Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Genre-Hopping

 

Wieder einmal hat sich der Palazetto Bru Zane in seiner Portrait-Reihe (Vol. 4) um die Erforschung und Darlegung der romantischen Musik in Frankreich verdient gemacht. Ein 3-CD-Buch-Album im gewohnten (wenngleich für CD-Regale etwas unbequemen) Hochformat bietet einen umfangreichen Überblick über Félicien Davids Oeuvre, aus dem bislang Lieder, zwei Opern und die Oden-Kantate Le Désert erschienen sind, Le Désert sogar vor Jahren schon in einer Berliner Aufnahme bei Koch/ Capriccio (1982), eine andere Einspielung gab es im vergangenen Jahr beim Palazetto. Weitere Aufnahmen von David sind die Oper Herculanum bei Ediciones Singulares, Lallah-Roukh aus den USA bei Naxos, Lieder mit Tassis Christoyannis ebenfalls bei Ed. Singulares sowie Klaviermusik bei Naxos. David ist nicht mehr wirklich ein Unbekannter.

 

Félicien David: Portrait vol. 4/ Palazetto Bru Zane/ Ediciones Singulares

Nun dirigiert Francois-Xavier Roth am Pult der Brüsseler Philharmoniker und dem Chor des Fämischen Rundfunks die Kantate Colombe ou La Découverte du Nouveau von 1847, das nachgelassene Oratorium Le Jugement dernier und 7 Motetten; weiters gibt es wieder Lieder und Kammermusik  sowie die Ouvertüre zur Oper Le Perle du Brésil – ein wirklich breites Spektrum, das alle Kategorien abdeckt und das diesen interessanten Komponisten in der Mitte des 19. Jahrhunderts beschreibt, der durch seine Reisen namentlich in den Orient eine ganze Stilrichtung hervorgerufen hatte und der zwischen der post-napoleonischen Periode und der Zeit der späteren Romantik in der Musik Frankreichs steht. Mehr als ein deutscher Rezensent kann Alexandre Dratwicki, Musikwissenschaftler und Künstlerischer Leiter des Projektes zur Förderung der romantischen französischen Oper in Frankreich beim Palazetto Bru Zane Venedig zu den hier aufgenommen Stücken etwas sagen, daher folgen im Anschluss seine Ausführungen zu David als Vokalkomponist, die wir seinem Artikel aus der neuen Veröffentlichung in unserer eigenen Übersetzung entnommen haben.

Zu den Vokal-Solisten dieser Aufnahmen zählen Chantal Santon-Jeffery, Julien Behr, Josef Wagner, Jean-Marie Winterling, Cyril Dubois für die Lieder sowie Hervé Niquet am Pult der Brüsseler Philharmonie und dem Chor des Flämischen Rundfunks. Die beigefügten zweisprachigen Artikel (wieder nicht in Deutsch) sind von Ralph Locke (Les horizons d´un voyageur romantique), Gunther Braam (Christophe Colombe, ode symphonique 1847), Alxeandre Dratwicki (Félicien David, d´un genre á l´autre) sowie Erinnerungen von Camille Saint-Saens Nachruf (In mémoriam Félicien David) – außerordentlich lesenswert. Zudem haben wir in operalounge.de viel über David geschrieben. Es lohnt sich nachzulesen, vor allem über seine wirklich bemerkenswerte Oper Herculanum sowie Lallah-Roukh (Félicien David – Portrait Vol 4; 3 CD, Edicones Singulares ES 1020 9788460684398). G. H.

 

Und nun Alexandre Dratwicki: Félicien David (1810–1876) wurde lange Zeit hinsichtlich der Geschichte der französischen Musik gleichsam negiert – ausgenommen die Erwähnung des großen Erfolges seiner sinfonische Ode Le Désert (1844). Er war neben Berlioz nicht nur der Erfinder dieses musikalischen Genres, welches einen signifikanten Anteil an gesprochenem Wort enthält, sondern auch einer der ersten Komponisten der Romantik, der ausgedehnte Reisen in den Orient unternahm. Neben seinem Betätigungsfeld auf dem Gebiet der klassischen Sinfonik und der Komposition von Quartetten und Trios in der österreichisch-deutschen Tradition widmete er sich mit Herculanum (1859) ebenso der Grand Opéra. Dieses CD-Buch zeigt alle Facetten dieses Meisters der Exotik, eines wahrhaftigen Delacroix der Musik. Dem Zuhörer wird es erstmals ermöglicht, die sinfonische Ode Christophe Colombe (1847) zu entdecken wie auch die Schlussapokalypse von Herculanum, die vor der Premiere geschnitten und niemals veröffentlicht wurde: Le Jugement dernier.

 

Der Komponist David in seiner eigenen ewigen Wüste – Karikatur aus „Le Monde qui rire“/OBA

Werke für Stimme und Orchester: Es war der Erfolg von Le Désert, der Félicien David zunächst in der Pariser und kurz darauf auch in der internationalen Musikszene etablierte. Obschon das Werk zunächst aufgrund seines orientalischen Hintergrundes zu gefallen wusste, betonten die Kommentatoren auch die Präsenz des Sprechers, der einen poetischen Text über einem dezenten orchestralen Hintergrund vorträgt. Dieses theatralische Element überraschte das Publikum im Jahre 1844 nicht über die Maßen, war doch die Technik des Melodrama seinerzeit in den Theatern von Paris weit verbreitet, allen voran in der Comédie-Française. Für Verwirrung sorgt zuweilen die Behauptung, es handle sich bei Moïse au Sinaï und L’Éden um frühere Beispiele für dieses spezifische Genre. Tatsächlich aber waren dies Oratorien; keines von beiden wurde indes dem Pariser Geschmack gerecht. Le Jugement dernier ist ebenfalls keine sinfonische Ode, aber auch weder eine Kantate noch ein Oratorium. Dieses Stück, das für beinahe 200 Jahre nur ein Manuskript blieb, ist die Apotheose der Oper Herculanum (1859), ein derart schwierig aufzuführendes Finale, dass es vor der Premiere kurzerhand gestrichen wurde. In der Art der großen Crescendi von Berlioz geschrieben, stellt es den Chor der Erwählten dem Chor der Verdammten gegenüber und überstieg dadurch die vokalen Möglichkeiten der allermeisten Theater. Die erzählerische Bahn, im Libretto klar vorgegeben, erlaubt es uns, die Auferstehung der Toten zu hören – unglücklicherweise können wir sie nicht sehen –; die Trompete erschallt zum Jüngsten Gericht, die Verdammten stürzen kummervoll in den Abgrund der Hölle, während die Erwählten die Herrlichkeit Gottes preisen. Der cor anglais, an Berlioz gemahnend, färbt die Momente von Pein und Selbstprüfung, während die massierten Blechbläser meisterlich in den gemeinsamen Passagen erklingen. Unter all der Raffinesse der Orchestrierung mögen insbesondere die Streicher (teilweise weitreichend unterteilt) in deren oberstem Register herausstechen, besonders hinsichtlich der Harmonik. Die gebieterischen Themen der Hörner und Posaunen, welche den Trompeten des Gerichts folgen, bilden eine Verbindung zum Herculanum: an diesem Punkt vernehmen wir das Motiv des Magnus aus dem Ende des ersten Aufzugs. Es setzt hier seine volle Bedeutung fort, steht es doch in der Oper für den Untergang der dekadenten römischen Zivilisation und hier nunmehr als Symbol für die Apotheose.

Auch wenn Moïse au Sinaï und L’Éden auf wenig Gegenliebe beim Publikum stießen, sorgte Christophe Colombe (1847) doch für eine aufrichtige Rehabilitierung Davids und führte ihn zurück auf die Straße des Erfolgs. Ursprünglich auf drei Teile ausgelegt, entschied sich der Komponist letztendlich für vier. Tatsächlich ist der zusätzliche Abschnitt, La Révolte, in dramatischer Hinsicht die beste Passage. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass David damit seine herausragenden Fähigkeiten als Opernkomponist demonstrieren wollte. Es waren sodann wirklich die Erfolge von Le Désert und Christophe Colombe, die ihm die Türen des Théâtre-Lyrique öffneten. Als Resultat fand dort im Jahre 1851 die Uraufführung von La Perle du Brésil statt, welches lange Zeit berühmt blieb für eine Koloraturarie der Heldin. Aber auch die Ouvertüre – eingespielt für das vorliegende „Portrait“ – verdient es ebenfalls, Eingang ins Repertoire zu finden. Es handelt sich um eine großangelegte Sonatenform mit einer langsamen Einleitung, die deutlich inspirierter klingt und kunstfertiger umgesetzt ist als es im Potpourri-Modell jener Zeit üblich war. Nach einem feierlichen Marschmotiv, das mehrere Male wiederholt wird, kündigen die Holzbläser eine Melodie an, die von den Celli mit Inbrunst aufgenommen wird. Obgleich der für Davids orientalischen Stil typische harmonische Tonfall hier fehlt, können wir eine leidenschaftliche Romantik genießen, die augenblicklich mitteilsam erscheint. Das nachfolgende erweiterte Allegro vermengt meisterhaft verschiedene lebendige Themen, deren Farbenreichtum von den tiefen Registern der Klarinetten bis zu den höchsten Noten der Piccoloflöten geht. In der Nachfolge von Auber und Hérold, zuweilen aber auch mit einem Hauch von Beethoven, erschafft David hier neben den Ouvertüren zu Le Saphier und Lalla-Roukh einen seiner besten orchestralen Sätze.

 

Der Musikwissenschaftler Alexandre Dratwicki ist der wissenschaftliche Leiter beim Projekt Palazetto Bru Zane/ PBZ

Lieder: Oper, romance, Klavierstück: Im 19. Jahrhundert waren die ästhetischen Grenzen zwischen den verschiedenen Genres Grenzen jenseits des instrumentalen Mediums in gewisser Weise durchlässig. Félicien David komponierte Klavierwerke wie Le Soir (Abend), die den Charakter von „Liedern ohne Worte“ besitzen. In Larmes et Regretes (Tränen und Bedauern) gibt er zu erkennen, dass „die Melodie (le chant) breit und mit großem Ausdruck gespielt werden muss“. Quellen der Inspiration und Gemütsverfassung sind sowohl den Domänen der Vokal- als auch der Instrumentalmusik vertraut: dem Salon und dem Opernhaus. Träumereien sind oftmals mit Melancholie (Le Soir hat den Untertitel Rêverie pour piano), Seelandschaften und Exotik gefärbt; vom Titel oder Gedicht mehr heraufbeschworen als von der Musik selbst. Beispielsweise könnte die Romance Éoline in einer Orchestrierung leicht für eine wirkungsvolle Arie der Opéra-Comique gehalten werden. Ihre Klavierbegleitung scheint danach zu schreien, für Streicher umgeschrieben zu werden, während die bescheidenen Ausmaße die Bühnenhandlung nicht allzu lange unterbrächen. Le Ramier gehört zum selben vokalen Stereotyp, wenngleich heiterer im Charakter.

In den 1840er Jahren verwandelte sich die romance schrittweise in die mélodie. Auch wenn David am Ideal des Schlichtheit á la Rousseau festhielt und sehr oft die quasi-hypnotische Strophenform beibehielt, pflügte er bereits das Feld, in welches Berlioz und Gounod ihre Samen setzen sollten. Daher geht der Rahmen von Lamartines Gedicht Le Jour des morts über die herkömmlichen Dimensionen der romance hinaus und mag mit den großen Schubert-Liedern verglichen werden, die in Paris in französischer Übersetzung in Umlauf kamen, ohne sich vor diesen verstecken zu müssen. Man mag die Dramatisierung des Gedichts unterstreichen, die Emanzipation des Klavierparts und die Erhöhung des Ausdrucks in Bezug auf Harmonik und stimmliche Kontraste. Die romance offerierte David ebenso die Möglichkeit, den orientalischen Stil, der ihm solche Erfolge einbrachte, weiter zu entdecken. Dieser Bezug ist offensichtlich in L’Égyptienne mit ihren hochcharakteristischen Rhythmen und tritt subtiler auch in der großartigen Tristesse de l’Odalisque zu Tage. Ein weiterer Denkansatz, den der Komponist nicht geringschätzte, war die soziale oder politische Dimension, den sich das Liedrepertoire selbst verlieh: die Welle kollektiver Solidarität in Cri de charité oder die patriotische Stimulierung in Le Rhin allemand (nach einem Text von Alfred de Musset). Letzteres wurde Ende des 19. Jahrhunderts regelmäßig neuaufgelegt (mit einem Chorteil, der in der vorliegenden Aufnahme weggelassen wurde).

Die Texte entnahmen wir in Ausschnitten dem Artikel von Alexandre Dratwicki: Félicien David, d´un genre á l´autre. Übersetzung Daniel Hauser; Abbildung oben: Detail aus Michelangelos „Jüngstem Gericht“ im Vatikan/ Wikipedia

Herbstliches

 

Bei seiner früheren Plattenfirma Decca hat Matthias Goerne 1999 ein Album mit Bach-Kantaten aufgenommen, bei dem er von der Camerata Academica Salzburg unter Roger Norrington begleitet wurde. Der Bariton interpretierte in seiner Auswahl drei Kantaten – „Ich will den Kreuzstab gerne tragen“ (BWV 56), „Ich habe genug“ (BWV 82) und „Der Friede sei mit dir“ (BWV 158). Nun legt er bei harmonia mundi france die beiden ersten Kompositionen in einer neuen Interpretation vor und zeigt darin eine deutlich gewachsene Reife der Stimme und des Ausdrucks (HMM 902323). Sie klingt nun dunkler und voller, könnte auch in die Kategorie eines hohen Basses eingeordnet werden. Das lässt an den möglichen ersten Interpreten der Kantaten denken, den Leipziger Studenten Christoph Samuel Lipsius, der als Bassist von 1725 bis 27 in der Leipziger Kirchenmusik wirkte.

Die Kantate BWV 56 beginnt mit der Titel gebenden Arie „Ich will den Kreuzstab gerne tragen“, die Goerne mit samtiger Tongebung und beschwörendem Ausdruck anstimmt. Klang in der früheren Aufnahme die Stimme fokussierter, wirkt sie hier Raum greifender und spiritueller. Die zweite Arie „Endlich, endlich“ formuliert der Sänger mit energischem Zugriff, muss aber in den langen Koloraturketten das Volumen auffällig verschlanken.  Zu berührend tröstendem Ausdruck findet Goerne im Rezitativ „Ich stehe fertig und bereit“.

BWV 82 beginnt gleichfalls mit der Arie, welche der Komposition den Titel gab: „Ich habe genug“. Deren Jenseitssehnsucht setzt der Bariton mit eindringlich flehendem Ausdruck und unendlich sanfter Stimmgebung um. Davon profitiert auch die große Arie „Schlummert ein“ im Zentrum der Komposition mit ihrem wiegendem Rhythmus, welche sich durch Goernes weichen, besänftigenden Ton nachdrücklich einprägt. Die Todeserwartung der letzten Arie „Ich freue mich auf meinen Tod“ gestaltete Bach als lebhaft beschwingten Tanzsatz und Goerne findet dafür einen atemlos drängenden, ekstatischen Duktus.

Diesmal begleitet den Solisten das Freiburger Barockorchester unter der kompetenten Leitung von Gottfried von der Goltz. Das Ensemble ergänzt das Programm mit dem Konzert für Oboe d’amore, das eine Rekonstruktion des Konzertes für Cembalo in A-Dur BWV 1055 darstellt. Dem Kopfsatz Allegro von heiter-anmutigem Charakter folgen ein Larghetto als wiegendes Siciliano und das Allegro man non tanto als hurtiges Menuett. Katharina Arfken musiziert das Konzert mit kantabler Tongebung und virtuoser Technik. Bernd Hoppe

Siegfried Köhler

 

Die Nachricht vom Tode Siegfried Köhlers am 12. September 2017 in Wiesbaden überraschte viele Musikfreunde, die den Dirigenten noch aus seiner Wiesbadener Zeit in Erinnerung hatten, wo er – zu meinem Vergnügen und meiner großen Wertschätzung – das „schwere“ Fach ebenso leitete wir das Heitere. Strauss und Wagner mit den Legenden vom Haus ohne ihn schienen gar nicht vorstellbar. Ich verdanke ihm die Erinnerung an viele wunderbare Abende im stimmungsvollen Wiesbadener Haus. Ein bedeutender deutscher Kapellmeister ist gestorben – solche wie ihn gibt es nicht mehr! Für den Verband Deutscher Harfenisten, zu dem Köhler eine besondere Verbindung schon wegen seiner Grundausbildung als Harfenist hatte, schrieb Kai Adomeit  einen liebevollen Nachruf, den wir mit Dank im Folgenden übernehmen. G. H.

 

Er war eine dieser Persönlichkeiten, die zum Kulturleben in Deutschland dazugehörten wie die Noten zur Musik: Das Ehrenmitglied des VDH Siegfried Köhler. Geboren am 30.Juli 1923 in Freiburg im Breisgau, gehörte er noch jener Dirigentengeneration an, die ihr Handwerk von der Pike auf lernte, wenn auch mit einem ganz besonderen instrumentalen Akzent denn anders als die meisten Dirigenten kam er nicht etwa vom Klavier sondern studierte an der Musikhochschule Freiburg – Harfe! An der dortigen Oper war er denn auch bald regelmäßig als Aushilfe im Orchestergraben zu erleben, bevor er 1941 als Harfenist und Solorepetitor ans Theater Heilbronn ging.

Doch auch an ihm ging der Krieg nicht vorüber, und so tauschte er den Frack 1942 für drei Jahre gegen die Soldatenuniform ein. Aus dem Krieg zurückgekehrt entschied sich Siegfried Köhler für die Dirigentenlaufbahn, wurde 1946 Kapellmeister und 1952 erster Kapellmeister in Freiburg. 1954 verließ er seine Heimat, um als Kapellmeister zunächst nach Düsseldorf, 1957 dann nach Köln zu wechseln. Ab 1962 war er dort als stellvertretender GMD bereits im Interim Leiter des Hauses, bevor er 1964 als GMD an das Staatstheater Saarbrücken ging, wo er auch als Professor Leiter der Dirigierklasse an der Hochschule des Saarlands wurde.

1974 wurde Siegfried Köhler dann Generalmusikdirektor des Hessischen Staatstheaters Wiebaden, dessen musikalischer Leiter er für 14 Jahre werden sollte: Die Verbindung Wiesbaden – Köhler wurde nicht nur in Insiderkreisen zu einem Synonym und bis heute hört man noch in Musikergesprächen Sätze wie „Wer ist eigentlich grad dort Chef?“ – „Jetzt? Na, früher war Siggi Köhler da…..“!

1992 dann, in einem Alter in dem moderne Dirigenten oft schon kürzer treten und sich eigentlich gar nicht mehr fest binden wurde Siegfried Köhler Königlicher Hofkapellmeister an der Oper in Stockholm. Für dreizehn Jahre wurde er dort zu einem Garant für grosse Opernabende bevor er, nun doch etwas kürzer tretend, bis in hohe Alter als reisender Gastdirigent tätig  war.

Legendär waren seine Einspringer, in denen er seine ganze Routine und sein Können mit Spontaneität verband, etwa in Nizza, wo er 20 Minuten vor Beginn einer „Walküre“ eintraf und Orchester und Ensemble zu einem unvergessenen Abend mitriss.

Ich hatte das große Glück, Siegfried Köhler etwa ab dem Jahr 1990, selbst in der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz als Pianist sitzend, erleben zu dürfen. Hier war eine Mischung aus Musikantentum und völlig souveränem Dirigieren zu erleben die, wie ich mit den Jahren lernte, keineswegs selbstverständlich war und ist.

Ohne jegliche Allüren seinerseits – den „Professor“ verbat er sich fast, nannte ihn überhaupt außerhalb der Probe jemand (in allem Respekt, wohlgemerkt!) anders als „Siggi“? – ging es nur um das Werk und seine bestmögliche Umsetzung. Manchmal war durchaus seine Ungeduld zu spüren, wenn er ein Werk dass er aus vollem Herzen dirigierte dem Orchester erst geduldig erklären musste. Wurde es dann in der Probe unruhig hob er dann doch seine Stimme und nie werde ich das Gesicht eines im Dienst schon ergrauten Stimmführers vergessen, der plötzlich ein „Kinder! KINDER! Jetzt seid mal nicht so ALBERN!“ zu hören bekam! Ihm fiel es natürlich leichter als uns, sein berühmtes „steht doch schon alles in den Noten….!“ Und sein ebenso klassisches „leicht, Kinder, alles ganz leicht…“ sind bis heute lebende Erinnerungen an ihn. Doch wenn dann das Konzert anstand, konnte man erleben was hingebungsvolles Musikmachen bedeutet: Mit leuchtenden Augen stand dann ein Dirigent vor dem Orchester der mit so hingebungsvollem Schwung Wagner, Brahms oder auch seine eigenen Werke („ich hab da was geschrieben…“) zelebrierte, dass man sich nach dem Konzert sofort fragte, wann „Siggi“ denn nun wiederkäme.

Wirklich unvergesslich eine konzertante „Elektra“ die der 80-jährige, nach einer etwas mühsamen Probenphase im Konzert, das Orchester und das Publikum einfach mitreißend buchstäblich bis zur Weißglut steigerte.

Als Komponist neigte Siegfried Köhler eher der leichten Muse zu, komponierte einige Musicals  und Orchesterwerke (…kann es denn wirklich einen schöneren Musical-Titel geben als „Sabine,  sei sittsam“?), leider nur wenige Werke für Harfe – die „Humoreske“ ist über den VDH zu beziehen.

Sehr lesenswert ist seine, zur Zeit leider offenbar vergriffene Autobiographie „Alles Kapriolen“, in der er auf seine ganz persönliche, niemals prätentiöse Art aus seinem Leben berichtet. Siegfried Köhler verstarb 94-jährig am 12. September 2017 in Wiesbaden, ein Jahr nach seiner Frau. Er wird der Musik und den Musikern sehr fehlen. Kai Adomeit  (Mit freundlicher Genehmigung des Verbandes Deutscher Harfenisten. Foto oben OBA)

Helga Moira

 

Durch die Todesanzeige erfuhr ich vom Ableben meiner alten Freundin Helga Moira (28.6.1935 Hamburg – 28.8.2017 Berlin), die mit 82 Jahren in einem Berliner Altersheim  verstarb. Wir hatten seit einer Ewigkeit nichts mehr von einander gehört, aber ihre starke Persönlichkeit und ihr selbst für Berliner Verhältnisse exzentrisches Auftreten sind mir im Kopf eingebrannt: Ich hatte sie immer für ihre Kompromisslosigkeit bewundert, für ihren fast übermenschlichen Willen, ihre Träume und Sehnsüchte durchzusetzen, ihre Kunst zu leben. Sie war eine Besessene, die keine Abstriche von ihren Zielen hinnahm. Und sie war eine außerordentlich charmante, liebenswürdige Gastgeberin, eine gebildete Freundin, eine herausfordernde Gesprächspartnerin. Daneben war sie auch eine Zerrissene, Unglückliche, Frustrierte. Beide Seiten gehörten zu ihrem Charakter.

Ich erinnere mich an manche schöne Abendessen in ihrem Haus in Berlin oder in Veronas Restaurants ihrer ganz eigenen Wahl. Sie verbrachte die Sommer mit Blick auf die Arena. Dann riss durch viele Umstände unsere Verbindung ab. Ich sah sie gelegentlich in der Stadt, wenn sie mit ihrem roten Flitzer irgendwo vorbeirauschte. Wir trafen uns nicht mehr, aber  ich hörte, dass sie angefangen hatte zu malen, ganz offenbar mit Erfolg und vielleicht damit auch kompensierend, dass ihre Sängerlaufbahn nicht diesen Weg genommen hatte. Nun ist sie gestorben, und es ist mir ein Bedürfnis, ihr mit dem nachfolgenden Interview einen kleinen Gedenkstein setzen zu können. Mein Kollege Stefan Lauter führte 1981 mit ihr ein Gespräch und fuhr im folgenden Jahr ins spanische Vigo, um sie dort als Lady Macbeth zu erleben und von ihr zu schwärmen. Ich möchte, dass Helga Moira, die mich damals so beeindruckt hat, nicht vergessen wird.

 

Eine Hommage an Helga Moira im „Trentino libero“ 1990

Kompromisslos  –  das  ist  der  Begriff, der  sich bei einem Gespräch mit der charmanten und attraktiven Berliner Sopranistin Helga Moira aufdrängt. Sie ist keine „langweilige“ Schönsängerin; ihre Stimme, die vom hohen Sopran einer Turandot bis zum tiefen Alt einer  Dalila  reicht, ist keine bequeme, sondern verlangt vom Zuhörer ebenso viel Engagement wie von der Sängerin selbst, die sich ohne Schonung gegen sich und gegen ihr Publikum in die Verkörperung ihrer Rollen stürzt. Sie hatte aber auch die besten Pädagogen als Ausbilder ihrer ungewöhnlichen Stimme gehabt: Margarete Klose, Richard Sengeleitner, Margarete Lohmann und Sergio Ravazzin, dem ehemaligen Intendanten der Arena di Verona.

In Deutschland ist Helga Moira – wie der sprichwörtliche Prophet im eigenen Vaterland – erstaunlicherweise weniger aufgetreten als in Italien und in anderen Ländern. Möglicherweise liegt das  an der oben erwähnten Kompromisslosigkeit ihres künstlerischen Credos, vielleicht  aber auch daran, daß ihre Stimme nicht unbedingt den kategorisierenden Vorstellungen eines deutschen    Konzert- und Opernbetriebs entspricht. Ihre Kompromisslosigkeit hat es der  Sopranistin ungarischer Abstammung nie leicht gemacht, in einem normalen Opernbetrieb zwischen Verbeamtung und unzureichenden Probenbedingungen Fuß zu fassen. Ihre Ansprüche an künstlerisch zumutbare Arbeitsbedingungen bei ihren  Auftritten im Opernhaus sind groß. Sie wünscht sich lange Probenzeiten und einen guten  Dirigenten, und sie zählt zu ihren schönsten Gesangserfahrungen  die  Auftritte mit  dem inzwischen verstorbenen Dirigenten Yuri  Ahronovitch in Köln oder ihre zahlreichen Liederabende in Verona.  Arienrecitals führten sie nach Salzburg, Treviso, Soave, Neapel, Rimini und Zevio, wo sie im Rahmen der Maria-Callas·Stiftung  am Eröffnungskonzert teilnahm. Ihre Suor Angelica in  Köln unter  Ahronovitch  zeigte  jedoch  deutlich,  dass  ihre  Stimme gerade im  dramatisch-italienischen Fach zu Hause  ist. Ein  Arien-Abend mit  Ausschnitten  aus Macbeth, Forza  del  Destino,  Aida und Un Ballo in Maschera bescheinigte der Sängerin eine schonungslose Anlage der Partien und ein absolutes Identifikationsvermögen mit der je­weiligen Rolle. Dass sie außer in verschiedenen Operettenauftritten (in Hamburg und Berlin) vor allem im Liedgesang in Deutschland  auffällt  –  besonders in Berlin, ihrem Wohnsitz   –   zeigen die vielen Soloabende, die sie in regelmäßigen Abständen gibt und bei denen sie auf ein festes Publikum rechnen kann. Rundfunkaufnahmen sind ein weiterer Bestandteil  ihrer vielseitigen künstlerischen Arbeit.

Helga Moira als Saffi/ Foto privat

Neben den bereits erwähnten Rollen liebt Helga Moira, wie   diese  Auswahl  aus ihrem Fach bereits zeigt, die dramatischen Partien des italienischen  Repertoires,  in dem sie eine   leidenschaftliche Verfechterin von Oper in der Originalsprache ist (1981 ein  weiterer  Grund für ihre  „Fremdheit“   im  Opernbetrieb  kleinerer deutschsprachiger Häuser!).Ihr langer und häufiger Aufenthalt in Italien sichert ihr die musikalische und  sprachliche Beherrschung dieses großen Repertoires. Ihre Wunschrollen sind die Gioconda, die Turandot (die  ihr vor  allem   auch  von  der psychologischen Anlage der Figur liegt), aber auch die Carmen  oder die  Ortrud stehen  ihre nahe.

Ein Anliegen ist ihr die Wiederbelebung der vergessenen Verismo-Opern (Catalani, Cilea, Mascagni), aber auch Salome oder die  Ariadne  liegen durchaus in ihrem  künstlerischen  und  gefühlsmäßigen Bereich und als Wozzeck-Marie kann man sie sich vorstellen. Unter den modernen Komponisten –  denn  sie scheut  sich nicht  vor  moderner und zeitgenössischer Musik – liebt sie vor allem Aribert Reimann, weil er „einer der  wenigen  Mo­dernen ist , die für die menschliche Stimme zu schreiben verstehen!“. Viel Glück  weiterhin, Helga Moira! Stefan Lauter

 

Opernfestival in Vigo, 23. – 28. März 1982  Spanien, nicht übermäßig reich an Opernspielstätten, hat ein neues Festival in Vigo, das auf die Initiative der Freunde der Oper und der kommunalen Verwaltung Vigo zustande gekommen ist und das seine wesentlichen  Anregungen dem Bariton  Sergio de Salas verdankt, der für einen anspruchsvollen Beginn des ersten Festivals sorgte, als er in zweien der drei ausgewählten Opern (Macbeth, Don Carlo und Il Barbiere di Siviglia) die Baritonpartien verkörperte (Macbeth und Rodrigo). Wenngleich es organisatorisch noch reichlich haperte, und vor allem in der Orchesterleitung sich unüberhörbare Mängel auftaten, muss doch der Wille zu einer geschlossenen Kulturleistung, zu einer anspruchsvollen Opernpräsentation  gelobt  werden, die im einzelnen Achtung – manchmal sogar Bewunderung  –  abnötigte und die, mit mehr Routine und   Organisationserfahrung, sicherlich sehr vielversprechend ist.

Helga Moira mit Sergio de Salas und Kollegen beim „Macbeth“ in Vigo 1982/ Foto OFV

Von drei Opern, die beim ersten Festival aufgeführt wurden, war Verdis Macbeth unzweifelhaft die erfolgreichste. Trotz des weitgehenden Ausfalls des Orchesters (für den der Dirigent Ivan Polidori  nicht unbedingt verantwortlich zu machen war) gelangen den drei Hauptdarstellern außerordentlich packende Leistungen. Helga Moira war eine Lady Macbeth von intensiver Gestaltung, musikalisch absolut sicher, ohne jede Höhenschwierigkeit  besonders  in den finali, sehr eindrucksvoll  in  ihrer  zunehmenden Verwirrung angesichts der Entfremdung von ihrem Gemahl, packend vor allem in der Nachtwandlerszene, in der sie ein faszinierendes Porträt dieser aus der Wirklichkeit verrückten Frau gestaltete. Optisch außerordentlich attraktiv, bot sie eine ausgefeilte und stimmlich wie  schauspielerisch erregende  Rollenstudie. Sergio de Salas als  Macbeth konnte seine markante, höhensichere und gut tragende Baritonstimme mit großem Gewinn einbringen, seine letzte Arie  fand ihn ohne ein Zeichen der Ermüdung, schauspielerisch wie stimmlich war auch er von großer Intensität. Nicola Ghiuselev als Banco nutzte seinen kurzen Auftritt  mit allen Mitteln, sein Solo sang  er mit  schönem schwarzem Bass. Unter den restlichen Mitwirkenden in dieser nicht uninteressanten Inszenierung imponierte zudem der heldische Malcolm von José Gabiel Vivas mit  schmetterndem Tenor. (…)  Stefan Lauter

 

Gewürdigt wurde Helga Moira auch 2016 von der italienischen Zeitung Trentino libero  in einem zusammenfassenden Artikel;  Dank an Wolfgang Denker für die Text- und Fotorecherche!

Zeugnisse grosser Kunst

 

Im Rahmen der Callas Live Remastered Edition der Warner Classics gibt es auch drei Blu-Ray-DVDs mit den Konzerten der Diva in Paris 1958, Hamburg 1959 und 1962 sowie London 1962 und 1964, darin enthaltend jeweils der 2. Akt der Tosca in der Pariser Opéra und in Covent Garden. Letzteres sollte eigentlich eine optische Gesamtaufnahme der Oper werden, aber sie kam nur zum zweiten Akt.

Natürlich sind alle diese Dokumente mehr als bekannt, Fans der Diva werden sich das in verschiedenen Ausgaben bei Arthaus oder EMI bereits gekauft haben. Aber die Blu-Ray-Edition macht schon Sinn, weil die Bilder wirklich gestochen plastisch und scharf sind. Vielleicht manchmal zu scharf, denn die Zeitlichkeit ist auch über die Selige dahin gegangen, und vieles wirkt antiquiert und altmodisch – vor allem die Haartrachten, die von Farah-Dibah-Hochfrisur bis zum kunstvollen Mob rangieren und oft humoristische Kommentare fordern. Auch die Damen des Pariser-Norma-Chores strahlen in ihren weißen Blusen den spießigen Charme von Floristinnen im 10. Arrondissement aus, und niemand kann den von mir so hochgeschätzten Albert Lance gegenüber dem eleganten Renato Cioni für einen strahlenden Herzensbrecher halten. Unglaublich, dass das 1958 als Gala galt . Dennoch – gegen die Pressebälle in Berlin zur selben Zeit ist dies hier la Grande Vie, was man an Funkeln und Glitzern im Publikum der Nerzstolen und Fracks sieht.

Über allem Lässlichen aber triumphiert die Diva. Was sie mit den sparsamen Gesten in den Hamburger Konzerten vor allem in ihrer Vorbereitung vor dem aktuellen Singen schafft, wie sie die Arien andenkt  und mental verinnerlicht  ist nach wie vor umwerfend. Vor ihrer Kunst im Konzert (mehr vielleicht als vor ihrer etwas zu melodramatisch-stereotypen Schauspielkunst in der Tosca gegenüber dem immer noch histrionisch eindrucksvollen Tito Gobbi) verstummt jede spöttische Bemerkung, selbst nach rund 60 Jahren. Auch wenn man manche ihrer Gesten und koketten Seitenblicke auf Maestro Rescigno outriert finden mag. Aber die Essenz, die ureigene Schöpfungskraft der Callas ist in diesen kostbaren Dokumenten bewahrt, den mehr oder weniger einzigen zudem in so hervorragender Bildqualität, sodass diese drei DVDs in jeden Haushalt gehören, der sich mit Oper beschäftigt. Noch immer ist sie die Große, Wunderbare und vor allem Singuläre (Maria Callas in Concert, in den genannten Locations Arien von Bellini, Rossini, Puccini, Verdi, Spontini sowie 2x 2. Akt ToscaWarner Classics  3 DVD Blu-Ray  0190295804206). G. H.

 

Maria Callas in Concert, Paris 1958/ youtube

Nachstehend noch ein paar Informationen zu den hier festgehaltenen Konzerten aus dem beiliegenden Booklet zur 3-DVD-Blu-Ray-Ausgabe bei Warner. Paris 1958: Maria Callas debütierte erst recht spät in ihrer Karriere in Paris. Sie sang ihre erste Oper im Jahr 1939, erlebte ihren ersten Erfolg auf der italienischen Bühne 1947 in Verona, gab 1949 ihr Debüt in Südamerika, schaffte es 1950 an die Scala und wurde 1952 in London, 1954 in Chicago, 1955 in Berlin und 1956 in Wien bejubelt. Auch ihr heiß ersehntes, lange überfälliges Debüt an der Metropolitan Opera in New York gab sie 1956, bevor sie im darauffolgenden Jahr in ihre Heimat Athen zurückkehrte. In Venedig, Rom, Palermo, Mexico City, Philadelphia, Dallas, Madrid, Lissabon und Edinburgh waren die Erfolge und Kontroversen dieses Ausnahme-Jahrzehnts ebenfalls zu erleben. Paris war Maria Callas‘ letzte Station: Hier ließ sie sich bis zu ihrem Tod nieder.

Wollten ergebene Pariser das späte Debüt in ihrer Stadt verteidigen, konnten sie argumentieren, dass der Zeitpunkt keine Rolle spielte. Ausschlaggebend war, dass Maria Callas‘ erster Auftritt an der Opéra den krönenden Abschluss ihrer Karriere, ihre letzte Eroberung darstellte, was die prachtvolle Aufführung im Palais Garnier an jenem Abend bezeugte. Hatte ihr je eine andere Stadt einen solch überragenden Empfang bereitet? Wo sonst hatte sich ein Staatsoberhaupt im strömenden Regen zu einem Opernhaus begeben, in dem sich alles drängte, was Rang und Namen hatte, um eine Aufführung mitzuerleben, die jenseits des Saals auf dem ganzen Kontinent übertragen wurde? Als ihr Auftritt kam, schritt diese schlanke, elegante Erscheinung in ihrem verschiedentlich als scharlachrot oder champagnerfarben beschriebenen Kleid, geschmückt mit geliehenen Juwelen im Wert von einer Million Dollar, die Stufen hinab und präsentierte sich diesem hochkarätigen Publikum — eine Szene wie im Märchen. Die Bühne, auf der sie im Rampenlicht stand, schien für diesen Moment das kulturelle Zentrum Europas, wenn nicht gar der ganzen Welt zu sein.

Das Frühjahr 1958 brachte Erfolge in Amerika mit sich, wenngleich diese von einer vorherigen Gerichtsverhandlung wegen eines Vertragsbruchs in San Francisco und einem Verweis durch die American Guild of Musical Artists überschattet wurden. Später hatte Maria Callas Ärger mit ihrer Mutter und dem Operndirektor Rudolf Bing, erlebte sowohl Erfolge als auch Kränkungen in Mailand, ihren bittersüßen Abschied von der Scala und eine angespannte, gesanglich dürftige und doch unvergessliche Darbietung von La traviata in London. Nach einer Konzerttournee durch die Vereinigten Staaten, die eine hervorragende, aber kräftezehrende Medea in Dallas und einen ebenso strapaziösen, von zahlreichen Schlagzeilen begleiteten Vorfall an der Met mit sich brachte, war sie bereit für Paris.

Maria Callas, Konzert in Hamburg 1962/ Still Warner

Ein weiterer Faktor bereitete ihr damals kontinuierlich größere Sorgen als jedes dieser vereinzelten Vorkommnisse. Schließlich hing alles von ihrer Stimme ab, die sie in der Vergangenheit arg strapaziert hatte: Die Isoldes, Brünnhildes und Turandots aus früheren Jahren hatten unweigerlich ihre Spuren hinterlassen, und auch die Verausgabung im höchsten Register während ihrer kurzen bravourösen Zeit als dramatischer Koloratursopran forderte ihren Tribut. Selbst in ihren besten Jahren, die wohl in den Erfolgen von 1955 gipfelten, hatte manch einer Bedenken an ihrer stimmlichen Darbietung geäußert, die sie nur durch die offensichtliche Genialität ihrer Interpretation ausräumen konnte. Doch Paris hatte sie in jenen Jahren verpasst, und die Stimme, die vor dem dortigen Publikum als Norma die kriegslüsternen Druiden zurechtwies, war bei Weitem nicht die lieblichste der Welt, und auch nicht so mächtig oder fest wie manch andere. Auch als sie die „Casta diva“ sang, kamen wohl einigen Zuhörern redliche Zweifel. Nach all der Publicity, der Keilerei um Karten, der aufwendigen Kostümgestaltung, den Fanfaren und dem Ehrengeleit war dies also nun die Stimme, um die solches Aufhebens gemacht wurde?

Die Kenner der Callas ließen sich von dieser Erfahrung allerdings nicht beirren: Das war nichts Neues, und sie wussten, dass der Glaube an die Sängerin sich am Ende auszahlen würde. Bald würde es wieder einen jener Momente geben, in denen sie ihr unvergleichliches Können mit einer Phrase, bei der Verkörperung einer Rolle oder mit einer besonderen klanglichen Interpretation bewies. Tatsächlich mussten die Pariser auf die Arie aus II trovatore und das „Miserere“ warten, um bestätigt zu sehen, dass sie wirklich die sagenhafte „Kaiserin des Belcanto“ in ihrer Mitte hatten. Es stimmt, dass sie dem Pariser Publikum (in dem sich unter anderem auch Charlie Chaplin, Aristoteles Onassis, Brigitte Bardot, Jean Cocteau und die Windsors befanden) viel Gesprächsstoff bot. 450 Gäste waren hinterher zu einem Galadinner eingeladen: Ich frage mich, wie viele Diskussionen um ihre Darbietung der Kantilene aus Normas Beschwörungsarie, der schelmischen Rosina, der gequälten Tosca oder der Melodiebögen in Leonoras bitteren Klagen vor dem Verlies ihres Geliebten zu den „Miserere“-Gesängen der Mönche kreisten …

 

Maria Callas in Hamburg/ Foto EMI

Hamburg 1959 & 1962: Maria Callas trat erstmals am 7. März 1949 im Auditorium des öffentlich-rechtlichen italienischen Radiosenders RAI in Turin zusammen mit einem Orchester auf. In den Folgejahren gab sie weitere Konzerte in Turin, Rom, San Remo und Mailand, die RAI übertrug. Später sang sie allmählich auch in anderen Ländern Konzerte mit Orchesterbegleitung, die gemeinhin große Ereignisse darstellten. So wurde beispielsweise das Konzert im Odeon des Herodes Atticus in Athen am 5. August 1957 als Heimkehr der Sopranistin gefeiert, die zwar in den USA geboren wurde, jedoch als Vollblutgriechin galt. Einige Monate später weihte sie die Dallas Civic Opera mit einem Konzert in der State Music Fair Hall ein, und trat ab diesem Zeitpunkt bis 1964 regelmäßig in Konzerten auf der ganzen Welt auf, selbst in der Phase, in der sie keine Opernrollen annahm.

Im Mai 1959 unternahm Maria Callas eine Konzerttournee durch Spanien und Deutschland, die in Madrid und Barcelona begann und sie später nach Hamburg, Stuttgart, München und Wiesbaden führte. Am Anfang dieser Tournee litt sie an einer Erkältung, deren Auswirkungen sich noch in Hamburg bemerkbar machten. Dennoch gelang ihr eine reife gesangliche Leistung: Sie meisterte höllisch schwierige Musik mit vollkommener Sicherheit, und ihre Besorgnis über die Konsequenzen der Erkältung auf ihr hohes Register schmälern kaum den beachtlichen Gesamteindruck, den die Sängerin hinterließ.

Anfang 1962 war Maria Callas‘ Bühnenkarriere praktisch zum Erliegen gekommen, und bis 1964, als sie die Tosca in Covent Garden sang, trat sie lediglich bei Konzerten öffentlich auf. Ihre größte Konzerttournee im Jahr 1962 begann am 27. Februar in der Londoner Royal Festival Hall und setzte sich bis März mit Auftritten in München, Hamburg, Essen und Bonn fort.

In den drei Jahren seit ihrem vorherigen Konzert in Hamburg hatte ihre Stimme zwar merklich an Volumen eingebüßt, doch die Sängerin beherrschte sie immer noch vollkommen und gab mit ihrer einzigartigen Mischung aus musikalischem Feingespür, interpretativem Können und schierer mitreißender Kraft, die nur die Callas in Höchstform bieten konnte, ein Konzert, das die Hamburger Fans nicht enttäuschte.

Maria Callas und Tito Gobbi in „Tosca“, London 1964/ Still Warner

London 1962 & 1964: Maria Callas gab ihr internationales Operndebüt 1947 als La Gioconda in Verona und sang während der 1950er Jahre mit wachsendem Erfolg an allen großen Opernhäusern der Welt. Ihre künstlerische Heimat war jedoch die Mailänder Scala, wo ihr Repertoire eine wirklich bemerkenswerte Bandbreite aufwies: von den Klassikern Gluck, Cherubini, Spontini und Mozart über die Belcanto-Opern von Rossini, Bellini und Donizetti bis zu den dramatischen Meisterwerken Verdis und Ponchiellis sowie den Verismo-Werken von Giordano. Zum letzten Mal stand sie in der Saison 1961/62 in Cherubinis Medea auf der Bühne der Scala. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihre Opernkarriere schon beinahe zugunsten der Verlockungen eines glamouröseren Lebens im internationalen Jetset unter der Führung der amerikanischen Gesellschaftsgastgeberin Elsa Maxwell aufgegeben. Die Hauptattraktion für die Callas war jedoch der griechische Schiffsmagnat Aristoteles Onassis, mit dem sie mittlerweile eine enge Beziehung verband.

Bevor sie 1957 Onassis traf, hatte sich die Callas ausschließlich ihrem Gesang gewidmet. Doch auf der Kreuzfahrt, zu der Onassis sie und ihren Ehemann 1959 auf seine Yacht einlud, verliebte sie sich plötzlich zum ersten Mal in ihrem Leben. Ihr Ehemann, der italienische Industrielle Giovanni Battista Meneghini, den sie 1949 geheiratet hatte, war 28 Jahre älter als sie und eher eine Vaterfigur als ein Objekt romantischer Liebe für die junge Maria, deren gerade beginnende Karriere Meneghini so sehr fördern sollte. Doch jetzt, nachdem sie die Opernwelt erobert hatte, war sie geblendet von der Welt der High Society, zu der sie nun gehörte, und vom charismatischen Onassis, von dem sie fest annahm und erwartete, er werde sie nach ihrer Scheidung von Meneghini heiraten. Da sie immer mehr Zeit mit Onassis verbrachte, nahmen ihre Bühnenauftritte rapide ab, bis sie sie 1962 schließlich ganz und gar einstellte und das Publikum sie nur noch gelegentlich bei Konzerten erleben konnte. Am 27. Februar 1962 gab sie in der Royal Festival Hall in London ein Konzert mit dem Philharmonia Orchestra unter der Leitung von Georges Pretre. Das Konzert war ein Erfolg, obwohl die Kritiker sich teilweise negativ äußerten, und manche Leute begannen zu vermuten, die Callas bleibe der Opernbühne fern, weil ihre Stimme allmählich nachlasse. Dieser Eindruck wurde durch eine missglückte Aufführung von Medea an der Mailänder Scala am 29. Mai bestätigt, als ihre Stimme wirklich in schlechter Verfassung war; der Grund hierfür war jedoch eine schwere Sinusitis, an der sie schon seit mehr als einem Jahr litt. Es sorgte daher für einige Aufregung, als sie neben anderen Kollegen am 4. November 1962 überraschend an der TV-Liveübertragung eines Galakonzerts aus dem Royal Opera House, Covent Garden, teilnahm.

Maria Callas in Hamburg 1962/ Still Warner

Während des Jahres 1963 gab die Callas noch mehrere Konzerte und nahm bei ein paar Studioaufnahmen für EMI in Paris auch weiterhin sporadisch auf, aber ihre Beziehung zu Onassis wurde allmählich gespannt, und sie begrüßte die Chance, Anfang 1964 in einer neuen Inszenierung von Puccinis Tosca nach Covent Garden zurückzukehren. Diese sollte sich als ihr letzter Triumph erweisen.

Nach den sechs Aufführungen von Tosca wurde für Sonntagabend, den 9. Februar 1964, eine „Golden Hour“-TV-Gala in Covent Garden arrangiert, die den gesamten zweiten Akt der Tosca enthalten sollte. Nachdem dies eine Liveübertragung war, gab es keine Gelegenheit zum Schneiden, und in jenen Tagen war die Kameraführung bei so einem Ereignis noch recht primitiv, und die Kamera war meist auf das Gesicht der jeweils singenden Person gerichtet, selbst wenn dies bedeutete, dass man die Reaktion der Callas in gewissen dramatischen Augenblicken nicht sehen konnte. Aber trotz dieser Unzulänglichkeiten ist dieser Mitschnitt der Callas im zweiten Akt von Tosca ein unbezahlbares Dokument, das zumindest einen Teil jenes letzten Bühnentriumphs der großen Diva in einem ihrer Kunst würdigen Rahmen bewahrt.

Aus Texten von J.B. Steane (Paris) und Tony Locantro (Hamburg, London) Übersetzungen: Stefanie Schlatt (Paris, Hamburg), Johanna Mayr (London)/ Quelle Warner Classics)

Great Australian Voices

 

So aufwändig wie sichtbar mit großer Liebe gemacht sind die CD-Bücher oder wie man sie sonst nennen mag bei Desirée Records, die dem Andenken großer australischer Sänger gewidmet sind. In dem den CDs angemessenen quadratischen Format, durch die braun-gelbe Farbgebung vergilbt erscheinend, verbergen sich ein umfangreicher Text des Produzenten Brian Castles-Onion über den Werdegang des jeweiligen Künstlers, oft viele, manchmal weniger Fotos, das letzte eines aus der Zeit nach der Karriere, und Anmerkungen zu den einzelnen Tracks, darüber, wo, wann und mit welchen Partnern eine Partie gesungen wurde. Manchmal taucht ein Stück auch mehrmals auf, um die Entwicklung der Stimme zu dokumentieren, oder es gibt eine originale und eine englische Version. Jedem Sänger sind drei CDs gewidmet, deren technische Qualität recht unterschiedlich ist, die am wenigsten vollkommenen wurden wohl heimlich und damit nicht unter den besten Bedingungen aufgenommen (zu beziehen über: https://fishfinemusic.com.au/).

Nance Grant GAV 001

Die erste Dreifach-CD ist der Sopranistin Nance Grant zugedacht, die zunächst Klavier studierte, ehe sie sich dem Gesang zuwandte, und die an der Australian Opera Karriere machte, nachdem Edward Downes dort Direktor geworden war. Von Händel bis Britten sang sie alles, was die Musikliteratur für einen recht dramatischen Sopran bereit hält, ihre Karriere beendete sie im Jahr 1991.  Gluck, viel Mozart, Verdi und Wagner, aber auch Richard Strauss gehörten zu ihrem Repertoire, und als Orfeo offenbart die erste CD eine sehr reiche Stimme mit dunklem Grund und melancholischem Touch. Eine ausgesprochene Mozartsängerin dürfte sie nie gewesen sein, besonders als Donna Anna sprengt sie das stilistische Mozart-Korsett mit leidenschaftlicher Klage, erkämpft sich die Höhen und klingt auch manchmal scharf, während die Contessa auf die Wehmut in der farbenreichen Stimme bauen kann. Vorzüglich geeignet erscheint sie für die Senta mit der notwendigen Hysterie in der Stimme, und als Sieglinde, leider nur konzertant, thront der Sopran siegreich über dem Orchester. Ortrud war die letzte Partie der Grant, die Elsa auf der CD süß-malizös betört, für Elisabeth klingt der Sopran nicht keusch genug, leider ganz schlecht ist die Aufnahme als Marschallin, und auch als Fidelio hätte man gern eine jünger klingende Stimme. Auf der dritten der drei CDs überrascht die Sängerin mit einer schlanken Lucia, interessanten Verzierungen, wenn auch nicht so weich klingend wie ein italienischer Sopran, und als Violetta des 1. Akts prunkt sie mit zusätzlichen hohen Tönen und einer Cabaletta wie aus einem Maschinengewehr. Ihre Blonde ist ganz Kratzbürste und kein bisschen zu soubrettig (GAV 001).

Robert Allman GAV 004

Nur eine der vier (bisher?) erschienenen Aufnahmen ist einem Sänger, dem Bariton Robert Allman (Desirée Records GAV 004), gewidmet, der von 1927 bis 2013 lebte, u.a. in Paris studierte und ab 1955 an Covent Garden sang, aber auch in Deutschland oder in Zürich. Eine Tournee mit Joan Sutherland und Luciano Pavarotti dürfte auf dem Höhepunkt seiner Karriere stattgefunden haben. Die Fotos zeigen einen äußerst attraktiven Sänger mit markanten Zügen, sein Repertoire war umfangreich, reichte von Mozart über Verdi bis hin zu Wagner. Er wird oft als Bassbariton bezeichnet, hört sich aber eher wie ein Heldenbariton an, und eines der Glanzstücke ist die Auftrittsarie des Holländers, die er mit viel Dämonie in der Stimme und in perfektem Deutsch gestaltet. Für den Gunther klingt die Stimme fast zu markant, dem Wolfram, von dem er „Blick‘ ich umher in diesem edlen Kreise“ singt, traut man ein lyrisches Lied an den Abendstern nicht so recht zu. Für den Amfortas hat die Stimme schöne Schmerzenslaute, für den Jochanaan überzeugend Prophetisches und im Deutschen generell eine gute Diktion. Ganz in seinem Element ist der Sänger in „Nemico della Patria“ mit viel Metall, imponierendem Material und nur eine Spur zu sehr in der Kehle gesungen. Große Bögen und eine sichere Höhe zeichnen die „Cortigiani“ aus, recht veristisch beklagt Macbeth „Pietà, rispetto, amore“ oder vielmehr deren Fehlen, generell, so auch beim Simone, wird dem „Ausdruck“ die eine oder andere Gesangslinie geopfert, während Scarpia und Telramund auch stilistisch ganz auf der Höhe sind. Berlioz (Trojans) auf Englisch klingt doch sehr fremd (und ein wenig proivinziell), Orest auf Deutsch vorzüglich, weil dunkel umnachtet und eindringlich. Für Leporello war die Stimme, wenigstens zum Zeitpunkt der Aufnahme, nicht mehr besonders geeignet. Die Bekanntschaft mit diesem Sänger lohnt sich auf jeden Fall.

June Bronhill GAV 003

June Bronhill, eigentlich mit Nachnamen Gough, den sie zugunsten des Namens ihres Geburtsortes ablegte, war ein Koloratursopran mit häufigen Ausflügen in Operette und Musical namentlich in England mit Star-Status im leichten Fach, was sich anhand ihrer drei CDs überprüfen lässt. Sie führt sich beim Zuhörer mit einer reichlich neckischen Martha ein, mit höhensicherer und klarer Stimme, die besser noch zur Norina, die folgt, passt. Diese hat wie die Blonde die akustischen Krallen für die Rolle, während Maria Stuarda einfach zu soubrettenhaft klingt, auch wenn die Partie technisch bewältigt wird. Mehr als bei dem Bariton wird hörbar, dass auch Singen modisch vom jeweiligen Zeitgeschmack abhängig sein kann. Das macht sich auch bei den beiden Arien Gildas bemerkbar, wo auch in der zweiten die stupenden Höhen wichtiger zu sein scheinen, als die Situation, in der gesungen wird, die Tiefen bei den Intervallsprüngen nach unten matt klingen. Heute  würde man eine Stimme mit mehr corpo bevorzugen. In La Rondine verfügt der Sopran über eine tolle Höhe, ist aber eher Kammerkätzchen als Herrin und ohne das Geheimnis, das die Figur umgeben sollte. Die Erfahrung mit der Operette wird unter anderem mit der Lustigen Witwe dokumentiert, es schadet nichts, wenn der Vortrag leicht manieriert klingt, Una voce poco fa stammt wohl von einer Platte mit einem Knacks, Lucia und Mimi stellen sich mit Klavierbegleitung vor und beweisen, dass sie, mehr noch die Erstere, ins Repertoire von June Bronhill gehören (GAV003).

Jenifer Eddy GAV 006

Bereits mit 36 Jahren musste Jenifer Eddy 1974 wegen einer Krankheit von der Opernbühne in das Büro einer Künstlervermittlung wechseln, wo sie allerdings auch eine beachtliche Karriere machte. In ihrem Booklet taucht auch ein Foto mit Widmung von Dietrich Fischer-Dieskau auf, mit dem sie nicht nur die Begegnung zwischen  Zerlina und Don Giovanni vereinte, sondern auch die Liebe zum deutschen Lied, wovon der größte Teil der letzten CD Kunde gibt. Schumann, Wolf und Schönberg sind hier vertreten und werden sehr einfühlsam und in perfektem Deutsch gesungen. Besonders die berückenden Pianissimi lassen den Hörer staunen. Hier hört man auch nicht, dass sie nach Harald Rosenthal „die beste englische Soubrette“ ihrer Zeit war, sondern freut sich wie auch bei ihrer doppelt vertretenen Adele über eine reine, klare, süße Mädchenstimme von schöner Zartheit. Von Zerbinetta gibt es leider nicht die „Großmächtige Prinzessin“, aber auch in den „Huguenots“ kann sie diese Qualitäten und dazu eine stupende Technik unter Beweis stellen (GAV006)

Man hört also alle zwölf CDs mit großem Gewinn, bewundert die Qualitäten der vier Stimmen und konstatiert, inwieweit die Hörgewohnheiten seit der gar nicht so weit zurückliegenden Zeit, in der sie wirkten,  sich geändert haben. Weitere Veröffentlichungen wären zu begrüßen.  Ingrid Wanja

 

Und als nachgereichten Bonus gibt es im selben Format noch eine Joan-Sutherland-Veröffentlichung bei Désirée Records GAV (004)/ Cover oben: Live-Mitschnitte in zum Teil wirklich schwierigem Sound, was rabiate Fans der Diva vom Kauf nicht abhalten wird. Wegen der akuten Seltenheit nehmen diese Ausschnitte aus Lucia, Sonnambula, Faust, Semiramide, Elisir und – ungemein selten – Eugen Onegin anlässlich ihrer großen Australien-Tournee 1965 besonderen Platz in der Diskographie für Freunde ein, namentlich für die „Aussies“, die an berühmten Sängern nicht sonderlich gesegnet sind und die Joan Sutherland zu recht für die legitime Nachfolgerin der anderen großen australischen Sängerin halten, Nellie Melba. 1965 feierte die Sutherland-Williamson-Grand-Opera-Season rauschende Erfolge in den Hauptstädten des Kontinents, und viele der Besucher werden sich diese Live-Mitschnitte als Memoramibilien hinlegen. Ausgestattet ist das 3-CD-Album luxuriös mit schönen Fotos,  Bekenntnissen der Diva sowie ein detallierter Bericht über den Ablauf und die Aufnahme der Tour. Umgeben ist La Stupenda in diesen reifen Tagen ihrer Karriere von illustren wie kompetenten Kollegen: Luciano Pavarotti strahlt routiniert neben ihr in der Traviata, John Alexander gibt die Tenorfolie in weiteren Auftritten, dazu kommen Cornelius Opthof,  Richard Cross, die wunderbare Lauris Elms und die unerschütterliche Monica Sinclair, Elizabeth Harwood, Spiro Malas, Alberto Remddios, der Kanadier Joseph Rouleau, John Ward neben Ortsansässigen wie der bezauberndernden Margreta Elkins, Australierin wie Sutherland, mit der sie ja oft gesungen hat. Unter den Dirigenten finden sich neben Ehemann Bonynge vor allem auch der von mir sehr geschätzte John Matheson (der die hinreißenden Verdi-Original-Fassungen bei der BBC leitete) und andere mehr. Was für eine großartige Sache war doch die Grand-Season-Tour 1965. Und Dank an Brian Castle Onions, dem spiritus rector dieser Zusammenstellungen, der ja bereits manche Alben der Stupenda herausgebracht hat.  G. H.

Interessante Parallelen

 

Igor Strawinsky gilt als Revolutionär des Balletts, Werke wie der „Feuervogel“ sind bis heute auf der Bühne und im Konzertsaal sehr populär. Jetzt ist ein anderer Vogel von ihm auf CD wiederauferstanden, Le Rossignol (Die Nachtigall), eine frühe Kurzoper. Es ist sich kein Zufall, dass Strawinsky eine Schwäche für magische Vögel hatte. Das hängt vermutlich mit seinem Lehrer Nikolai Rimski-Korsakow, dessen späte Oper Der goldene Hahn tiefen Eindruck auf Strawinsky gemacht hat.

Die Nachtigall ist eine kleine Märchenoper nach Hans-Christian Andersen, in der Strawinsky den Vogel als Symbol der Schönheit und Reinheit von einem Koloratursopran singen lässt, in diesem Fall ist das Mojca Erdmann. Der erste Akt, der in einem Wald spielt, ist noch ganz im Geist der russischen Moderne komponiert. dann hat Strawinsky das Werk lange liegengelassen, um es  später in Paris weiterzuschreiben. Das Werk wurde dann als eine Art Konglomerat russischer und französischer Avantgarde 1914 in Paris uraufgeführt. Diese Spuren beider Kulturen trägt es auch heute noch in sich, was sich zum Beispiel darin niederschlägt, dass der Titel französisch geblieben ist, während in der Regel auf russisch gesungen wird, weil das von Strawinsky vertonte Originallibretto russisch ist.

Interessanter Stilbruch: Der Stilbruch zwischen erster und zweiter Hälfte der Oper (Vier Jahre Erfahrungen, zumal in Paris, machen bei einem jungen Komponisten hörbar viel aus),  ist ähnlich frappant wie der in Wagners Siegfried. Der frühe Strawinsky des ersten Aktes hat einfacher, geradliniger geschrieben, mehr an Rimsky orientiert, der Pariser Strawinsky ist viel frecher, urbaner, expressiver – aber grade dieser Sprung von der Naturschönheit des Waldes zur künstlichen Welt des chinesischen Hofes ist so herrlich brutal, dass man schon von einem Glücksfall der Moderne sprechen muss. Ein reifer Komponist mit all seinem Kalkül hätte diesen Effekt vermutlich nicht erreicht. Die beeindruckende Szene im 2. Akt, in der eine künstliche Nachtigall die echte am Hof verdrängt, schildert Strawinsky mit ostinater Oboe, eingerahmt von einer steifen Pentatonik, die schon die Turandot-Stimmung Puccinis um zehn Jahre vorwegnimmt.

Bemerkenswert ist auch die seltsame Parallele ausgerechnet zu einer italienischen Buffa – Strawinsky und die Gebrüder Ricci dürften die einzigen Opernkomponisten gewesen sein, die den Tod durch eine Frau verkörperten (hier düster-herb gesungen von Mayram Sokolova). Ich bezweifle, dass Stravinsky Crispino e la Comare gekannt hat, aber es ist faszinierend zu hören, dass Komponisten zu unterschiedlicher Epochen und Schulen sich auf ähnliche Effekte besinnen, um die Zeitgenossen zu frappieren.

Scharfe Töne: Es gibt durchaus schon frühere Versionen auf Tonträgern von Le Rossignol, allerdings nicht so viele, dass eine Neueinspielung überflüssig wäre. Der komplizierte Part der Nachtigall für Koloratursopran ist nicht einfach zu besetzen, weil er eben nicht klingen darf wie die Puppe Olympia in Hoffmanns Erzählungen,  man braucht eine seelenvolle und dennoch agile hohe Stimme, im Grunde Königin der Nacht und Pamina in einer Person. Da auf den schlanken Sopran  Mojca Erdmanns zurückzugreifen, die in den letzten Jahren eine hervorragende Zerlina und Sophie war, liegt erst einmal nahe. Und doch enttäuscht sie hier; selbst diese kluge Sängerin kann den von Strawinsky erträumten Charme nicht einlösen, die Vision des Komponisten von der Inkarnation der Naturkräfte in glasklaren Vokalisen wird hier nicht ganz befriedigend umgesetzt,  Mojca Erdmann klingt zuweilen etwas kantig in der Rolle. Doch kann diese Vision überhaupt jemand perfekt Realität werden lassen? Vielleicht wird die Sängerin hier das Opfer einer noch zu weltfernen Musiksprache Strawinskys, der sich wenig um Machbarkeit und Theaterpraktiken schert.

Wesentlich unglücklicher besetzt ist der Fischer mit Evgeny Akimov. Diese Figur ist ein lyrischer Tenor, eine Art Erzähler, und da die Orchesterpartitur oft sehr harsch ist, muss der Tenor möglichst weich und sinnlich dagegenhalten – dieser hier ist so schroff, dass ein Teil der Wirkung des Werks dabei leider verlorengeht. Das WDR-Sinfonieorchester unter Jukka-Pekka Saraste muss sich nichts vorwerfen lassen – ein  jugendstiliger, voluminöser Sound, plus Mut zur Brutalität, wo sie angebracht ist. Ergänzt wird die kurze Oper sehr stimmig durch Orchester-Lieder aus der Zeit der Komposition der Nachtigall, gesungen von Katrin Wundsam und Hans Christoph Begemann.

Booklet nur für Experten?: Bedauerlich, dass auch die Verantwortlichen von Orfeo nun auch am Elite-Koller leiden  und anscheinend der Meinung sind, jeder potenzieller Käufer sei ein geprüfter Opernexperte. Anders ist es nicht zu erklären, dass den Sängern/Rollen im Booklet kein Fach mehr zugeordnet wird. Sopran, Baß oder Tenor? Wir müssen raten. Irgendwas wird’s schon sein. Schade, diese Firma produzierte einst exzellente Booklets, die auch für Nicht-Akademiker gut lesbar waren. Matthias Käther

Staubiges aus Glyndebournes Archiven

 

Naja, ich hatte mehr erwartet. Klanglich vor allem. Nimbus ist ja berühmt für seine (nicht immer unangezweifelte) Technik der Hörbarmachung antiker Schellacks, und viele vergrabene Schätze kamen durch ihre Groß-Trichter-Behandlung ohrenschmeichelnd  wieder zu Tage. Aber vielleicht war mit dem BBC-Band von 1954 des Don Giovanni unter Georg Solti aus Glyndebourne nicht mehr herauszuholen. Die Stimmen sitzen sehr dicht am Lautsprecher in den Rezitativen (die vielleicht für die Radioübertragung nachaufgenommen wurden?). Und die Tutti und mächtigeren Dynamiken wirken auf mich kratzig-übersteuert.

Wir hören eine muntere Aufnahme vom 17. Juli 1954, sehr lebendig im Rezitativ, was auf die Regie (Ebert) schließen lässt, aber auch eine sehr robuste. Meine Vorurteile gegen Georg Soltis uncharmante, ruppige  Art der Musikführung namentlich bei  Mozart werden hier nicht widerlegt. 1954 war Fritz Busch bereits zwei Jahre tot, und John Pritchard übernahm einige Mozart-Produktionen (so Idomeneo/EMI), andere fielen an Vittorio Gui (so der wunderbar poetische und herrlich besetzte Figaro, der ein Jahr später bei EMI herauskam und der für mich immer noch in seiner Gesamtsumme zu meinen Favoriten unter den Figaro-Aufnahmen zählt). Georg Solti hat nun 1954 den Don Giovanni unter sich und rumst sich viril hindurch. Sicher ist alles sehr spannungsvoll, aber eben: Mit Fritz Busch oder Vittorio Gui im Ohr ist man „not amused“.

Soltis „Don Giovanni“ aus Glyndebourne 1954: James Pease singt die Titelpartie/ DK Musicas

Die Besetzung birgt Überraschungen und Schwächen. Da ist zum einen die Amerikanerin Margaret Harshaw als Donna Anna, und die ist kein Gewinn mit ihrem säuerlichen, unruhigen Ton – ein Misserfolg wie ihre Kollegin Rise Stevens als Cherubino bei Gui. Da ist ein ältlich-bröckeliger Hervey Allen als Commendatore (alles in Italienisch natürlich). Thomas Hemsley (gerne Purcells Aeneas auf manchen Aufnahmen) macht einen spielfreudigen, aber stimmlich uninteressanten  Masetto. Glanz kommt mit Léopold Simoneau als etwas schwachbrüstigem Don Ottavio auf – sehr stilsicher, etwas larmoyant, stimmschön wie bekannt. Die Überraschung bietet der Amerikaner James Pease als erotischer, wendiger und eleganter Don Giovanni mit sehr gut produzierter, typisch amerikanisch-geschulter Baritonstimme, sehr überzeugend (wie in manchen Auftritten in Hamburg). Meine stets geliebte Sena Jurinac  gibt eine entschlossene Donna Elvira mit schon recht abgedunkeltem Ton – vielleicht liegt es am Duck der Rolle oder der Regie, dass sie weniger charmant als ihre Ilia klingt, die sie noch zur selben Zeit singt. Vielleicht sang sie einfach (zu) viel in diesen Jahren.  Aber sie ist eine stimmlich makellose, sehr präsente Elvira, wenngleich ich ihre Figaro-Contessa jener Jahre oder auch die dunkle, poetische Ilia vorziehe.

Für die deutschen Hörer kommen zwei  Importe ebenfalls als Überraschung. Da ist zum einen der polternde Benno Kusche, mehr Baculus denn  Leporello, ein wenig teutonisch-kraftvoll und eine ganz andere Farbe als der Rest – interessant. Und natürlich Anny Schlemm. Ich kann sie nicht hören, ohne an ihre schenkelschlagende Boulotte an der Komischen Oper Berlin zu denken, und bei dieser Zerlina hat Masetto später nichts zu lachen. Aber sie klingt mehr als präsent, vielleicht die Lebendigste von allen Beteiligten, mit tollem Italienisch und Mutterwitz. Eine wirklich gute Leistung.

Die Aufnahme hat eine merkwürdige Genesis – von der BBC laut Kommentar im dürftigen Booklet als 90-Minuten-TV(1954 ???)-Feature zusammengekürzt, wurde sie als Audio von der BBC noch einmal gesendet und ist die Quelle für diese Nimbus-Ausgabe. Aber man kennt ja andere BBC-Mitschnitte aus der Zeit, und die klingen einfach besser. So also freut man sich über die Schlemm, ich immer über die Jurinac, auch über Pease. Dass Georg Solti nur diese Don Giovanni-Serie in Glyndebourne 1954 dirigierte war vielleicht für Glyndebourne nicht der große Verlust. Auch seine späteren Mozart-Aufnahmen lassen mich nicht in Entzücken ausbrechen. Aber Nimbus ist eine britische Firma, und die Veröffentlichung mit dem Produktionsdatum von bereits 1999 ist wohl in erster Linie für den britischen Markt gedacht (3 CD Nimbus NI7964).

Angehängt sind Mozart-Konzert-Arien mit Italo Tajo von 1947 von der alten Cetra-LP unter Mario Rossi bei der RAI. Die werden sicher ihre Liebhaber finden, aber da Tajo hier nicht mitmacht (allerdings bei anderen Glyndebourne-Produktionen der Zeit durchaus), wären vielleicht frühe Zeugnisse der wirklich Beteiligten sinnvoll gewesen (Jurinac, Simoneau, Pease oder Schlemm?). G. H.

Russell Thomas

 

In der Titelpartie einer Mozart-Oper in Salzburg zu debütieren – noch dazu in der Eröffnungsproduktion der Festspiele – ist für jeden Sänger eine enorme Herausforderung. Auch für Russell Thomas bedeutete das Engagement für die Hauptrolle in La clemenza di Tito einen Meilenstein in seiner Karriere. Zudem trug diese Inszenierung den Stempel des Besonderen durch die Zusammenarbeit des griechischen Dirigenten Teodor Currentzis mit dem amerikanischen Regisseur Peter Sellars. Beide hatten bei ihrer Deutung in der Felsenreitschule dem Stück jeden feierlichen Krönungspomp ausgetrieben, die Handlung in einem Flüchtlingslager unserer Tage angesiedelt und mit schockierenden Bildern von Terror, Tod und Trauer für divergierende Publikumsreaktionen gesorgt. Thomas sollte in seiner Interpretation weniger den heroischen als den verwundbaren Herrscher betonen, der am Ende den Folgen des auf ihn verübten Attentats erliegt. Der Sänger musste den gesamten 2. Akt im Krankenbett liegend absolvieren, seine körperlichen Leiden äußerten sich in existentiellem Gesang mit gebrochenen, gequälten, ersterbenden Tönen und Koloraturen wie schmerzvolle Zuckungen.

Russell Thomas: „La clemenza di Tito“, Salzburg 2017/ Foto Walz/ Salzburger Festspiele 2017

Thomas ist ein Verfechter des zeitgenössischen Regie-Theaters und hat daher auch Sellars Konzept verstanden und akzeptiert. „Ich liebe diese Art von Theater, und ich brauche sie für meine eigene künstlerische Arbeit. Ich will solche eigenwilligen, auch seltsamen Ideen und Komponenten. Das fordert mich heraus, mein Bestes zu geben. Und es hilft mir vor allem in meiner szenischen Darstellung, denn ich bin kein besonders guter Schauspieler. Auch für die Zuschauer bedeutet es eine Herausforderung. Man kann doch ein Werk nicht immer nur in derselben Manier zeigen und sehen. Im Zeitalter des Fernsehens muss man ein Stück relevant machen für das heutige Publikum. Tito mit seiner Großmut, seiner Milde und der Gabe zu verzeihen entspricht dem Ideal eines Herrschers. Aber solche Charaktereigenschaften gibt es heute nicht mehr, die Realität in unseren Zeiten sieht ganz anders aus. Historisch gesehen, war Tito kein freundlicher, gütiger Mensch. Bei der Figur in Mozarts Oper fehlt der teuflische Aspekt. Currentzis hat bei den Proben immer wieder gesagt: ‚Aggressiv singen! Sei kein schöner Mozart-Sänger!’ Das war ein enormer Anspruch, den ich zu erfüllen hatte. Wie zeige ich, dass in diesem idealisierten Herrscher auch ein Teufel steckt? Schaut man sich die Partie an, findet man in der ersten Arie eine schöne Linie, aber bald einen zornigen, sogar aggressiven  Ausdruck in seinen Soli. Mit Sellars und Currentzis habe ich über sechs Wochen intensiv geprobt, obwohl ich die Partie bei meinem Debüt an der New Yorker Met schon gesungen hatte. In Salzburg zu sein und die Stadt Mozarts zu erleben war ein großes Glück. Dieser Ort mit seiner reichen Geschichte, den vielen Kirchen, der reichen Tradition an Dirigenten und Solisten, die hier wirkten, ist einfach phänomenal und einzigartig. Und ein Auftritt in Salzburg ist für die Karriere eines Künstlers eben enorm wichtig.

Mozart spielte in meiner Laufbahn von Beginn an eine wichtige Rolle. Den Tamino habe ich über hundert Mal gesungen, wobei mir meine Deutsch-Kenntnisse, die ich beim Studium der Sprache am Goethe-Institut in Rothenburg ob der Tauber erworben hatte, zugute kamen. Probleme mit der Technik sollte man bei Mozart nicht haben, seine Musik auch nicht in schwacher stimmlicher Verfassung singen. Mozart macht einen Interpreten zum ehrlichen Sänger.“ Auch den Idomeneo hat Thomas bereits gesungen, darüber hinaus die Tenorsoli in der c-Moll-Messe und im Requiem sowie mehrere Konzertarien des Komponisten.

Betrachtet man das Repertoire von Russell Thomas, erstaunt dessen enorme Vielfalt. Man findet italienische, französische und deutsche Partien, einige von lyrischem, andere von heldischem Charakter, einige mit virtuosem Anspruch an die Koloraturfähigkeit, andere, die eher dem Charakterfach zugeordnet werden. Für den Sänger ist solche Mannigfaltigkeit ganz normal. Er braucht die Abwechslung. Gleich nach der letzten Salzburger Aufführung reiste er zum Tanglewood Festival für ein Gala-Programm mit dem 2. Akt der Tosca als Partner von Kristine Opolais und Bryn Terfel sowie der 9. Sinfonie von Beethoven. Nur einen Monat später gibt er sein Rollendebüt als Verdis Otello in Atlanta, kehrt danach zurück an die Met für den Rodolfo in La bohème und beendet das Jahr an der Oper Frankfurt mit dem Henri in Verdis Les Vepres Siciliennes.

Russell Thomas: „La clemenza di Tito“/ Szene mit Golda Schultz/, Salzburg 2017/ Foto Arte

„Jeder möchte heute Spezialist sein – im Rossini- oder Mozart-Fach, als Verdi- oder Wagner-Sänger. Für mich wäre es langweilig, immer nur dasselbe Repertoire zu singen oder mich auf drei, vier Partien zu konzentrieren. Ich will mein Leben interessant machen. Ich bin kein Heldentenor, aber ich liebe den Otello und finde diese Herausforderung reizvoll und spannend. Dabei sehe ich mich nicht in der Tradition von Del Monaco oder Vickers, eher in der Nachfolge von Bergonzi als lirico-spinto-Tenor. Das Rollendebüt in Atlanta wird in einer konzertanten Aufführung stattfinden. Danach entscheide ich, wie es mit der Partie weiter geht. An der Met würde ich sie erst nach mehreren Versuchen vorstellen wollen. Natürlich habe ich Erfahrungen im Verdi-Fach (Ismaele an der Met, Manrico an der Cincinnati Opera, Gabriele Adorno in Covent Garden, Carlo in den Masnadieri an der Washington Concert Opera), aber der Otello ist durch die Länge der Partie etwas Besonderes. Die Herausforderung liegt weniger in der Höhe oder Tiefe, sondern vor allem in der emotionalen Beanspruchung, der man als Interpret ausgesetzt ist. Fast die ganze Zeit muss man mit stentoraler Stimme singen, und es ist wichtig zu entscheiden, wo man alles geben muss und wo man sparen kann. Im gesamten 2. Akt gibt es keine Pause für den Sänger, da wird totaler Einsatz verlangt. Dagegen kann man sich im 3. Akt erholen. Ich trage mir in die Partitur private Zeichen ein, wo ich flüstern oder in der mezza voce singen kann. Noch einmal: Ich weiß, dass ich kein großer Schauspieler bin, bei mir geschieht die Darstellung durch den Einsatz der Farben und die Phrasierung.“

Auch im deutschen Repertoire sucht Thomas Wagnisse. In einer konzertanten Aufführung des Rheingold bei der New York Philharmonic rühmte die Presse seinen ‚terrific Loge with personality and energy’. „Nachdem ich schon einige  Male den Florestan gesungen habe, möchte ich in einigen Jahren den Tannhäuser probieren. Erik und Siegmund interessieren mich weniger, aber ich liebe den Steuermann! Nichts soll und darf nach eingefahrenen Regeln gehen.“

Russell Thomas: „La clemenza di Tito“/ Szene mit Marianne Crebassa, Salzburg 2017/ Foto Arte

So interessiert Thomas auch das slawische Repertoire, obwohl er bisher nur eine Erfahrung damit gemacht hat – mit dem Prinzen aus Dvoráks Rusalka an der North Carolina Opera, was die Presse mit ‚commanding voice and physical presence’ kommentierte. „Ich würde gern Janácek-Rollen erarbeiten und damit vielleicht zu einem besseren Darsteller werden. Janáceks Opern, Jenufa oder Katja,  sind menschliche Geschichten mit Figuren, die einen dazu bringen, besser zu agieren.“

Es gibt dennoch Rollen, von denen Thomas träumt, sie aber als unrealistisch für seine Karriere einschätzt. „Schon viele Angebote hatte ich für Rossinis Otello, aber die Partie liegt für mich zu tief. In dieser Lage singe ich nicht gut. Jahrelang war meine Traumrolle der Don José, denn die erste Oper, die ich live sah, mit 12 Jahren, war Carmen. In Toronto konnte ich meinen Wunsch realisieren. Ähnlich begeistert hat mich der Hoffmann, den ich bisher bereits in drei Produktionen gesungen habe. Trotz der Länge und exponierten Tessitura der Partie war ich nie müde, hatte auch keine Probleme mit der Höhe, eher mit der Stamina für die langen Solonummern, aber ich bekam das Gefühl, dass mich danach nichts mehr erschüttern kann. So denke ich an so unterschiedliche Rollen wie Edgardo in der Lucia, Enzo in La Gioconda, Radames, Canio, Andrea Chénier und den Faust in Mefistofele.“

Russell Thomas/ Foto Fay Fox/ http://www.russell-thomas.com/

Russell Thomas studiert seine Partien akribisch, liest zuerst das Libretto, auch in englischer Übersetzung, um den Inhalt genau zu verstehen. Ebenso beschäftigt er sich mit Sekundärliteratur, um zu verstehen, wo eine Geschichte ihren Ursprung hat. Bei Otello vergleicht er Shakespeare mit Verdi, um zu sehen, auf welche Szenen des Dramas der Komponist in seiner Vertonung verzichtet hat. Erst dann studiert er den Notentext, hört dabei vergleichend mehrere Aufnahmen. „Mein Favorit für Otello ist Del Monaco, aber das ist nicht meine Stimme, ebenso wenig wie die Galusins. Solche Sänger führen mich in die von mir gewünschte Richtung, aber es wäre hoffnungslos, sie kopieren zu wollen. Ich würde meine Stimme ruinieren.“

Zu Deutschland hat Russel Thomas eine besondere Affinität. Er liebt Berlin und möchte sich hier eine Wohnung kaufen. Einige Auftritte an der Deutschen Oper Berlin sind bereits fixiert, so sein erster Alvaro in der Forza oder der erste Otello in Europa 2019. Auch den Salzburger Tito wird er an diesem Haus interpretieren, denn Sellars Inszenierung ist eine Koproduktion mit der Dutch National Opera, Amsterdam, und der Deutschen Oper Berlin. (Foto oben: Russell Thomas/ Foto Fay Fox/ http://www.russell-thomas.com/)

Biographien zum Hören und Sehen

 

Händel – die Macht der Musik heißt eine neun Folgen zu jeweils ca. 25 Minuten umfassende Hörbiographie des Bayerischen Rundfunks auf drei CDs. Händels Geschichte von der Wiege bis zur Bahre ist spannend, sie erzählt, dass Georg Friedrich Händel nach Vorstellung seines Vaters Jurist werden sollte, seine Musikbegabung auffällt, er erst Organist und mit 25 Jahren Kapellmeister in Hannover wird, nach Italien reist, für Kardinäle und Kastraten komponiert, in London mit Rinaldo reüssiert, nach England geht, spekuliert und selbstständiger Opernunternehmer wird, protegiert wird und dennoch in die Pleite treibt, neu beginnt, immer mit Widerständen kämpft, Kastraten und Diven, Triumphe und Niederlagen, die Oratorien als Wechselbad der Gefühle, König, Krieg und Festmusiken und die Transformation zum Zeremonienmeister der englischen Krone. Das Manuskript von Jörg Handstein zeigt den bewährten Erzähler, er ist ausführlich ohne detailversessen zu sein – die Zielgruppe sind Einsteiger und interessierte Fans. Als Erzähler fungiert der Münchener Tatort-Kommissar Udo Wachtveitl, dem Komponisten leiht Bernhard Schir seine Stimme. Die Hörbiographie erzählt aber nicht nur die Stationen eines Lebens, sie setzt sich mit Händels Musik auseinander und bringt Hörbeispiele, verknüpft Geschehnisse mit dem Schaffen, ohne über jedes Werk zu referieren. Die Bandbreite seiner Kompositionen wird sorgfältig ausgebreitet, die Hörbiographie ist aber keine Werkbiographie. Die Auswahl ist kompetent zusammengestellt, man hört viele kurze Musikbeispiele quer durch Händels Leben. Diese werden ergänzt durch Werke von Zeitgenossen, bspw. Telemann, Keiser, Buxtehude, Alessandro Scarlatti, Corelli, Steffani, Porpora und Hasse sowie weniger geläufige Namen wie Friedrich Wilhelm Zachow und Johann Jakob Froberger. Die eingespielten Ausschnitte sind aufnahmehistorisch weit gestreut, viele englische Ensembles, z.B. Christopher Hogwood und die Academy of Ancient Music, John Eliot Gardiner und die English Baroque Soloists oder Trevor Pinnock und The English Concert, Nicolas McGegan mit verschiedenen Ensembles, Alan Curtis mit Il complesso barocco, Robert King und The King’s Consort, Harry Christophers The Sixteen, aber auch Sigidwald Kuijken und La Petite Bande, Rinaldo Alessandrini, Andrea Marcon und René Jacobs und einige andere mehr. Erzählerisch und musikalisch ist dem Bayerischen Rundfunk eine animierte und inhaltsreiche Hörbiographie gelungen, die Lust auf mehr macht und zum Weiterhören verführen kann. (3 CDs, BR Klassik 900911)

Ariane Mnouchkine hat den diesjährigen Goethe-Preis der Stadt Frankfurt erhalten. Sie gründete 1964 das fast schon legendäre Théâtre du Soleil, dessen Intendantin sie bis heute ist und für das sie zahlreiche aufsehenerregende Inszenierungen verantwortete. Auch als Filmregisseurin ist Mnouchkne tätig und angesichts ihres unermüdlichen Engagements und Einsatzes für das Theater ist es umso weniger überraschend, dass sie sich 1977 einem anderen Theaterbesessenen widmete: Jean-Baptiste Poquelin, den die Nachwelt als Molière kennt. Mnouchkine hat vor 40 Jahren einen Spielfilm, oder besser gesagt einen Monumentalfilm gedreht: 244 Minuten Spieldauer, die Dreharbeiten erfolgten an über 200 (teilweise historischen) Schauplätzen, über 1000 Kostüme wurden gefertigt, über 100 Schauspieler und 500 Statisten sollen beteiligt gewesen sein. Aus ihrem eigenen Ensemble wurden zentrale Rollen besetzt, Molière ist Philippe Caubère. Für das Drehbuch bediente man sich der Molière-Biographie von Alfred Simon sowie bei Werken weiterer Autoren, die sich mit Molière und seiner Epoche auseinandersetzten. Der opulent in Szene gesetzte Film zeigt Molière (1622–1673) ab der Kindheit, der Tod der Mutter ist ein einschneidendes Erlebnis, ein Ausflug auf den Jahrmarkt mit den Attraktionen und Gauklern,  der Wunsch Schauspieler zu werden, erste Auftritte mit der Schauspielerin Madeleine Béjart, deren Liebhaber er wird und deren Tochter Armande er später heiraten sollte, ein frühes Leben als Wanderdarsteller, über ein Jahrzehnt zog er durch Frankreich und lernte sein Metier. Mit Komödien ist mehr Geld zu verdienen als mit Tragödien und als Autor und Darsteller schafft er es mit Hilfe von Mäzenen und Förderer bis vor Ludwig XIV., der ihn seine Hofunterhaltung organisieren lässt. Wenig Aufmerksamkeit widmet Mnouchkine Molières großen Werken, deren Erschaffung nicht im Mittelpunkt steht. Der Film endet mit Molieres qualvollem Tod. Vier Stunden Molière, manches ist zu viel, manches zu lang, Mnouchkine dehnt gerne Szenen ohne erkennbaren Sinn, sie schwelgt in den Szenen zwar freudvoll, aber spannungslos. Wer gerne ins Theater geht und die Freude des Marathonsitzens an großen Theaterabenden kennt, wird locker durchhalten, alle anderen werden wahrscheinlich gelegentlich ein wenig die Geduld verlieren. Ein Film über Molière ist ein Film übers Theater, ist ein Film über den Sonnenkönig. Es sind große Tableaus und krasse Gegensätze – eine bitterarme Bevölkerung und ein unermesslich wohlhabender Adel und Klerus. Dreck und Dekadenz, Lebensfreude und die Kunst als Mittel gegen die Trostlosigkeit – ein bildstarkes Panorama, der sorgfältig ausgestattete Film hat in dieser Hinsicht keinen Staub angesetzt. Musikalisch sind manche Szenen unterlegt mit Musik von u.a. Lully, Rameau, Purcell, Monteverdi, die Originalmusik komponierte René Clemencic. Dieses Jahr wurde Mnouchkines Molière von BelAir Classiques im Vertrieb der Naxos auch auf dem deutschen Markt neu verlegt. Die 2 DVDs sind nur in französischer Sprache und u.a. mit deutschen Untertiteln verfügbar, die Herkulesaufgabe der Synchronisation scheint nicht erfolgt zu sein.  (2 DVDs, BelAir Classiques BAC203)

Noch ein wenig weiter zurück in der Zeit. Heinrich Schütz (1585-1672) wurde in Köstritz geboren und wuchs in Weißenfels auf, wo sein Vater einen Gasthof führte. Dort entdeckte Landgraf Moritz von Hessen-Kassel den Knaben, der ihm eine Ausbildung an seiner Schule ermöglichte und ihm einen mehrjährigen Aufenthalt in Venedig finanzierte, wo Schütz zum Komponisten reifte. Das Ende seiner Lehre krönte Schütz 1611 mit seinem Opus 1 – Il Primo libro di Madrigali. Sein Lehrer Giovanni Gabrieli vermachte später seinem Lieblingsschüler testamentarisch einen seiner Ringe. Zurück in Kassel lockte bald der sächsische Hof in Dresden, für den Schütz über 50 Jahre bis zu seinem Tod tätig bleiben sollte. Viel über die Person des Heinrich Schütz scheint nicht bekannt, die Karriere startete in unglücklicher Zeit, seine Frau verstarb jung, der dreißigjährige Krieg machte das Leben schwer, Schütz setzte sich für seine Kollegen ein und versuchte trotz der widrigen Umstände seine Musiker zusammenzuhalten. Am 13. April 1627 erfolgte dann anläßlich einer fürstlichen Hochzeit die Uraufführung der ersten deutschen Oper, deren Musik (wie so oft bei Schütz) verschollen ist bzw. bei Bränden zerstört wurde. Das Libretto zu Dafne existiert übrigens noch, der renommierte Barockdichter Martin Opitz hat es geschrieben. Autor Jörg Kobel hat eine 66 minütige Biographie gedreht, die Aufnahmen von den Stationen zeigt und bei der Musik und Erzählung manchmal doch zu offensichtlich mit netten Bildern ohne besonderen Bezug unterlegt ist. Wenn bspw. das Gleichnis vom Weinstock besungen wird, sieht man Weinreben und man wünschte sich, mehr zur Musik, zur Aufführungspraxis und Wirkung zur erfahren. Schütz‘ Leben wird oft nur an den Stationen seines Lebens erzählt, musikhistorisch gibt es kaum Einordnungen, musikalisch erfährt man zu wenig, nur einige Werke werden erwähnt und in Ausschnitten musiziert oder eingespielt. So ist die bei Arthaus erschienene DVD ein Überblick, der kaum mehr verrät als ein guter Lexikon-Eintrag, aber dafür anschaulich bebildert ist und Musikausschnitte aufweist. (1 DVD, Arthaus 109175) Marcus Budwitius

 

Licht und Schatten

 

Dieses Buch gibt sich bescheiden. Auf knapp achtzig Seiten wird ein bedeutendes Kapitel deutscher, ja europäischer Musikgeschichte abgehandelt. Bach, Liszt und Wagner – Spaziergänge durch das musikalische Weimar von gestern und heute. Herausgekommen ist die reich bebilderte Neuerscheinung in der Edition Leipzig (ISBN 978-3-361-0025-3). Autor Heinz Stade, Journalist und Buchautor aus Erfurt, der thüringischen Landeshauptstadt, kennt sich aus. Er empfiehlt sich aber nicht als Lokalpatriot, der alles besser weiß. Er will neugierig machen und seine Leser ermuntern, sich selbst auf die Reise zu begeben. Jenen aber, die mit den Örtlichkeiten bereits mehr oder weniger gut vertraut sind, eröffnen sich neue Sichten. Bestenfalls haben sie das Bedürfnis, eigen Erfahrungen mit dem Weimar des Jahres 2017 abzugleichen. So festgefügt die Stadt in ihrem Innersten auch ist, unterliegt sie dem Gesetz des Wandels. Allenthalben wird etwas restauriert, mit neuem Anstrich versehen und heutigen touristischen Bedürfnissen sowie den Lebensgewohnheiten der Einwohner angepasst. Nicht jeder Besucher eilt zuerst in Goethes Haus am Frauenplan. Er will auch flanieren, einkehren, Thüringer Bratwürste essen, einfach nur schauen. Oder ganz praktische Dinge einkaufen. Die Zahl der kleinen Buchhandlungen, verwinkelten Antiquariate und Musikgeschäfte hat nicht zugenommen. Modische Accessoires dürften heutzutage leichter aufzutreiben sein als ein alter Kupferstich.

Weimar spielt nicht nur in den Biographien der im Titel genannten drei Herren eine Rolle. Allein Franz Liszt, der Rastlose, dessen eigentliche Heimat Europa war, verbrachte von den dreien die meiste Zeit in Weimar und hinterließ auch die deutlichsten Spuren. Alles in allem blieb er Weimar zwischen 1848 und 1860 fest verbunden. Als Hofkapellmeister hatte er in den drei Wintermonaten Residenzpflicht. Nach Goethes Tod 1832 sollte er der Stadt zu neuen Glanz durch Kunst und Musik verhelfen. Eines der bedeutendsten Ereignisse seines Wirkens war die Uraufführung von Richard Wagners Oper Lohengrin am 28. August 1850 – Goethes Geburtstag. Wagner konnte nicht dabei sein. Nach seiner Teilnahme an der Revolution 1848 in Dresden war er auf der Flucht. Bis er sich im Exil in Zürich niederlassen konnte, hielt er sich wiederholt inkognito in Weimar und Umgebung auf. Es gab sichere Verstecke für den politisch Verfolgten. Für Liszt war die Uraufführung des Werkes eines behördlich gesuchten Revolutionärs ein großes Wagnis, das auch am Hof der Residenzstadt argwöhnisch beäugt worden war. Wagner zeigte sich dankbar. Stade zitiert aus einem Brief von Heiligabend 1850 an Liszt: „Wahrlich, teurer Freund, Du hast aus diesem kleinen Weimar für mich einen wahren Feuerherd des Ruhmes gemacht.“ Gemeinsam mit der Fürstin Carolyne zu Sayn-Wittgenstein lebte Liszt mehr als zehn Jahre in wilder Ehe auf der Altenburg, einer Villa am Stadtrand, die jetzt von der Musikhochschule genutzt wird, die den Namen Liszts trägt. In relativer Abgeschiedenheit entstanden hier seine wichtigsten Werke. Als Gäste kehrte künstlerische Prominenz ein, darunter Friedrich HebbelBettina von ArnimHoffmann von FallerslebenPeter CorneliusHans von Bülow und Hector Berlioz. Liszt setzte sich sehr für Berlioz ein und führte dessen Oper Benvenuto Cellini in Weimar auf. In dieser gekürzten und ins Deutsche übersetzten Fassung wurde das Werk noch 1952 beim österreichischen Rundfunk mit Fritz Uhl in der Hauptrolle eingespielt. Bei späteren Aufführungen in der Originalsprache wurde ebenfalls auf Liszts Kürzungen zurückgegriffen.

Für Klavier-Transkriptionen von Franz Liszt habe ich eine ausgesprochene Vorliebe. Er war auf diesem Gebiet sehr tüchtig. Naxos ist mit seiner großen Edition der kompletten Klavier-Musik bei Volume 46 angelangt (8.573710). Diese CD enthält Stücke von Hector Berlioz. Beide Komponisten kannten und schätzten sich. Sie hielten über mehr als drei Jahrzehnte Kontakt und sind sich mehrfach begegnet. Stilistisch liegen sie beieinander. Mit seinen Bearbeitungen hat Liszt, der in seiner Weimarer Zeit als Hofkapellmeister auch Orchesterwerke und die Oper „Benvenuto Cellini“ aufführte, zur Verbreitung der Musik seines verehrten französischen Kollegen beigetragen. Dieses Werk ist auch auf der CD präsent. Liszt setzt nicht nur eine bestimmt Szene eins zu eins für das Klavier. Er lässt sich zu eigenen Gedanken inspirieren. Es spielt der chinesische Pianist Feng Bian. R.W.

Im Herbst seines bewegten Lebens ließ sich Liszt erneut in Weimar nieder und bewohnte von 1869 an eine Etage in der Hofgärtnerei, umschwärmt und umsorgt von seinen Schülern. Dort kann noch heute sein relativ bescheidener Lebensstil in Augenschein genommen werden. Die Räume sind Museum und werden als solches auch im Buch von Stade empfohlen. Ein Besuch lohnt sich, auch wenn das berühmte Domizil jetzt etwas überrestauriert wirkt. Ich erinnere mich noch an die verstaubte, dem Original offenbar nähere Ausstattung. In Weimer habe ich 1970 als junger Mann eine alte Frau getroffen, die Liszt noch persönlich gekannt hat: die Schriftstellerin Julie Kniese, Tochter des Bayreuther Chorleiters, der bis 1905 – er starb plötzlich an einem Herzinfarkt – die rechte Hand von Cosima Wagner und damit der Leiter der Festspiele gewesen ist. Sein Kind war Jahrgang 1880, bei Liszts Tod in Bayreuth also sechs Jahre. Sie habe oft auf seinem Schoß gesessen und an seinen großen Gesichtswarzen gezupft. Er habe das gern zugelassen und sei sehr gütig gewesen. In ihrem Haus, das einen verwunschenen Innenhof hatte, lebte sie wie Miss Havisham in Dickens Roman „Große Erwartungen“, eingesponnen in die eigene Vergangenheit, aus der sie nicht herausfand. Zum langen fadenscheinigen Kleid trug sie eine Haube. Kein gutes Haar ließ sie am Nachkriegs-Bayreuth der Wagnerenkel Wieland und Wolfgang, die sie heftig beschimpfte. Durch das von ihr herausgegebene Buch „Der Kampf zweier Welten um das Bayreuther Erbe“, das mir ein Bibliothekar geschenkt hatte, war ich auf sie aufmerksam geworden und bekam schnell heraus, dass sie noch lebte, in Weimar lebte. Dieses Buch ist dem Vermächtnis ihres Vaters, der Wagner bei der Uraufführung des Parsifal assistiert hatte, gewidmet. Kniese soll ein Heft geführt haben, in das er alle Bemerkungen und Anweisungen Wagners akribisch eintrug. Auf dieser Grundlage hätte das Werk für alle Zeiten genauso aufgeführt werden sollen wie 1882. Ein so absurder wie sinnloser Kunstkampf, der schon in dem Moment verloren war, als er begann. Tochter Julie meinte, ihn 1970 noch immer führen zu müssen. Sie zeigte mir Briefe, auch solche von Liszt. Im Geheimfach eines alten Sekretärs verwahrte sie nagelneue Briefmarkenbögen mit dem Porträt Hitlers. Das hat sich mir eingeprägt – auch als Teil Weimars.

Felix Mendelssohn Bartholdy – hier auf einer Ölskizze von Carl Joseph Begas – spielte als Zwölfjähriger in Weimar dem alten Goethe vor uns fand herzliche Aufnahme im Haus am Frauenplan.

Hitler ist oft in Weimar gewesen und wurde gefeiert. Auf historischen Fotos sind Straßen und Plätze zum Bersten voll mit Menschen. Die ganze Stadt schien auf den Füßen. Er logierte im Hotel „Elephant“ und zeigte sich auf dessen Balkon, den es noch gibt, der jubelnden Menge. „Lieber Führer komm heraus, aus dem Elefantenhaus. Lieber Führer sei so nett, tritt zu uns ans Fensterbrett.“ Solche Verse dürften damals populärer gewesen sein als Gedichte von Goethe und Schiller. Seinerseits setzte der Schriftsteller Thomas Mann, ein wortgewaltiger Hitler-Gegner, in seinem Exil dem Hotel im Roman „Lotte in Weimar“, der 1939 herauskam, ein gegensätzliches Denkmal. Solcherart sind die Zusammenhänge, auf die man in Weimar stößt. Auf Schritt und Tritt stößt. Mindestens einmal kommt der Stadtwanderer auf seinem Rundgang am gigantischen Gauforum vorbei, welches sich auf rund vierzigtausend Quadratmetern erstreckt. Die Nationalsozialisten hatten in diesem Rahmen fünf verschiedene Komplexe geplant, nur drei wurden fertig und dienen jetzt Thüringer Behörden als Arbeitsräume. Ein vierter unvollendeter Bau beträchtlichen Ausmaßes ragte noch zu DDR-Zeiten als Bauruine empor und ist jetzt als Einkaufszentrum und Kino in seiner bedrohlichen Hässlichkeit nicht mehr zu erkennen. In Weimar ist kein Vorbeikommen an den braunen Hinterlassenschaften. Für die Schriftstellerin Anna Seghers, die durch ihren Widerstandsroman „Das siebte Kreuz“ Weltrum erlangte, ist Weimar als Ort „in der deutschen Geschichte zugleich der beste und der schlechteste, denn hier wirkten große Dichter und hier war das Lager von Buchenwald“, wo während der Hitlerdiktatur mehr als fünfzigtausend Menschen umkamen.

Engelbert Humperdink: Seine Oper „Hänsel und Gretel“ wurde 1893 in Weimar uraufgeführt. Foto: Sammlung Manskopf

Friedrich Schiller hat seine Ode an die Freude, die durch Beethovens neunte Sinfonie vielleicht zur berühmtesten aller derartigen Vertonungen wurde, nicht in Weimar geschrieben, sondern in Leipzig und Dresden. Das war 1785. Erst vierzehn Jahre später ließ er sich in Weimar nieder, wo er enge Beziehungen zu dem dort bereits residierenden Goethe unterhielt, der noch immer in der Stadt omnipräsent ist. Goethe und Weimar sind eins. Im sehenswerten Haus am Frauenplan lassen sich Möbel, Büsten, Bücher und alle möglichen Sammlungen bestaunen. Was nicht direkt in Augenschein genommen werden kann, sondern erfühlt werden muss, ist die Atmosphäre tüchtigen Schaffens und Waltens, die den Besucher bereits im prächtigen Treppenhaus empfängt. Ein Ort der Strenge und Behaglichkeit. Offenbar die beste Mischung, um etwas Bedeutendes hervorzubringen.

Goethe – bleiben wir nur bei der Musik – zieht sich wie der sprichwörtliche rote Faden durch Kompositionen aller Art. So häufig wie er dürfte kein anderer vertont worden sein. Mit mehr als siebzig Liedern ist die Goethe-Abteilung im Liedschaffen Franz Schuberts die größte. Hugo Wolf sind auf seine Gedichte etliche der schönsten Lieder gelungen. Mozarts Veilchen gilt als der Inbegriff von musikalischer Lyrik. Felix Mendelssohn Bartholdy, der sich auch bei Goethe bediente, ist als Zwölfjähriger am Frauenplan von Carl Friedrich Zelter eingeführt worden und hat dem alternden Hausherrn vorgespielt und viel beschriebenes Entzückend verbreitet. Johannes Brahms fühlte sich zu Goethe genauso hingezogen wie Robert SchumannHans PfitznerMax Reger und Richard Strauss, der seine prächtige Gesamtaufgabe mit Werken des Dichters immer zur Hand hatte. Carl Loewe, der sich in Jena entschlossen Zutritt zum vergötterten Goethe verschafft hatte, legte mit seinem Erlkönig als Opus 1 sogleich eines seiner Meisterwerke hin. Zu dieser aus drei Ballen bestehenden Erstlingsgruppe gehört auch die schottische Ballade Edward, die Johann Gottfried Herder ins Deutsche übertragen und seiner wegweisenden Sammlung „Stimme der Völker in Liedern“ einverleibt hatte. Er galt als einer wichtigsten der Denker deutscher Sprache im Zeitalter der Aufklärung und bildete gemeinsam mit Christoph Martin Wieland, Goethe und Schiller das klassischen Viergestirn von Weimar. Herder wirkte von 1776 an als Superintendent an der Stadtkirche St. Peter und Paul, die heute gemeinhin als Herderkirche gilt. Thomas Mann – und wieder schließt sich ein Kreis – hatte das mit dem Goethepreis verbundene Geld für den Wiederaufbau der im Krieg stark beschädigten Kirche gestiftet. Der Preis war ihm bei seinem Besuch 1949 zu den Feiern zu Goethes zweihundertstem Geburtstag verliehen worden. Damals gab es die DDR noch nicht.

Camille Saint-Saëns hatte in Weimar mit seiner Oper „Samson und Dalia“ großen Erfolg. Foto: Sammlung Manskopf

Wer seine Schritte etwas abseits gegen den Park an der Ilm lenkt, wo Goethes schlichtes Gartenhaus steht, das zu einem Vorbild für Architekten werden sollte, kommt an Shakespeares Denkmal vorbei. Der hat nun nicht in Weimar geweilt. Warum also dort sein Denkmal? Es sollte vom starken Einfluss zeugen, den seine Werke auf Weimarer Klassiker genommen hatte. Initiator war die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft, die ihren 40. Gründungstag und den 340. Geburtstag des englischen Dramatikers zum Anlass nahm, den Bildhauer Otto Lessing mit dem Denkmal zu beauftragen. Es wurde 1904 enthüllt und gilt bis heute als das einzige auf dem europäischen Festland. Shakespeare blickt, lässig auf einem Stein sitzend, zur Sommerresidenz Goethes. Wohin auch sonst? Ein Kapitel für sich sind Shakespeare und die Musik, wobei es auch Spuren nach Weimar gibt. So hat Liszt den Shakespeare’schen Hamlet zum Thema einer seiner sinfonischen Dichtungen gemacht. In Webers Oberon gibt es eine Verknüpfung mit dem Weimarer Dichter Wieland, dessen romantisches Heldengedicht, versehen mit Motiven aus Shakespeares Sommernachtstraum und Sturm, die Vorlage für das Libretto bildete.

Johann Sebastian Bach mit seinen drei Söhnen. Friedemann und Carl Philipp Emanuel wurden in Weimar geboren und getauft. Der Taufstein hat sich in der Herderkirche erhalten. Foto: Wikipedia

Weimar kann für sich in Anspruch nehmen, Johann Sebastian Bach länger beherbergt zu haben als jede andere Stadt, in der er lebte. Bach hielt es insgesamt zehn Jahre in Weimar, wo ein Großteil des Orgelwerkes und mehr als dreißig Kantaten entstanden und die später berühmten Söhne Wilhelm Friedemann (1710) und Carl Philipp Emanuel (1714) geboren wurden. Im Buch wird dokumentiert, wie sich die Weimarer Zeit Bachs aufteilte. Erstmals sei er 1702/03 für nicht einmal ein Jahr als „HofMusicus bey Herzog Johann Ernsten“ in der Stadt gewesen. Nach Zwischenaufenthalten in Arnstadt und Mühlhausen kehrte Bach 1708 nach Weimar zurück und blieb bis zum Ende des Jahres 1717. Verblasst ist die unmittelbare Erinnerung an Bach auch deshalb, weil sich – wie bei Liszt und den Dichtern – kein Wohngebäude erhalten hat. Solche Adressen machen den Umgang mit dem Erbe einfacher – und konkreter. Besucher verlassen solche Gedenkstätten gern mit dem Gefühl, jetzt besser Bescheid zu wissen über denjenigen, der einst darin lebte und Großes vollbrachte. Wer sich Bach in Weimar vorstellen will, der muss seine Musik hören, die dort entstand. Er wird also nicht den großen Tisch sehen können, an dem Bach mit den Seinen saß. Der Leser erfährt, dass das Haus der Familie am Markt 17 – und damit in unmittelbarer Nähe zum „Elephant“ – bereits 1750 abgerissen wurde. Sein wichtigster höfischer Arbeitsplatz, die Kapelle im Stadtschloss, fiel 1774 einem Brand zum Opfer. Spuren in der Hofkirche sind verblasst, weil diese mehrfach umgebaut und im Februar 1945 durch Luftminen schwer beschädigt wurde. Dafür hat sich aber der Taufstein, in dem sechs seiner Kinder getauft wurden, erhalten. Immerhin. Erinnerung wird künstlerisch gepflegt. Großen Anteil an dieser Tradition kommt dem Organisten Johannes-Ernst Köhler zu, der 1990 in Weimar starb. 1953 – so ist zu lesen – rief er in der Herderkirche die „Stunde der Orgelmusik“ ins Leben und trug auch mit Schallplattenproduktionen zum Ruhme Bachs bei.

Richard Strauss leitete 1894 in Weimar die Uraufführung seiner Oper „Guntram“. Foto: Sammlung Manskopf

Doch die Geschichte um Weimar und die Musik ist längst nicht zu Ende. Unbedingt genannt werden muss noch der Komponist Engelbert Humperdinck, dessen Oper Hänsel und Gretel 1893 am Weimarer Hoftheater uraufgeführt wurde. Auch Guntram von Richard Strauss ist ein Jahr später erstmal in Weimar auf die Bühne gekommen. Die Leitung hatte Strauss selbst übernommen. Das Publikum nahm das Werk zwar freundlich auf. Im Spielplan konnte es sich aber nicht halten und wurde bald wieder abgesetzt. Bereits 1877 erblickte Samson und Dalila von Camille Saint-Saëns das Licht der Öffentlichkeit. Diese Oper wurde in deutscher Übersetzung auf deutschen Bühnen ein großer Erfolg, bis sie 3. März 1890 erstmals in einem französischen Opernhaus, dem Théâtre des Arts in Rouen herausgekommen ist. Der umnachtete Philosoph Friedrich Nietzsche, zunächst ein Anhänger, dann ein Widersacher Richard Wagners, hatte auch selbst komponiert und wurde von seiner Schwester in Weimar gepflegt, wo er 1900 auch starb. Ottmar Gerster, der während der Nazizeit mit seinen Opern Enoch Arden und Die Hexe von Passau sehr erfolgreich war, lehrte nach dem Krieg als Rektor an der Musikhochschule. Und – last but not least – darf auch Nike Wagner, die streitbare Urenkelin von Richard Wagner, nicht unerwähnt bleiben, die bis 2013 das Kunstfest in Weimar leitete und durch Aufführungen die Erinnerung an ihren Urahnen Franz Liszt beschwor. Viele Wege führen nach Weimar. Rüdiger Winter

Das große Bild oben zeigt eine Szene aus der Oper „Samson und Dalia“ von Camille Saint-Saëns und entstammt einer der beliebten und weit verbreiteten Bilderserien, mit denen der Liebig-Fleischextrakt beworben wurde. Das Werk wurde 1877 in deutscher Sprache am Hoftheater Weimar auf Betreiben von Franz Liszt uraufgeführt. Dirigent war Eduard Lassen, der auch als Komponist mit einer Schauspielmusik zu Goethes „Faust“ hervorgetreten ist. Die Oper hatte großen Erfolg, der sich auch auf anderen deutschen Bühnen fortsetzte. Erst am 3. März 1890 kam „Samson et Dalila“  erstmals an einem französischen Opernhaus, dem Théâtre des Arts in Rouen, heraus. 

Für die Nachwelt gerettet

 

Wahrlich gelohnt hat sich die Mordsarbeit, die sich  mit der Wiederherstellung der 1647 in Paris uraufgeführten Oper Luigi Rossis L’Orfeo stellte, deren Libretto gar nicht gedruckt und deren Musik nur in Bruchstücken erhalten geblieben war. Der französische Finanzminister Kardinal Mazarin hatte sie in Auftrag gegeben, um die Franzosen, insbesondere aber den Königshof mit der Gattung der italienischen Oper bekannt zu machen, sechs Stunden hatte sie einschließlich eines Pro- und eines Epilogs gedauert, 200 Bühnenarbeiter beschäftigt und so viel gekostet, dass sie einer der Gründe für den Aufstand von Adel und Parlament, die sogenannte Fronde, gewesen war.  Danach wurde das Werk vergessen, ist seit kurzem vereinzelt wieder auf den Spielplänen anzutreffen, so in Martina Franca arg beschnitten und in Verbindung mit einer modernen Komposition, als traue man ihm nicht zu, das Publikum ganz auf sich gestellt zu interessieren. Dabei ist die Musik überaus abwechslungsreich, enthält zwar auch den monteverdischen Sprechgesang, aber bereits auch Elemente eines frühen Belcanto, wunderbare Duette und Chöre.

Anders als bei den meisten Adaptionen des Orpheus-Stoffes steht im Mittelpunkt zumindest der ersten Hälfte der Oper die Dreiecksgeschichte  zwischen Orpheus, Eurydike und Aristeos, der mit allen Mitteln, zuletzt dem des Mordes mittels eines Schlangenbisses die Verbindung der beiden Liebenden zu verhindern sucht. Wahnsinn und Selbstmord sind die Strafe für das frevelhafte Vorgehen. Obwohl die Oper L’Orfeo heißt, bilden Eurydike und ihr Mörder trotz eines stattlichen Titelsängers bzw. einer Sängerin das Paar auf dem Cover von DVD und Blu-ray bei harmonia mundi. Auch spielen Götter, Grazien, Parzen eine viel bedeutendere Rolle als gewohnt, und eine ganz besondere Eigenart der „tragi-comédie“ ist das Auftauchen eines komischen Paares, Satiro und Momo, und einer komischen Alten, die, bedenkt man die Anwesenheit des erst neunjährigen Dauphins bei der Uraufführung, recht gewagte Spielchen treiben.

Regisseur Jetske Mijnssen verlegt das Werk in die Moderne, um es für das heutige Publikum zugänglicher zu machen, was vielleicht auch eine Untereschätzung desselben bedeutet. Für die Götterwelt allerdings durfte sich Gideon Davey insbesondere phantasievollen Kopfputz ausdenken, während die Szene von Ben Baur im Opernhaus von Nancy, Sitz der Opéra national de Lorraine, sich auf ein schlichtes holzverkleidetes Gemach mal mit Tisch und Stühlen für die Hochzeitsgesellschaft, mal als Trauerraum nur mit Sitzgelegenheiten versehen, beschränkt.

Vorzüglich und zum größten Teil außergewöhnlich stilgerecht singend sind die Solisten, die teilweise zwei Partien verkörpern. Eine wirklich hochattraktive Euridice, die hier den Neid der Venere erregt, ist Francesca Aspromonte mit silbrigem Sopran, der in der Todesszene seine Geschmeidigkeit und Ausdrucksvielfalt beweist. Orfeo wird von Judith van Wanroij mit schönem Glockenton verkörpert, in seiner Klage um die verstorbene Gattin weiß dieser Orpheus nicht nur ein ergreifendes Mienenspiel, sondern auch viel vokale Farbe einzusetzen. Ein leidenschaftliches Spiel und einen eleganten Mezzosopran kann Giuseppina Bridelli für den Schäfer Aristeo glänzen lassen und die Möglichkeiten, die ihr das Werk bietet, voll auszukosten. Einen zarten Sopran hat Giulia Semenzato für Venere und für Proserpina, für die Rossi herrliche Musik geschrieben hat. Markanter als Caronte denn als Vater Endimione klingt Victor Torres und ganz herrlich komisch ist Dominique Visse, der seinem Countertenor als Vecchia unvergleichliche, die Person charakterisierende Töne abgewinnt. Da kommen trotz aller Verdienste Renato Dolcini als Satiro und Marc Mauillon als Momo nicht ganz heran. Luigi de Donato als Augure und Plutone sowie Ray Chenez als Nutrice und Amore vervollständigen das hochkarätige Ensemble. Raphaël Pichon, gemeinsam mit Miguel Henry verantwortlich für die „Reconstituition“ der Oper, dirigiert das Orchester Pygmalion, und bei allen hat man das Gefühl, dass sie mit höchster Kompetenz und vollem Einsatz bei der verdienstvollen Sache sind. Unverzeihlich ist bei einem so unbekannten Werk das Fehlen einer Inhaltsangabe und einer Trackliste und auch sonst geizt man mit Informationen (Harmonia mundi 9859058.59 Blu-ray). Ingrid Wanja

 

Émile Adrien Belcourt

 

Der kanadische Tenor Émile Adrien Belcourt  (27. June 1926 in Laflèche, SK) starb am 3. August 2017 in Toronto (ON). Nicht-britischen Opernfreunden ist er vor allem als Loge in Reginald Goodalls englischsprachigen Ring (EMI) als charaktervoller Loge bekannt; und es war die Londoner ENO, an der er seine meisten Erfolge hatte, aber nicht nur dort. Im Folgenden ein Artikel zu seinem Tode aus der Canadian Encyclopedia (in Englisch).

The tenor, born in Laflèche, Saskatchewan passed away on August 3, 2017, after a lengthy career at the English National Opera.Though trained as a pharmacist, Émile Belcourt studied during the 1950s at the Academy of Music in Vienna with Editha Fleischer. After appearances in Germany and France, he made his English debut at Covent Garden 19 June 1963 as Gonzalve in L’Heure espagnole and in the same year joined Sadler’s Wells (later English National Opera). He made his debut as Pluto in Orpheus in the Underworld and sang Eisenstein in Die Fledermaus, the title role in Offenbach’s Bluebeard and His Six Wives, and Raoul in La Vie parisienne. His COC debut 8 September 1973 as Bernard of Clairvaux in the premiere of Charles Wilson’s Heloise and Abelard was followed by performances as Camille in The Merry Widow in 1973, Shuisky in Boris Godunov in 1974, Gonzalve in 1974, and Dr Falke in Die Fledermaus in 1975. He sang Shuisky with the Scottish Opera, Macheath in Britten’s version of The Beggar’s Opera at the 1976 Guelph Spring Festival, and Eisenstein with the Edmonton Opera and the English National Opera. In 1978, 1980 and 1982 he sang Loge in Das Rheingold in Seattle and in 1979 performed in the full Ring cycle there. Also in Seattle, he sang Tristan in Tristan und Isolde in 1981 and Siegmund in Die Walküre in 1982. He was described in the London Financial Times as „a character tenor of great accomplishment.“ In 1990, he continued to sing with the English National Opera. (Foto oben: Emile Belcourt als Loge an der Seattle Opera 1978/ Foto Chris Bennion)

Zeitlose „Lulu“

 

Nüchterner, um nicht zu sagen steriler, hätte die Bühne von Dmitri Tcherniakov für Alban Bergs Lulu in München nicht ausfallen können, und auch das verführerische Kindweib Lulu, stets in unschuldiges Weiß gekleidet und mit strenger Duttfrisur, allerdings in feurigem Rot, entspricht nicht den Erwartungen, die man gemeinhin in Bezug auf die Männerverführerin und -verderberin hat. Zwischen Eisengestänge geben Plexiglasscheiben den Blick auf die Bühne frei. Zunehmend roher und gewaltsamer tummeln sich dort zu den Zwischenspielen Paare aller Altersklassen in knallbunten, zeitlosen Kostümen (Elena Zaytzeva), zuletzt allerdings fast entblößt, während die Solisten den schmalen, nur mit Stühlen bestückten Streifen davor bevölkern. Das berühmt-berüchtigte Gemälde der Titelheldin ist hier nur eine mehr oder weniger vollständige Silhouette, wie sie bei Un- oder Kriminalfällen mit Kreide gezeichnet werden. Das Spiel wird als solches deutlich gemacht, wenn sich der Medizinalrat nach seinem Tod erhebt und die Bühne verlässt oder wenn der Kleidertausch zwischen Lulu und dem Pagen nicht stattfindet. Da auch der dritte Akt mitsamt dem heiklen Parisbild gespielt wird, erweist sich die an sich akzeptable Grundidee doch als Spannungskiller und lässt die Vorstellung nicht nur als reichlich lang, sondern auch streckenweise langweilig erscheinen. Daran ändert auch nichts, dass die „Fünfzehnjährige“ als junges Ebenbild Lulus erscheint und den Zuschauer ahnen lässt, dass auch in Zukunft die Männerwelt in Gefahr ist, den Verstand zu verlieren. Abgeändert hat die Regie den Schluss, indem sich Lulu selbst das Messer von Jack the Ripper in den sündigen Leib stößt. Das ist ebenso diskussionswürdig wie die verordnete Zeitlosigkeit für ein Werk, bei dem zumindest das Libretto auf der Grundlage von Wedekinds Lulu-Zyklus ein typisches Zeitprodukt in der Epoche der Frauenemanzipation ist.

Es dürften bereits an die zehn Produktionen sein, in denen Marlis Petersen die schwierige Partie mit hoher vokaler Kompetenz, aber doch auch mit nachlassender optischer Überzeugungskraft bewältigt hat. Nahaufnahmen sind ihr nicht gerade dienlich, aber der Sopran bewältigt auch die unangenehmsten Extremhöhen, die mörderischen Intervallsprünge fast unangestrengt. Dass sie von der Regie im Parisbild zu unablässigem Grimassieren und hektischem Gestikulieren, zum Sichwinden um den Stuhl herum angehalten wird, trägt nicht dazu bei, Optik und Musik miteinander in Einklang zu bringen, und das Laszive der Figur scheint die Regie nicht interessiert zu haben. Zu bebrillter Hässlichkeit verdammt ist Daniela Sindram als Gräfin Geschwitz des puren vokalen Wohllauts, der ihr Aufbegehren am Schluss zu einer der schönsten Szenen des Abends werden lässt. Nicht ganz heran an diese Leistung kommt Matthias Klink als Alwa in seinem Hymnus auf die Schönheit Lulus, dem er es etwas an lyrischem Schmelz, an Ekstase mangeln lässt, bei einer insgesamt doch beachtlichen Leistung, die durch die zeit-, aber auch charakterlosen Kostüme nicht eben gesteigert wird. Dem Machtmenschen Dr. Schön weiß Bo Skovus einen kraftvollen Bariton und eine angemessenen Darstellung zu verleihen. Als The Ripper erscheint er fast unkenntlich mit Perücke, was unerfahrenen Zuschauern beim Verstehen des Werks nicht dienlich ist. Einen höchst angenehmen Tenor setzt Rainer Trost für den Maler ein, gar nicht asthmatisch, sondern stimmpotent verkörpert Pavlo Hunka den Schigolch, stramm in jeder Hinsicht ist Martin Winkler als Athlet und Tierbändiger, für dessen Prolog der Regie leider nichts eingefallen ist. Die vielen anderen Mitwirkenden insbesondere im Parisbild bleiben gesichts- und charakterlos, nicht nur weil auf der schmalen Vorderbühne relativ aktionslos aufgereiht. Ganz anders klingt, was man aus dem Orchestergraben zu hören bekommt: Unter Kirill Petrenko schwelgt das Bayerische Staatsorchester in schillernden Farben bei kammermusikalischer Durchsichtigkeit, und die Sänger dürften sich gut aufgehoben gefühlt haben.  Mehr noch als bei anderen Produktionen werden hier die Zwischenspiele zu den spannendsten Teilen der Aufführung. (BelAir BAC 129Ingrid Wanja

Bellinis „Bianca e Gernando“

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Bei Naxos erschien der SWR-Mitschnitt der Bellini-Oper Bianca e Gernando (das G- in Gernando ist wichtig in der Unterscheidung zur Zweitfassung der Oper als Bianca e Fernando) von 2016 – wieder eine der wirklichen Überraschungen von „Rossini in Wildbad“, dem deutschen Festival, das seit Jahren mit hoher Qualität nicht nur bei Rossini-Aufführungen (und Mitschnitten) für Überraschungen sorgt. Die Ausgrabung von Bellinis Erstling ist uns Anlass genug, die Artikel des Bellini-Forschers Carmelo Neri zum Werk selbst und den von Reto Müller (künstlerische Säule in Wildbad und Vorsitzender der Deutschen Rossini Gesellschaft) zur verwendeten Edition aus dem Programmheft der konzertanten Aufführung 2016 mit kleinen Kürzungen zu. G. H.

 

Relief Bellinis an seinem Geburtshaus in Catania/ Wiki

Dazu die Besprechung des neuen Mitschnitts von Rolf Fath: Es waren häufig andere Opern als die des Namensgebers, mit denen Rossini in Wildbad Aufmerksamkeit fand, darunter Werke von Pacini, Pavesi, Vaccaj, Meyerbeers Semiramide oder Mercadantes I Briganti nach Schillers Räuber. In letzter hatte Maxim Mironov die 1836 in Paris von Giovanni Battista Rubini kreierte Partie des Ermano, sprich Karl, gesungen. Dem 35jährigen Russen, der 2012 einen grandiosen Ermano gesungen hatte, begegnen wir neuerlich in den im Juli 2016 in Bad Wildbad mitgeschnittenen konzertanten Aufführungen von Bianco e Gernando, wo er wieder in die Fußstapfen Rubinis tritt, der in Bellinis zweiter Oper anläßlich des Namenstags des Thronfolgers und späteren Ferdinand II. im Mai 1826 in Neapel erstmals die männliche Hauptpartie gesungen hatte (Naxos 2 CD 8.660417-18). Eigentlich war sie für Giovanni David bestimmt gewesen, doch Franz I. hatte aus Respekt für seinen ein Jahr zuvor verstorbenen Vater die Verschiebung des vom Impresario des Teatro San Carlo in Auftrag gegebenen Werks erzwungen, worauf David nicht mehr zur Verfügung stand. Gleich nach der bemerkenswerten Introduction mit ihrem instrumentalen Vorspiel und der kurzen Rezitativ-Erzählung des alten Vertrauten Clemente, wodurch sich diese World Première Recording der Originalversion von der bekannteren Genueser Fassung von 1828 unterscheidet, stürmt Gernando auf die Bühne bzw. in den Herzogspalast von Agrigent, um seinen von Filippo entmachteten Vater Carlo zu rächen. Mironov singt die Cavatina „A tanto duol“ – in der Urfassung hat er keine zweite Solonummer im zweiten Akt – mit schöner Linie und Empfindung, die Stimme klingt auf der Aufnahme zarter, zerbrechlicher als ich sie von Live-Eindrücken in Erinnerung hatte, auch ein bisschen spröde, farblos und angestrengt, doch im raschen Teil entwickelt Mironov eine mitreißende Emphase, bei der der Hörer aber auch immer ein wenig mitzittert.

Vittorio Prato, der amoralische Corrado aus den Briganti, ist wieder der Bösewicht und gibt den Filippo mit bereits recht ältlich und brösligen Bariton, doch forscher Energie in den Verzierungen und der Höhe. Gernandos Schwester Bianca ist Silvia Della Benetta, eine Sopranistin, mit der man Pferde stehlen kann, eine patente Alleskönnerin mit wenig individueller Stimme, die von Bellinis Norma über Verdi bis zur Butterfly angesetzt wird und 2017 bei Rossini in Wildbad in Aureliano in Palmira und Eduardo e Cristina überzeugte. Für diesen frühen Bellini wünscht man sich freilich eine virtuos angenehmere, weniger scharfe, oder soll man fast schon sagen weniger schrille Stimme, aber auch die 46jährige Italienerin singt mit Hingabe, setzt im ersten Finale dramatische Akzente und gestaltet das Duett mit Gernando in den lyrischen Teilen mit wissender Anmut. Da auch die Nebenrollen, darunter der charakteristische Luca Dall’ Amico als entmachteter Herzog Carlo, Marina Viotti in der Hosenrolle von Filippos loyalem Freund Viscardo und Zong Shi als Clemente recht erfreulich besetzt sind, ist diese von Antonino Fogliani forsch dirigierte Aufführung (mit dem Camerata Bach Choir aus Posen und den Virtuosi Brunensis) eine mehr als gute Ergänzung zu den wenigen Aufnahmen der zwei Jahre späteren Fassung, für die Felice Romani Domenico Gilardonis Text revidiert hatte.   Rolf Fath

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Zu Bellini: König Ferdinando IV mit Familie/ Gemälde von Angelica Kaufmann/ Wiki

Nun also der Text von Carmelo Neri: Vincenzo Bellinis Debüt als Opernkomponist mit Bianca e Gernando, das zunächst am Teatro San Carlo von Neapel mit einer herausragenden Besetzung in den Hauptrollen (David, Tosi und Lablache) für den „Gala-Abend“ vom 12. Januar 1826 angesetzt worden war, wurde wenige Tage vor der geplanten Aufführung abgesagt. Dafür gab es eine offizielle Begründung. (…) Es  ist wahrscheinlich, dass man einen schwachen Vorwand benutzt hat, um eine Maßnahme zu rechtfertigen, die aus ganz anderen Gründen notwendig geworden war. Die Sopranistin Adelaide Tosi, die für die Rolle Biancas vorgesehen war, musste nämlich die Stadt verlassen, weil sie womöglich ein anderes Engagement angenommen hatte. (…) Ohne den wertvollen Beitrag der „guten“ Tosi, und weil Bellini es nicht gutheißen konnte, dass sie durch die Mezzosopranistin Adelaide Comelli ersetzt würde, also durch eine wenig verdienstvolle und für die Rolle ungeeignete Interpretin, die gerade am Ort war, liegt die Vermutung nahe, dass die Theaterleitung darum bemüht war, beim König Franz I. eine Verschiebung der Aufführung zu erwirken.

Die Oper schien unter keinem guten Stern geboren, und der Maestro hatte sich bereits mit Domenico Gilardoni begnügen müssen, einem dichterischen Mitstreiter, der eine gehobene und schwülstige Sprache pflegte, und sich nun erstmalig als Operndichter versuchte (…). Gleiches galt für den Komponisten, von dem man kein Meisterwerk erwarten konnte. Überdies kam hinzu, dass Bellini, in seiner Absicht, ein innovatives Vorhaben umzusetzen, das ihm „seit der Zeit, als er das Konservatorium verließ“ vorgeschwebt hatte , aufgrund seiner Experimentierfreude Gefahr lief, das neapolitanische Publikum vor den Kopf zu stoßen, das mit der energischen Klangfülle der Opern Rossinis und dessen Nachahmer vertraut war, die er als „schändliche Plagiatoren“ zu bezeichnen pflegte .

Zu Bellini: Sie sang die erste Bianca: Henriette Méric-Lalande/ Wiki

Vorsichtshalber zog er es vor, nicht zu weit zu gehen, und vermied es, in Bianca e Gernando übertriebene Neuerungen einfließen zu lassen, sodass seine Reformabsicht erst im darauffolgenden Jahr in aller Deutlichkeit hervortrat, als er mit Felice Romani zusammenarbeitete und mit der Oper Il pirata an der Mailänder Scala einen denkwürdigen Triumph davontrug. Bei seinem Aufenthalt in Mailand bekräftigte er während einer Konversation mit einem Korrespondenten der Leipziger «Allgemeinen musikalischen Zeitung» seinen Wunsch nach „einer Umwälzung […], die er in der modernen Oper mit der größten Zuversicht hervorzubringen gedachte“. Und er fügte hinzu: „Er als Anfänger wage es bis jetzt keineswegs, die Cabaletten und all das übrige Zeug aus der Oper auf einmal zu verbannen, und müsse also noch einem Theile des Publicums huldigen, ohne dabey den andern Theil, die Kenner, deren Beyfall ihm sehr theuer sei, zu vernachlässigen, über den Beyfall der Cabaletten aber heimlich lachte“ . Diese „Cabaletten“, die Dichter und Musiker in ihre Bühnenkompositionen einsetzen mussten, um den Sängern Gelegenheit zu geben, ihre Bravour selbst entgegen der dramatischen Konventionen zur Schau zu tragen, kommen in Bianca e Gernando noch vor. Die Oper beinhaltet nur einige wenige der neuen Auffassungen, die der Komponist allmählich zur Entfaltung brachte.

Der Aufschub der Aufführung bereitete Bellini, wie sein Biograph Francesco Pastura bemerkt, die „nicht unbedeutende Mühe, gleich mehrere Stellen der Oper an die Stimmen der beiden neuen Interpreten anpassen zu müssen, wie sich anhand einer Handschrift der ersten Bianca-Fassung feststellen lässt, die im Bellini-Museum in Catania verwahrt wird“ . Dennoch war er bei vollendeter Arbeit zufrieden. Schließlich rückte der von ihm so sehr herbeigesehnte und gefürchtete Tag heran, nämlich der 30. Mai 1826, und wieder stand ein Festabend an, „da sich der glückliche Namenstag S. K. H. des Fürsten Ferdinands, des Herzogs von Kalabrien“ jährte. Wie dies bei solchen Anlässen üblich war, rüstete sich die Stadt für ein großes Fest. (…) Im Theater, das in einer „fünffachen Beleuchtung“ erstrahlte, gab es ein hohes Publikumsaufkommen und es stellten sich Zuschauer „hoher Vornehmheit“ ein. (…) Wer der Premiere der neuen Oper des jungen Künstlers aus Catania mit den hoch angesehenen Sängern Rubini, Lalande und Lablache beiwohnte, wurde einiger Merkmale gewahr, die diesen von anderen damals beliebten Komponisten abhob. Die schönsten Stellen erzielten die erhoffte Wirkung, und es ließ sich unschwer voraussagen, dass der vielversprechende Musiker in seiner schwierigen Kunst Bekanntheit erlangen würde.

Zu Bellini: der getreue Freund Florimo in Diskussion mit Verdi/ zeitgenössische Karikatur/ Wiki

Die warmherzige Aufnahme setzte sich auch bei den weiteren Aufführungen fort, und alle waren überzeugt davon, dass diese Oper vor allem aufgrund „einer Betonung der Leidenschaft, mit der die Seele des Zuhörers sympathisierte“ bewundernswert erschien. (…)  In der Überzeugung, dass gewisse Mängel in Bianca e Gernando der geringen Erfahrung beider Autoren geschuldet seien, ging der anonyme Verfasser des Artikels im «Giornale delle due Sicilie» am 13. Juni  allein mit dem Librettisten ziemlich hart ins Gericht, dem er eine Nachahmung der Tragödien Alfieris vorwarf, und eine Reihe von Ungereimtheiten, „die gegen jeden gesunden Verstand verstoßen“, sowie „Nachlässigkeiten in der Beherrschung der Verskunst, … die bei Texten, die gesungen werden unerträglich sind“; für den blonden Tonkünstler, dem er zunächst eine „größere formale Ökonomie der Mittel, sowie eine stärkere Bemühung um die Erreichung jenes Hell-Dunkel-Kontrasts, der die Magie des Theaters ausmacht“ anempfahl, fand er schmeichelnde Worte (…).  Wie sich leicht denken lässt, machte der beträchtliche Erfolg Bellini, Gilardoni und ihre Freunde euphorisch und erfüllte den gerissenen Domenico Barbaja mit größter Zufriedenheit. Indem er sein Vertrauen zwei vielversprechenden Künstlern geschenkt hatte, war es dem Theaterimpresario gelungen, bei sehr geringen Ausgaben viel zu verdienen.

Eine interessante CD bei Naxos vereint Auftragsmusik des Intendanten Barbaja (8.578237)

Bellinis erste Auftragsoper blieb also nicht unbeachtet, wie die folgenden Zeilen aus einer alten Lebensbeschreibung (von Giuseppe Bozzo 1851) verdeutlichen: Dort, wo es heißt: „der unsterbliche Pesareser […] hatte sich damals bisweilen noch mit derartigen Gesängen hervorgetan“, wird eine unleugbare Wahrheit verfochten, denn in seinen Werken gibt es Motive, welche an die auserlesenen Melodien des großen catanesischen Opernkomponisten erinnern, auf welchen jene „Gesänge“ großen Einfluss gehabt haben dürften; anders ausgedrückt, Rossini, der in mehreren Opern rührend und sentimental war – man denke nur an Tancredi oder Semiramide –, hat einen bis dahin noch unbeschrittenen Weg aufgezeigt, den Bellini dank seiner äußerst glücklichen Intuition als erster eingeschlagen hat,  und zwar mit den allseits bekannten Ergebnissen. Carmelo Neri/ Übersetzung aus dem Italienischen von Antonio Staude

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Zur Textlage ein Bericht von Reto Müller: Wer hätte das gedacht?! Obwohl Bellini neben Rossini und Donizetti der bedeu­tendste italienische Komponist der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist und sein Werkkatalog nur elf Opern aufweist, ist sein offizielles Operndebüt bislang durch eine moderne Wiederentdeckung unbe­rücksichtigt geblieben. Das hat damit zu tun, dass man Bianca e Gernando (Neapel 1826) gemeinhin mit dessen überarbeite­ter Fassung Bianca e Fernando (Genua 1828) gleichsetzt. Das geht soweit, dass einige Opernkataloge den zweiten Titel nennen und diesen mit dem Entstehungsjahr des ersteren versehen.

Zu Bellini: Michael Spyres sang die Arie des Gernando bei der Berliner Aids-Gala 2016/ rbb

Die Geschichte der Bad Wildbader Erst­aufführung in moderner Zeit begann mit einer Ankündigung der Opera St. Moritz / Opera Basel. Dieses kleine Festival setzte im letzten Jahr ziemlich mutig Bellinis Bianca e Fernando für den Sommer 2016 auf das Programm, obwohl die Verfüg­barkeit eines Aufführungsmaterials nicht gesichert war. Denn die RAI, die italie­nische Rundfunk- und Fernsehanstalt, die die Oper ausgegraben und 1976 in Turin aufgenommen hat, verfügt nicht mehr über dieses Material. Angeblich sollte es noch in Catania existieren, wo das Werk zum letzten Mal 1991 aufgeführt wurde (dokumentiert auf einer CD von Nuova Era). Aber in der Sommerpause war dar­über nichts zu erfahren. So hatte ich die Idee, dass St. Moritz / Basel die Oper ggf. in Zusammenarbeit mit ROSSINI IN WILD­BAD produzieren könnte – das Festival im Schwarzwald hat schon mehrfach und mit Erfolg bewiesen, innerhalb eines Jahres eine Aufführungsedition erstellen zu können. Natürlich sollte es dann eine Erstaufführung sein – also nicht die längst eingespielte Version Bianca e Fernando, sondern die Urfassung Bianca e Gernando von 1826.

St. Moritz / Basel wurde schließlich in Catania fündig und führt Bianca e Fernando (im folgenden BeF) wie geplant im Juni und September 2016 auf. Bei ROSSINI IN WILDBAD passte aber Bianca
e Gernando (BeG)
perfekt ins Konzept, nicht zuletzt dank der Präsenz von Maxim Mironov, der für die 1826 von Giovan Battista Rubini gesungene Partie des Gernando eine ideale Besetzung darstellt (wie er bereits 2012 mit der Rubini-Partie des Ermano in Mercadantes I briganti bewiesen hat).

Omaggio a Bellini/ OBA

Nun stellte sich die bange Frage, ob sich die Version von 1826 überhaupt zuver­lässig rekonstruieren ließ. Wie üblich bei italienischen Opern jener Zeit war BeG nicht als Partitur (also mit der vollständi­gen Orchestrierung) im Druck erschienen – es liegen nur handschriftliche Partituren vor. Noch im Jahr der Uraufführung gab Bellinis Freund und späterer Biograf Francesco Florimo einen Klavierauszug heraus – allerdings nur mit den wichtigs­ten Nummern. Die Rezitative fehlten, und einige große Ensembles wurden für Kla­vier zu vier Händen, ohne Singstimmen, zusammengefasst. Ein Klavierauszug von BeF erschien erst 1903 bei Ricordi. Ein Vergleich zwischen dem gedruckten Libretto von 1826 und diesen beiden Klavierauszügen ließ zunächst abschätzen, welche Stücke im Klavierauszug noch neu gesetzt werden mussten, damit sie von den Sängern einstudiert werden können. Für die vollständige Partitur wäre vielleicht das Autograf, also Bellinis eigene hand­schriftliche Komposition, nützlich gewe­sen. Aber diese online verfügbare Partitur ist unvollständig und stellt möglicherweise nur eine Entwurfsphase dar. Ebenfalls online gibt es zwei Kopistenabschriften, die sich in den Bibliotheken der Konser­vatorien von Neapel und Florenz befinden. Einige Beiträge von Friedrich Lippmann gaben mir einen Überblick über die Abweichungen zwischen BeG und BeF und ließen erkennen, dass die zwei Abschriften eine Mischform der beiden Fassungen darstellen. Lippmann erwähnte auch eine Kopistenabschrift, die im Bellini-Museum in Catania aufbewahrt wird. Aber erst ein Beitrag von Domenico De Meo im Programmheft der Aufführung von 1991 erhellte, dass es sich dabei um die wohl einzige vollständige Abschrift handelte, die die Urfassung von 1826 zuverlässig widerspiegelt. Leider war sie online nicht verfügbar…

Zu Bellini: Teatro San Carlo, Neaple Innenansicht Sammlung Ragni, Neapel/ Dank an Reto Müller

Eine Anfrage beim Dokumentationszen­trum für Bellini-Studien ergab, dass auch dort keine digitale Kopie davon vorhan­den war. Fabrizio Della Seta, der Direktor der kritischen Bellini-Gesamtausgabe, bestätigte mir die schwierige Quellenlage der beiden Opern, für deren kritische Ausgabe noch kein Herausgeber bestimmt wurde. Umso spannender wurde von ihm der „Testlauf“ in Wildbad eingeschätzt.

Eine Anfrage beim Museo Belliniano ergab, dass vor Ort kein Fotograf verfüg­bar wäre, der die rund 400seitige Partitur ablichten könnte. Was tun? – Ohne diese Abschrift ließ sich die Oper nicht zuverläs­sig aufführen. EasyJet macht’s möglich! Nach Rücksprache mit Festivalintendant Jochen Schönleber beschloss ich, mich per Direktflug von Basel nach Catania zu be­geben, ausgerüstet mit meiner Kompakt-Digitalkamera, die schon in anderen Fällen gute Dienste geleistet hat. Mit dem Direk­tor des Museums hatte ich zuvor telefo­nisch vereinbart, dass ich die Abschrift auch ohne seine Anwesenheit an einem Sonntag abfotografieren durfte. Carmelo Neri, Herausgeber eines Bellini-Briefwech­sels, half mir dabei, indem er die Seiten fixierte, damit sie nicht aufblätterten. Nach einer gut zweistündigen Arbeit
war die Partitur „im Kasten“.

Bellinis „Bianca e Gernando“ an der Oper von St. Moritz/ Szene/ Foto Opera St. Moritz AG

Florian Bauer, unser erfahrener Noten­setzer, hatte nun eine zuverlässige Quelle, aufgrund derer er die vollständige Oper mit dem Notenprogramm „Finale“ erfassen konnte, um dann eine saubere Partitur und die einzelnen Orchester­stimmen Orchester­stimmen auszudrucken. Ich erstellte der­weil ein partiturgetreues Libretto, das von Antonio Staude im Hinblick auf die Über­titel wörtlich übersetzt wurde (und nun auch als zweisprachige Ausgabe des Fes­tivals vorliegt). Vor allem aber galt es fest­zustellen, welche Teile der beiden alten Klavierauszüge Verwendung finden konnten und für welche Teile es uner­lässlich war, die zeitaufwändige Arbeit der Anfertigung einer Reduktion der Partitur für Klavier und Stimme anzufertigen. Einige Teile konnten durch kleine Kor­rekturen in den Noten oder durch die Unterlegung des ursprünglichen Textes angepasst werden.

Gegenüber der späteren Fassung weist Bianca e Gernando im Wesentlichen folgende Unterschiede auf: Die Oper hat keine Ouvertüre, sondern eine Introduktion (Nr. 1) mit einem instrumentalen Vorspiel und einem Rezitativ von Clemente. Das Rezitativ von Gernando „Quest’è mia reggia“ hat einen anderen, einfacheren Verlauf. Die Kavatine Gernando (Nr. 2) weist eine andere Cabaletta auf („Il brando immer­gere“). Auch die Cabaletta der Kavatine Filippo (Nr. 3) ist anders („Cessa crudel pensier“). Der letzte Teil des Terzetts (Nr. 4) ist musikalisch unverändert, weist aber einen anderen Text auf („Tu speri superbo“).Im Finale I (Nr. 5) ist die Kavatine Biancas abweichend. Im zweiten Akt gibt es keine zweite Solonummer für Gernando. Das Schlussterzett (Nr. 10) beginnt mit einer instrumentalen Einleitung. Die Oper endet nicht mit einer „Scena“ für Bianca, sondern mit dem Terzett  plus Chor.

Bellinis Erstling „Bianca e Gernando“ aus Bad Wildbad bei Naxos

Wie man sieht, bietet die Oper in der Urfassung nicht nur unbekannte Musik, sondern auch formal einige signifikante Unterschiede, die Bianca e Gernando einen eigenständigen Charakter verleihen. Im Wesentlichen ist diese Fassung insbesondere im 2. Akt stärker auf die Wiedervereinigung und Rückgewinnung der Macht der legitimen Herrscherfamilie fokussiert, wie die Abfolge der Nummern 7 bis 10 nach der Arie Filippos zeigt: Romanze Bianca – Duett der Geschwister – Kavatine Carlo – Terzett des Vaters und der beiden Kinder.

Neben der Edition von Bianca e Gernando arbeitete ich auch an der Ausgabe des Rossini-Briefwechsels für die Jahre 1831-1835 (Fondazione Rossini, hrsg. von Sergio Ragni). Erst dadurch wurde mir wirklich bewusst, welche große Wert­schätzung die beiden Musiker verband, als Bellini als Protegé Rossinis in Paris seine letzte Oper, I puritani, herausbrachte. Es hat daher einen geradezu symbolischen Wert, wenn „Rossini in Wildbad“ den Komponisten aus Catania mit der moder­nen Erstaufführung seiner einzigen noch unbekannten Oper ehrt! Reto Müller

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Reto Müller/ DRG

(Für unsere Wiedergabe haben wir auf die Anmerkungen/Fußnoten im Artikel von Carmelo Neri verzichtet, der Autor möge uns verzeihen – Dank an Carmelo Neri, Antonio Stade und Reto Müller für die Erlaubnis des „Nachdrucks“ der bei uns leicht gekürzten Texte aus dem Programmheft Rossini in Wildbad 2016) 

Zu Reto Müller: Der Schweizer Rossini-Kenner Reto Müller war hauptberuflich Fahrdienstleiter bei der Schweizerischen Bundesbahn, bevor er das Unternehmen nach dortigen Umstrukturierungen verließ und sich selbständig machte. Seit 1979 setzt er sich als Opernbesucher, Sammler und Forscher intensiv mit Leben und Werk von Gioachino Rossini auseinander und ist mittlerweile in zahlreichen Gremien aktiv. Durch seine beratende und organisatorische Tätigkeiten bei Rossini in Wildbad hat er das Festival mitgeprägt und den Anstoß zu mancher Wiederaufführung selten zu hörender Rossini-Werke gegeben. Neben zahlreichen Beiträgen und Rezensionen für Fachpublikationen, Opernzeitschriften und Programmhefte hält er in Bad Wildbad Einführungsvorträge und Seminare. Er ist geschäftsführender Vorsitzender der Deutschen Rossini Gesellschaft und freier Mitarbeiter der Fondazione Rossini in Pesaro und mittlerweile ein vielgefragter Experte für alle Fragen rund um Rossini. Aus seiner Passion hat er nun einen Beruf gemacht und bietet Diensleistungen wie Obertitel oder Recherchen unter dem Motto Go Rossini an. E-Mail: drg@rossinigesellschaft.de

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(Die bisherigen Beträge in unserer Serie „Die vergessene Oper“ finden Sie hier)