus dem „Rosenkavalier“ 1950 unter Kempe gab es bei Urania/ OBA

Im Entstehungsprozess der Oper haben Strauss und sein Textdichter Hugo von Hofmannsthal der Figur, die nach meiner Auffassung zu ihren genialsten Schöpfungen gehört, viel Aufmerksamkeit gewidmet. Sie war zeitweise sogar als Titel für das Werk im Gespräch und dürfte am meisten zu singen haben. Ausgezählt habe ich die Zeilen allerdings nicht. Ochs ist nach dem Willen der Autoren Mitte dreißig und damit nicht nur dem Alter nach der Marschallin ebenbürtig. Er ist es auch durch seine adelige Herkunft, er ist ein Verwandter, der Vetter. Sie hört seine deftigen Schilderungen des Landlebens im Heu der Ställe nur allzu gern. Ihr gegenüber kann er sich diese ungenierte Offenheit erlauben. Man ist schließlich unter sich. Für ihr eigenes riskantes Liebesleben bevorzugt sie allerdings das seidene Lager des Boudoirs. Böhme ist für mein Gefühl zu eindimensional, zu sehr auf den lüsternen Wüstling festgelegt. Er wirft mit den Speckseiten des reichen Schweinezüchters Zsupán aus dem Zigeunerbaron um sich. Dadurch bietet er die Folie, auf der sich die Marschallin zu vorderst als fromme Dame darstellen kann, die sie nicht ist. In der Aufnahme passiert zumindest akustisch genau das. Wer derlei Überlegungen ausklammert, wem die hörbaren Generationsverschiebungen egal sind, der hält eine stimmungsvolle Einspielung in den Händen, deren Anschaffung unbedingt zu empfehlen ist. Auch mit ihren eingeschränkten Mitteln führen die Bäumer und die Lemnitz an vielen Stellen vor, was mit Noten und Text alles möglich ist. Wie Böhme erfassen sie den wienerischen Ton, welcher der ganzen Opern sein unverwechselbares Flair gibt. Akustisch ist die Aufnahme in ihrer Zeit belassen worden. Sie klingt sehr präsent, gelegentlich etwas robust, an den passenden Stellen herrlich polternd.

Üppig ist die auf feines Papier gedruckte Beilage ausgefallen. Sie enthält allerlei erklärende Texte in Deutsch und Englisch und viele historische Fotos, die allein den Kauf der Box lohnen. Interessant ist auch die spannende Geschichte der Masterbänder, die inzwischen der Mediathek der Sächsischen Landes-, Staats- und Universitätsbibliothek Dresden „zur dauerhaften und sicheren Verwahrung übereignet wurden“. Dass sich Dresden mit der Neuerscheinung auch selbst feiert, nimmt der aufmerksame Leser  nachsichtig zur Kenntnis. Sind „halt a so“, die Dresdner. Einige Beiträge, die eins zu eins aus der bei Sammlern bis heute gesuchten Dresdner Schriftenreihe „Gestaltung und Gestalten“ aus den fünfziger Jahren übernommen wurden, halten heutiger Prüfung nicht stand. In dem Bericht „Wo Richard Strauss lebte“ von Ernst Krause heißt es über seine Villa in Garmisch: „Das Haus Zoppritzstraße 42 wird heute in würdiger Form als Gedenkstätte bewahrt und ist das Ziel der Strauss-Freunde aus der ganzen Welt.“ Abgesehen davon, dass es sich – damals wie heute – um die Zoeppritzstraße handelt, ist das Gebäude mitnichten eine zugängliche Gedenkstätte. Es befindet sich nach wie vor samt originaler Einrichtung in Familienbesitz und kann nur von außen in Augenschein genommen werden, wie mir erst dieser Tage auf Anfrage im Rathaus von Garmisch-Partenkirchen bestätigt wurde. Krauses Beitrag ist ein recycelter Artikel …

„Der Rosenkavalier“ von 1950 unter Kempe in seiner westdeutschen LP-Erstausgabe bei Accanta/ Fonoteam/ OBA

Und wer ist der Autor Ernst Krause? Ein vor allem in der DDR bekannter Kritiker und Musikschriftsteller, der auch eine Strauss-Biographie hinterließ, in der er mit den Verstrickungen des Komponisten mit den nationalsozialistischen Machthabern sehr nachsichtig umging. In seinem oft aufgelegten Buch „Opern A bis Z“ gab er sich – was die Aufführungspraxis anbelangt – gern etwas besserwisserisch und belehrend. Schallplattenaufnahmen der behandelten Werke wurde nur dann angeführt, wenn sie in der DDR offiziell zugänglich waren. Daraus ergaben sich Zerrbilder vom internationalen Musikmarkt. Krause lebte von 1911 bis 1997 und war zeitweise Vizepräsident der Internationalen Richard-Strauss-Gesellschaft. Er war immer in der Staatsoper Unter den Linden anzutreffen und ließ sich freundlich auf Gespräche mit anderen Besuchern ein. Ich selbst erinnere mich gern an solche Begegnungen. Bei den Opern von Strauss war für ihn nichts verhandelbar. Krause plädierte dafür, den Rosenkavalier komplett zu geben. In seinem Opernführer (2. Auflage 1978) lehnt er Kürzungen der so genannten Mädge-Erzählung des Ochs im ersten Aufzug „aus inhaltlich-strukturellen Gründen“ ab. Sie könnten nicht gebilligt werden. Ob ihrer Freizügigkeit hatte diese Szene noch vor der Uraufführung den Unwillen der Intendanz auf sich gezogen. Gutsbesitzer Ochs schildert darin, wie die jungen Mädchen „aus dem Böhmischen herüber“ kämen, nicht nur als Erntehelferinnen. Wie sich das mische, das „junge, runde, böhmische Völkel, schwer und süß“, mit „dem deutschen Schlag scharf und herb wie ein Retzer Wein“. Und überall stehe was und lauere und schleiche zueinander und liege beieinander usw. usf. In der Aufnahme von 1950 sind die besonders gepfefferten Passagen weggelassen. Es bleiben aber noch genug Zeilen stehen, die in anderen Plattenaufnahmen – zum Beispiel in der berühmten EMI-Produktion mit Otto Edelmann unter Herbert von Karajan – weggelassen werden. Insofern haben wir es hier mit einer Mischfassung zu tun, die mir in dieser Form noch nicht untergekommen ist. Im Booklet wird darauf allerdings nicht eingegangen, was schade ist. Rüdiger Winter

Heinrich Dorns „Nibelungen“

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Am Theater Zwickau-Plauen gab es Anfang Mai 2004 eine nicht geringe Sensation: eine Nibelungen-Oper aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, noch vor Wagners Ring, dessen Libretto vom Komponisten nur ein Jahr zuvor im Druck erschienen war. Für jeden Freund der deutschen romantischen Oper ein Muss, war diese Ausgrabung wieder einmal dem rührigen Intendanten lngolf Huhn zu verdanken, der bereits in Freiberg-Döbeln mit diesem Genre überregionale Aufmerksamkeit erregt hatte (so der Rattenfänger von Hameln von Nessler) und später in Annaberg-Buchholz mit Opern von Goldmark und anderen überraschtewir hatten in operalounge.de über Ingolf Huhn und seine hochverdienstvolle Arbeit als Intendant berichtet.

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen“: Gruppenfoto von August Kotsch 1871 mit Heinrich Dorn rechts stehend/ Wiki

Eine Oper wie Heinrich Dorns Nibelungen ist heute absolut vergessen, nur der Titel hat für wenige Kenner überlebt (neben Gades Versuch an diesem Stoff und manchen Balladen der vaterländischen Zeit – 1827 erschien erstmals die neuhochdeutschen Übersetzung von Karl von Simrock des mittelalterlichen Nibelungenliedes von ca. 1200 mit zahlreichen Illustrationen von Julius Schnorr von Carolsfeld und Eugen Neureuther; 1861 kam Hebbels Drama heruas). Nach den Sechzigern des 19. Jahrhunderts hat man keine Note mehr davon gehört, wenngleich zwei Ohrwürmer daraus noch lange in „deutschen Gauen“ von Männer-Chören gesungen wurden. Die Einschätzung der Musik bleibt auch nach dem erneuten Hören schwierig. Gewiss, nicht alles ist große Musik, wenngleich niemand Geringerer als Franz Liszt die Uraufführung in Weimar 1854 betrieb. Manches in dieser Oper ist – wie lngolf Huhn zugab – „nur“ Kapellmeistermusik, zwar professionell orchestriert, aber auch gelegentlich eher Füllmasse. Und nicht immer sind die sehr anspruchsvollen Chöre mehr als große Liedertafelmusik, gerne auch in Parallelführung gehalten.

Aber andere Passagen weisen außerordentlich stimmungsvolle Szenen auf, mit dichter, sowohl erfolgreich martialischer wie auch lyrischer Atmosphäre, z. B. wenn sich die Liebenden (in Akt 3) zu einer sehnsuchtsvoll-zärtlichen Streichermelodie trennen und sich ewige Treue schwören, wenn Siegfried am Bach (dto.) ein liedhaftes Solo schmettert, das unverkennbar auf Schumann und das deutsche Lied hinweist, wenn sich „deutsche“ Schwerter gegen miese Hunnenhorden erheben (Akt 4) oder wenn sich Schwertmaiden empört-frustriert über den Verlust ihrer unbesiegbaren Unabhängigkeit beklagen (Akt 1) – zum Teil in abenteuerlichen Reimen (etwa: „Soweit des Wächters Blicke reichen – der Strand bedeckt mit Trümmern und mit Leichen, oder auch: „Der Sonne Strahl in Purpur glüht, das Schiff die See durchzieht. Hinab, hinab des Ankers Last, die Ruder fort, das Tau erfasst!“). Dies alles in fünf Akten der Großen  Oper  á la  Meyerbeer mit starken Anklängen an Weber (Euryanthe!), Spohr und Marschner, aber auch an Italiener der Zeit und selbst an Wagner, den man in manchen Moment nicht nur in der Dramaturgie  vorweggenommen sieht.

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen“: Szene aus der Plauener Aufführung 2004/ Foto Peter Awtukowitsch

Nicht nur die Orchestrierung und Chorführung sind von einiger Schwierigkeit, auch die Solopartien liegen anspruchsvoll. Die vier Männer-Protagonisten Günther/Tenor, Siegfried/Bariton, Hagen und Etzel/Bässe stammen aus dem üblichen Personal der großen romantischen Oper eines Weber oder Marschner. Die beiden Frauengestalten sind mit Eglantine und Euryanthe verwandt – natürlich auch mit Elsa und Ortrud, zumal die extrem weitreichende Brunhild für Wagners Nichte Johanna konzipiert wurde. In Erinnerung bleiben nach der Aufführung in Plauen die Auftrittsszenen der beiden Frauen, die wunderbaren Duette Brunhild-Chriemhild sowie Siegfried-Hagen und das machtvolle Terzett beim Planen von Siegfrieds Tod. Das Solo Siegfrieds vor seiner Ermordung gehört ebenfalls zu den Höhepunkten der Oper, die es gelegentlich am großen lyrischen Bogen und an erinnerbaren Melodien fehlen lassen mag, die aber als Möglichkeit einer Großen Deutschen Oper dieses Sujets vor Wagner ihre Bedeutung hat. Was aus der deutschen Oper ohne Wagner geworden wäre – hier wird es demonstriert. G. H.

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Heinrich Dorn und Richard Wagner, Leipzig 1830.Man kannte sich aus jungen Jahren. Dorn, Kapellmeister am Leipziger Theater, führte erste Kompositionen des siebzehnjährigen  Wagner  auf, der ihm als „ein wahrer teutonicus“ erschien und „kraftvolle  Schösslinge  zu treiben versprach“. Die Uraufführung einer Wagnerschen  Ouvertüre  in  B-Dur  am  24. Dezember 1830 zeitigte eine unfreiwillig komische Wirkung. „Sie barg“ zwar, wie Dorn sich später erinnerte,“in sich bereits die Keime all‘ der großen Effekte, welche später die ganze musikalische Welt aufregen sollten, ohne aber selbst irgend einen andern Effekt hervorzubringen als den der  absolutesten  Verwunderung“. Und Wagner vermutete dann, wohl nicht zu Unrecht, dass Dorn „sich habe einen Spaß machen wollen“; einen „sich alle vier Takte wiederholenden Paukenschlag nämlich“ zog Dorn an das helle Licht und bestand darauf, „dass der Musiker ihn stets mit der vorgeschriebenen Stärke zur Ausführung brächte“, – das Resultat war ein sich stets steigernder  Lacherfolg beim Publikum.

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen“: Hans Feodor und Rosa von Milde: die Protagnisten der Weimarer Uraufführung/ Foto OBA

Riga 1837. Man traf sich wieder. Dorn war städtischer Musikdirektor, Wagner wurde Kapellmeister am Theater und studierte ein Jahr später Dorns Oper Der Schöffe von Paris ein. „Wenn er am Pult stand“, schrieb Dorn später, „riss sein feuriges Temperament auch die ältesten Orchestermitglieder unbedingt fort.  ‚Immer frisch, immer munter, immer ein bißchen frisch‘, das waren seine Lieblingsrufe“. (…) Auch wenn er Wagners neuen Kompositionen „Beethovensche Durchführung – schöne Gedanken – hochmodernes Außenwerk“ bescheinigt, bleibt doch ironische Distanz. Dass dann Dorn Wagners Flucht aus Riga unterstützt, um – so sah es Wagner – selbst dessen Position einzunehmen, vergiftet beider bis dahin durchaus freundschaftlich-kollegiales Verhältnis. Dennoch war es Dorn, der 1843, nur wenige Monate nach der Dresdner Uraufführung, erstmals Wagners Fliegenden Holländer in Riga einstudierte und der 1856 die Berliner Erstaufführung des Tannhäuser dirigierte.

München 1865. Man begegnet sich nach langen Jahren erneut. Dorn reiste nach München zur denkwürdigen Uraufführung von Wagners Tristan und lsolde. Unbefangen meldet er sich in Wagners Haus zum Besuch an. Wagner ist unangenehm berührt. Über den Tristan hat Dorn dann wenig Rühmenswertes zu berichten. Er apostrophiert die „Ungeheuerlichkeit der Tondichtung“, fragt: „Ist das Poesie? Ist das deutsch? Hat das überhaupt einen Sinn?“, um schließlich zu resümieren: „Das ist die ‚höhere Katzenmusik‘.“

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen“: Szene aus der Plauener Aufführung 2004/ Foto Peter Awtukowitsch

Inzwischen hatte allerdings ein für beide Komponisten entscheidendes künstlerisches Ereignis stattgefunden – die Begegnung mit dem Nibelungen-Stoff, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter Philologen, Dichtern, Malern und Musikern für so viel Aufregung gesorgt hatte. Gänzlich unabhängig voneinander und doch fast zeitgleich gestalteten Dorn und Wagner die Nibelungen als Opernstoff. Franz Liszt, der eigentlich Wagners (noch nicht komponierten) Siegfried in Weimar herausbringen wollte, führte statt dessen Dorns Oper Die Nibelungen am 22. Januar 1854 auf (obwohl er das Werk als einer zur „Neige gehenden Stilart“ zugehörig empfand …). Nach Weimar und Berlin kam Dorns Oper noch in Wien, Königsberg, Breslau, Stettin und Sondershausen auf die Bühne. Ein durchaus achtenswerter Zeiterfolg also (wenn auch dann bis auf den heutigen Tag keine weiteren Einstudierungen mehr folgten).

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Dorn hatte im Nibelungen-Stoff „das interessanteste tragische Opernbuch, welches die deutsche Bühne der Neuzeit aufzuweisen hat“, gesehen und befand sich damit in repräsentativer geistiger Gesellschaft. Er komponierte den Stoff im Rahmen der musikalischen Zeitmode, im Stil der vornehmlich von Meyerbeer geprägten Grand Opéra, zugleich Traditionen der deutschen romantischen Oper aufgreifend. (…)

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Über Wagners Ring weiß sich Dorn nur ablehnend zu äußern, und darin steckt gewiss auch ein verletztes Konkurrenzempfinden, waren seine eigenen Nibelungen doch bereits seit Anfang der 60er Jahre in Vergessenheit geraten. Dorn moniert beispielsweise ausgesprochen national-konservativ (und erahnt ganz richtig Wagners sozial-anarchistische Grundhaltung), „dass Wagners Tetralogie … nach dem Sagenkreis der isländischen Edda und den Fabeln der nordischen Mythologie, aber ganz ohne Rücksicht auf das altdeutsche Heldengedicht gearbeitet ist“. (…) Er kritisiert den „durchaus fremden Stoff, der schon seiner entsetzlichen Rohheit wegen niemals national werden kann. … Wenn solche Darstellungen vorzugsweise ‚deutsch‘ sein sollen, dann dürfen sie wenigstens keinen Anspruch auf das Prädicat ‚künstlerisch‘ machen, und dann würde es auch besser sein, sie wären nicht deutsch … Der Bayreuther Siegfried ist ein Sohn der wissentlich blutschänderischen Umarmung (und in diesem ‚wissentlich‘ liegt das Scheußliche) Siegmund’s des Wälsung und dessen ehebrecherischer Schwester Sieglinde, geborne Wälsung, verheirathete Hunding. … Im Uebrigen sind Wagner’s Nibelungen ein Nationaldrama für Island, und dort würde auch das Moos nicht fehlen.“

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen:  Hagen tötet Siegfried an der Quelle/ Schnorr von Carolsfelds Fresko in der Münchner Residenz/ Wiki

1879 fordert Dorn in einem Aufsatz „Gesetzgebung und Operntext“ gar, Wagners Ring dem soeben von Bismarck erlassenen „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ zu unterwerfen. Verständlich nur, dass auch Wagner gegen Dorn zu Felde zog, wenn auch weit weniger drakonisch. (…) Zwei Musiker – ein Stoff: persönliche Haltungen und künstlerische Ansichten mussten naturgemäß aufeinanderprallen, zumal das Sujet so auffällig ins Zentrum des deutschen Nationalbewusstseins gerückt war. Die Auswirkungen konnten unterschiedlicher nicht sein: Wagners Ring bis heute dominant und allgegenwärtig im Musiktheater, Dorns Nibelungen hingegen seit langem vergessen. Schon darum lohnt eine Wiederbegegnung mit diesem Werk. Eckart Kröplin

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Die Nibelungen: Große Oper in 5 Akten von Heinrich Dorn; Libretto von Eduard Gerber nach der Tragödie „Der Nibelungen-Hort“ (1828) von Ernst Benjamin Salomon Raupach; UA: 22. Januar 1854 am Hoftheater Weimar durch Franz Liszt, Berliner Erstaufführung am 27. März 1854 an der Hofoper, weitere Aufführungen bis in die 60er Jahre in Königsberg, Breslau, Wien , Stettin und Sondershausen. Erstaufführung in moderner Zeit am 8. Mai am Theater Plauen-Zwickau durch lngolf Huhn; Bühne/ Kostüme Marie-Luise Strandt. Zu den Solisten gehörten Judith Schubert, Maria Gessler, Martin Kronthaler, Michael Simmen, Hagen Erkrath, Guido Hackhausen und andere; Georg Christoph Sandmann  dirigierte das Philharmonische Orchester Plauen-Zwickau.

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen“: Heinrich Salomon sang den Hagen in der Uraufführung/ Wiki

Personen: Brunhild, Königin von lsenland – Mezzosopran, Chriemhild, Schwester des Burgunderkönigs Günther – Sopran, Günther, König – Tenor, Siegfried, Thronerbe von Niederland und sein Freund – Bariton, Hagen von Tronegge, Vasall Günthers – Baß, Etzel, König der Hunnen – Baß, Herold der Königin – Tenor, Marschall Dankwart – Baß, Volker von Alzei – Tenor, Ein hunnischer Krieger – Tenor; Ritter, Burgunder, Walküren , Hunnen; Ort/Zeit: Europa um 400 n. Chr.

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Inhalt 1. Akt: Auf lsenland am Hof der Königin Brunhild. Der Burgunderkönig Günther kommt mit Gefolge und seinem Freund Siegfried, um die amazonenhafte Königin Brunhild zu freien. Angesichts ihres Rufes der notorischen Körperstärke, der sich die Freier aussetzen müssen, wird er ängstlich. Da kommt ihm das Angebot seines Freundes, für ihn einzuspringen, gerade recht. Siegfried hat – wie er beiläufig singt – einst einen Drachen erschlagen und ihm einen Tarnhelm abgenommen. Diesen setzt er nun ein, besiegt Brunhild und entwendet ihr einen Ring, den er später seiner Braut Chriemhild schenkt, die er sich als Preis für den Einsatz ausbedungen hatte. Brunhild zieht besiegt mit den Nibelungen ab nach Burgund.

2. Akt: In Worms am Hofe Günthers, zwei Jahre danach. Natürlich kommt es zwischen Chriemhild und der von Liebe nicht gerade erfüllten Brunhild (die ihre Frustration nicht benennen kann) zum Streit, bei dem Chriemhild mit dem Ring des Siegfried (und Brunhilds) prahlt, weil Brunhild sie die Frau eines Vasallen schimpft. Entsetzt erkennt Brunhild die Zusammenhänge und fordert – mit ihrem Mann und Hagen allein – Rache für ihre Schande. Hagen sieht die Ehre des Hauses verletzt und verspricht dessen Tod, zumal Chriemhild ihm die verwundbare Stelle Siegfrieds am Rücken ausgeplaudert hatte. Außerdem soll Hagen den Nibelungenschatz an sich nehmen, den Siegfried verwahrt.

3. Akt. Wenige Tage später. Im ersten Teil nehmen Siegfried und seine Frau zärtlichen Abschied, Chriemhild ist durch einen düsteren Traum verstört und sucht vergebens, ihn von der Jagd abzuhalten. Sie eilt ihm in den Wald nach. Dort (im zweiten Teil) treffen Siegfried und Hagen aufeinander. Hagen spricht von verletzter Ehre und weist Siegfried zur nahen Quelle für einen Trunk. Wie auf den Bildern von Schnorr von Carolsfeld sticht er dem Knieenden den Speer in die Stelle, die das Lindenblatt beim Baden im Blut des Drachens hinterlassen hatte. Siegfrieds Tod rechtfertigt Hagen vor den versammelten Mannen, Chriemhilds Ruf nach Rache wird mit ihrer Verhöhnung durch Günther und Brunhild beantwortet. Da ertönt das Signal des Unterhändlers des Königs der Hunnen, Etzel. Chriemhild wittert ihre Chance zur Rache – Etzel hatte sie schon immer begehrt.

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen“: Illustration zu Simrocks hochdeutscher Erstausgabe 1827 von Schnorr von Carlosfeld/ OBA

4. Akt. Am Hofe Etzels, zehn Jahre später Sie ist die Frau Etzels unter der Bedingung geworden , dass dieser ihr beim Mord an ihrer Familie hilft. Sie hat die Burgunder zu Friedens-Verhandlungen nach Ungarn eingeladen. Alle sind gekommen, auch Brunhild und Hagen.

5. Akt: ebendort, am nächsten Morgen Alle bis auf Hagen sind abgeschlachtet, nur dieser leistet Widerstand und weigert sich, das Versteck des Nibelungenhortes zu verraten – er hat ihn im Rhein versenkt. Rasend erschlägt ihn Chriemhild und setzt die Halle in Brand, um sich anschließend selber zu erstechen. „Enden sollen all‘, bezwungen wie der Stamm der Nibelungen“.

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Der Autor, der Musikwissenschaftler  Eckardt Kröplin/EK

Eine Zeittafel:  Heinrich Ludwig Egmont Dorn – Daten zu seinem Leben 1804: Am 14. November in Königsberg geboren; 1823 Beginn des Jurastudiums in Königsberg. In der Folgezeit Reisen nach Leipzig, Dresden (Bekanntschaft mit Weber) , Prag, Wien und Berlin. Hier Klavier- und Kompositionsschüler von Ludwig Berger, Carl Friedrich Zelter und Bernhard Klein; 1826 Uraufführung von Dorns Oper Rolands Knappen in Berlin; 1827 Uraufführung von Dorns Oper Der Zauberer und das Ungetüm in Berlin. Dorn geht als Kapellmeister an das Theater in Königsberg Uraufführung von Dorns Oper Die Bettlerin in Königsberg; 1827-1832 Dorn wirkt als Kapellmeister am Leipziger Theater. Robert Schumann ist Schüler von Dorn. Dorn bringt erste Werke des 17jährigen Richard Wagner zur Uraufführung; 1831 Uraufführung von Dorns Oper Abu Kara in Leipzig;  1832 Dorn wird Städtischer Musikdirektor in Riga; 1837 Richard Wagner kommt als Theaterkapellmeister nach Riga; 1838 Am 1. November in Riga Uraufführung von Dorns Oper Der Schöffe von Paris in Wagners Einstudierung und unter dem Dirigat von Dorn 1839 Dorn wird Nachfolger Wagners als Theaterkapellmeister in Riga 1841  Uraufführung von Dorns Oper Das Banner von England in Riga; 1843 Am 3. Juni Erstaufführung von Wagners Oper Der fliegende Holländer durch Dorn in Riga (erste Aufführung nach der Dresdner Uraufführung vom 2.1.1843); Dorn geht in der Nachfolge von Conradin Kreutzer als Theaterkapellmeister nach Köln; 1844 -1847 Dorn leitet die Niederrheinischen Musikfeste; 1845 Gründung der Rheinischen Musikschule in Köln durch Dorn (sie wurde dann unter Dorns Nachfolger Ferdinand Hiller Konservatorium); 1849 Dorn wird zum Königlichen Kapellmeister an der Berliner Hofoper berufen (als Nachfolger von Otto Nicolai); 1854    Am 22. Januar Uraufführung von Dorns Oper Die Nibelungen in Weimar durch Franz Liszt; Am 27. März Erstaufführung der Nibelungen an der Berliner Hofoper 1856   Am 7. Januar dirigiert Dorn die Berliner Erstaufführung von Wagners Tannhäuser; Uraufführung von Dorns Oper Ein Tag in Rußland in Berlin; 1865 Dorn reist nach München und nach Paris zu den Uraufführungen von Wagners Tristan und lsolde und Giacomo Meyerbeers Africaine; Uraufführung von Dorns Oper Der Botenläufer von Pirna in Berlin; 1869 Verleihung des Professorentitels und Pensionierung; 1879 Dorns Schmähschrift gegen Wagner „Gesetzgebung und Operntext“ erscheint 1892;  Am 10. Januar stirbt Dorn in Berlin

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Den Artikel  von Eckart Kröplin, dem ehemaligen Chefdramaturgen des Theaters Zwickau-Plauen, Hochschul-Professor in Leipzig und renommierten Musikwissenschaftler, sowie die Zeittafel und die Inhaltsangaben entnahmen wir mit großem Dank an Professor Kröplin mit Kürzungen dem Programmheft zur Aufführung in Plauen und Zwickau 2004. Dank an Caroline Eschenbrenner vom Theater Zwickau-Plauen für die Fotos und ebenfalls Dank an Wolfgang Denker für die Archiv-Recherche. Einführung und Redaktion Geerd Heinsen.

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Zu Dorns Oper „Die Nibelungen“: Vogtlandtheater Plauen/ Theater Plauen

Dazu auch eine Original-Kritik zu der Plauener Aufführung am 8. Mai 2004 – Germanisches  vor Wagner: Wie vielleicht die deutsche Opern-Welt ohne Wagner geklungen hätte, zeigte sich in Plauen am 8. 5. lngolf Huhn ist hier der neue (natürlich aus Freiberg-Döbeln bekannte ehemalige) Intendant mit dem besonderen Interesse am früheren neunzehnten Jahrhundert. Er führte, wie bereits u. a. mit Lortzings oder Nesslers Opern, wieder einmal vor, was wir alles  nicht kennen. Für diesen erneuten Blick auf unsere eigene opern-kulturelle Vergangenheit kann man ihm nicht genug danken. Danken muss man ihm vor allem für die prächtig besetzte Ausgrabung der Nibelungen von Heinrich Dorn (1854 und damit weit vor Wagners „Ring „). Wer kennt den Namen noch? Nur der Opern-Titel geistert durch die Wagner-Rezeptionsgeschichte, denn Nibelungen vor Bayreuth? Der aus Berlin angereiste Besucher freute sich erst einmal über die hübsche Stadt Plauen mit ihren eindrucksvollen Jahrhundertwende-Häusern und großzügigen Straßen, dann aber auch über das kleine, elegante Opernhaus in Creme, Gold und Rot – ein geschmackvoll renoviertes Theater mit guter Akustik und liebenswürdiger Atmosphäre.

Und der Gast war auf die hohe Qualität der Aufführung von rund drei Stunden nicht vorbereitet – als Hauptstädter neigt man doch leider manchmal zu einer gewissen Hochmütigkeit gegenüber der „Provinz“, zumal in einem kleinen Haus, das sich nun aber als Hochleistungsträger entpuppte und schnöde Gedanken beschämte. Denn sowohl das Philharmonische Orchester unter dem rasanten jungen GMD Georg-Christian Sandmann wie auch der tapfere Chor (Eckehard Rösler) brauchten den Vergleich mit ranghöheren Theatern nicht zu scheuen. Hier wurde mit Liebe, mit Schmiss und mit vollem Einsatz musiziert. Sandmann hielt die Seinen zu brisken Tempi und zu knalligen Tutti an, ließ die meist parallel laufenden Stimmen in Chor und Orchester voll ausspielen und einen sonoren, romantischen Klang hören. Der sinnliche Streicherteppich zu Beginn des dritten Aktes, die martialischen Kampfszenen im vierten oder die schönen Ensembleszenen wie etwa zum Ende des zweiten Aktes evozierten dichte Stimmung und ein typisch „deutsches“ Idiom in der Rückschau auf Weber (Euryanthe) und Marschner (Templer), aber auch im Vorgriff auf Wagner selbst (Lohengrin, Tannhäuser, Holländer). Auch war es ein Gewinn, deutschsprachige Stimmen absolut wortverständlich und idiomatisch zu erleben (und die zwei Ausnahmen fügten sich unmerklich dem hinzu).

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen“: Szene aus der Plauener Aufführung 2004/ Foto Peter Awtukowitsch

Das Ensemble hätte nicht treffender sein können und lässt den Hut tief ziehen vor der sorgfältigen Auswahl und der Qualität! Drei wirklich sensationelle dunkle Männerstimmen und zwei herausragende lyrisch-dramatische Soprane findet man selbst an großen Häusern nicht ohne Schwierigkeit. Hier, in Plauen (und später dann in Zwickau) prunkte das Haus damit. Judith Schubert (zwar Amerikanerin, aber doch ganz unmerklich und mit bester Diktion) durchmaß die für Wagners Nichte Johanna geschriebene mörderische Partie der Brunhild mit fabelhaftem „Peng“ und traumhafter Sicherheit, führte in den Ensembles mit leuchtender Ortrud-Stimme und schöner Präsenz: eine sensationelle  Leistung. Ihre „Gegenspielerin“ Chriemhild war mit Maria Gessler interessant und hochaktiv besetzt. Es ist wahr – das Ganze liegt der eher viel lyrischeren Stimme zu hoch und ist ihr natürlich auch viel zu dramatisch (namentlich der Elsa-nahe Schluss), aber sie setzte ihre Mittel professionell ein, und wenn sie nicht zu sehr drückte (wo die sehr helltimbrierte Stimme zum Grellen neigt, namentlich in der hier dann doch knapp werdenden Höhe), hatte sie weite Passagen von lyrischer Innigkeit, zumal sie eine attraktive Frau mit schönen roten Haaren ist (aber man möchte ihr doch lyrischere Partien raten…). Die dunkle Herren-Trias war – schlicht gesagt – ,,eine Wucht“! Der elegante Siegfried des Martin Kronthaler glänzte mit liedhaftem legato, mit schönstem, individuellem Timbre (namentlich in seiner Soloszene zu Beginn des zweiten Teils vom 3. Akt), mit angenehmer, spielfreudiger Erscheinung und natürlich mit bereits erwähnter Textdeutlichkeit. Hier steht ein Wolfram, ein Posa, ein Figaro von Rang! Auch Hagen Erkrath fiel als Namensbruder Hagen mit seinem gutgeführten, markanten und aussagekräftigen Bassbariton auf, auch er ein Gewinn für jedes Haus. Und schließlich gab es mit Hasso Wardeck einen hochpräsenten, sonoren ebenso wie „bedrohlich“ klingenden König Etzel, an dessen Hof sich auf Chriemhilds Betreiben das Schicksal der Nibelungen erfüllt. Dass diese nun von dem stimmlich recht schwachbrüstigen Guido Hackhausen (als König Günther, hier mit mit -ü-) angeführt wurden, ist vielleicht dem Mangel an geeigneten Tenören besonders für kleine Häuser zuzuschreiben, wo man eben alles (oder zumindest vieles) singen und besetzen muss. Aber auch er machte  viel aus seinem hierfür begrenzten lyrischen(!) Medium und ließ eine außerordentliche und werkdienliche Textdeutlichkeit hören. Die übrigen Rollen waren mehr als zufriedenstellend verteilt. Werner Rautenstengel,  Tara Iva Niv, Michael Simmen und Hasso Wardeck waren Comprimari  von Präsenz  und Kapazität, mehr als angenehm!

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen“: Szene aus der Plauener Aufführung 2004/ Foto Peter Awtukowitsch

Die Inszenierung wurde dem Werk und dem vaterländischen Pathos des Ganzen weniger gerecht. Bei aller Hochachtung vor dem regieführenden Hausherrn Ingolf, aber seine Sicht (optisch ausgeführt von Marie-Luise Strandt, alte Mitkämpferin von Ruth Berghaus und eben deren Ansatz immer noch verpflichtet) schien mir zu sehr in der überdetaillierten, alten und heute wirklich verstaubt-komisch wirkenden DDR­ Schule eines Herz oder Kupfer verhaftet. Das Geschehen (wieder mal!) in die Entstehungszeit der bösen Junker zu verlegen, die „Herrschenden“ in weiße Bismarck-Militär-Mäntel zu hüllen, die Gibichungenhalle zum Lortzingschen Teekränzchen chez Chriemhild zu denunzieren, Könige durch Kriechen auf dem Bauch zu demütigen – das dient dem Werk nicht, dessen zugegeben angestaubtes vaterländisches Pathos dadurch ziemlich humoristisch wirkte (drastisch darin von den abenteuerlichen Reimen des Librettos unterstützt).

Ausgräber des Seltenen – der Annaberger Intendant Ingolf Huhn/EVWTAB

Da wurde zu vieles zu (klein?)bürgerlich und zu tendenziös-­postsozialistisch angegangen. Eine leere Bühne und phantasievollere Kostüme hätten gereicht. Aber im Ganzen waren diese Irritationen eher zu vernachlässigen, denn die Optik störte nicht wirklich (man seufzte nur dann und wann…), und die Personenregie war zumindest plausibel-straightforward wie die Handlung auch. Was bleibt ist der Eindruck von einer Großen Oper, von heroischer Musiksprache, von fabelhafter Orchestrierung. Und wenn vielleicht nicht gerade geniale Erfindung vorherrschte, so hörte man doch ein typisch deutsches Idiom aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, das sich durch reichen Klang, durch gutgestrickte Ensembles und Chorszenen und durch schöne, atmosphärische Momente auszeichnet. Und durch ein prachtvolles Ensemble auf der Bühne wie im Graben. Was will man mehr? Geerd Heinsen

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Hasse-Bereicherung

 

Johann Adolf Hasses Dramma per musica Attilio Regolo auf das Libretto von Metastasio – eine Produktion der Dresdner Musikfestspiele von 1997 – hat Profil Hänssler in ihrer Semperoper Edition als Vol. 11 auf 3 CDs herausgebracht (PH 07035). Die Ausgabe ist aufwändig ausgestattet mit zwei Beiheften, in welchen sich ein ausführlicher Einführungstext mit schönern historischen Abbildungen und das komplette Libretto finden. Allerdings gibt es darin auch einige orthografische Ungenauigkeiten („Konzertanten Aufführung…“) sowie ein strittiges Aufführungsdatum. (Die hier verwendete Live-Aufnahme mit mdr-Logo auf dem Cover ist laut Booklet S. 26 der 22. Mai, die Firma Hänssler selbst nennt auf Nachfragen den 21. Mai, während sich in den Archiven der Sammler zwar die Radioübertragung vom 22. Mai findet, die aber einen anderen Titelhelden aufweist: Derek Lee Ragin! Woher stammt also die Hänssler-mdr-Aufnahme mit Axel Köhler in der Titelpartie?  Eine Flickarbeit? Ein Reservetape der Generalprobe? Zumindest hat Derek Lee Ragin die offizielle Rundfunkübertragung am 22. Mai gesungen, wie nachzuhören ist. G. H.)

Frieder Bernius dirigiert die Cappella Sagittariana Dresden, die seit 1972 gleichermaßen auf modernen wie historischen Instrumenten musiziert und 1992 erstmals bei den Dresdner Musikfestspielen auftrat. Werke von Hofkomponisten der Elbmetropole (Hasse, Naumann, Zelenka) standen von  Beginn an im Zentrum der künstlerischen Tätigkeit des Ensembles. Mit Hasses L’Olympiade begann 1992 der Festspielreigen, es folgten seine Artemesia und der hier dokumentierte Attilio Regolo von 1997, der den Konflikt dieses ehemaligen römischen Konsuls, der sich jetzt in karthagischer Gefangenschaft befindet, beschreibt. Ihm droht der Tod, sollten die Römer die Forderungen der Karthager nicht annehmen. Attilio überbringt diese als Gesandter, empfindet diese jedoch als unehrenhaft und kehrt zurück nach Karthago in den sicheren Tod.

Mit Bernius, einem Spezialisten der Alte-Musik-Szene, wirkt ein kompetenter Dirigent am Pult, der ein Affekt betontes, farbiges Spiel garantiert und die Besetzung sicher führt. An ihrer Spitze steht Axel Köhler, der die Titelpartie kurzfristig für Derek Lee Ragin übernommen hatte (daher gab es wohl auch eine Art Reserveaufnahme beim mdr). Wie anspruchsvoll und herausfordernd diese Verpflichtung war, erklärt sich aus dem Fakt, dass der gefeierte Kastrat Domenico Annibali in der Dresdner Uraufführung als Titelheld brilliert hatte. Der Countertenor, in der DDR ein Publikumsliebling neben Jochen Kowalski, hat am Ende des 1. Aktes seinen ersten Auftritt mit „Non perda la calma“ und absolviert ihn sicher und mit angenehmer, persönlicher Tongebung. In den Arien „Taci“ und „Non tradir“ im 2. Akt kann er effektvolle tiefe Töne einsetzen, mit denen er an seine Vergangenheit als Bariton erinnert.

Ähnlich prominent besetzt in der Kreation des Werkes war die Rolle der Attilia, Regolos Tochter, mit Faustina Bordoni (Hasse). In der konzertanten Dresdner Aufführung 1997 singt Martina Borst (deren Biografie im Booklet fehlt). Sie begann ihre Laufbahn am Nationaltheater Mannheim und trat vorwiegend in Mozart- und Rossini-Partien auf. Ihr heller Mezzo klingt recht anonym und in der Auftrittsarie „Goda con me“ schwerfällig. Auch für die zweite Arie, „Mi parea del porto“, ein Gleichnis über Meer und Sturm, fehlt ihr die erforderliche Attacke. Den günstigsten Eindruck hinterlassen „Non e la mia speranza“ gegen Ende des 2. Aktes und „Vuol tornar la calma“ im 3. Akt durch ausgeglichene, ansprechende Stimmführung. Eine zentrale Rolle fällt dem Tenor als römischer Volkstribun Manlio zu, die Markus Schäfer souverän ausfüllt. Die Partie nimmt in ihrem heroischen Aplomb Mozarts Tito vorweg und der Sänger wird diesem Anspruch mit vehementem Stimmeinsatz gerecht, auch wenn einzelne exponierte Töne ihn an seine vokale Grenze führen. Glänzend gelingt ihm die von Ruhm und Ehre kündende Arie „Oh qual fiamma“. Regolos Sohn Publio war schon bei der Uraufführung als Hosenrolle konzipiert und wird hier interpretiert von Sybilla Rubens. Der Sopran gefällt in der munteren Auftrittsarie „Se più felice“ mit seinem schlanken Fluss und lieblichen Ton. „Ah – se provar“ im 2. Akt, das sich als Treuebekenntnis an den Vater richtet,  weiß die Sängerin mit innigem Gefühl wiederzugeben. Publio ist verliebt in seine Sklavin Barce, einst eine vornehme Karthagerin, die Carmen Fuggis zuverlässig wahrnimmt. Mit ihrer Arie „Sempre è maggior“ endet der 1. Akt in gefälliger Koketterie. Mit dem bewegten„S’espone a perdersi“ beendet sie auch den 2. Akt und gefällt hier mit munteren Koloraturketten und gekonnten Ausflügen in die Extremhöhe. Schließlich fällt ihr auch im 3. Akt mit dem lieblichen „Ceder l’amato oggetto“ das letzte Solo zu, mit dem die Sopranistin einen reizenden Schlusspunkt setzt. Verlobt ist Barce mit dem karthagischen Botschafter Amilcare, als der mit Randall Wong ein Sopranist zu hören ist. Seine Arie im 1. Akt („Ah se ancor mia“) ist gestrichen (obwohl im Libretto abgedruckt), so kann er nur mit einem Auftritt („Fá pur l’intrepido“ im 3. Akt) wirken. Die helle, hohe Stimme mit kindlicher Anmutung überzeugt in dieser erregten Nummer durch vehementen Einsatz und bravouröse Bewältigung der virtuosen Anforderungen. Einen dunklen Farbton bringt Michael Volle, inzwischen ein gesuchter Wagner- und Strauss-Sänger, als römischer Volkstribun und Attilias Verlobter Licinio ein. Die Stimme klingt hier noch sehr schlank und flexibel, wirkt stilistisch keineswegs als Fremdkörper. Alle Sänger vereinen sich im Finale harmonisch zum Chor der Römer, die Attilio als dem Helden Roms einen würdigen Abschied bereiten.

Die Live-Veröffentlichung (einschließlich reichem Applaus und gelegentlichem Husten) schließt eine Lücke in der Hasse-Diskografie und ist deshalb hochwillkommen. Bernd Hoppe

Statisch zauberhaft

 

Jean-Philippe Rameau hat drei Versionen seiner dritten Tragédie en musique Dardanus in fünf Akten und einem Prolog hinterlassen. Die Uraufführung 1739 erlebte mindestens 26 Aufführungen, 1744 gab es eine radikale Umarbeitung, 1760 zusätzlich eine überarbeitete Wiederaufnahme. Für die vorliegende Aufzeichnung aus der Opéra national de Bordeaux vom April 2015 wählte man eine Mischfassung, die überwiegend auf der Erstfassung beruht und die man mit dem Prolog sowie wenigen einzelnen Nummern von 1744 ergänzt hat. Dardanus, ein Sohn Jupiters, ist der Gründer Trojas. Im Mittelpunkt der Oper steht die Liebe zwischen ihm und Iphise (der Tochter des mit Dardanus verfeindeten Königs Teucer), die beide zu Beginn nicht wissen, dass sie vom anderen ebenfalls geliebt werden. Teucer verspricht die Hand seiner Tochter dem verbündeten König Anténor. Mit Hilfe des Zauberers Isménor kann Dardanus Iphise treffen, mit Hilfe von Venus wird alles gut. Dardanus rettet Anténor vor einem Ungeheuer, dieser verzichtet auf Iphise, Teucer lenkt ein und gibt nach – ein glückliches Ende. Eine übersichtliche Geschichte, die nur durch Zauberei und göttliche Eingriffe vorankommt, „das Wunderbare bestimmt die Handlung dieser Dichtung … es wird vielleicht allzu verschwenderisch davon Gebrauch gemacht„, soll der Librettist damals schon bemerkt haben. Die Figuren bleiben zu blutleer und statisch, es entwickelt sich fast nichts, doch das

Magische eröffnet die Möglichkeit des Zauberhaften und Phantasievollen, und das steht im Zentrum dieser Aufnahme, die in der Box sowohl auf DVD als auch auf BluRay (inklusive 20 Minuten Bonusmaterial, überwiegend Probenausschnitte und Gespräche mit den Beteiligten) enthalten ist. Knapp drei Stunden dauert die Aufzeichnung, ein dreißig minütiger allegorischer Prolog ohne wesentlichen Bezug zur Handlung eröffnet das Werk; wenn die Handlung beendet ist, geht die Oper noch 20 Minuten weiter. Neben der schmalen Handlung gibt es einige Chorszenen und viele instrumentale Stellen für Tänzer. Es gibt in Dardanus keine Entwicklung entlang der Affektbandbreite – ein Mangel, der schon früh bei der Aufführung französischer Barockopern die italienische Kritik auslöste, es handele sich nicht um ein  Drama, sondern um eine Maskerade. Der berechtigte Vorwurf ist aber auch eine Eigenart, die der Regisseur Michel Fau als Stärke betonen will. Die Regie verfolgt kein zusätzliches Konzept, das man verstehen muss, keine Szene weist über sich hinaus, es gibt keinen zusätzlich integrierten roten Faden oder Wink mit dem Zaunpfahl. Dem Publikum wird vielmehr ein Zugang über die Sinne ermöglicht, man setzt auf Phantasie und Verzauberung und will so einen Zugang zum zauberhaften Sujet der Oper eröffnen. Die französische Barockoper ist dekorativ, die auffälligen Kostüme von David Belugou sind inspiriert von der damaligen Zeit und von barocken Opernkostümen, Venus hat das Frivole der Louis XV-Epoche. Dazu gibt es einige gemalte Bühnenbilder (Bühne: Emmanuel Charles) sowie Lichteffekte und starke Farbeindrücke mit gelegentlich Bonbon-bunten Neigungen. Visuell setzt man ganz auf Stimmungen und Gestimmheit, um die Dürre des Geschehens zu transformieren, der Prolog ist opulent und etwas kitschig, die großartige Traumszene des 4. Akts tänzerisch nachtverloren. Der Wechsel von Handlung, Chor und Ballett ist von Rameau nicht auf Spannung angelegt und soll es hier auch nicht sein. Die Bildregie leidet unter dieser statischen Verzauberung, sie kann oft nur Gesichter und Körper zeigen, in der Totalen passiert wenig, (abgesehen von den nicht immer originell wirkenden Tanzszenen des Choreographen Christopher Williams) und man kann vermuten, dass Dardanus als Stimmungsinszenierung live mehr hergab als in der Konserve der Aufzeichnung. Dennoch hat man hier eine bemerkenswerte Umsetzung, wenn man sich auf diese Herangehensweise des Lyrischen, Verträumten und Bunten einlassen und Dardanus auf sich wirken will. Das Orchester hat in Dardanus viele sängerlose Passagen und steht mehr als sonst bei einer Abfolgeoper aus Rezitativ und Arie im Fokus des Zuhörens. Raphaël Pichon dirigiert die sehr gut aufgelegten Chorsänger und das Orchester seines Ensembles Pygmalion und setzt dabei auf rhetorische Deutlichkeit und flüssige Tempi ohne Neigung zu aufgesetzten Effekten. Die Wahl der Sänger ist durchweg ohne Schwächen und rollendeckend, die Herausforderung bei Rameau liegt nicht in virtuosen Koloraturen, sondern im rhetorischen Ausdruck des französischen Sprechgesangs. Der Prolog gehört Karina Gauvin, die als sinnliche Venus charmant und wohlwollend eingreift, Mezzosopran Gaëlle Arquez ist beeindruckend und souverän als unglückliche Iphise, Tenor Reinoud van Mechelen in der Titelrolle als Dardanus hat seine schönste Arie im 4. Akt, in dem er die Arie „Lieux Funestes“ (aus der Fassung von 1744) hingebungsvoll singen darf. Stark besetzt sind die tiefen Männerstimmen: Bassist Nahuel di Pierò als Teucer und Isménor und Bariton Florian Sempey, der als Anténor seiner Figur ein durchgängiges Entsetzen darüber verleiht, was man ihm alles zumutet. Die anmutig singende Katherine Watson nimmt mehrere kleine Rollen ein (Amour, Une Bergère, Bellone, Un Songe), dazu sind Ètienne Bazola (Un berger) sowie in der Traumszene Giullaume Gutiérrez und Virgile Ancely dabei. (1 DVD + 1 BluRay, harmonia mundi, HMD 9859051.52) Marcus Budwitius

„Lieder sind wie kleine Opern“

 

Die Sopranistin Hanna-Elisabeth Müller ist auf dem Weg zu einer Weltkarriere. Für operalounge.de sprach Corina Kolbe mit ihr über internationale Debüts, die Arbeit mit Kirill Petrenko und ihre erste Solo-CD bei belvedere mit spätromantischen Liedern.

 

Hanna-Elisabeth Müller: Zdenka in München mit Joseph Kaiser/ Foto Wilfried Hösl

Sie feiern zurzeit einen Bühnenerfolg nach dem anderem. Nach Ihrem Einstand als Marzelline in Fidelio an der New Yorker MET waren Sie im Mai erstmals an der Mailänder Scala zu erleben. Das war zugleich Ihr Rollendebüt als Donna Anna in Mozarts Don Giovanni.  Eine meiner absoluten Lieblingsopern! Vielleicht ist das sogar die beste Mozart-Oper überhaupt. An der Bayerischen Staatsoper, wo ich bis zum Ende der Spielzeit 2015/16 festes Ensemblemitglied war, hatte ich schon die Zerlina gesungen. Mit der Partie der Donna Anna bin ich einen großen Schritt weiter vorangekommen. Außerdem übernehme ich bei meinem Debüt am Opernhaus Zürich Anfang nächsten Jahres die Rolle der Ilia in Idomeneo.

Wie hat das Mailänder Publikum reagiert? Italiener sind für ihre große Opernleidenschaft bekannt. Die Atmosphäre im Theater hat mich sehr beeindruckt. Ich hatte das Gefühl, dass die Oper für alle Zuschauer eine Herzenssache ist. Einige von ihnen haben sogar mitgesungen, offensichtlich kannten sie die Arien auswendig. In Deutschland erlebt man das wahrscheinlich nicht so oft.

In Berlin sind Sie kürzlich in Mahlers Vierter Sinfonie mit dem Deutschen Symphonie-Orchester unter Robin Ticciati aufgetreten. Auch das war ein Debüt. Richtig, die Sinfonie habe ich zum ersten Mal mit einem Berliner Orchester gesungen. Das Schwierige daran ist, dass ich bis zum letzten Satz warten muss. Damit alles punktgenau klappt, muss ich im richtigen Augenblick hochkonzentriert sein. Dass man in einer solchen Situation etwas nervös wird, ist wohl ganz normal. Ich hatte erst auch ein bisschen Bedenken, weil ich nicht mittig am Bühnenrand, sondern seitlich im Orchester stand. Dann hat aber alles bestens geklappt. Die Akustik der Berliner Philharmonie ist einfach phänomenal.

Hanna-Elisabeth Müller: Marzelline an der Met mit Adrianne Pieczonka/ Foto Ken Howard/MetOpera

Wo sehen Sie hier die größten Herausforderungen für eine Sopranistin?  Für einen Sopran liegt das Stück eher ungewöhnlich. Es wird daher oft von Mezzosopranen gesungen. Der Gesang ist nicht auf hohe Töne ausgerichtet, man braucht dafür auch viel Tiefe. Vom Brustregister muss man den Übergang zu den engelhaften Pianostellen schaffen, die am Ende der Liedstrophen stehen. Diese wunderschönen leisen Passagen haben etwas Ätherisches an sich.

Nach vier Jahren im Ensemble der Bayerischen Staatsoper sind Sie jetzt freischaffend tätig. Alle Brücken nach München haben Sie deswegen aber nicht abgebrochen. Ich bin glücklich, dass ich von vielen Seiten tolle Angebote erhalte und von der Staatsoper weiterhin als Gast eingeladen werde. Dem Haus bin ich nach wie vor mit dem Herzen verbunden. Im Herbst gehe ich mit dem Bayerischen Staatsorchester als Pamina in der Zauberflöte auf Japan-Tournee. Im nächsten Frühjahr singe ich dann unter Leitung von Kirill Petrenko die Sophie im Rosenkavalier in München und in der Carnegie Hall in New York. Und im Sommer 2018 kehre ich als Zdenka in Arabella nach München zurück.

Hanna-Elisabeth Müller: Donna Anna/ „Don Giovanni“ mit Bernard Richter/ Foto BresciaAmisano/ Teatro alla Scala

Welche Erfahrungen haben Sie mit Kirill Petrenko gemacht? Petrenko ist ein Traumdirigent für das Opernhaus. Wenn er sein Amt als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker übernimmt, werden es die Münchner sicherlich tief bedauern. Als Dirigent ist er überaus detailgenau, klug und aufmerksam. Auf Absprachen mit ihm kann man sich als Sänger hundertprozentig verlassen. Man geht auf die Bühne und ist beruhigt. Ich habe die Arbeit mit ihm immer genossen.

Wie sind Sie überhaupt zum Singen gekommen? In unserer Familie hat Musik von Anfang an eine große Rolle gespielt. Meine Eltern sind leidenschaftliche Konzertgänger, und wir Kinder durften alle ein Instrument lernen. Bis ich Gesangstunden nahm, spielte ich Geige. Zu Hause bekam ich immer viel moralische Unterstützung, sodass ich frei und ohne Zukunftsängste in mein Studium starten konnte. Und gleich nach meinem ersten Vorsingen kam ich in das Opernstudio der Bayerischen Staatsoper. Mit meinen Lehrern hatte ich immer großes Glück. Gerade wenn man jung ist, braucht man jemanden, der einem behutsam dabei hilft, die eigene Stimme zu formen und vor Verletzungen zu bewahren.

Welche Rolle hat das Lied für die Entwicklung Ihrer Stimme gespielt? Beim Label belvedere ist gerade Ihre erste Solo-CD „Traumgekrönt“ mit Stücken von Richard Strauss, Arnold Schönberg und Alban Berg erschienen. Meine Stimme ist am Liedrepertoire gewachsen. Erst kurz vor dem Vorsingen an der Staatsoper hatte ich angefangen, Opernarien einzustudieren. Beides ergänzt sich meiner Ansicht nach sehr gut. Lieder sind wie kleine Opern, in die man viele Farben hineinbringen kann. Andererseits sind die Piano-Nuancen, die man beim Liedvortrag gestaltet, auch eine Bereicherung für die Opernpartien. Die Stimme wird dadurch facettenreicher.

In der Oper treten Sie in einem größeren Rahmen auf. Was empfinden Sie, wenn Sie als Liedsängerin den gesamten Abend über im Mittelpunkt stehen? Bei solchen Auftritten habe ich kein Orchester hinter mir und ich kann mich weder in einem Kostüm noch in Requisiten verstecken. Man ist ganz nah beim Publikum, sodass eine intime Atmosphäre entsteht. Die Vorbereitungen für Liederabende sind besonders intensiv, weil man das Programm selbst zusammenstellt und auf die richtigen Übergänge zwischen den Stücken achten muss.

Hanna-Elisabeth Müller und die Pianistin ihrer neuen CD bei belvedere, Juliane Ruf/ Foto Chris Gonz

Wie haben Sie das Repertoire für Ihre neue CD ausgewählt? Bei meiner Suche bin ich auf viele wunderschöne Melodien und Gedichte gestoßen, auch wenn manche Texte bei Strauss für meinen Geschmack etwas zu lieblich sind. Die spätromantischen Lieder von Schönberg und Berg liegen mir schon lange am Herzen. Besonders gefällt mir das Rilke-Gedicht „Traumgekrönt“, das Berg in seinen „Sieben frühen Liedern“ vertont hat. Und bei Strauss finde ich die Art, wie er für die Stimme komponiert hat, wohltuend natürlich. Interessant ist auch, dass in seinem Lied „Malven“ kantige Harmoniefolgen zu hören sind, die ich gar nicht erwartet hätte. Mir ist bewusstgeworden, wie nahe diese drei Komponisten beieinander sind.

Verraten Sie uns zum Schluss noch ein besonderes Rezept, um die Stimme in Form zu halten? Ich versuche eigentlich, so normal wie möglich zu leben. Weder zu gesund noch zu ungesund. Manchmal packt mich allerdings das Grauen, wenn alle Menschen um mich herum husten. Sport und ausreichender Schlaf sind in jedem Fall wichtig. Und Alkohol ist für mich absolut tabu, wenn ich am nächsten Tag Probe habe. Außerdem gehe ich nicht gern auf laute Partys, wo sich alle gegenseitig anschreien. Ein paar Stunden laut zu sprechen, ist für mich anstrengender, als zwei Konzerte zu singen (Foto oben: Hanna-Elisabeth Müller im Studio/ © Chris Gonz Teldex Studio Berlin).

Historienpflege

 

Die erfreuliche Knappertsbusch-Renaissance geht weiter. Wohl kein Label setzte sich in den letzten Jahren so intensiv für den „Kna“ ein wie Orfeo. Dies verdient an dieser Stelle gesondertes Lob. Zuletzt erschienen die Bayreuther Meistersinger von 1960 (C 917 154 L); erstmals in bestmöglicher Tonqualität), der Münchner Lohengrin von 1963 (C 900 153 D); gleichsam der Heilige Gral in der Diskographie) und eine Doppel-CD mit Werken von Beethoven, darunter die siebte Sinfonie und das vierte Klavierkonzert (C 901 162 B / als Solist brilliert Wilhelm Backhaus). Nun also eine weitere Ausgrabung, diesmal aus dem Archiv des WDR: zwei Konzertmitschnitte aus dem Kölner Funkhaus von 1962 und 1963, somit der Spätphase dieses Dirigenten. In Köln am Rhein war Hans Knappertsbusch, verglichen mit München und Wien, eher selten zu Gast. Immerhin liegt bereits seit einem Jahrzehnt eine weitere Platte mit Wagners SiegfriedIdyll und Brahms‘ vierter Sinfonie vor – natürlich ebenfalls bei Orfeo, möchte man beinahe hinzufügen (C 723 071 B). Die Neuerscheinung (C 916 172 A) ist für den Sammler indes nicht wirklich so neu, waren die nunmehr präsentierten Aufnahmen doch schon seit langem anderweitig greifbar. Neu ist, dass sie diesmal klanglich aufbereitet wurden, da auf die Originalbänder zurückgegriffen werden konnte. Wunder darf man sich nicht erwarten, handelt es sich doch ausschließlich um Mono-Produktionen (wie bei Knappertsbusch leider die Regel), doch darf der Rundfunk-Klang durchaus als gediegen bezeichnet werden.

Das kürzeste enthaltene Werk, die gut zehnminütige Ouvertüre zu Webers Oper Euryanthe, ist in gewisser Weise beinahe der wichtigste Kaufgrund, handelt es sich doch um die einzige überlieferte Aufnahme unter Knappertsbuschs Dirigat; die anderen Werke liegen in Alternativen vor. Der typische Stil des knorrigen Kapellmeisters ist tatsächlich bereits nach wenigen Takten spürbar. Das ist tiefstes 19. Jahrhundert, in dessen Gedankenwelt der Dirigent, im Dreikaiserjahr 1888 geboren, noch sozialisiert wurde. Anekdotenhaft ist überliefert, dass der „Kna“ die Euryanthe-Ouvertüre als „Scheißstück“ (sic) bezeichnet haben soll. Glücklicherweise ist von einer etwaigen Geringschätzung bei der Aufnahme nichts spürbar. Eher möchte man sagen: So und nicht anders. Die Ouvertüre diente als Auftakt dieser Radioproduktion vom 14. Mai 1962. Es folgte das dritte Beethoven-Klavierkonzert in c-Moll mit dem früh verstorbenen ungarischen Pianisten Géza Anda als Solisten. Die einleitende orchestrale Exposition kommt mächtig, wie könnte es anders sein. Anda erweist sich als kongenial. Energisch und expressiv sein Anschlag, nuanciert seine Phrasierung, virtuos sein Spiel insgesamt. Den Ton gibt gleichwohl der damals 74-jährige Knappertsbusch an – wie wäre es seinerzeit auch anders möglich gewesen? Da ist er wieder, der hochromantische Beethoven, wie man ihn heutzutage weitgehend verschmäht. Das Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester erweist sich schon in den frühen 1960er Jahren als beachtlicher Klangkörper, der imstande ist, dem nicht immer einfachen und probenscheuen Dirigenten zu folgen. Überhaupt kommt das recht düstere und sehr symphonisch angehauchte dritte Klavierkonzert, wie das strahlende und kaiserliche fünfte, einem Knappertsbusch meines Erachtens auch viel eher noch entgegen als das leichtgewichtigere vierte. Der gewaltige Kopfsatz (hier knapp 18 Minuten lang) kann bereits als der Höhepunkt des Werkes gelten, das Orchester bedrohlich grummelnd im Ausklang desselben. Im verinnerlichten Largo gibt sich Anda von seiner lyrischen Seite und weiß auf ganzer Linie auch hier zu überzeugen. Interessant, dass ein als konservativ geltendes dirigentisches Urgestein und ein als modern titulierter Pianist so gut miteinander harmonieren können. Im abschließenden Rondo ist naturgemäß wieder mehr Raum für orchestrale Zurschaustellung – ohne dass sich Knappertsbusch freilich jemals in den Vordergrund drängte. Als einfühlsamer Konzertbegleiter war er sogar hochbeliebt. Hier hört man, wieso. Prächtig ausmusiziert die Coda in C-Dur.

Die Dritte von Brahms war für Hans Knappertsbusch so etwas wie der Parsifal unter den Sinfonien. Sie diente als Abschluss der besagten Kölner Rundfunkproduktion von 1962. Dem Vernehmen nach wünschte er sich den langsamen Satz für sein eigenes Begräbnis. Die Liebe für dieses Werk drückt sich auch diskographisch aus: Von keiner anderen Brahms-Sinfonie gibt es eine solche Vielzahl an Knappertsbusch-Aufnahmen. Chronologisch betrachtet, ist die Kölner Aufnahme die vorletzte; ihre Tempi sind beinahe auf die Sekunde gleich mit seiner allerletzten (und womöglich besten) mit dem Südfunk-Sinfonieorchester von 1963 (Hänssler CD 93177). Lediglich im berühmten Scherzo ist er in Köln 1962 noch etwas flotter. Eine Gesamtspielzeit von bald 42 Minuten muss gleichwohl als monumental gelten. Kurioserweise gibt es ausgerechnet die hochdramatische erste Brahms-Sinfonie, die man auf den ersten Blick womöglich am ehesten mit ihm assoziieren würde, nicht unter seinem Dirigat – er setzte sie nach 1947 auch nie mehr auf eines seiner Konzertprogramme. Von Leichtigkeit kann bei Knappertsbuschs Deutung der Dritten indes keine Rede sein. Er verleiht dem Werk eine Größe, wie sie andere Interpreten nie erreichten (als einzige Ausnahmen mögen hier das letzte Konzert von Otto Klemperer [Testament] und vielleicht noch Leonard Bernsteins Wiener Einspielung [DG] angeführt werden). Beinahe buchstabierend tastet er sich vor und leuchtet die Partitur in ihrer vollen Schönheit bis ins kleinste Detail aus. Hier darf alles sein, kann sich allmählich entwickeln. Großartig der Spannungsaufbau und die Temporückungen, die wiederum ans 19. Jahrhundert gemahnen. Wehmütig gelingt der langsame Satz (unglaubliche zehneinhalb Minuten lang) und erweist sich in „Kna’s“ Deutung tatsächlich als einer Totenfeier würdig. Das Poco allegretto ist hier nicht forsch und tolldreist, sondern vielmehr bedeutungsschwer und verhalten. Den Finalsatz eröffnet Knappertsbusch mit beeindruckenden Orchesterausbrüchen; stellenweise sieht man vor seinem geistigen Auge den in jeder Hinsicht großen Dirigenten sich titanenhaft aufbäumen. Die Tempogestaltung ist hier selbst für „Kna“-Verhältnisse einmalig. Das unverhofft gnädig-sanftmütige Ende beschließt das Werk und diese herrliche Interpretation.

Als einziges auf der Doppel-CD enthaltene Werk datieren die Brahms’schen Haydn-Variationen auf den 10. Mai 1963. In derselben Rundfunkübertragung wurde auch Bruckners siebente Sinfonie gespielt, deren Auftakt sie bildeten. Womöglich steht uns die offizielle Veröffentlichung des Hauptwerkes noch bevor? Die Haydn-Variationen jedenfalls sprengen mit 23:12 Minuten jeden Rahmen – selbst die Stuttgarter Aufnahme von 1963 ist marginal schneller (22:55). Sehr feierlich der Chorale St. Antoni, dunkel timbriert die Blechbläser. Die Wuchtigkeit hält auch in den acht Variationen an. Prachtvoll dann auch das Finale. Einen Wermutstropfen gibt es indes: Zwischen etwa 19:52 bis 19:58 fällt der Ton komplett aus. Darüber wurde bereits auch in Internetforen gerätselt. Ein Produktionsfehler? Summa summarum eine willkommene Bereicherung der „Kna“-Diskographie, sowohl für Einsteiger als auch für Fortgeschrittene. Die labeltypisch qualitativ hochwertige Präsentation nebst informativem Booklet rundet die Sache ansprechend ab. Womöglich war dies auch noch nicht Orfeos letzter Beitrag in Sachen Knappertsbusch … Daniel Hauser

Und dann und wann ein weißer Elefant

Mit den Geschenken der Götter ist das so eine Sache. Genauso wie mit den Wünschen, die die gute Fee im Märchen erfüllt. Die haben doch meist einen Haken. Midas hat von Jupiter etwas Besonders erhalten. Alles, was Midas anfasst, wird zu Gold. Als Gegenleistung dazu soll Midas dem Gott seine Gestalt leihen, damit Jupiter das Herz von Danae erobere. Doch Midas und Danae verlieben sich ineinander. Jupiter zieht den Kürzeren und kehrt das Geschenk in einen Fluch um. In den Armen von Midas verwandelt sich Danae in eine leblose goldene Statue. Was tun? Jupiter stellt sie vor die Wahl, entweder ihm anzugehören oder mit dem in einen Eselstreiber zurückverwandelten Midas ein Leben in Armut zu führen. Danae entscheidet sich für Midas. Die Liebe triumphiert über Gold. In der Hoffnung, sie habe sich inzwischen eines Besseren besonnen, nähert sich der Gott nochmals Danae, die sich trotz des Lebens in der armseligen Hütte für Midas entscheidet. Dem Gott bleibt nichts anderes übrig, als gute Miene zumachen und das Paar zu segnen. jaja, die Liebe der Danae

Die „heitere Mythologie“ ist eng mit den Salzburger Festspielen verbunden, von wo der Mitschnitt aus dem Sommer 2016 stammt (Blueray EuroArts 2097024): dort wurde die vorletzte Oper von Strauss im August 1944, kurz vor Schließung aller Theater und trotz der Absage der Festspiele, ein einiges Mal, als  Generalprobe deklariert, gegeben und 1952 als offizielle Uraufführung nachgereicht. Da war Strauss bereits tot. Warum die kaum gespielte Oper nach der in Zusammenarbeit mit der Semperoper 2002 entstandenen Produktion von Günter Krämer im Vorjahr neuerlich auf dem Spielplan stand, kann höchstens an der zur Verfügung stehenden Besetzung gelegen haben. Krassimira Stoyanova ist als Danae ziemlich gut. Sie verfügt über den üppigen goldenen Ton, der ein wenig an ihre Landsmännin Tomowa–Sintow erinnert und überzieht die Partie mit ihrem Edelsopran wie eine Statue mit Goldfolie. Die Partie hätte auch ein paar Jahre früher auf sie treffen dürfen. Im Zusammenklang mit Regine Hanglers Xanthe ereignet sich ein üppiges Sopran-Duettieren von Arabella-Qualität. Aus der Figur, die sie mit stoischer Gelassenheit und abgespreizten Fingern spielt, macht Stoyanova nicht sehr viel bzw. kann nicht sehr viel machen; auch nicht aus dem Text. Sie trägt den goldenen Lorbeer, ein Geschenk des Midas, der bei ihrem von Geldsorgen geplagten Vater Pollux – Wolfgang Ablinger-Sperrhacke ist mit grell gleisnerisch eigenwilligem Charaktertenor eine Klasse für sich – um ihre Hand anhält, ebenso mit Würde wie das goldene Kleid, das sie in einen unförmigen Vogel verwandelt. Die Inszenierung von Alvis Hermanis, der sich selbst die weiß und gold geflieste Bühne mit ihren weißen Kachelstufen schuf, zu der Juozas Statkevicius die keinen Stoffballen scheuenden Kostüme beisteuerte, ist ein wunderfitziges Märchentheater aus Tausendundeiner Nacht, in dem der Hofstaat des Pollux große Turbankugeln und reichen Kopfputz, ausgestellte Röcke und Pluderhosen trägt, dazu kommen popanzige Aufmärsche, viel Schreiten und Gleiten, goldene Figuren, gestreute Blumen. Gleich schauen in dieser eigentlich in Griechenland spielenden Handlung irgendwo Ali Baba oder Aladin um die Ecke. Eine kitschige Show, ein Talmimärchen, eine Operette ohne Augenzwinkern, eine Revue ohne wirklichen Glanz, die die Brüche der Entstehungszeit nicht aufnimmt und ein herziges Weihnachtsmärchen zur Sommerzeit zeigt. Alles ohne Ironie, ohne Seitenhiebe, Dekor ohne Inhalt. Stattdessen protziges Breitwandtheater, pompöses Zurschaustellen. Ernstes und steifes Schreiten, Sitzen, Posieren. Langweilige Eurythmie der Goldbetressten, ein albernes Getue, das die Lächerlichkeit streift. Jupiter erscheint auf einem großen weißen Elefanten. Wenigstens ein Hingucker. Was hätte man aus dem Thema machen können.

Der sehr geschätzte Tomasz Koniecny vergegenwärtigt die schwer singbare Partie des Jupiter, die auf der einzigen vollständigen Aufnahme von Franz Grundheber gegeben wird, mit einem festen, steten und geerdeten Klang und perfekt sitzendem Kraftbariton mehr als gut. Vielleicht zu einfarbig. Er kann ihr, natürlich auch von der Regie völlig im Stich gelassen, in der letzten, sehr berührenden halben Stunde in Jupiters Abschied sogar etwas wie Leben einhauchen und den Plunder vergessen machen; da nimmt freilich nicht nur der alternde Gott Abschied von Danae, sondern der greise Komponist von der zerbrechenden Welt. Zwei lange Akte muss man allerdings auf diese spätherbstliche Abschiedsfeier warten. Sonst scheint keine der Figuren zu leben. Gerhard Siegel hat als Midas die sichere Höhe, Norbert Ernst ist ein gewitzter Merkur, Franz Welser-Möst, der dieser überreifen Klangzauberei nicht so viel Reiz abgewinnt wie seinen sonstigen Strauss-Aufführungen, verlässt sich auf die hymnischen Klänge und weiten Melodiebögen und leitet gleichwohl eine musikalisch luxuriöse, doch laute Aufführung. Vor die Entscheidung gestellt Gold oder Liebe bzw. Bild oder Ton, fällt uns die Wahl so leicht wie Danae.  Rolf Fath

Zurück in die Heimat

 

Ihre nunmehr vierte CD legt Olga Peretyatko mit  Russian Light vor, ein Kontrastprogramm zur dritten, die sich unter der Stabführung des jüngst verstorbenen Alberto Zedda ganz Rossini gewidmet hatte. Zwar scheint das Repertoire ein ganz anderes zu sein, nicht aber ist es die Art des Singens, die auch hier in der schönsten Weise an ihre Lehrerin Mariella Devia, italienische Königin des Belcanto, erinnert, so dass es zu einer interessanten, raffinierten Mischung einer frischen, herben, durchaus slawische Akzente aufweisenden Sopranstimme eines soprano lirico leggero mit ausgesprochen italienischem Legato kommt, jedes Pathos, das slawische Sängerinnen so gern ihrem heimatlichen Repertoire angedeihen lassen, vermieden wird. Das macht sich besonders bei Rachmaninoff, so seinem „Hier ist es schön“, angenehm bemerkbar.

„Light“ im Sinne von leicht kommt das zartfarbige Cover einher, das sich an ein Portrait des russischen Malers Michael Vrubel von seiner Gattin Nadeschda –Zabela-Vrubel, der ersten Zarenbraut, anlehnt. Leicht beginnt es auch mit der Arie der Ludmila, die durchaus Rossini-Anklänge vernehmen lässt und deren Arie von einer frischen Mädchenhaftigkeit spricht, von einer Stimme voller Leuchtkraft und ausgesprochen leichter Emission. Es folgt die Hymne an die Sonne aus Der goldene Hahn, in der die Stimme auch in der Höhe und dem Piano sehr gut anspricht. Natürlich fehlt die Wahnsinnsarie der Marfa nicht, die Peretyatko in Berlin und Mailand gesungen hat, und in ihrem zweiten Teil erklingt eine wundersame Traurigkeit, sind die Farben der Stimme den jeweils begleitenden Instrumenten angepasst.  Eine zarte Elegie ist auf dieser CD das Wiegenlied der Volkhova aus Sadko, spricht von Todesnähe, und auch hier harmoniert die Stimme perfekt mit dem Orchester, das übrigens bewusst keines der großen europäischen, sondern das Ural Philharmonic Orchestra unter Dmitry Liss ist.

Außer Glinka und Rimsky-Korsakov sind Rachmaninoff, Strawinsky und Shostakovich vertreten, letzterer mit zwei Nummern aus seiner Operette Moskau-Cheryomushki ( gab es in der Werkstatt der Berliner Staatsoper), von denen die in Moll besonders gefallen kann. Natürlich hat man die Vocalise Rachmaninovs schon spektakulärer, nie aber schöner gehört, besonders die Mühelosigkeit, mit der die Höhen erreicht werden, muss man bewundern und die Tatsache, dass die Raffinesse sich hinter scheinbarer Schlichtheit verbirgt, ja eine Innigkeit erzeugt wird, die man in dem Stück nicht vermutete. Stravinskys Nachtigall erfreut mit einem schillernden Piano und mit einer absoluten Beherrschung der Stimme. Zum Ärgern gibt es bei dieser CD nur einen Grund: Sie dauert nicht einmal 55 Minuten (Sony Music 88985352232). Ingrid Wanja    

Entdeckungen

 

„Angenehme Melodei“ nennt sich eine neue CD bei der dhm, die mit den beiden Huldigungskantaten BWV 216a und 210a unbekannte Werke des Barockmeisters vorstellt (dhm 88985410522). In dieser Ersteinspielung musiziert die Deutsche Hofmusik unter der Leitung von Alexander Grychtolik, der den Versuch unternommen hat, die zwischen 1730 und 40 entstandenen Werke zu rekonstruieren (wie zuvor schon weitere verlorene Schöpfungen Bachs). Die beiden Kompositionen sind von heiterer Natur, beschwingtem Rhythmus und filigranem Gefüge. Entsprechend leichtfüßig und transparent werden sie vom Ensemble wiedergegeben. Die Kantate 216a, „Erwählte Pleißenstadt“, ist eine Huldigung an die Stadt Leipzig und deren reiche Kaufleute als ein Dialog zwischen den beiden Göttern Apoll und Merkur. Ersterer als Gott des Lichts und der Künste steht für den Glanz der Metropole, sein Bruder, der Götterbote, ist Schutzherr der Kaufleute der wirtschaftlich prosperierenden Handelsstadt. Die ausgedehnte Solokantate „Angenehme Melodei preist die göttliche Musik, welche mit Hilfe von Förderern ihre wundersame Wirkung entfalten kann. Die Komposition ist die Parodiefassung der bekannten Hochzeitskantate „O holder Tag, erwünschte Zeit“ (BWV 210), die wahrscheinlich anlässlich eines Besuches des Herzogs Christian von Sachsen-Weißenfels am 12. Januar 1729 in Leipzig entstand.

Unterschiedlichen Eindruck hinterlassen die drei Solisten – die Sopranistin Katja Stuber, der Altus Franz Vitzhum und der Tenor Daniel Johannsen. Die beiden Herren bestreiten mit je einer Arie und zwei Duetten die sieben Sätze von BWV 216a. Die Stimmen mischen sich perfekt; die Interpreten singen flexibel mit leicht getippten Koloraturen und gerundet. Parodievorlage der Kantate ist die Hochzeitskantate „Vergnügte Pleißenstadt“ (BWV 216), aus der die Tenorarie „Angenehmes Pleiß-Athen“ stammt. Johannsen singt sie kultiviert und mit weicher Klanggebung. Der Altus findet für „Mit Lachen und Scherzen“ einen vergnügten Tonfall und behenden Fluss der Koloraturen. In „Heil und Segen“, das aus „Der zufriedene Aeolus stammt, vereinen sich die beiden Stimmen noch einmal zu einer  Huldigung an die Pleißenstadt.

Ganz der Sopranistin vorbehalten ist BWV 210a mit fast 30 Minuten Dauer. Der spitze, bohrende Ton von Katja Stuber ist gewöhnungsbedürftig, wird im Laufe des Vortrages gar quälend. Die langen Koloraturgirlanden bewältigt sie mit hörbarer Mühe und auch in den getragenen Teilen (wie der Arie „Ruhet hie, matte Sinne“) ist das Hören wegen des larmoyanten Klanges der Solistin nicht angenehmer. Auch die beiden letzten Soli, die sich ausdrücklich an die Gönner Leipzigs wenden, können in Stubers Interpretation den Titel der Komposition „Angenehme Melodei“ nicht einlösen. Bernd Hoppe

Resteverwertung

 

Die 1976 im lettischen Riga geborene Elina Garanča ist in den besten Jahren und in einem für Sänger noch so jungen Alter, dass man fragen darf, wohin es geht, welche Rollen geplant sind und welche Aufnahmen veröffentlicht werden. 2017 singt sie hochdramatische Rollen, u.a. Carmen, La Favorite/ Lénor, Eboli, Santuzza und Dalila an den großen Opernhäusern der Welt. Garanča gehört zweifellos zu den vielseitigsten, beliebtesten und gefragtesten Mezzosopranistinnen unserer Zeit, seit einigen Jahren ist sie bei der Deutsche Grammophon unter Vertrag.

Umso überraschender scheint es, dass bei Erato nun eine CD mit ihr erschienen ist. Es handelt sich dabei aber um bereits bekannte Aufnahmen aus den Jahren 2004 und 2005, die wieder veröffentlicht wurden. Schlicht Mozart Vivaldi heißt die eigenwillige Zusammenstellung, die Arien aus zwei CDs kombiniert, die beide noch erhältlich sind und beide von der Kritik beim Erscheinen hoch gelobt wurden. Aus der Mozart-CD „Opera & Concert Arias“ (2005), die mit der Camerata Salzburg unter Louis Langrée eingespielt wurde, sind sechs der damals zehn veröffentlichten Arien vertreten. Garančas Stimme klingt hörbar jung und frisch, ihr Timbre war damals schon kühl und herb, ihr Ansatz für Mozart ist extrovertiert – ein kaltes Feuer unter Hochspannung. Aus Cosi fan tutte singt Garanča jeweils eine Arie von Fiordiligi und Dorabella. Man kann diskutieren, ob ihr Dorabellas „Ah, scostati!… Smanie implacabili“ oder Fiordiligi „Temerari! … Come scoglio“ besser liegt, die Spannweite zwischen unnahbar und sinnlich kann man in beiden Figuren erkennen. Sehr schön klingen auch die Arie der Vitellia „Deh, se piacer mi vuoi“ aus La clemenza di Tito, zwei Arien des Ramiro aus Aus La finta giardiniera: „Se l’augellin sen fugge“ und „Va‘ pure ad altri in braccio“ sowie die Konzertarie „Ch’io mi scordi di te… Non temer, amato bene“, bei der  Pianist Frank Braley unterstützt.

Zwischen jeweils drei Mozart-Arien zu Beginn und am Ende hat man Auszüge aus Vivaldis Bajazet gepackt und zwar alle vier Arien des Andronicus mit Rezitativen sowie das Opernfinale. Vivaldis Oper entstand 1735 für den Karneval in Verona und ist eines der originellsten und komplettesten Pasticcio-Werke. Mit prominenter Besetzung wurde es 2004 aufgenommen und erregte viel Aufmerksamkeit, Dirigent Fabio Biondi hatte sich gründlich mit der Partitur auseinander gesetzt, Europa Galante spielte rasant, in Kombination mit den Sängern wirkt die Einspielung noch heute wie ein auf Effekt setzendes Feuerwerk. An der Seite von Elina Garanča singen Größen wie Vivica Genaux, Patricia Ciofi, Marijana Mijanovic, David Daniels sowie Ildebrando d’Arcangelo in der Titelrolle. Für alle Freunde der Barockoper ist diese Vivaldi-Oper noch immer ein Maßstab und auch erneut als Gesamtoperneinspielung auf Scheibe gepresst erhältlich. Wie bereits im letzten Jahrzehnt enthält die Box weiterhin eine Bonus-DVD mit Aufzeichnungen der Aufnahme – jeder Sänger wird beim Singen einer Arie gezeigt. Wer Elina Garanča mag, sollte sich sowohl die Mozart-CD als auch Vivaldis Bajazet in Gänze besorgen, die Sinnhaftigkeit von Mozart Vivaldi erschließt sich kaum. (Erato 0190295905996 / Vivaldi – Bajazet, 2 CD + 1 DVD, Erato 5099945645921) Marcus Budwitius

Die Macht und die Kunst

 

Zwei Ansätze gibt es, sich dem neuen Band über Spontini und die napoleonische Oper zu nähern, beide sind ebenso politisch wie äthetisch belegt. Oper als Propaganda-Instrument Napoleons ist uns als Erscheinung in unserer Zeit eine interessante Paralelle zum faschistischen Kunstverständnis, wenngleich das napoleonische Zeitalter noch nicht über die totalitären Mittel der späteren Epoche verfügte oder sie anwenden wollte.

Wilhelm Titel (1784-1862). Double portrait of the composer Gaspare Spontini (1774-1851) and his wife Celeste (1790-1878). The landscape through the window is of Maiolati, Spontini’s birthplace near Ancona in Italy (now called Maiolati-Spontini). Signed, ‘G. Titel Sueco Pomerania Pinxit 1813’. (The ‘G’ is for the Italian version of Wilhelm; ‘Sueco Pomerania’ is Swedish Pomerania, Titel’s birthplace)/ Wikipedia/Pommersches Landesmuseum

Wilhelm Titel (1784-1862). Double portrait of the composer Gaspare Spontini (1774-1851) and his wife Celeste (1790-1878). The landscape through the window is of Maiolati, Spontini’s birthplace near Ancona in Italy (now called Maiolati-Spontini).
Signed, ‘G. Titel Sueco Pomerania Pinxit 1813’. (The ‘G’ is for the Italian version of Wilhelm; ‘Sueco Pomerania’ is Swedish Pomerania, Titel’s birthplace)/ Wikipedia/Pommersches Landesmuseum

Und natürlich war Oper wie Theater stets ein geeignetes Vehikel zur Vermittlung politischer Inhalte (vergl. Friedrich der Große/Montezuma oder Gustav Adolf/ Eneas i Carthago). Zum anderen gibt es in diesem Buch eine opern-ästhetische Diskussion über Form und Musik in der Folge der barocken Oper hin zur Grand Opéra, die ganz unmissverständlich auf Spontinis Beitrag und der von ihm vorangetriebenen Entwicklung der Oper fußt. Berlioz, Meyerbeer, Wagner wären ohne ihn nicht möglich gewesen.  Und die Geschichte es Dirigierens hat nachhaltig von ihm profitiert.

Gaspare Spontini zählt zu den am meisten verleumdeten Gestalten der  Musikgeschichte, vielleicht noch mehr als Salieri. Seine Herrschsucht, seine Neigung zum Pomp, seine vielen übertrieben scheinende Akribie, seine Vorstellungen von einem „modernen“ Orchester und dessen Disziplin ebenso wie dessen Effekte, seine angebliche Feindschaft Weber und deutschen Komponisten gegenüber und vieles mehr aus seiner  Berliner Zeit sind als Legenden in die Literatur eingegangen und nur selten widerlegt worden. Was also ist „dran“ an Spontini, dem „Hofkomponisten“ Napoleons?

spontini und die oper im napoleonischen zeitalterDer vorliegende Band in der Reihe Musik und Theater, No. 11 im Weimarer Studiopunkt-Verlag (Hrsg. Detlev Altenburg) vereinigt die Beiträge der internationalen musikwissen­schaftlichen Konferenz „Gaspare Spontini und die Oper im Zeitalter Napoleons“, die in Kooperation mit dem Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena anlässlich der Wiederaufführung der Oper Fernand Cortez am Theater Erfurt vom 26. bis 28. Mai 2006 im Rahmen des „Deutsch-Französischen Jahres“ in Thüringen zum 200. Jahrestag der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt stattfand. Der nachfolgende Auszug aus dem Vorwort der Herausgeber Detlef Altenburg, Arne Jacobshagen, Arne Langer, Jürgen Maehder und Saskia Woyke beschreibt die Spannbreite des avsierten Projektes:

Gaspare Spontini (1774-1851) war der führende Repräsentant der französischen Oper in der Epoche Napoleons. Wie kaum ein zweiter Komponist seiner Zeit verkörperte er im frühen 19. Jahrhundert die europäische Dimension des Musik­theaters: In Italien geboren und mit der italienischen Theater- und Musikkultur aufgewachsen, diente er sowohl französischen als auch preußischen Monarchen und vermochte eine ganze Epoche künstlerisch zu beeinflussen. Nach ersten Erfol­gen auf dem Gebiet der italienischen Oper wirkte er von 1803 bis 1820 in Paris, wo er mit französischen Werken zunächst im Genre der Opera-comique reüssier­te (1804 Milton, 1805 Julie). 1807 gelang ihm mit der Tragedie lyrique La Vestale ein sensationeller Erfolg an der Pariser Opéra (Academie Imperiale de Musique). In der Verbindung von statuarisch-klanglicher Monumentalität und einem mo­dernen Verständnis von psychologischer Dramatik im Medium der Musik reprä­sentiert La Vestale exemplarisch die Opernkultur der Napoleonischen Epoche. Der Kaiser selbst gab daraufhin den Anstoß für die Komposition der zweiten Tragedie lyrique Spontinis, Fernand Cortez ou La Conquete du Mexique (1809), de­ren Sujet, die spanische Eroberung des Aztekenreiches im 16. Jahrhundert, als Reflex der damals aktuellen Spanienfeldzüge Napoleons verstanden werden musste. Als zweites Hauptwerk der Oper des Empire markiert Fernand Cortez den Über­gang von klassizistischen zu neuzeitlich-historischen Sujets exotischer Couleur und zugleich zu einer romantischen Bühnenästhetik. Das zugrunde liegende Hand­lungsmodell einer in einem historischen Konflikt eingebetteten tragischen Liebes­geschichte zwischen europäischem Eroberer und eingeborener Frau wurde in den folgenden Jahrzehnten für die Dramaturgie der französischen Grand Opera ebenso prägend wie die von Spontini ins Werk gesetzten musikalischen Innova­tionen.

 

Tela raffigurante il momento più drammatico dell’opera "La Vestale"/Museo Sponbtini/Maiolati Spontini

Tela raffigurante il momento più drammatico dell’opera „La Vestale“/Museo Spontini/Maiolati Spontini

Die Beiträge sind vielfältig und mehrsprachig. Anno Mungen schreibt zu Beethoven und Spontini und stellt die offensichtlichen Parallelen her. Rüdiger Hillmer lässt uns einen Blick auf das komplexe Aufgabengebiet der napoleonischen Theaterpolitik werfen, auf die Entwicklung der Pariser Theater, auf die staatlichen und zunehmend auch privaten Unternehmungen vor und nach der Gesetzgebung von 1806/1807 und die politische wie gesellschaftliche Funktion der Theater in dieser postrevolutionären Zeit. Olivier Bara lässt sich über Funktion und Bedeutung des Librettos aus (in Französisch – ich erinnere mich an heftige Schlafanwandlungen bei den französischen Beiträge im Meyerbeer-Syposium in Berlin an der Deutschen Oper – aber Französisch muss man eben für Spontini und Meyerbeer können, da hilft nichts).

Tela raffigurante l’opera "Fernando Cortez" andata in scena al Teatro dell’Accademia Imperiale di Musica il 28 Novembre 1809/Museo Spontini/Maiolati Spontini

Tela raffigurante l’opera „Fernando Cortez“ andata in scena al Teatro dell’Accademia Imperiale di Musica il 28 Novembre 1809/Museo Spontini/Maiolati Spontini

Ein spannender Beitrag ist der von Matthias Brzoska über die Finaldramaturgie bei Spontini, also das lieto fine und das dramatische Finale, der überraschende deus ex machina und die „véritée historique“, auch im Gegensatz zu Meyerbeer, wo´s meistens tödlich endet, während bei Spontini ja doch das zwar überraschende, aber glückliche Ende angesagt ist. Julia wird befreit, die exotische Amazili kriegt ihren Helden – dies alles auch im Gegensatz zum Sprechdrama, das immer noch im Fahrwasser der alten tragédie steht. Arne Langer widmet sich dem „Künstlerdrama“ Milton, das nur scheinbar im Gegensatz zur heroischen Tragödie steht und das ein anderes Ideal des locus amoenus, das  der Kunst und der Zürückgezogen heit, propagiert, wie Napoleon und Josèphine es mit ihrem Landsitz Malmaison vorgaben. Spannend ist auch der Beitrag von Claudio Toscani: „La Vestale – una cornice classice per un conflitto borghese“, also: ein klassischer Rahmen für einen bürgerlichen Konflikt, begleitet von informativen Abbildungen der schleierumflorten Vestale von Corradini bis Canova, ein Topos der bildenden Kunst der Zeit.

Tela raffigurante l’opera "Milton" andata in scena all’Opéra-Comique il 27 novembre 1804

Tela raffigurante l’opera „Milton“ andata in scena all’Opéra-Comique il 27 novembre 1804/Museo Spontini/Maiolati Spontini

Wie propagandistisch ebenso wie stilbildend Spontinis Vestale im französischen Königreich Neapel (1806 – 1815) wirkte belegt Arnold Jacobshagen. Paisiello (Proserpine), Sacchini (Oedipe a Colonne) und vor allem Spontini mit seiner Vestale und später dem Cortez sind hier die Grundfesten des von Murat, später dem Bonaparte-Schwager Joseph und dessen Frau Caroline geförderten französischen Programms an San Carlo. Wie sehr sich die Vestale als feste Größe durchsetzte zeigt die Tatsache, dass sogar Rossini sie in Neapel unter Barbaja dirigierte. Einschneidend und wichtig ist vor allem auch die Entscheidung Josephs, keine Kastratenstimmen für die soprani und Frauen für die musici zuzulassen. Mit Andrea Nozzari als Tenor-Licinius/Licinio  auf der Bühne gab es eine ganz entscheidende Wendung im Opernleben Italiens. Man spielte die Übersetzung von Giovanni Schmidt, wie überhaupt namentlich Spontinis Opern in Italienisch gegeben wurden (in dieser Form waren sie lange in Italien verbreitet und länger als in Frankreich zu hören, bis heute). So stand nun ab 1810 erstmals der jugendliche Held als strahlender Tenor im Mittelpunkt und nicht mehr der Kastrat (wie vorher Vellutti im Oedipe).

Tela raffigurante l’opera "Olimpia" andata in scena al Teatro dell’Accademia Reale di Musica il 22 Dicembre 1819/Museo Spontini/Maiolati Spontini

Tela raffigurante l’opera „Olimpia“ andata in scena al Teatro dell’Accademia Reale di Musica il 22 Dicembre 1819/Museo Spontini/Maiolati Spontini

Dass die Verbreitung der Vestale im italienischen Settecento viel häufiger war als bislang angenommen, beweist Saskia Maria Woiyke in ihrem akribisch auflistenden Aufsatz. Parallel dazu schreibt Herbert Schneider über Spontinis Vestale in ihren deutschen Editionen, woran sich gut nach Axel Schröters Ausführungen zur Vestale und dem Fernand Cortez  im Goetheschen Weimar der gegen Ende des Bandes erscheinende Artikel von Anne Henrike Wasmuth anschließt, die im Rahmen ihrer Dissertation über die stürmische Rezeptionsgeschichte der Spontini-Opern in Berlin (E. T. A. Hoffmann, Rellstab, Weber, Graf Brühl etc.) viele Fehlurteile und Überlieferungen beleuchtet und korrigiert, auf den akribischen Dirigenten Spontini hinweist, über Werktreue und Zustand des preußischen Musikwesens der Zeit referiert,. Sehr eindrucksvoll.

Parigi 15 Dicembre 1807. Prima recita de "La Vestale", bozzetto del costume di Giulia interpretato dal soprano Branchu/Museo Spontini/Maiolati Spontini

Parigi 15 Dicembre 1807. Prima recita de „La Vestale“, bozzetto del costume di Giulia interpretato dal soprano Branchu/Museo Spontini/Maiolati Spontini

Dazu passen auch die Ausführungen von Thomas Betzwieser über die Bedeutung des Metronoms in Spontinis Musik: Die Verwendung des Metronoms hat unzweifelhaft zu einer weitergehenden Differen­zierung von Spontinis Partituren geführt, welche sich auch auf andere Parameter des musikalischen Satzes erstreckte. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Spontini deutlich von seinen französischen Komponistenkollegen, deren Werke eine kaum vergleichbare Qualität hinsichtlich des musikalischen Notats aufweisen. Gleichwohl stellt sich vor dem Hintergrund immer ausgefeilter und dichter werdender Anweisungen zu Tempo, Dynamik und Deklamation die Frage nach der Realisierbarkeit dieser Vorschriften.

Joachim Herz steuert einen Aufsatz zu Spontinierlebt von Richard Wagner – bei. Emilio Sala behandelt eine Parallel-Oper von Persuis, Nina ou la folle par armour von 1813 (die Paisiellos Nina assoziiert) und fügt umfangreiches Notenmaterial zur Dramaturgie des „Ri-uso musicale“ bei. Aber es sind – last but in keinem Falle least – die beiden Aufsätze von Sieghard Döhring und Jürgen Maehder, die in profunder Weise die Thematik des Symposiums erfüllen.

Parigi 15 Dicembre 1807. Prima recita de "La Vestale", bozzetto del costume di Licinio interpretato dal tenore Lainez

Parigi 15 Dicembre 1807. Prima recita de „La Vestale“, bozzetto del costume di Licinio interpretato dal tenore Lainez/Museo Spontini/Maiolati Spontini

Döhring, Grand-Seigneur der Meyerbeer- und Belcanto-Forschung an der Uni Bayreuth, schreibt über „Spontinis Cortez im Vergleich zu Cherubis Abencérages als musiktheatralischer Spiegel von Napoleons Spanienpolitik“, schreibt über die Wichtigkeit und den Wandel der Bedeutung des Balletts in diesen Opern, über Montage-Strukturen, über die exotische Heldin (wie sie später auch bei Berlioz und Meyerbeer auftritt) und über den Wandel des Ästhetischen zum Politischen  und das Aufkommen der romantischen Stimmung. Das Zusammenspiel von gezielter Propaganda angesichts der Eroberungszüge Napoleons mit der sich verändernden Naturauffassung findet hier eine dertailreiche Ausbreitung. Jürgen Maehder, der bedeutende Musikwissenschaftler gerade in diesem Feld, schreibt über die „Eroberung Mexikos im Übergang von der opera seria des Settecentos zur Oper des Empire“. Er streift Grauns Montezuma auf dem Wege zum Fernand Cortez (der Topos des Edlen Wilden, die exotische Heldin, Rousseau und die Folgen etc.), beleuchtet den Zusammenprall der Kulturen und die Kenntnisse Europas von der amerikanischen Welt und deren Rezeption (Marmontel, Voltaire, Vivaldi etc.). Auch dies ein außerordentlich gebildeter Beitrag zu einem spannenden, bis heute gültigen Thema.

 

Alexandrine Caroline Branchu, nata Chevalier, fu nel 1807, all'età di 27 anni la prima protagonista de "La Vestale"/Musero Spontini, Maiolati Spontini

Alexandrine Caroline Branchu, nata Chevalier, fu nel 1807, all’età di 27 anni la prima protagonista de „La Vestale“/Musero Spontini, Maiolati Spontini

Angesichts der bekannten Schwierigkeiten, Beiträge zu einem Symposium dieser Art überhaupt zu publizieren, wiegt die kleine Mäkelei, keinen Index/Glossar zu finden, geringer, wenngleich die Wiederauffindung bestimmter, wiederkehrender Begriffe dadurch erleichtert würde. So ist man als interessierter Leser dankbar für diesen Sammelband der Vielfalt (sehr viele weiterleitende Fußnoten!) und hofft auf Gleiches von der Deutschen Oper in Sachen Meyerbeer-Syposium, was als Begleitung zum Vasco da Gama im Herbst ebendort versprochen wurde! Diese Sammelbände sind wie gute Ausstellungskataloge: kompakter bekommt man´s wirklich nicht. G. H.

 

Altenburg/ Jacobshagen/ Langer/ Maeder/ Woyke (Hrsg): Spontini und die Oper im Zeitalter Napoleons, Musik und Theater 11, 288. S.; Studiopunkt-Verlag, ISBN 978-3-89564-150-3.

Streng

 

Noch gar nicht so lange ist es her, da ist der Decca mit Händels unbekannter Oper Arminio einen Überraschungserfolg gelungen. Jetzt, ein Jahr später, legt sie nach mit einer weiteren Händel-Entdeckung, Ottone. Wieder mit dabei: Countertenor Max Emanuel Cencic und Dirigent George Petrou. Die Decca setzt auf den Fortsetzungsgedanken, nicht nur die Titelhelden sind gleich besetzt, auch thematisch knüpft man an den Arminio an; er geht auch hier wieder um einen deutschen Helden, diesmal um Otto den Zweiten, einen frühen deutschen Kaiser.

Faktisch ist Ottone ein Meisterwerk, trotzdem gehört er zu den langweiligsten Opern, die ich je gehört habe. Glucks Iphigenien nehmen sich dagegen aus wie James-Bond-Thriller.  Würde man einen Querschnitt extrahieren aus den besten Nummern, wäre das Ganze  eine spitzenmäßige Händel-Platte: Es gibt in dieser Dreistundenoper eine Handvoll äußerst genialer Arien und Duette. Aber in diesem Fall sind diese Highlights mit den restlichen Stücken sehr ungeschickt kombiniert worden. Das Werk hat insgesamt einen starken Hang zur depressiven Stimmung, es gibt nur wenige lebhafte Nummern. Oft, wie zu Beginn des dritten Aktes, folgen drei große Arien gleichen Charakters (largissimo!) aufeinander. Das widerspricht eigentlich den Gesetzen der klassischen Nummernoper überhaupt. Kein Wunder, dass die Cuzzoni, Händels erste Teofane, das so nicht singen wollte, und Händel sie deshalb beinahe aus dem Fenster geworfen hätte. Früher in der Schule, als ich diese Anekdote zum ersten Mal hörte, fand ich die Cuzzoni sehr zickig und Händel mit seiner Einschüchterungstaktik ziemlich cool. Inzwischen neige ich zu der Ansicht, dass die Cuzzoni eine sehr kluge Frau war. 

Weil der barocke Schwung fehlt, der für viele Händel-Opern typisch ist, hält sich die Popularität des Werks in bescheidenen Grenzen. Bezeichnenderweise ist diese Gesamtaufnahme erst die dritte des Werkes überhaupt. Wenn auch manchmal angesichts so viel edler Langweile die Gähnmuskeln im Kinn rebellieren,  an der Einspielung hat´s nicht gelegen. Ich bin zwar immer noch der Meinung, das eine gute Mezzosopranistin oder Sopranistin, je nach Stimmlage, Besseres leistet als ein sehr guter Spitzencounter, aber wenn man schon unnötigerweise die Barockopern mit Falsettisten in Kastratenpartien besetzt (Händel wäre entsetzt gewesen und hätte jede Mezzosopranistin vorgezogen), dann sollten es wenigstens Männer wie Cencic sein. Er macht einen sehr guten Job,  und das, obwohl ihm eigentlich die ruhigen, langsam temperierten Stücke nicht ganz so liegen wie die feurigen Koloraturkaskaden. Nicht alle Arien finde ich gleichermaßen überzeugend gesungen, aber Respekt vor seiner Leistung; das ist alles sehr genießbar , nichts gegreint und gebellt – was man vom zweiten Counter Xavier Sabata nicht immer sagen kann.

 Aber mehr Damen bitte! In einer schwachen Stunde werde ich mich wohl irgendwann den Decca-Verantwortlichen vor die Füße werfen und sie anflehen, pro Oper immer nur einen Counter zu besetzten. Das lässt sich gut aushalten, mehr wird anstrengend und am Ende auch stilistisch allzu schräg. Zumal alle Damen hier exquisit besetzt sind. Der Mezzo Ann Hallenberg (Gismonda): wie immer voluminös und fast rossinisch souvrän. Anna Starushkevych als Matilda: ebenfalls ein sehr gut besetzter und beachtenswert junger ukrainischer Mezzosopran.

Die große Entdeckung für mich war aber Laureen Snouffer in der Rolle er Teofane, der eigentlichen Heldin des Stücks; eine junge amerikanische Sopranistin, die zum Ensemble in Karlsruhe gehört, und von der man wohl noch einiges hören wird. Eine, allürenlose, klare Sopranstimme mit prächtiger silberner Mittellage.  Matthias Käther

Georg Friedrich Händel: Ottone, Re di Germania mit Max Emanuel Cencic, Lauren Snouffer, Ann Hallenberg, Xavier Sabata; Il Pomo d’oro; Leitung: George Petrou; 3 CD Decca 4831814

Gipfelstürmerin

 

Mit ihrem Konzert in der Hallenser Ulrichskirche hatte Ann Hallenberg für einen Höhepunkt der diesjährigen Händelfestspiele gesorgt. Carnevale 1729 nannte sich das Programm der schwedischen Mezzosopranistin, denn es stellte ausschließlich Werke vor, die in der Karnevalssaison 1729 in Venedig erklungen waren. Wie schön, dass man es nun dank einer Initiative der Firma Pentatone auf 2 CDs nachhören kann (PIC 5186 678).

Gegenüber dem Konzert ist die Reihenfolge der Arien in der Einspielung verändert und deren Anzahl noch erweitert. Die Auswahl auf CD 1 beginnt mit einer Arie des Cosrovio, „Mi par sentir la bella“, aus Giacomellis Gianguir, die in Venedig Senesino gesungen hatte. Mit diesem zärtlich kosenden Siciliano (konzertierend die Oboe) kann auch Ann Hallenberg betören. Die Stimme klingt hier besonders schmeichelnd, weich und warm. Später gibt es aus dieser Oper noch eine an Modulationen reiche Arie der Semira, „Vanne, si“, mit der bei der venezianischen Premiere die große Faustina Bordoni brilliert hatte. Dazwischen finden sich vier Beispiele aus Orlandinis Adelaide, die am 8. Februar 1729, wieder mit der Bordoni in der Titelrolle, aus der Taufe gehoben wurde. Deren Arie aus dem 3. Akt, „Non sempre invendicata“ ist in ihrem energisch-kämpferischen Duktus und der furiosen Koloraturattacke ein starker Kontrast zu der aus dem 2. Akt, „O del mio caro sposo“, die eine schier endlose schmerzlich schwebende Klage in getragenem Tempo darstellt. „Scherza in mar“ ist dann wieder eine effektvolle Primadonnen-Nummer, während das letzte Beispiel, „Vedrò più liete e belle“, ein  Solo des Ottone vorstellt, mit dem Senesino triumphiert hatte. In diesem Stück mit Solovioline in französischem Stil sind vor allem delikate Empfindung und sublime Pianokultur gefragt – Hallenberg vermag alle diese Anforderungen und Stimmungen imponierend zu erfüllen.

CD 2 beginnt mit zwei Auszügen aus Albinonis Filandro, der am 24. Januar 1729 herauskam – als Wiederaufnahme eines früheren Erfolgsstückes von 1727 (L’incostanza schernita), wegen der zahlreichen Veränderungen aber wie eine Premiere gehandelt wurde. Die Primadonna Teresa Peruzzi sang die weibliche Hauptrolle der Corina, deren Arien „Il tuo core“ aus dem 1. und „Fior, che a spuntar“ aus dem 3. Akt hier zu hören sind. Ist die erste von zärtlich-kokettem Charakter, gibt sich die zweite energisch auftrumpfend mit virtuosen Koloraturgirlanden. Aus Porporas Semiramide riconosciuta (12. Februar 1729) erklingen die Arie der Titelheldin aus dem 2. Akt („Il pastor“) sowie zwei Soli des Mirteo, mit dem der Kastratenstar Farinelli in Venedig triumphiert hatte. „Bel piacer“ stammt aus dem 1., „In braccia a mille furie“ aus dem 3. Akt. Letzteres ist ein von vielen Sängern dieses Repertoires gern gegebenes cavallo di battaglia wegen seiner immensen Anforderungen an stimmliche Bravour und die einzige Arie dieser Zusammenstellung von insgesamt 14 Nummern, welche keine Weltersteinspielung darstellt. Hallenberg singt die Arie der Semiramide in ihrem wiegenden siciliano-Rhythmus mit schmeichelnder Tongebung, die erste des Mirteo gleichfalls in betörender Sanftheit. Einem Vulkanausbruch gleicht dagegen„In braccia a mille furie“ mit dem furiosen Ausdruck und den halsbrecherischen Koloraturrouladen. Hallenberg klopft damit an die Pforte des Mirakulösen.

Leos Catone in  Unica hatte im Teatro San Grisostomo die Karnevalssaison eröffnet – in einer Gipfelbesetzung mit drei Kastraten. Hallenberg interpretiert eine Arie des Cesare („Soffre talor“) und eine der Emilia („Ombra cara“). Erstere ist eine jener beliebten Sturmarien, hier jedoch in einem ungewöhnlich getragenen Tempo, freilich gespickt mit höchsten Schwierigkeiten. Die zweite ist ein klagender Gesang der Witwe des von Caesar besiegten Pompeus von bewegender Größe.

Mit Vincis Pasticcio L’abbandono di Armida, in welchem auch Musik von Porpora und Albinoni zu hören war, endet das Programm. Die Arie „Nave altera“ stammt aus seinem Sigismondo und wurde vom Komponisten von der Tenor- in die Sopranlage verändert. Mit dieser lebhaft bewegten und an Zierwerk reichen Nummer sorgt Ann Hallenberg für einen imponierenden Ausklang ihrer wunderbaren Platte.

Wie in Halle ist auch hier Il pomo d’oro das begleitende Ensemble und ein Glücksfall für die Produktion. Denn unter dem Leiter Stefano Montanari werden die Schönheiten der Musik – ihre Affekte und lyrischen Gefühlsäußerungen – mit inspirierendem Einsatz und höchster Kultur zum Leben erweckt. Ich stehe nicht an zu sagen, dass diese Veröffentlichung die Sängerin auf dem Höhepunkt ihrer Kunst zeigt und unbedingt einen  Schallplattenpreis verdient – ob in der Kategorie Vokales oder Alte Musik. Am besten gleich in beiden. Bernd Hoppe

Louis Niedermeyers „Marie Stuart“

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Louis Niedermeyer? Der Name klingt wie der eines Marzipanfabrikanten oder eines Handtaschenherstellers. Aber nein – gerade ist bei Alpha ein Recital von Véronique Gens erschienen, auf dem sie eine Arie aus einer Oper  von Niedermeyer singt, zumal aus seiner erfolgreichsten, Stradella. Und Rossini-Fans werden sicher den Mitschnitt des Robert Bruce (nach Rossini) aus Martina Franca 2002 im Regal haben. Also: Louis Niedermeyer ist ein heute kaum mehr bekannter, aber zu seiner Zeit sehr renommierter Bonvivant des französischen Musiklebens gewesen, sicher kein so genialer wie manche seiner berühmteren Zeitgenossen, aber doch ein ebenso fleißiger wie erfinderischer.

Louis Niedermeyer/ OBA

Das Festival von Martina Franca, das ja stets an Raritäten interessiert ist, stellte im Sommer 2002 eben diesen Robert Bruce vor, ein Pasticcio nach Rossini (mit dessen Wohlwollen), das von Louis Niedermeyer realisiert wurde, einem Komponisten und Pädagogen, dessen 200. Geburtstag in dasselbe Jahr fiel. Dieser, vor allem als Reformer der religiösen Musik und besonders durch seine nach ihm benannte Schule bekannt, komponierte auch Opern, Lieder und Stücke für Klavier – Facetten, die das Festival 2002 damals ebenfalls würdigte.

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Und wer war nun Louis Niedermeyer? Am 27. April 1802 tatsächlich im schweizerischen  Nyon geboren, lebte er mehr als sechsunddreißig Jahre in Paris. Als Freund von Rossini und vom Theater besessen, war er dort allerdings eher glücklos. Obwohl protestantisch getauft, tat er sich durch die Wiederbelebung der katholischen Kirchenmusik hervor. Seine strenge Lehre erinnert zwar an Fauré, besitzt aber auch schon die Verve späterer Operettenkomponisten – etwa Messager oder Audran. Seine Leidenschaft für die Musik der Renaissance und den Kirchengesang hielt nicht an einer erstarrten Vergangenheit fest, sondern wirkte nachhaltig auf Spätere wie Ravel , Debussy, Dukas, Schmitt, Fauré oder Messiaen.

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Herkunft und Weg: Die Niedermeyers stammten aus Bayern. Der Großvater war Baron Niedermeyer von Altenbourg und Singenbach. Einer geplanten geistlichen Karriere widersetzte sich der ältere der beiden Söhne, indem er nach Genf floh, wo er vom Cembalo-Unterricht lebte und mit 32 eine Protestantin heiratete. Er trat dann die Nachfolge seines Schwiegervaters an der Spitze der Porzellanmanufaktur von Nyon an. Sein ältester Sohn wiederum war Louis, der später eine Protestantin heiratete, während dessen Enkelkinder wieder zur katholischen Kirche zurückkehrten. Religion war also wichtig in dieser Familie.

Illustration zu Niedermeyers Oper „Stradella“/ OBA

Mit 17 Jahren vollendete der frühbegabte Louis seine musikalische Ausbildung in Wien, bei Moscheles für Klavier und bei Förster für Harmonielehre und Komposition. Danach begab er sich 1820 nach Rom zum Studium bei Fioranvanti, dann nach Neapel bei Zingarelli. In diese Zeit fällt seine Freundschaft mit Rossini. Mit dessen Ratschlägen komponierte er seine erste Oper II reo per amore, am Teatro del Funde in Neapel uraufgeführt und heute verschollen. Aber das Zentrum des Opernlebens war damals unzweifelhaft Paris. Als Niedermeyer dort 1825 eintraf, befand sich Rossini in den Vorbereitungen für seinen Viaggio a Reims am Theätre Italièn anlässlich der Krönung von Charles X. Auch gab man an der Opéra Liszts Don Sanche, während in der Opéra-Comique La Dame blanche von Boieldieu ihre triumphale und unendlich scheinende Herrschaft antrat. Niedermeyer, der von liebenswerter und diskreter Wesensart war, suchte anfangs nicht den Beifall eines Zirkustreibens (i. e. die Oper), sondern wählte ein Genre,  das in den königlichen salons beliebt war, die Romanze. Mit Beziehungen erreichte er beim Verleger Pacini (nicht verwandt mit dem Komponisten, aber ebenfalls bekannt als Bearbeiter der Partituren anderer) die Publizierung seiner originellen und dramatischen Partitur auf das Gedicht Le Lac von Lamartine, mit sofortigem Erfolg in Paris und in ganz Europa. Eine umfangreiche Zahl von mélodies folgte, von denen etwa dreißig durch die Verleger Pacini und Choudens herausgegeben und durch Chöre und Szenen vervollständigt wurden . Zu den vertonten Autoren gehörten Hugo, Millevoye, Deschamps, Delavigne, Pacini Sohn, Racine und  andere.

Saint-Saens, der sich rühmte, bei Niedermeyer Schüler und dann Professor gewesen zu sein, urteilte, dass dieser es verstanden habe, den traditionellen Rahmen  des  Klavierliedes  zu  sprengen und „ein neues Genre von hoher Kunst, ähnlich dem deutschen Lied“ geschaffen und so den Weg für Gounod und seine Nachfolger gebahnt zu haben, was zu beurteilen heute schwierig ist, da man so gut wie nichts aus diesem Bereich des Schaffens Niedermeyers (und wenig von anderen) kennt, aber sein rein mengenmäßiger Ausstoß an Kompositionen ist erstaunlich .

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Zu Niedermeyer: Teresa Stoltz als Marie in „Robert Bruce“/ BNO/ Programmheft Martina-Franca

Opern: Es ist ebenso schwierig, etwas über die theatralischen Verdienste des Wahl-Parisers zu sagen. Wo hört man heute schon auf der Bühne Stradella, Marie Stuart oder La Fronde? Dennoch war seine Opern-Karriere auch darin relativ erfolgreich und begann am 15. Juli 1828 im Théâtre Italien mit der Uraufführung von La casa nel bosco. Die Kritik lobte den Einfluss Mozarts und die Eleganz der Instrumentation. Niedermeyer legte aus familiären Gründen eine Pause in der Schweiz ein, heiratete und präsentierte 1833 zurück in Paris seine Oper Stradella auf das Libretto von Emilien Pacini  (Arrangeur von Ivanhoé nach Rossini – zwei Aufführungen des Ivanhoé aus Montpellier und Martina Franca kursieren unter Sammlern) und Emile Deschamps auf die durch von Flotow bekannte Geschichte. Man geizte nicht an Kostümen und den sieben von vier verschiedenen Malern entworfenen Bühnenbildern und kündigte einen musikalischen Stil an, „der der italienischen Schule, die Rossini vorangegangen war, angehörte“. Adolphe Nourrit sang glanzvoll den Stradella. Cornelie Falcon, bereits triumphal erfolgreich neben ihm in La Juive und Les Huguenots, sang die Léonor.

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Zu Niedermeyer: „Robert Bruce“ ist bei Dynamic erschienen

Der MusikerKollege und Schriftsteller Castil-Blaze meinte, dass die Partitur „sehr schöne Teile enthalte, die ein besseres Schicksal verdient hätten.“ Andere vermissten mehr Nähe zum Originalkomponisten Stradella.  Der Tenor Duprez,  der danach die Rolle übernahm, sagte, dass „das Werk schön, melodisch und dramatisch ist. Es hat die wichtigsten Elemente jeder Musik, Melodie, Harmonie und Rhythmus, die die Neuen heute durch eine sinnlose und lärmende orchestrale Wissenschaft ersetzen“. Ab 1840 auf drei Akte reduziert und zusammen mit Balletten gegeben, blieb Stradella bis 1845 auf dem Spielplan. Das finanzielle Ergebnis war nicht unbeachtlich – die durchschnittlichen Einnahmen waren beispielsweise 6900 Francs – also höher als die der ersten zwölf Vorstellungen von Guillaume Tell, die sich durchschnittlich auf 6800 Francs beliefen.

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Niedermeyer gründete 1840 die „Gesellschaft für vokale und religiöse Musik“, um Werke für Gesang, mit oder ohne Orgelbegleitung, hauptsächlich von italienischen, deutschen, belgischen und französischen Komponisten des 16. und 17. Jahrhunderts mit begabten Amateuren aufzuführen. Ende 1843 schlug der Direktor der Opera, Leon Pillet, Niedermeyer das Libretto für ein neues Werk vor: Marie Stuart, ein drâme lyrique „in fünf Morden und sechs Kostümen für Madame Stoltz“ (Castil-Blaze). Die erste Vorstellung wurde durch die Anwesenheit des Königs Louis-Philippe geehrt; und die Tränen der Königin Marie-Amelie bei der Romanze  „Les Adieux brachten dem Komponisten das Kreuz der Ehrenlegion ein. Theophile Gautier fand die Musik „voll von Kunst, Wissenschaft, Anmut und Melodie“, warf Niedermeyer  aber vor, zu wenig Schwungwie auch zu häufig die Molltonart eingesetzt  zu haben,  was  der  Musik gelgentlich eine  etwas glanzlose Farbe gebe. Der Erfolg hielt dennoch drei Jahre an, dann wurde die Oper auf den Spielplan des Königlichen Theaters Stuttgart (!!!) gesetzt.

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Zu Niedermeyer: Szene aus „La Fronde“/ BNO/ Programmheft Martina-Franca

Die Freundschaft mit Rossini hatte während des Aufenthaltes in Neapel begonnen und führte zu einem merkwürdigen Ergebnis. Nach Marie Stuart forderte die Musikakademie eine neues Werk von Rossini. Dieser stimmte dann zu, einige Werke zu adaptieren, und vertraute Niedermeyer die undankbare Aufgabe an, die Teile zusammenzufügen. Im Jahr 1845 ließ sich Niedermeyer also in Bologna bei Rossini nieder und machte sich an die Arbeit für Robert Bruce. Es wurden nicht weniger als fünf Opern – Zelmira, La donna del lago, Torvaldo e Dorliska, Bianca e Falliero und Armida – „geplündert“. „Wir haben nicht den Mut, Skandal zu rufen, da diese Nachahmung das französische Repertoire mit sehr schönen Melodien aus Opern, die man nicht mehr spielt, bereichert hat“, schrieb die Kritik. Die Premiere am 30. Dezember 1846 – dasselbe Jahr wie das von La Damnation de Faust von Berlioz – verlief stürmisch. La Stolz, von den Logisten bepöbelt, lief wütend über die Bühne und zerriss ihr Taschentuch mit den Zähnen. Skan­dal!!! Castil-Blaze beurteilte die Ausführung als lächerlich in jeder Hinsicht. Er erzählte, dass Rossini sich selbst über „diesen edlen Abklatsch“ lustig gemacht habe.

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Niedermeyer hatte kaum mehr Glück mit seinem letzten  Opern-Versuch auf ein Libretto von Auguste Marquet und Jules Lacroix La Fronde mit einem historischen Thema. Denn trotz der vielen Intrigen, die zum Misserfolg führten, findet man auch viele Stellen, die aus anderen Opern der Zeit abgeschrieben sind.

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Zu Niedermeyer: Szene aus „Marie Stuart“ auf einer Beilage der Firma Chcolat Guèrin-Boutron/ OBA

Nein, das Interesse am opernnahen Werk Niedermeyers orientiert sich eher an der Unzahl der Klavierfassungen von Arien und Szenen für Klavier und andere Instrumente. Im Alter von 59 Jahren wurde er durch eine Angina pectoris dahingerafft und hinterließ seine Familie in Armut. Der Zauber des Melodikers wie auch der des Theatermannes wurde durch die Umstände der Zeit überschattet. Er war jedoch der erste, der das Modalsystem in der modernen Musik einführte, dank seiner Arbeit über die Begleitung des (gregorianischen) Chorals. Seine theoretische und praktische Lehrtätigkeit, die durch die Abhandlung von Lefevre konkretisiert wurde, bildete den Fokus der Harmonik von Fauré, Méssager, Chabrier, Debussy und Ravel. Schließlich erlaubte die bemerkenswerte Popularisierung der Werke des 16. und 17. Jahrhunderts einer großen Anzahl von Menschen, sie ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu hören, zu verstehen, sie zu verbreiten und so der Musik einen weiten Forschungsbereich zu öffnen. Stefan Lauter

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(Der Artikel von Stefan Lauter orientiert sich an einem Aufsatz von Benedicte Palaux Simonnet in der französischen Zeitschrift Opera International/Juli 2002; Dank an Ingrid Englitsch für die Übersetzungshilfen und Wolfgang Denker für die Archivarbeit; Robert Bruce erschien bei Dynamic, weitere kleine Werke von Niedermeyer gibt es bei youtube, und eine Arie aus Stradella gesungen von Véronique Gens bei Alpha. Das Foto oben zeigt Maria Stuart in der Illustration für Schillers Drama von Ramberg 1859/ OBA)

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Seit dem Jahr 2000 bringt die Oper im Knopfloch Zürich Jahr für Jahr ein Stück vernachlässigten Musiktheaters auf die Bühne, von Barock bis Gegenwart, von Hasse über Hahn zu Heggie, von zwei Vertonungen von The Importance of Being Earnest (Paul Burkhard und Castelnuovo-Tedesco) über Prestami tua moglie von Leoncavallo zu Offenbachs Geneviève de Brabant, Sullivans Zoo und Waltons Bear nach Tschechov, um nur das Feld abzustecken – stets mit mehr Einfallsreichtum und Charme als Platz und Mitteln. 2018 hat diese Pêcheuse de perles unter den freien Opernkompanien der Deutschschweiz sich nichts Geringeres als eine Grand Opéra vorgenommen, die 1844 uraufgeführte Marie Stuart von Louis Niedermeyer (Première am 20.10. 2018). Dem Nichtspezialisten ist der 1802 in Nyon am Genfersee geborene Komponist mit bayerischen Wurzeln, der ab 1825 bis zu seinem Tode 1861 in Paris lebte und wirkte, am ehesten noch ein Begriff als Gründer und Direktor der École Niedermeyer daselbst, zu deren Zöglingen u.a. Saint-Saëns, Fauré und Messager zählen.

Diese Grand Opéra nun also im rund 80 Plätze zählenden Kellertheater Stok in Zürich, vom Publikum für die Atmosphäre, die Steinmauern, Pfeiler und Gewölbe geliebt, von der Regie für die maximal 24 m2 Spielfläche ohne Hinterbühne, dafür mit Publikum auf drei Seiten, gefürchtet. Ohne Chor, ohne Ballett, mit sechs Sängerinnen und Sängern und einem dirigentenlosen Holzbläserquartett – zweifellos ein kühnes Unterfangen, aber im vorliegenden Fall gewusst wie. Angefangen bei dem gelungenen Bläserarrangement von Jiří Slabihoudek, ein Klangkörper, der sich für den aufgrund der Mauern resonanzreichen Raum, wo schon ein Flügel überakustisch werden kann, ausgezeichnet eignet. Ob die Oboe Hornrufe imitiert oder die Flöte mit Flatterzunge Streichertremolos ersetzt – Isabell Weymann (Flöte), Elena Gonzalez (Oboe), Gurgen Kakoyan (Klarinette) und Alessandro Damele (Fagott) sind ein fabelhaft farbenreiches Orchester, von Kateryna Tereshchenko bestens einstudiert, und begleiten die Sänger/-innen mit aller gebotenen Aufmerksamkeit.

Regisseur Yaron David Müller-Zach findet ebenfalls einen überzeugenden Weg, die für eine Ausstattungsschlacht konzipierte Grand Opéra als Kammerspiel in Bild und Szene zu setzen. Fünf Stühle, Herbstlaub auf dem Boden und einige markante Requisiten reichen. Eine Krone (die im Lauf des Abends ebenso oft auf Köpfen wie auf dem Boden zu sehen ist), ein Kranz aus weißen Rosen als ihr Gegenstück (Macht und Liebe…), ein Dolch, je eine Fahne für die drei Spielorte Frankreich, Schottland und England – ach ja, die Oper beginnt mit Marie Stuarts Abschied von Frankreich, von wo sie aufbricht, um Königin von Schottland zu werden. Etwas französische Erde nimmt sie in der gefalteten französischen Lilienfahne mit, wo sie sie zuletzt im englischen Kerker wiederfindet. Weitere Stationen der Handlung: Maries Hochzeit mit Lord Darnley; dessen Verschwörung mit Maries missgünstigem Halbbruder Murray zu Ermordung von Rizzio, dem Sekretär und Liebhaber der Königin; Marie in Hausarrest nach der Ermordung ihres Gatten, wo sie zur Abdankung zu Gunsten Murrays gezwungen wird; schließlich die Begegnung mit Elizabeth I. im englischen Kerker – anders als die Akte davor nun zweifellos von Schiller inspiriert, auch ohne figlia impura di Bolena.

Oper im Knopfloch, Zürich: „Marie Stuart“ von Louis Niedermeyer/ Szene/ Foto wie auch oben  Bernard Fuchs

Auch die große Geste verbietet sich in der intimen Theatersituation – sie wird ersetzt durch konzentriertes, psychologisch glaubwürdiges Spiel im eben stets angedeuteten Bühnenbild. Rosina Zoppi, die künstlerische Leiterin der Oper im Knopfloch, vollbringt darin eine großartige Leistung mit sparsamer, aber ausdrucksstarker Gestik und Mimik. Ihre Marie Stuart ist frei von falschem Pathos, glaubwürdig in jeder Lage und hoheitsvoll durch die selbe Schlichtheit, mit der sie z.B. das Adieu von Frankreich auch musikalisch tiefempfunden gestaltet. Bothwell, der sich noch in Frankreich in sie verliebt und bis zur misslingenden Flucht aus der schottischen Haft ihr treu bleibt, ist Raimund Wiederkehr mit geschmeidig geführtem Tenor, dem die Eleganz der lyrischen Nummern ebenso zu Gebote steht wie die Intensität für die heldischen Momente. Mit seinem lebendigen Spiel ist er schon als Verliebter eine interessante Figur; packend in dem Duett, wo er Marie sowohl gestehen muss, dass er bei Rizzios Ermordung mit von der Partie war, als auch Fluchthilfe anbieten will. Im A-capella-Trio der Herren ist er die klangschöne Stütze. Den schmierigen Intriganten Murray portraitiert der Bariton Fabrice Raviola vom ersten Moment an plastisch; in seiner zweiteiligen Arie zeigt er unerwartet differenzierte Aspekte (von Niedermeyer komponiert, von Raviola eindringlich interpretiert): im langsamen Teil Gewissensbisse Marie gegenüber, im schnellen die wütende Gier nach der Krone, durch seine Demütigung als Bastard der Stuarts motiviert. Den andern beiden tiefen Männerpartien – Maries Gatten Darnley und ihrem Widersacher Lord Ruthven – leiht Aram Ohanian seinen kernigen, angemessen dunkleren Bariton. Die Rollen wechselt er z.T. auf offener Bühne per einfachem Jackettwechsel. Bei der Gelegenheit ein Lob an die kleidsamen und die drei Nationalitäten mit Einzelelementen anzeigenden Kostüme von Antonia Stadlin.

Als Page Georges erfreut Nicole Hitz mit höhensicherem und agilem Sopran. Im Duett mit der Königin stellt sie offenbar auch den gleich danach gemeuchelt werdenden Hofmusiker und Favorit Rizzio dar. Ob die Ensemblenummer, die den Mord an Rizzio (und zugleich die Pause) rahmt und auf Auld lang syne beruht, auch originaler Niedermeyer ist, der sich einer schottischen Melodie bedient, entzieht sich meiner Kenntnis.

Erst im letzten Akt tritt Elizabeth I. auf – Stephanie Bühlmann, die zunächst als Figur überraschend jung und unsicher wirkt, bezieht Autorität aus ihrem schön gerundeten Sopran und erlangt in der Auseinandersetzung mit Marie auch szenisch Postur. Die Szene ist kraftvoll komponiert, eine echte Alternative zu Donizettis Version. Überhaupt wirkt Niedermeyers Musik auf mich melodisch inspiriert und voller verschiedener Tonfälle für die Stimmungen von lieblich-idyllisch bis zu dramatischen Konflikten und Racheensembles. Vergleiche fallen mir nach einmaligem Anhören schwer, aber der Rossini des Tell und Auber scheinen mir am nächsten zu sein. Bei einer Spielzeit von rund 2 Stunden (ohne die Pause) ist sicher einiges gestrichen worden (wohl vor allem Chöre, Ballette und andere Massennummern), aber selbst wenn das Gestrichene alles schwächer als das Gehörte sein sollte, würde ich diese inspirierte und bühnenwirksame Komposition sehr gern vollständig an einem großen Haus hören. Bis zum 28. Oktober kann man diese Rarität noch in der gelungenen Fassung der Oper im Knopfloch kennen lernen (www.operimknopfloch.ch) – nichts wie hin! Samuel Zinsli

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Neue Recitals

 

 

Classic Vienna klingt irgendwie nach André Rieu. Nicht doch. Dahinter verbirgt sich ein anspruchsvoll ausgewogenes Programm, das Lena Belkina auf ihrem zweiten Album vorlegt (Sony Classics 88985441842). Die in Taschkent geborene, in der Ukraine aufgewachsene und in Kiew sowie in Leipzig ausgebildete Mezzosopranistin war ab 2009 für drei Jahre Ensemblemitglied der Oper Leipzig und sang dann Kleines an der Wiener Staatsoper (Flora und die Zweite Elfe), aber auch die Zweite Dame und Cherubino. Sie trat in Pesaro auf, war häufig Rossinis Aschenputtel und wird im Herbst in Genf die Rosina und 2018 in Lausanne die Elena in La donna del lago singen. Bereits im Frühjahr 2015 hat sie in Wien mit dem Radio Sinfonieorchester des ORF unter dem 33jährigen Noch-GMD des Gerhart-Hauptmann-Theaters Andrea Sanguinetti, die gleich mit der Così-Ouverture aufhorchen lassen (es folgen noch Glucks Armide-Ouverture und die Sinfonia aus Haydns Acide e Galatea) das stilsichere Mozart-Gluck-Haydn-Programm aufgenommen. Mit ihrem klangvoll dunklen, weich abschattierten, bruchlos durchgebildeten Mezzosopran gibt Belkina dem Sesto („Parto, ma tu ben mio“) und Idamante („Il padre adorato“) ein Gesicht und singt Szene und Rondo „Ch’io mi scordi di te“ ebenso brillant wie in den lyrischen Passagen erfüllt. Belkina ist eine geschmackvolle und kultivierte Sängerin, deren Vortrag Eleganz und Ausdruck verbindet und deren Stimme sich in den lyrisch-elegischen Gluck-Szenen (Orfeos „Che puro ciel“ und Parides „Oh, del mio dolce ardor“) und Haydns freilich auch leidenschaftlich geschärfter Szene der Berenice („Berenice, che fai?“), wo sie manchmal von verhangener Grobkörnigkeit ist, am schönsten entfaltet. Temperament zeigt sie in Costanzas „Se non piange un’ infelice“ aus Haydns Isola disabitata.

 

Bei ihrem Bayreuth-Debüt 2013 als Freia in Castorfs Ring hatte die damals 37jährige Schwedin Elisabet Strid wenig Fortune. Noch einmal kehrte sie im folgenden Jahr zurück, dann suchte sie, die in ihrer Geburtsstadt Malmö und in Stockholm ausgebildet wurde und ihren Durchbruch 2006 als Rusalka hatte, ihr Glück andernorts. Als Senta in Düsseldorf, Chrysothemis in Helsinki, Salome und Siegfried-Brünnhilde in Leipzig. Oder es zog sie nach Sofia, wo sie im Mai 2016 mit dem Bulgarian National Radio Symphony Orchestra unter Ivan Anguelov Leuchtende Liebe aufnahm, eine Leistungsschau in Sachen Wagner von der Ada in Die Feen über Elisabeth, Senta, Elsa, Isolde und Sieglinde bis zu Brünnhildes „Ewig war ich“, der sie Leonores „Abscheulicher! Wo eilst hin? vorangestellt hat (Oehms Classics OC 1882). Die Fidelio-Leonore gerät ihr noch zögerlich, ein wenig flach in der Tiefe und vorsichtig in der Höhe, doch bereits ihrer Senta merkt man die Bühnenerfahrung an. Strid singt mit heller, klarer, jugendlich-dramatisch zupackender Attacke und rechter Durchschlagskraft, ohne jedoch besonders individuell zu wirken. In der sauber austarierten „Hallenarie“ der Elisabeth ist der Klang raumgreifend groß und leuchtend, doch in der Höhe auch unstet flackernd; bei „Allmächt’ ge Jungfrau“ wirkt sie, wie auch bei Elsas „Einsam in trüben Tagen“, nicht sehr involviert bzw. fehlt es der Stimme an Wärme und Innigkeit. Ein wenig davon zeigt sie in Isoldes „Liebestod“, als Sieglinde („Der Männer Sippe“ und „Du bist der Lenz“), aber auch in Brünnhildes zartem „Ewig war ich“, doch insgesamt scheinen ihr die dramatischen Höhepunkte eher zu liegen. Da ist man dann auch zufrieden, dass die Aufnahme mit 53 Minuten nicht übervoll ausgefallen ist.

 

Fast schon ein Altmeister mit einer umfangreichen Diskographie ist der Erfurter Stephan Gentz, der bereits seit zwei Jahrzehnten im Geschäft ist bzw. auf den Konzertprodien, seltener auf der Opernbühne, aber als Lehrer auch am Pariser Conservatoire anzutreffen ist. Ebenso lange währt die Partnerschaft mit Michel Dalberto, mit dem er im Frühjahr 2017, ergänzt um das Klavierstück D 946, Schuberts Schwanengesang aufnahm (aparté music AP 151) und die André Tubeuf im Beiheft (frz., engl. und dt.) sehr schön beleuchtet. In der posthum als Schwanengesang veröffentlichten Sammlung von 14 Liedern auf Texte von Rellstab, Heine und Seidl zeigen Gentz und Dalberto wie eng und meisterhaft sie als Duo verschmolzen sind, wie gleichermaßen instinktiv und klug beobachtend sie auf einander reagieren und Momente von theatralischer Intensität erzeugen. Das zeigt sich in den behutsam und dicht ausgebreiteten Rellstab-Liedern, deren Texte nicht das Niveau Heines erreichen – und die bei der Aufnahme von den restlichen Liedern durch das zweite Klavierstück D 946 getrennt wurden. Das Duo beschwört eine feine, grau getönte, intensive Winterreise-Atmosphäre, die den Schwanengesang aber nicht duster einebnet, sondern auch das heitere „Ade! Du muntere, du fröhliche Stadt“ zur Geltung bringt. Genz singt mit fahlen Farben, gebrochen im Ausdruck, sehr zurückgenommen im Klang, behutsam, leise, fast flüsternd und uneitel, Die Diktion ist fabelhaft. Wie gekonnt er über die gesamte Palette an Klangfarben und einen schönen Ton verfügt, zeigt Genz mit seinem hier kraftvoll und energisch eingesetzten Bariton beispielsweise in „Am Meer“ und „Der Doppelgänger“.

 

Einen leichteren Spaziergang unternimmt die französische Harfenistin Sandrine Chatron, die sich für A British Promenade durch die englische Musik des 20. Jahrhunderts die Cellistin Ophélie Gaillard und den Tenor Michael Bennett als Begleiter geholt hat (aparté music AP 140). Der Spaziergang führt vorbei an Bedeutendem und (viel) weniger Bedeutendem. Im (nur englischsprachigen) Beiheft wird darauf hingewiesen, dass die Mehrzahl der ausgewählten Komponisten an den Hochschulen des Königreiches ausgebildet wurde und einige später wiederum hier lehrten – Herbert Howells, Eugène Goossens, Edmund Rubbra und Britten am Royal College of Music, Granville Bantock und York Brown an der Royal Academy of Music; Die Stücke entstanden in den 1920er bis 60er Jahren und dürften für interessierte Hörer eine Fundgrube sein. Wann hört man schon Werke von Cyrill Scott und Grace Williams, die allerdings insofern eine Ausnahme darstellen, da sie in Frankfurt und Wien ausgebildet wurden. Rolf Fath