Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Bahnfahren mit Barry

 

Da wäre man gerne mitgefahren. Es muss eine recht kurzweilige Zugfahrt gewesen sein, auf der Rainer Simon, mit Verstärkung durch Felix von Böhm, seinen Chef Barrie Kosky von Berlin nach Bayreuth begleitete. Rund fünf Stunden dauert die Fahrt, die wie im Fluge vorbeigegangen sein muss und die sie anschließend dokumentierten: Nächster Halt: Bayreuth. Eine Zugfahrt mit Barrie Kosky (Wolff Verlag; ISBN-10: 3941461230, ISBN-13: 9783941461239). Das auf 80 Seiten gestreckte Ergebnis liest sich wie von selbst. Freilich nichts, was der auskunftsfreudige Kosky nicht schon irgendwo einmal erzählt hätte; auch die Hinweise zu seiner Meistersinger-Inszenierung, dem Grund der Reise, las man im Vorfeld der Bayreuth-Premiere. Sie lassen sich natürlich auch hinterher nochmals gut nachlesen und sind überhaupt ein guter Einstieg in die Inszenierung und Koskys differenziertes Wagner-Bild, einerseits „der Soundtrack des Dritten Reiches“, „andererseits war er nicht für das Dritte Reich verantwortlich. Verantwortlich ist er allerdings für all die schrecklichen Dinge, die er über Menschen gesagt und geschrieben hat“. Die ihm von Katharina Wagner vorgeschlagenen Meistersinger waren kein Wunschstück,Tannhäuser und Parsifal hätte ich mir vorstellen können. Aber Die Meistersinger! Auf keinen Fall. Das Stück handelt so sehr von deutscher Nationalität und deutscher Kultur, dass ich immer das Gefühl hatte, ich müsse davor fliehen“. Und was hat ihn zur Zusage bewogen: „Und dann … bin ich auf etwas sehr Spannendes gestoßen… gestoßen, dass für mich zum Auslöser für alles Weitere wurde: Wagner hat sich mit Hans Sachs identifiziert. Er hatte großes Mitgefühl für die Figur und nennt sich in ein paar Briefen an Cosima sogar selbst Hans.“  Und schon hat man Koskys Inszenierung: „im Kern dreht sich das Stück um Wagner selbst. …Wagner schreibt nicht nur über deutsche Traditionen, deutsche Musik und deutsche Lieder, sondern behandelt auch seine eigene Rolle innerhalb dieser Tradition… Im Zentrum … steht also Wagners Eigenliebe. Dazu kommt noch die Liebe zu Cosima, die er später heiraten wird und die sich in Eva widerspiegelt“. Das weitere zentrale Thema ist für Kosky Gericht und Urteil: „Wer urteilt über wen? Wer legt fest, wie Kultur zu sein hat… Und auf welche Art und Weise wird gerichtet?“ und dadurch der Bezug zu den Nürnberger Prozessen, in denen „vor einer weltweiten Öffentlichkeit auch ein ganzes Land, dessen Gesellschaft und Kultur angeklagt (wurde) – wie kein anderes Land zuvor“.

Kosky Bahnfahren Wolff Verlag

Kosky spricht über die Kunst des Regieführens, über Musik und Theater als Droge, über die Komische Oper, über die von jüdischen Komponisten geprägte Geschichte der Berliner-Operette – und Hingabe. Immer wieder kommt er dabei auf die ungarische Großmutter zu sprechen – mit dem Akzent „wie Bela Lugosi in seinen amerikanischen Horrorfilmen“ und ihrer Mischung aus Judith und Blaubart und Gräfin Mariza – die mit Madama Butterfly Barries Liebe zur Oper entfachte. Kálmán und Bartók, Leichtes und Ernstes prägten fortan seinen Musikgeschmack, eine eminente Vielfalt der Stile und Richtungen, mit denen er sich wohlfühlt und die er von Ball im Savoy bis zu den Meistersingern virtuos beherrscht und bedient, „Am Mittwoch möchte ich Tristan und Isolde hören, am Donnerstag Carmen, am Freitage Adele, am Samstag Schostakowitsch und am Sonntag besuche ich ein Rockkonzert. … Ich würde mich zu Tode langweilen, stets nur die großen Werke des 19. Jahrhunderts zu inszenieren“. Kosky ist bekennender Zugfahrer. Die Gespräche lassen sich bequem fortsetzen. Das kann also noch nicht alles gewesen sein. R. F.

Ambiance und Impression

 

Die große Nadia Boulanger war Pianistin, Organistin, Dirigentin, Komponistin und eine legendäre Pädagogin und Kompositionslehrerin. Als sie 1979 im Alter von 92 Jahren starb, soll sie während ihrer langen Tätigkeit ca. 1200 Schüler unterrichtet haben, darunter finden sich Namen wie George Gershwin, Aaron Copland, Astor Piazzolla, Quincy Jones, Philip Glass, Dinu Lipatti, Daniel Barenboim, Idil Biret, Leonard Bernstein, Igor Markevitch, John Eliot Gardiner u.v.a.m. Sie begann früh, Unterricht zu erteilen, 1921 wurde sie Professorin am Conservatoire américain de Fontainebleau, ab 1948 bis zu ihrem Tod war sie dessen Direktorin. Fast 60 Jahre hielt sie mittwochs in ihrer Wohnung Kompositionsanalysen. Der Regisseur Bruno Monsaingeon besuchte sie dort und drehte in den 1960er und frühen 1970ern einen Dokumentarfilm über Boulanger, den er „Mademoiselle“ betitelte, denn so ließ sich die zeitlebens unverheiratete Französin von ihren Schülern ansprechen, und der das von der Lehrerin und Persönlichkeit Boulangers ausgehende Charisma einfangen sollte. Mademoiselle heißt auch die Doppel-CD des amerikanischen Labels Delos, die sich der Komponistin Nadia Boulanger widmet. Ihr eigens kompositorisches Schaffen entstand bevor sie sich ihrer akademischen Laufbahn widmete. Sie selber tat es als unbedeutend ab, obwohl sie 1908 einen zweiten Preis beim renommierten Rom-Wettbewerb gewann. Ihre jüngere, früh verstorbene Schwester Lili (1893-1919) galt als talentierte Komponistin, sie gewann als erste Frau 1913 dem Rom-Preis, beider Vater gewann in 1835 mit 19 Jahren. Von den hier 37 eingespielten Werken sollen 13 Ersteinspielungen sein, elf unveröffentlichte Kompositionen (acht Lieder und drei Klavierstücke) wurden aus Boulangers Manuskripten transkribiert. Insgesamt kann man von einer Gesamteinspielung ihres Schaffens in den Genren Lied, Solo-Klavier, Orgel sowie Cello mit Klavier sprechen. Boulangers eigenen musikalischen Vorlieben waren persönlicher ästhetischer Natur, sie bewunderte Debussy und Ravel, setzte sich für Stravinsky ein, aber nicht für Schönberg und die Wiener Schule und hatte auch nie einen deutschen Schüler. Sie war auch eine Pionierin der alten Musik, die Monteverdi, Bach und Rameau spielte. In Nadia Boulangers Musik hört man die Einflüsse von Debussy und Fauré, ein französischer Klang zwischen Spätromantik und Impressionismus mit vielen chromatischen Elementen, durchaus originell, farbig und oft Stimmungen beschwörend. Die Lieder entstanden zwischen 1901 und 1922, ihr erstes Lied „Extase“ schrieb sie vierzehnjährig, ihr letztes Lied “J’ai frappé” mit 35. Ein Text stammt von Boulanger – „Soir d’hiver“ handelt von einer sitzengelassenen Mutter mit Kind, dazu namhafte Lyrik, u.a. von Victor Hugo, Verlaine, Materlinck sowie Heinrich Heine, den Boulanger in deutscher Lied-Tradition vertonen wollte.

Die Lieder sind in in Deutsch eingespielt, alle drei „O schwöre nicht“, „Was will die einsame Thräne“, „Ach, die Augen sind es wieder“ singt Tenor Alek Shrader, der in den USA bereits den David in den Meistersingern und den Alfred in der Fledermaus gesungen hat und mit sehr guter Aussprache fast durchgängig überzeugt. Mit Shrader, dem Sopran von Nicole Cabell und vor allem dem französischen Bariton Edwin Crossley-Mercer hat man sich für renommierte Sänger entschieden, die das Zuhören leicht machen. Boulanger zeigt unterschiedliche Ansätze, es gibt glückliche und ekstatische Liebeslieder, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, Erwartung und Zurückweisungen, oft fragil, melancholisch, traurig und dissonant, das Klavier kontrastiert oder untermalt, sie umspielt zurückhaltend den Text oder läßt keine Zweifel. Angeordnet hat man die Lieder nicht nach Entstehungszeit, sondern in freier Variation mit dem Zweck, eine abwechslungsreiche Programmabfolge für die Zuhörer zu präsentieren, die den intimen Charakter der Salonmusikaufführungen nachahmen will. Die Orgel-Werke wurden in Paris auf der Cavaillé-Coll Orgel in der Madeleine aufgenommen, eine Orgel, die Boulanger selber spielte. Der eingefangene Orgelklang ist nicht optimal, man steht vor einer zweidimensionalen Klangwand, wie man sie aus alten Aufnahmen kennt. Organist François-Henri Houbart spielt die „Trois improvisations“ von 1911 und „Pièce sur des airs populaires flamands“ von 1915. Zwei Klavierwerke sind vorhanden, „Vers la vie nouvelle“ aus dem Jahr 1917 fand seinen Anlaß im 1. Weltkrieg, beginnt düster und gewinnt zunehmend Zuversicht, die „Trois pièces pour piano“ sind drei Miniaturen von ca. jeweils einer Minute mit unterschiedlicher Tönung zwischen Nachdenklichkeit und Unbekümmertheit. Die „Trois pièces“ für Cello und Klavier stammen aus dem Jahr 1914, „Modéré“, “Sans vitesse et à l’aise” und “Vite et nerveusement rythmé” klingen, wie sie heißen, Cellist Amit Peled und Pianistin Lucy Mauro fangen diese Stimmungen mit schönem Klang ein. Bis auf die Orgelwerke wurde alle Musik in der Bloch Hall der West Virginia University mit sehr gutem Klangbild aufgenommen. Ein ausführliches Beiheft in englischer Sprache wertet die interessante und sehr gut gemachte Einspielung zusätzlich auf. (2 CDs, Delos, DE3496) Marcus Budwitius

Halbszenisch und voll musikalisch

 

Wesentlich mehr Freude als an der Calixto-Bieito-Traviata einige Jahre zuvor dürften die Hannoveraner 2016 an der unter einer Glaskuppel hinter dem Rathaus ihrem Tode entgegen fiebernden Violetta gehabt haben, während die des katalanischen Regisseurs mit einem höhnischen „Oh, gioia“ kerngesund und mit Taschen voller Geld die Bühne des Opernhauses verlassen hatte. Halbszenische Aufführungen scheinen zunehmend in Mode zu kommen, denn sie setzen die Regie nicht dem Vorwurf aus, sich nichts Revolutionäres haben einfallen zu lassen, und bewahren das Publikum davor, sich fragen zu müssen, ob ihm wirklich die Oper geboten würde, die auf dem Spielplan stand.

2000 Zuschauer konnten im vergangenen Jahr (2017 gab es Rigoletto) auf Stühlen vor der Bühne, weitere 20 000 am Masch-See picknickenderweise am von Gudrun Schröfel geschickt arrangierten Opernspiel teilnehmen, festlich verhielt sich auch der Park mit einem schüchternen Feuerwerk beim Fest im ersten Akt, und die Lichtregie bezog sogar den prächtigen Bau des Rathauses in die Produktion mit ein. Einige Möbelstücke wie Spiegelkommode („Come son mutata“), Kandelaber, Schreibtisch oder Lagerstätte geben den Sägern die Möglichkeit zum sinnvollen Agieren. Die Dirigentin Keri-Lynn Wilson geht gemeinsam mit der NDR Radiophilharmonie sorgsam mit ihnen um und steuert außerdem zwei sensible Vorspiele zum gelungenen Abend bei, und das Schlussduett Violetta- Alfredo wird mit aufgemachten Strichen gesungen.

Ein hochkarätiges Sängertrio ist der Garant für eine auch den DVD-Betrachter in ihren Bann ziehende Aufführung. Thomas Hampson hat mit dem Padre Germont seine beste Verdi-Partie gefunden, legt ihn als zunächst wie einen Finsterling und Wüterich strafenden Racheengel an, findet in seinen Zweifeln zu immer  differenzierterer Haltung, und ist für „Di provenza il mar“ ein die Klischees meidender Interpret, der zur Cabaletta zusätzlich noch viel szenische Aktion bietet. Nur beim ersten Registerwechsel sind Unsicherheiten hörbar, sein Eingreifen im zweiten Teil des zweiten Akts ist von großer vokaler Autorität und Legato und Phrasierung die eines Italieners.

Einen auch optisch sehr überzeugenden, jungenhaften Alfredo spielt der sardische Tenor Francesco Demuro mit noblem Timbre, fein abgedunkelten Spitzentönen und perfektem canto elegiaco. Die Diktion ist beispielhaft, und zu allem Guten kommt noch eine nach oben gesungene Cabaletta.

Geschmackssache dürfte das Timbre von Marina Rebeka sein, einer Lettin, in deren Sopran doch auch Slawisches mitschwingt, die recht nuancenlos beginnt und den hohen Ton am Schluss des ersten Akts vermeidet. Sie ist eine Violetta-Spezialistin, auch als Einspringerin in dieser Rolle gern gesehen und oft gefordert, und im Verlauf des Abends werden Spiel und Gesang auch immer variationsreicher wie die Abendkleider, von denen das erste durchaus an das Zweite Kaiserreich erinnert. Ein sehr schönes Piano hat der Sopran für „Dite alla giovine“, feine Schwelltöne und ein zu Herzen gehendes „Amami, Alfredo“, und sehr agogikreich gelingt „Addio del passato“, so dass man auch die zweite Strophe noch gern hört, und die Dumpfheit des „Ma se tornando“ ist gewollt und besonders eindrucksvoll.

Einen angenehmen Mezzosopran zeigt Sharon Carty als Flora, spitz bleibt Ania Vegry als Annina, Bassbalsam verströmt Martin-Jan Nijhof als Doktor Grenvil.

Obwohl nur halbszenisch und obwohl nur DVD, erreicht diese Traviata das Herz des Konsumenten und stellt den Kritiker zufrieden. Weiter so, auch 2018 (Naxos 2.110568). Ingrid Wanja 

 

In diese musikalische Lobeshymne stimmte auch der Rezensent des Rigoletto 2017 in operalounge.de ein!

Beschwingt

 

Von Rossinis Gazza Ladra über den Ring bis zu Reimanns Medea reichen die CDs oder gar DVDs, mit denen die Oper Frankfurt ihre künstlerische Arbeit dokumentiert. Als erste Operette gibt es nun die Aufzeichnung der konzertanten Aufführung von Léhars Der Graf von Luxemburg vom Jahreswechsel von 2015 zu 2016. Erstaunlich ist, dass es das neben der Lustigen Witwe und dem Land des Lächelns populärste Werk des Komponisten vorher in Frankfurt nie zu erleben gab, es sich also um eine echte Erstaufführung für die Stadt handelt.

Durchweg mit gestandenen Opernsängern besetzt sind die sechs Rollen, die des hohen, hier allerdings ebenfalls leichtfertigen Paars, des Buffopaars und die beiden komischen Alten. Daniel Behle findet wie seine Kollegen den angemessenen leichten Ton für die auf den beiden CDs aufgezeichneten Gesangsnummer, hat eine präzise Diktion, die Lust an voll ausgekosteten Acuti, so im „So liri, liri, lari“, den Schwung und die Leichtigkeit und viel Schmelz, aber ohne die Gattung oft kompromittierendes Schmalz. Beinahe noch mehr staunen macht Camila Nylund, auf der Opernbühne nicht gerade im leichten Fach zu Hause, die viel Zuckerguss auf den Stimmbändern zu haben scheint, deren Sopran voller Süsse und Geschmeidigkeit ganz schlank geführt wird und zu Beginn des 2. Akts auch zu sehr innigen Tönen findet. Angemessen hebt sich das Buffopaar akustisch ab, sie, Louise Alder mit feinem Zwitscherstimmchen als Juliette, er, Simon Bode als Armand, mit flexiblem Pedrillo-Tenor.  Sonor klingt Sebastian Geyer als Fürst Basilowitsch, seine ewige Geliebte und schließlich doch Ehefrau wird von Margit Neubauer köstlich im urkomischen Sprechgesang zum Highlight des dritten Akts.

Mit hörbarer Lust ist der Chor unter Tilman Michael bei der ungewohnten Sache, die Koreanerin Eun Sun Kim lässt das Orchester bei Polka und Mazurka auftrumpfen, sich aber auch einer raffinerten Agogik, so in den Introduktionen zur  Arie zu Beginn des zweiten Akts, befleißigen. Nicht überhören lässt sich, wie animiert das Publikum auf die ungewohnte Kost reagiert, ehe es auf den musikalischen Übermut des Schlusses mit ebenso emphatischem Beifall reagiert (Oehms  Classics 968). Ingrid Wanja  

Nicht nur „Martha“…

 

Wer hat nicht alles Lionels Arie aus der der Flotow-Oper Martha gesungen! Jeder Tenor von Rang von Caruso bis Kaufmann tat es. Aber auch jedes Wunschkonzert im Radio oder in Bodenmulden wurde damit bis in die Sechziger beglückt. Und die Liste der Gesamteinspielungen und Querschnitte ist eine Reise durch die Aufnahmegeschichte. Aber eben – nicht nur Martha beweist Flotows Können auf dem Gebiet der gehobenen Unterhaltung des mittleren 19. Jahrhunderts. Auch die (drei weiteren dokumentierten) Opern Alessandro Stradella (u. a. hinreißend Werner Hollweg bei Gala und dem BR – leider wie auch die Capriccio-Einspielung mit Jörg Dürrmüller vergriffen), Zilda (bei Line als Fatme angeboten mit Ingeborg Hallstein, dto. BR) sowie die heitere Witwe Grapin (dto. Line mit Franz Fehringer vom HR) sprechen von Flotows Gespür für das Heitere. Und Alessandro Stradella ist einen eigenen Artikel in naher Zukunft in operalounge.de wert. Und bei youtube gibt´s ein bizarres Dokument aus Indra – einen Marsch nach Motiven der Oper von Carl Neumann, der beim Berliner Gardeschützen-Battalion war und die Musik zur Parade eingerichtet hatte…

Orchestermusik von Flotow bei Sterling

Aber kennt jemand noch den Titel seiner Pariser Oper  von 1844, L´esclave de Camoens? Seine schmissige Bühnenmusik zu Wilhelm von Oranien in Whitehall  von Gustav Edler Gans zu Putlitz? „I´m not making this up!“ würde Anna Russell jetzt sagen, denn den Dichter mit dem putzigen Namen wie den Titel gibt’s wirklich, die Musik auch. Eine nicht mehr ganz neue CD von Sterling (2007/ CDS 1070-2) vereint nicht nur die schmissigen zwei Klavierkonzerte (Hans Wiesheu dirigiert das Pilsener Philharmonische Orchester mit dem fabelhaften Pianisten Carl Peterson am Klavier) mit der ebenfalls kaum bekannten „Jubel-Ouvertüre“ und eben der Bühnenmusik zu Wilhelm von Oranien.

Die andere CD von Sterling ist ein kammermusikalisches Schatzkästchen voller  Petitessen von Offenbach und Flotow für Klavier und CelloCarl Petersson und Estera Rajnicka spielen so abenteuerliche Titel wie eben den Sklaven des Camoens, einen hinreißenden Galop de Servantes, eine  Valse de Greewich und zwei weitere Variationen aus Martha neben Köstlichkeiten von Offenbach (Au bord de la mer, Souvenir du bal, La prière du soir, Ballade du Pâtre, La retraite und einen bezaubernden Danse norvegiénne – letztere mit akutem Cello-Einsatz/2012/ Sterling CDS 1668-2). Sehr schmissig.

Duette für Klavier und Cello von Flotow und Offenbach bei Sterling

Mehr zu Friedrich von Flotow gibt es im Booklet zur ersten CD vom Dirigenten, dem Orchesterwerk unter Hans Peter Wiesheu, der den Komponisten aus der Sicht eines Musikers beschreibt. Es zeigt sich, dass Flotow eben kein Ein-Opern-Komponist war und dass sein übriges recht umfangreiches Werk (nachzulesen bei Wikipedia) zu Unrecht vergessen ist.  G. H.

 

Ein näherer Blick auf den unterschätzten und nur für die Martha verantwortlich gemachten Flotow lohnt sich. Informationen zu Flotows Leben aus dem wie stets (fast) unersetzlichen Wikipedia: Friedrich von Flotow (Nr. 258 der Geschlechtszählung) gehört zu den bekanntesten Vertretern der seit 1241 urkundlich nachgewiesen Familie Flotow, die zum mecklenburgischen Uradel gehört. Er wurde 1812 geboren als zweites von vier Kindern und ältester Sohn des Gutsbesitzers und preußischen Rittmeisters Wilhelm von Flotow (1785–1847; Nr. 174) auf Teutendorf (heute ein Ortsteil von Sanitz) und Wendfeld und dessen Frau, Caroline Sophie Rahel von Böckmann (1792–1862). Beide Eltern waren musikalisch gebildet. Der Vater spielte Flöte, die Mutter Klavier. Von seiner Mutter erhielt Flotow im Privatunterricht seine ersten Musikkenntnisse.

M.me Darcier, rôle de Griselda dans L’esclave de Camoens, Théâtre de l’opéra comique, Galerie dramatique/ BNO

Sein Vater hatte für Flotow eigentlich eine diplomatische Laufbahn geplant, doch als sein musikalisches Talent offenbar wurde, ließ sein Vater ihn auf Empfehlung des Klarinettenvirtuosen Ivan Müller die Laufbahn eines Musikers einschlagen. Von 1828 an studierte er am Conservatoire de Paris Komposition bei Anton Reicha und Klavier bei Johann Peter Pixis. Dort freundete er sich unter anderem mit Charles Gounod und Jacques Offenbach an.

Dazu schreibt Hans Peter Wiesheu in seinem lesenswerten Artikel: (…) Im  Sommer 1830 trifft er wieder in Teutendorf ein, im Gepäck eine Vielzahl von Kompositionen, darunter eine fragmentarisch erhaltene Messe. Neben der Oper Pierre et Catherine schrieb Flotow auch ein Klavierkonzert in c-moll, dessen „Uraufführung“ unter kuriosen Verhältnissen bei den Proben kurz vor Weihnachten 1830 im Theater in Güstrow über die Bühne ging. Die in der Partitur vorgeschriebe­nen Bläser waren nicht besetzt, nur einige Streicher waren anwesend. Dann kam es zu klein­städtischen Streitereien, der Cellist verließ die Probe, die daraufhin abgebrochen wurde. Nach­dem man sich wieder versöhnte, gab es eine weitere Probe am nächsten Tag. Der Konzertabend kam, das Haus war – wie Flotow schreibt – brillant besetzt. Am Schluss des ersten Satzes sprang eine Klaviersaite. Die Reparatur hätte beinahe zu Streitereien zwischen den beiden rivalisierenden Klavierverkäufern in Güstrow geführt. Einer von beiden hatte aber schon kräftig dem Rotwein zu­gesprochen, sodass ihn ein Nachtwächter nach Hause bringen musste. Das Konzert endete – so Flotow – ohne weiteren Zwischenfall zur allge­meinen Befriedigung.

Im Jahr 1830 war Flotow für kurze Zeit nach Deutschland zurückgekehrt. Hier komponierte er seine ersten dramatischen Werke: Pierre et Cathérine, Rob Roy und La duchesse de Guise, die er dann in Paris nicht ohne Mühe zur Aufführung brachte. Die Frische der Melodien und der heitere Sinn, der sich in diesen Werken aussprach, fanden Anklang, und unaufgefordert übertrug ihm 1838 der Direktor des Théâtre de la Renaissance die Komposition des zweiten Aktes der Genreoper Le Naufrage de la Méduse, die binnen Jahresfrist 54 Mal aufgeführt wurde.

Friedrich von Flotow: Illustration zur Uraufführung von „Alessandro Stradella“/ BNO

Dazu auch Hans Peter Wiesheu: (…) Ein zweites Klavierkonzert entstand 1831, das bis heute ohne Uraufführung im Konzertsaal blieb. In der Thematik nicht unbeeinflusst von Carl Maria von Weber, wartet dieses Konzert mit der Beson­derheit der Viersätzigkeit (Scherzo als 2. Satz) auf. Lange vor Brahms (geboren erst 1833!) kompo­nierte Flotow also bereits ein viersätziges Klavier­konzert und übernimmt damit die Form der Symphonie für das Solokonzert. Das Thema der langsamen Streichereinleitung des ersten Satzes wird im 4. Satz als Klammer maestoso durch das ganze Orchester wiederholt, bevor eine kurze Coda zum Ende führt. (…)

Durch seine Studienjahre bei Reicha war Flotow u.a. mit Adolphe Adam, Charles Gounod, Hector Berlioz, Giacomo Meyerbeer und Francis Auber befreundet. Rossini lernte er eben­so wie Victor Hugo, Honore de Balzac, Prosper Merimee und Heinrich Heine in den musikalischen Salons kennen. Heine war kein großer Freund dieser gelegentlich doch recht dilettantischen Dar­bietungen. Manche Musiker nannte er „Leute, die zu den schlimmsten Hoffnungen Anlass boten.“ (…)

Auf die oben genannten  Opern folgten in kurzen Zwischenräumen Le forestier (1840), L’esclave de Camoëns (1843) und das in Gemeinschaft mit Friedrich Burgmüller und Edouard Deldevez komponierte Ballett Lady Harriet (1844).  Das Jahr 1838 sollte zwei entscheidende Begegnungen bringen. Er hört zum ersten Mal Frederic Chopin spielen und begegnet der Zigarre rauchenden Dichterin Georges Sand.

Hans Peter Wiesheu zitiert: „Die Gesellschaft brach auf, auch ich empfahl mich, ent­zückt, in dem Gastgeber einen vollendeten Kavalier kennengelernt, den berühmten Chopin gehört und die berühmteste Schriftstellerin Frankreichs rauchen gesehen zu haben.“ Und weiter:

Friedrich von Flotow: „Alessandro Stradella“ mit Werner Hollweg vom BR bei Gala

Etwa zeitgleich lernte Flotow einen jungen Deutschen kennen, der sich Jakob Eberscht nannte, ausgezeichnet Cello spielte und sehr arm war. Flotow versprach ihm, Zutritt zu den Salons zu ver­schaffen. Gemeinsam komponierten sie 12 Baga­tellen für Cello und Klavier. Bei einer Soiree hatten sie Gelegenheit, ihre Kompositionen der Öffent­lichkeit vorzustellen. Die beiden Musiker waren mit ihren Stücken so erfolgreich, dass sie diese im Winter 1838/39 über 100 Mal in diversen Salons spielen mussten. Eberscht lernte dabei das Pariser Leben kennen, das Grundlage seiner späteren Operettenerfolge werden sollte. Die Freundschaft hielt lebenslang, zuletzt trafen sich die beiden Freunde 1878 in Paris. Eberscht entstammte einer jüdischen Kantorenfamilie aus Köln. Indirekt verdankt die Musikwelt also der Hilfsbereitschaft Flotows die Welterfolge des Komponisten, der sich in Frankreich Jacques Offenbach nannte. 1839 schrieb Flotow das Trio de Salon, das von Jules Offenbach (Violine. Bruder von Jacques), Jacques Offenbach (Violoncello) und Flotow (Klavier) in einem Pariser Salon uraufgeführt wurde. (…)

1844 konnte er mit der in Hamburg uraufgeführten Oper Alessandro Stradella seinen ersten großen Erfolg vermelden. Zusammen mit seiner in Wien uraufgeführten Oper Martha oder Der Markt von Richmond bildet sie den Grundstock für Flotows hohen Bekanntheitsgrad. Die Libretti der beiden Opern stammten von Friedrich Wilhelm Riese (Pseudonym: Wilhelm Friedrich), der beim Schreiben auf ältere Werke, die unter der Mitarbeit von Flotow entstanden, zurückgriff. So basiert der Text von Martha auf Lady Harriet.

(…) 1855 übernahm Flotow die Intendanz des Theaters in Schwerin. Er komponierte für seine Musiker u.a. zwei Streichquartette, wovon eines bei einem Brand verloren ging, sowie eine Violin­sonate und mehrere Melodramen auf Texte von Franz Freiherr von Gaudy. Zur Wiedereröffnung des Schweriner Schlosses 1857 schrieb er die Jubel- Ouverture und die mecklenburgische Gelegen­heitsoper Johann Albrecht. Ebenfalls für Schwerin komponierte Flotow 1861 für die Aufführungen des Schauspiels Wilhelm von Oranien in Whitehall von Gustav Edler Gans zu Putlitz eine Introduktion und 4 Zwischenaktsmusiken. Vorurteile, Antisemi­tismus und Schikanen der Hofbürokratie veranlassten Flotow seine Stelle als Intendant aufzu­geben. Sein Freund Gustav zu Putlitz wurde sein Nachfolger. Erneut zog Flotow nach Wien.(Wiesheu)

Friedrich von Flotow: Frontespiece des Librettos zur Oper „L´esclave du Camoens/ OBA

Von Flotows spätere Opern, wie zum Beispiel Die Großfürstin (1850, Libretto von Charlotte Birch-Pfeiffer), Rübezahl (1853, Libretto von Gustav Gans zu Putlitz) oder Albin (1856, Salomon Hermann Mosenthal), konnten keinen nachhaltigen Erfolg erringen und erscheinen nur als blasse Reproduktionen der früheren Werke.

1848 kehrte Flotow wieder nach Mecklenburg zurück, um das Erbe seines Vaters anzutreten. Am 21. August 1849 heiratete er Elisabeth von Zadow (1832–1851).[3] Im November 1855 heiratete er nach dem frühen Tod Elisabeths die Tänzerin Anna Theen (1833–1872), die ihm drei Kinder, Wilhelm (1855–1872), Friedrich (1857–1918) und Karoline (1851–1864), gebar.

Inzwischen war Flotow 1855 zum Hoftheaterintendanten in Schwerin berufen und zum großherzoglich mecklenburgischen Kammerherrn ernannt worden. Zur Einweihung des Neuen Schweriner Schlosses komponierte er 1857 die Oper Johann Albrecht, Herzog von Mecklenburg. Aus dieser Schaffensperiode stammt auch La Veuve Grapin. 1863 gab er seinen Posten auf und zog nach Wien, wo er in die Künstlergemeinschaft Die grüne Insel eintrat, für die er viele Lieder komponierte.

Später beteiligte sich Flotow an der Gründung der deutschen Genossenschaft dramatischer Autoren und Komponisten, die, ähnlich der heutigen GEMA, die Urheberrechte der Komponisten schützen sollte. Nachdem von Flotow sich in Wien 1867/68 von seiner Frau Anna hatte scheiden lassen, heiratete er am 9. August 1868 ihre Schwester Rosina Theen (1846–1925). Aus dieser Ehe ging eine Tochter hervor.

Grab von Friedrich von Flotow auf dem Alten Friedhof in Darmstadt/ wiki

Von 1880 an lebte Flotow bei seiner Schwester Bernhardine Rößner in Darmstadt, wo er eine Villa erworben hatte. Dort starb er fast gänzlich erblindet am 24. Januar 1883 drei Wochen vor Richard Wagner. Sein Grab befindet sich auf dem Alten Friedhof in Darmstadt.

Von seinen übrigen Kompositionen sind unter anderem eine ansprechende Musik zu Shakespeares Wintermärchen, einige Ouvertüren, Klaviertrios, zwei Klavierkonzerte und etliche Lieder anzuführen (eine Auflistung findet sich bei Wikipedia).

Und zum Schluss doch noch „Martha“: Adelina Pattia als Lady Hariett/ Dover Books

Von Flotow kann nicht als bahnbrechender Tondichter gelten. Er lehnte sich unter anderem an Komponisten der Opéra comique – namentlich Auber und Boieldieu, aber auch Offenbach – an, deren geistreiche Grazie er sich bis zu einem bestimmten Grad aneignete. Gemeinhin eignete sich Flotow jedoch keinen ausgeprägten Personalstil zu, sondern komponierte eklektizistisch. So verweisen liedhafte Elemente auf das deutsche Volkslied. Charakteristisch am auffälligsten sind jedoch die am italienischen melodramma orientierten Solistenthemen, die stark an Donizetti erinnern.

In den Opern Flotows finden sich keine gesprochenen Dialoge. Allerdings sind sie nicht etwa wie Wagners Opern durchkomponiert, sondern bestehen aus einzelnen, aneinandergereihten Gesangsstücken, die durch Rezitativpassagen verbunden werden.

Alles in allem ist seinen Werken eine gewisse Originalität nicht abzusprechen, und selbst der strengere Kritiker muss die leichte, lebendige Bewegung, den anmutigen Melodienfluss, die geschickte und effektvolle Instrumentierung derselben anerkennen, die Flotows Opern leicht konsumierbar machen. Nicht ohne Grund war Martha die meistgespielte Oper in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. (Quelle Wikipedia)

Visuelle An- und Abreize

 

Vor ca. dreißig Jahren war das Schleswig-Holstein Musikfestival im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu guten Sendezeiten vertreten. Ein Festival im Sommer, für das man neben Konzertmitschnitten auch schöne Landschaftsaufnahmen und Berichte vom Sommer am Meer produzierte, die den Reiz und die Attraktivität von Kultur und Kulturlandschaft kombinieren sollten. Wer mit solchen Erwartungen zu der bei Dynamic erschienenen DVD mit dem Mitschnitt des Eröffnungskonzerts des Veneto Festival 2014 greift, wird wahrscheinlich enttäuscht. Kulturlandschaften gibt es überhaupt nicht, die knapp 69-minütige Aufnahme zeigt lediglich wenige Ausschnitte der Chiesa degli Eremitani in Padua. Die  Fresken von Andrea Mantegna haben den Lauf der Zeit nicht unbeschadet überstanden und sind nur teilweise restauriert, aber das war es auch schon, hier gilt’s trotz DVD nur der Musik. Doch auch für einen  Konzertmitschnitt  wirkt die Bildregie bestenfalls routiniert, man schaut und hört zu und irgendwie schaut man bald nicht mehr so oft hin und schweift ab. Musikalisch wartet die DVD immerhin mit der Ersteinspielung einer Messe von Baldassare Galuppi auf. Galuppi (1706-1785) ist überwiegend als Opernkomponist überliefert, in der Spätphase seines Schaffens war er in Venedig als Kirchenmusiker tätig und komponierte 27 Messen, dazu Glorias, Kyrien, Magnificate sowie Psalmen und Motteten.

Die Missa per il riscatto degli schiavi von 1765 hat einen ungewöhnlichen Anlass, die Fürbitte für venezianische Bürger, die von Piraten entführt wurden und denen ein Schicksal als Sklaven im Orient drohte. Die Wohlhabenden konnten mittels Lösegeldzahlungen befreit werden, für ihre glückliche Heimkehr wird hier musiziert. Eine lediglich dreiteilige Messe – Kyrie, Credo und Gloria, ohne Sanctus, Benedictus und Agnus dei. Der Zweck der Messe wird ansonsten ganz formal im üblichen Rahmen ausgedrückt, musikalisch ist die Messe nur von formalem Reiz. Da die DVD kein besonders aussagekräftiges Beiheft hat, bleibt der Betrachter über die weitere Einordnung des Werks im Unklaren. Bei Mozarts Krönungsmesse KV317 weiß man dann, woran man ist und wird auch nicht richtig glücklich. Mit I Solisti Veneti unter seinem Gründer Claudio Scimone hat man ein Ensemble und ein Dirigenten von Rang, doch die Vorzüge des Orchesters werden akustisch nicht hervorgehoben. Es mag eventuell am technischen Equipment des Verfassers dieser Zeilen liegen, dass der besondere Klang der Solisti Veneti nicht zur Geltung kommt und er lieber auf CDs zurückgreifen würde. Die Solisten Roberta Canzian, Laura Polverelli, Aldo Caputo, Marco Bussi sowie der Lege Artis Chor aus dem russischen Sankt Petersburg bieten eine ordentliche Leistung. In der Summe bleibt der Verdacht, dass diese Aufnahme nur als Erinnerung für Publikum und Teilnehmer taugt. (1 DVD, Dynamic, 37740)

Das britische Ensemble The Sixteen unter seinem Gründer und Leiter Harry Christophers hat sich in seiner Diskographie bereits ausführlich Claudio Monteverdis Werk gewidmet. Unter anderem liegt die Messa in illo tempore (1610) vor, ebenso auf drei CDs die Selva morale e spirituale von 1641 und die posthume Messa a quattro voci et salmi. Monteverdis Marienvesper Vespro della Beata Vergine von 1610 wurde von The Sixteen 2014 eingespielt und aufgrund der tadellosen Stimmleistungen für einen Grammy in der Kategorie „Best Choral Performance“ nominiert, es gelingt dem britischen Ensemble, die Vesper schlank und transparent, aber manchen vielleicht etwas zu protestantisch-nüchtern zu interpretieren. Die Konkurrenz ist allerdings groß, Gardiner (die DG-Aufnahme wurde dieses Jahr bei Archiv mit umfangreichem Booklet neu aufgelegt), Harnoncourt, Savall und Alessandrini – die beste Interpretation kann man ausführlich abwägen. Bei der BBC erschien eine Sonderedition Monteverdi in Mantua – The Genius of the Vespers. Diese enthält die beiden CDs der Marienvesper und zusätzlich eine DVD mit einer Dokumentation der BBC über Monteverdi, die nur in englischer Sprache vorliegt. Moderiert von Simon Russel Beale sieht man eine informative und gut gemachte ca. einstündige Sendung mit schönen Aufnahmen aus Mantua, The Sixteen singen Beispiele aus Montverdis Werk. Als Kennenlern-Set für kulturbeflissene Monteverdi- und Italien-Fans kann diese Zusammenstellung reizvoll sein und stellt einen schönen Beitrag zum Monteverdi-Jahr dar (2CD + 1DVD, CORO, COR16237) Marcus Budwitius

Ars gallica im Konzertsaal

 

Um das Oeuvre von Camille Saint-Saens steht es im Moiment mehr als gut – der künstlerische Direktor des Palazetto Bru Zane, Alexandre Dratwicki, frönt seiner Leidenschaft für eben diesen Komponisten, dessen Oper Le Timbre d´Argent gerade (2017) in Paris aufgeführt und für die CD (Ediciones Singulares) festgehalten wurde. Lieder von Saent-Saens erschienen bereits zum Klavier unter der Schirmherrschaft des Palazetto (Tassis Christoyannis bei APARTÉ AP 132/ harmonia mundi), nun also die Orchesterlieder bei Alpha Classics (Alpha 273) unter Markus Poschner und dem Orchester der Italienischen Schweiz. Mit den beiden herausragenden Solisten Yann Beuron/ Tenor und Tassis Christoyannis/ Bass stehen wieder zwei Säulen der Palazetto-Aktivitäten vor uns, die exzellente Diktion und erstklassigen Stimmeinsatz garantieren und die mit dieser hoch interessanten CD ein so seltenes Programm vorstellen, das zu Unrecht vergessen ist. Orchesterlieder gibt es eben nicht nur von Strauss oder Reger, sondern auch von den französischen Komponisten wie Berlioz, Gounod oder Saint-Saens. Im Folgenden dazu ein Artikel von Sebastién Foerster vom Palazetto Bru Zane aus der Beilage der Alpha-Classics-CD.

 

Camille Saint-Saens 1875/ Wiki

«Wenn Sie für Ihr Lied Lust auf ein Orchester haben, tun Sie sich keinen Zwang an, das Orchesterlied ist eine soziale Notwendigkeit; gäbe es welche, so würde man in den Konzerten nicht dauernd Opernarien singen, die dort oft einen jämmerlichen Eindruck erwecken.» (Camille Saint-Saens, Brief an Marie Jaell, 1876)

Mit den Genies ist es wie bei manchen Leuchttürmen: Ihr starkes Licht blendet oft mehr, als es den Weg weist. Im Bereich des französischen Liedes schienen die Meisterwerke Faurés, Duparcs, Chaussons, Debussys und Ravels manchmal wie eine spontane, wunderbare Generation aus dem Nichts hervorzuquellen. Die Aufmerksamkeit nur auf diese Höhepunkte zu beschränken, hieße ein ganzes Jahrhundert von Überlegungen und Kämpfen in Frankreich rund um die Frage des Liedes und besonders des von einem Orchester begleiteten Liedes zu verschmähen: Seit den orchestrierten Romanzen zu Beginn des 19. Jh. über die ersten Orchesterlieder von Hector Berlioz und Félicien David bis schließlich zur Jahrhundertwende das bekannte Goldene Zeitalter erreicht wurde, steuert das Korpus der Lieder von Camille Saint-Saens unbestreitbar zur Geschichte und Entwicklung dieser Gattung bei.

Saint-Saens widmet sein Genie sehr früh der Komposition von Liedern für Gesang und Klavier und nutzt manchmal seinen Elan, um sie gleich auch zu orchestrieren: So schreibt er L’Enlevement über ein Gedicht von Victor Hugo erst für Klavier, dann für Orchester im Jahre 1848, als er erst dreizehn Jahre alt ist; das Gleiche gilt für Reverie (wieder Hugo), das er 1851 vertont und orchestriert, und 1852 für Le Pas d’armes du Roi Jean (Hugo), das als eines seiner Meisterwerke betrachtet wird. Darauf folgen 1853 Feuille de peuplier überein Gedicht von MmeAmableTastu, dann 1855 L’Attente und La Cloche (Hugo) sowie Plainte (Tastu). Unter den fünfundzwanzig Orchestermelodien, die in seinem Katalog verzeichnet sind, wurden bis heute neunzehn aufgenommen: Die Zeitspanne zwischen den Kompositionen bezeugt allein schon das Engagement des Komponisten, da siebzig Jahre zwischen L’Enlevement und Papillons (Renée de Leche) und Angelus (Pierre Aguetant) liegen, wobei beide 1918 und Aimons-nous (Theodore de Banville) 1919 komponiert wurden.

Bemerkenswert ist, dass dieses echte Engagement oft bei weitem nicht von rein musikalischen Gründen motiviert scheint In der Mitte eines Jahrhunderts, in dem die Begeisterung des Publikums für die Oper und das Theater über allem steht, in dem der Einfluss der deutschen Musik immer größer wird und die französischen Komponisten Mühe haben, ihre neuen Werke in Konzerten zu Gehör zu bringen, ist die Entwicklung der Liedgattung ein ebenso künstlerisches wie politisches, ja nationalistisches Anliegen. In diesem Kontext scheinen Saint-Saens‘ Motivationen drei Hauptanliegen zu entsprechen.

Das erste: Der Kampf gegen die erdrückende Vorherrschaft der Opernarien in den Konzertprogrammen, wobei die Opern meist von ausländischen Komponisten stammen. Saint-Saens‘ quasi systematische Widmungen an Sängerinnen und Sänger zielen also darauf ab, dass sich diese an der Förderung des neuen Repertoires beteiligen.

Das zweite Motiv ist die Behauptung, das Gedicht sei der Musik überlegen, was den Komponisten dazu veranlasst, die Verse auf die Melodie zu schmieden „wie ein Goldschmied einen Edelstein fasst“. In seiner gesamten Korrespondenz und seinen zahlreichen Schriften trifft man immer wieder auf einen Camille Saint-Saens, der es für seine Mission hält, für ein klassisches Verständnis des Verses und der Prosodie einzutreten. Unpassende Akzente, falsche Silbentrennungen und Zeilensprünge, wie sie zeitgenössische Operetten- und Opernkomponisten verwenden – vor allem wenn sie wie Offenbach und Flotow aus anderen Ländern stammen – liefern ihm Stoff zu einem permanenten Kampf und nicht weniger häufigen Klagen.

Drittens geht es ihm darum, durch seine Arbeit und Überlegungen zu einer echten Ars gallica beizutragen, wie es sich die Societé nationale de musique ab ihrer Gründung im Jahre 1871 im Zusammenhang mit der Niederlage gegenüber Preußen zur Aufgabe gemacht hatte. Untersucht man den besonderen Fall des Orchesterliedes, so wird klar, dass sich dieses spezifisch französische Genie voll und ganz der hier auf das Lied angewandten Instrumentationsarbeit widmete, das heißt dem, was man Orchesterfarbe nennt.

All diese Nuancen und Motivationen sind im oben zitierten Brief an Maire Jaell erkennbar, wobei die Verwendung des deutschen Wortes „Lied“ unbestreitbar daran erinnert, dass sich der französische Komponist mit der Tradition des deutschen Liedes verbunden fühlt: So drücken L’Enlevement, Extase (Victor Hugo), La Feuille de peuplier und Reverie, deren Strophenformen nur von einem melodischen Motiv begleitet werden, einen einzigen Zustand aus, während gebrochene Akkorde und Arpeggios vorherrschen, die für eine für Klavier konzipierte Begleitung typisch sind.

Aber auch Besonderheiten von Saint-Saens‘ Kunst treten zutage: ein gewisser Sinn für Pittoreskes und (manchmal schwarzen) Humor, ja für Fantastisches durchzieht den Danse macabre (Henri Cazalis), Les Fées und Le Pas d’armes du Roi Jean. In letzterem und in mehreren anderen Liedern (Les Cloches de la mer, Desir d’amour, Aimons-nous, Papillons, Souvenances) erreicht die Kunst des Koloristen Außerordentliches: Jede Strophe hat ihre eigene Textur, jedes Bild seine Klangatmosphäre.

Die Präzisionsarbeit der beiden Interpreten Yann Beuron und Tassis Christoyannis hinsichtlich der Eloquenz wird dem ästhetischen Projekt des Komponisten vollkommen gerecht: Das Wort hat die Vorherrschaft, das Orchester dient.

Camille Saint-Saens im Konzert 1913/ efemeridespedrobeltran.com

Letzter charakteristischer Aspekt: die Exotik, deren Verfechter Saint-Saens unbestreitbar ist und die die drei orchestrierten Stücke der Mélodies persanes op. 26 für Singstimme und Klavier prägt. La Splendeur vide, Au cimetière und La Brise verwenden jedes auf seine Art alte Tonarten, Ostinato-Rhythmen, die ein Gefühl von Wehmut hervorrufen, und Melismen im Gesang. Genau das Richtige, um ein Publikum zu betören, das auf unbekannte Sinnlichkeiten besessen ist.

Die Experimente, die am französischen Lied danach vorgenommen wurden, sind zweifellos in der Nachfolge von Camille Saint-Saens‘ Kompositionen zu verstehen: sowohl als akzeptiertes Erbe, als auch als Ablehnung bestimmter, als rückläufig beurteilter Konzeptionen. So war das Terrain frei für eine außerordentliche Vertiefung der Arbeit über die Orchesterfarbe, aber auch für die unausweichliche Emanzipation der Musik jenseits der Sphäre der Poesie. Sébastien Troester/ Übersetzung Palazetto Bru Zane/ Silvia Berutti-Ronet/ Alpha Classics/ Foto oben: Camille Saint-Saens/ Wikipedia

Märchentante

 

Nun auch ein Buch geschrieben wie bereits viele ihrer Kollegen und Kolleginnen hat Katia Ricciarelli und setzt damit nicht in Erstaunen, weil sie es überhaupt tat, sondern ob des Sujets, das sie gewählt hat. Nicht ihre erfolgreiche Karriere als Sängerin, nicht ihr Wirken als Direttore artistico des Festivals in Macerata, das ihr einige der interessantesten Spielzeiten zu verdanken hat, und nicht die leidenschaftliche Liebesgeschichte, die sie mit José Carreras verband, noch die Ehe mit dem Fernseh-Superstar Pippo Baudo und der unerfüllte Kinderwunsch, an dem eine ganze Nation dank vieler Illustriertenberichte Anteil nahm, sind Gegenstand der ca. 150 Seiten, sondern „Vi canto una storia“ (Ich singe euch eine Geschchte) ist der Titel des Buches mit dem Zusatz „L’opera racontata ai ragazzi“ (Die Oper den Kindern erzählt).

Katia Ricciarelli präsentierte ihr neues Buch „Vi canto una storia“ in ganz Italien, hier in Brindisi/ Brindisi.time.it

Wie viele italienische Musiker macht sich La Ricciarelli offensichtlich Sorgen über den Mangel an musikalischer Erziehung in italienischen Schulen, über den Niedergang der klassischen Musik in ihrem Heimatland, der Riccardo Muti erst unlängst äußern ließ, Italien sei nicht mehr das Land der Musik, sondern das der Musikgeschichte.

Offensichtlich ist es das Ziel der Autorin und ihres Mitautors Marco Carrozzo, Kinder für den Besuch von Opern zu gewinnen, und sie erfindet dazu eine Rahmenhandlung, in der sie nacheinander vier Kindern mit unterschiedlicher Skepsis gegenüber  der Gattung die Handlung von Opern als fiabe speciali (besondere Märchen) erzählt und schließlich mit allen Vieren die Oper „Hänsel und Gretel“ besucht und damit einen Riesenerfolg erzielt.

Skeptisch macht den erwachsenen und wohl auch den jugendlichen Leser die Menge von Zufällen, die die Sängerin immer genau das richtige Kind, die richtige Situation und die passende Opernhandlung zusammenfinden lassen. Auch geht es ausschließlich um Inhaltsangaben, nie um die Musik, und da zudem noch das Libretto nicht spannend nacherzählt wird, sondern Inhaltsangaben im Präsens geboten werden, die von Fragen und Bemerkungen unterbrochen werden, der Bezug zum Märchen als roter Faden sich durch das Buch zieht, wird suggeriert, dass  der Wert einer Oper sich an ihrer Nähe zum Märchen bemessen lässt. Geht es, selten genug, wirklich um die Oper, so um die Stimmgattungen, dann werden nur die Bezeichnungen, also Sopran usw. genannt, aber nicht einmal erwähnt, dass es um die Höhe der jeweiligen Stimme geht. Dass auch einmal ein Pamino erwähnt wird oder  der Inhalt vom Barbiere nicht ganz korrekt wiedergegeben wird und Hänsel und Gretel ohne Taumännchen und Engelsschar auskommen müssen, spielt dabei eine untergeordnete Rolle.

Auch Kinder dürften die Rahmenhandlung als zu betulich-neckisch-sentimental ansehen, und sie werden dazu gebracht zu glauben, dass Opern, wie der Text mehr als nahelegt, besondere Märchen sind, nur weil Ricciarelli  diejenigen ausgewählt hat, die das mehr oder weniger glauben machen wie Elisir, Falstaff, Barbiere, Cenerentola, Zauberflöte und Barbiere.  Il Canto, der doch im Titel zumindest in Verbform vorkommt, spielt so gut wie keine Rolle außer im Anhang, in dem CDs und  DVDs, möglichst mit dem Sopran unter den Mitwirkenden, empfohlen  werden. Hübsch ist das Cover mit einer von Opernfiguren umgebenen jugendlichen Katia Ricciarelli, ansprechend sind auch die Zeichnungen von Desideria Guicciardini im Buch (Edizione Piemme, Mailand 2016, ISBN 978-88-566-5248-2). Ingrid Wanja

Die Geburt der Oper am Hof der Medici

 

Die Uraufführung von L‘Orfeo des Komponisten Claudio Monteverdi 1607 in Mantua war nicht die erste Oper, aber der frühe erste Höhepunkt der Gattung, die in Florenz ihre Geburt erlebte. Wie konnte dieses Meisterwerk entstehen? Der junge französische Barockexperte Raphaël Pichon und sein Ensemble Pygmalion bieten nun im Jahr von Monteverdis 450. Geburtstag ihre ganz eigene Recherche zu den frühesten Zeiten der Oper am Hof der Medici. Auf 2 CDs vereint Stravaganza d’Amore! rekonstruierte Musik aus Intermedien, musikalische Zwischenspiele bei fürstlichen Festivitäten und des Karnevals, die als Vorform der Oper schon vieles enthalten, was Monteverdi dann verdichtete. Zu hören ist Musik von  Lorenzo Allegri, Antonio Brunelli, Giovanni Battista Buonamente, Giulio Caccini, Emilio de‘ Cavalieri, Girolamo Fantini, Marco da Gagliano, Cristofano Malvezzi,  Luca Marenzio, Alessandro Orologio, Jacopo Peri und Alessandro Striggio, die zwischen 1589 (La pellegrina) und 1608 (Gaglianos Dafne) in Florenz aufgeführt wurde und die von Pichon zu vier neuen, imaginären Intermedien kombiniert wurden. Das Schauspiel La pellegrina von Girolamo Bargagli wurde anlässlich der Hochzeit zwischen Ferdinando I. de Medici und Christina von Lothringen aufgeführt, deren Festlichkeiten mehrere Wochen dauerten. Sechs Komponisten schufen musikalische Zwischenspiele, die Bühnentechnik, Kostüme  und Choreographie erforderten. Das Publikum war anscheinend so verzaubert, dass das Schauspiel zur Nebensache wurde. Florenz wurde das Laboratorium, in dem Komponisten neue Formen entwarfen und sich die Zwischenspiele zu eigenständigen Spektakeln entwickelten konnten.

Stravaganza d’Amore! bei harmonia mundi france

Diese Entwicklung will die vorliegende Einspielung aufzeigen. Die Zusammenstellung ist wirkungsvoll, es ist keine Musik, die man noch nie gehört hat, aber Musik, die man so noch nie gehört hat und den Ausdrucks- und Ideenreichtum der frühen Schöpfer in größerem Kontext hervorhebt und würdigt. Pichon gelingt diese phantasievolle Zusammenstellung (fast) durchgängig sehr überzeugend – se non è vero, è ben trovato, man glaubt beim ersten unvoreingenommenen Zuhören, dass die Intermedien real sind. Das erste Intermedium „All’imperio d’Amore“ beginnt mit der Toccata La Renuccini von Girolamo Fantini, Zinken und Posaunen leiten die Festlichkeiten ein, die die Liebe feiern. Das zweite Intermedium „La Favolla d’Apollo“ hat pastorale Momente, Hirten und Nymphen  treten auf, Dafne entzieht sich den Nachstellungen Apollos durch die Verwandlung in einen Lorbeerbaum. An dritter Stelle folgt „Le Lagrime d’Orfeo“ – die Tränen des Orpheus beinhalten die Liebe des Sängers zu Eurydike (und hier ist die Balance mit zu viel Lamentos nicht ganz gelungen), musikalisch konzentriert man sich auf L’Euridice von Peri (1600, anlässlich der Heirat zwischen Maria de Medici und dem französischen König Henri IV) und Caccini (1602). Zum Abschluss ist dann „Il Ballo degli reali Amanti“ zu hören. Emilio de‘ Cavalieri war Musikdirektor für La pellegrina und komponierte auch selber eine der sechs Intermedien, den Ballo – ein rhythmischer Tanz über einem ostinaten Bass, der damals überregional bekannt wurde und den andere Komponisten später aufgriffen, beschließt die Aufnahme, die 37 Nummern und ca. 100 Minuten Musik bietet. 12 Solisten, 24 Chorsänger und 27 Musiker sind beteiligt und bestens disponiert, sie alle gestalten sorgfältig und engagiert. Man hört Instrumentalstücke, Chöre und Vokalsolisten, das Ergebnis ist opulent und festwürdig, aber mit einer großen Schwäche: die Aufnahme aus der Versailler Chapelle Royal hat zu viel Hall, der Klang verliert an Dichte und wird breiig. Wäre der Klang klarer, hätte man hier eine herausragende Einspielung frühbarocker Operngeschichte. Stravaganza d’Amore! ist nicht einfach der Titel einer Doppel-CD, sondern eines kleinen Buchs mit Texten, Libretto und Abbildungen, in dem Pichon sowie zwei Musikwissenschaftler dreisprachig auf ca. 150 Seiten (davon ca. 23 Seiten in deutscher Übersetzung) über Historie und Auswahl referieren. Wer sich für Monteverdis Musik und frühe Opern begeistert, wird bei dieser gelungenen Rekonstruktion fündig. (Stravaganza d’Amore!, harmonia mundi, HMM902286.87) Marcus Budwitius

Ochs erfüllt ganz sein Klischee

 

Dieser Rosenkavalier ist schon seit Jahrzehnten in Umlauf. Zunächst als Schallplattenkassette, zwischenzeitlich sogar als Opernquerschnitt, zuletzt auf CD bei Gala. Jetzt haben das Deutsche Rundfunkarchiv und der Mitteldeutsche Rundfunk die originalen Bänder herausgerückt und zur Veröffentlichung bei Profil Günter Hänssler freigegeben. Ihre Logos stehen vielsagend auf dem Cover. Die Aufnahme ist im Rahmen der Dresdner Semperoper-Edition erschienen (PH16071). Eingespielt wurde sie 1950 mit der Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Rudolf Kempe. Im selben Jahr war der Dirigent als Nachfolger Joseph Keilberth zum Generalmusikdirektor von Oper und Kapelle aufgestiegen. Bereits 1953 ging Kempe in den Westen, blieb Dresden aber bis zu seinem Tod verbunden. Mehrfach kehrte er zu Plattenaufnahmen und Aufführungen zurück. In die späte Phase dieser fruchtbaren Zusammenarbeit fallen die sinfonischen Dichtungen von Richard Strauss bei der EMI, jetzt Warner. Ein Zyklus von Opern des Komponisten blieb im Ansatz stecken. Kempe starb 1977 und konnte nur die Ariadne auf Naxos mit Gundula Janowitz (Titelpartie), Sylvia Geszty (Zerbinetta) und James King (Bacchus) abschließen. Eine Produktion, die sich ihre Frische und ihren Zauber bewahrt hat und bis heute als maßstäblich gelten darf.

„Der Rosenkavalier“ unter Kempe von 1950 in seiner LP_Erstausgabe bei Urania/ OBA

Für die Neuerscheinung, die vom Kempes entfesseltem Schwung und genauer Partiturkenntnis lebt, hat Hänssler vier CDs springen lassen, drei für die Oper, eine für den Bonus, der sich aus unterschiedlichen Aufnahmen mit Bezügen zu Dresden zusammensetzt, wo der Rosenkavalier 1911 uraufgeführt worden war. Darunter finden sich vier Szenen mit daran beteiligten Sängern. Margarethe Siems ist die Marschallin, Eva Plaschke von der Osten der Octavian und Minnie Nast die Sophie. Der feine Ton der Siems im gekürzten Monolog vermittelt immer noch eine genaue Vorstellung ihrer Wirkung und ihres Erfolgs in dieser Rolle, die sie bis zum Ende ihrer Karriere nie mehr loswurde. Tiana Lemnitz ist auszugsweise in zwei Versionen als Octavian zu hören, nämlich von 1936 und 1942. In dieser Rolle wurde sie auch – inzwischen dreiundfünfzig Jahre alt – für die Gesamtaufnahme herangezogen. In Dresden hatte es 1948 den ersten Nachkriegs-Rosenkavalier gegeben, der ästhetisch noch sehr an der Uraufführung in den Dekorationen von Alfred Roller klebte. Als Marschallin war Dora Zschille besetzt. Sie kam aus dem Westen nach Sachsen, hatte Engagements in Duisburg und Hannover hinter sich und hielt Dresden, wo sogar eine Straße nach ihr benannt ist, bis zu ihren Bühnenabschied 1971 die Treue. Die Zschille sang alles, was ihre Stimme, die sich vom lyrischen zum hochdramatischen Sopran entwickelte, hergab. Sie blieb weitgehend eine lokale Erscheinung und wurde lediglich für einige Rundfunkaufnahmen herangezogen, in denen sie sich als tüchtige Kammersängerin erweist. Frauen wie die Zschille waren damals die Stützen jedes Ensembles.

Und auch auf CD gab es den „Rosenkavalier“ von 1950 unter Kempe bei Gala, wenngleich wohl nicht von den originalen Masterbändern/ OBA

Für die Aufnahme, die nach ihrer Urania-LP-Erstausgabe natürlich im Westen bekannt war und auf weiteren Labels kursierte, wurde ihr Margarete Bäumer vorgezogen, die in einer ganz anderen Liga spielte, ihre besten Tage allerdings hinter sich hatte. Sie klingt betulich und bedient das Klischee der alternden Fürstin, die sich aus dem Leben zurückzieht und fortan nur noch „in die Kirch’n“ geht und mit Onkel Greifenklau, der „alt und gelähmt ist“, zu Mittag speist. Auch für die Lemnitz kam die Rolle viel zu spät. Den Jahren nach könnte sie die Großmutter des stürmischen adligen Jünglings aus großem Hause sein, den die Marschallin in Liebesdingen unterweist. Stimmlich ebenfalls. Sie klingt überreif und vermag sich nicht einen Tag jünger zu machen, als sie ist. Ja, es scheint sogar, als verblühte sie mit Fortschreiten der Aufnahme noch mehr. Im Zweiten Aufzug droht sie mit der intriganten Annina verwechselt zu werden, im dritten bekommt ihr der zweifache Rollentausch, dieses raffinierte Markenzeichen der Oper, gar nicht. Sie gurgelt vor sich hin, einer Parodie nahe. Mikrophone sind gnadenlos. Und es stellt sich die Frage, warum nicht die viel jüngere burschikose Christel Goltz, die den Octavian auf der Bühne sang, genommen wurde? Einzig Ursula Richter, deren Geburtsdatum für die Kurzbiographie im Booklet offenbar nicht zu ermitteln war, kommt mit ihrem Sopran der munteren Sophie nahe.

Und der Ochs? Der wurde von Kurt Böhme damals regelrecht in Beschlag genommen. Er hatte ein Abo auf die Rolle, schien darin zu baden und wurde dafür auch von Karl Böhm in der zweiten Gesamtaufnahme aus Dresden, die 1958 für die Deutsche Grammophon entstand, herangezogen. Er ist ein polternder Schwerenöter und als solcher beim Publikum sehr beliebt gewesen. Die Vorstellung, dass mit Ochs ein feister alter Fettwanst aus der entlegensten Provinz in das kaiserliche Wien einfällt, um dort einem vermeintlichen jungen Stubenmädchen unter den Rock zu greifen, hat sich bis heute gehalten. Ochs ist aber auch Opfer. Der steinreiche Armeelieferant Faninal ist scharf wie Dracula auf sein adliges Blut und will nur deshalb seine Tochter mit ihm verkuppeln. In seiner ländlichen Beschränktheit lässt sich Ochs erbarmungslos vorführen. Er ist „diesem Wien“, diesem Schlangennest, nicht gewachsen, sieht die Fallen nicht, die ihm gestellt werden und tapst prompt hinein.

Sogar Highlights aus dem „Rosenkavalier“ 1950 unter Kempe gab es bei Urania/ OBA

Im Entstehungsprozess der Oper haben Strauss und sein Textdichter Hugo von Hofmannsthal der Figur, die nach meiner Auffassung zu ihren genialsten Schöpfungen gehört, viel Aufmerksamkeit gewidmet. Sie war zeitweise sogar als Titel für das Werk im Gespräch und dürfte am meisten zu singen haben. Ausgezählt habe ich die Zeilen allerdings nicht. Ochs ist nach dem Willen der Autoren Mitte dreißig und damit nicht nur dem Alter nach der Marschallin ebenbürtig. Er ist es auch durch seine adelige Herkunft, er ist ein Verwandter, der Vetter. Sie hört seine deftigen Schilderungen des Landlebens im Heu der Ställe nur allzu gern. Ihr gegenüber kann er sich diese ungenierte Offenheit erlauben. Man ist schließlich unter sich. Für ihr eigenes riskantes Liebesleben bevorzugt sie allerdings das seidene Lager des Boudoirs. Böhme ist für mein Gefühl zu eindimensional, zu sehr auf den lüsternen Wüstling festgelegt. Er wirft mit den Speckseiten des reichen Schweinezüchters Zsupán aus dem Zigeunerbaron um sich. Dadurch bietet er die Folie, auf der sich die Marschallin zu vorderst als fromme Dame darstellen kann, die sie nicht ist. In der Aufnahme passiert zumindest akustisch genau das. Wer derlei Überlegungen ausklammert, wem die hörbaren Generationsverschiebungen egal sind, der hält eine stimmungsvolle Einspielung in den Händen, deren Anschaffung unbedingt zu empfehlen ist. Auch mit ihren eingeschränkten Mitteln führen die Bäumer und die Lemnitz an vielen Stellen vor, was mit Noten und Text alles möglich ist. Wie Böhme erfassen sie den wienerischen Ton, welcher der ganzen Opern sein unverwechselbares Flair gibt. Akustisch ist die Aufnahme in ihrer Zeit belassen worden. Sie klingt sehr präsent, gelegentlich etwas robust, an den passenden Stellen herrlich polternd.

Üppig ist die auf feines Papier gedruckte Beilage ausgefallen. Sie enthält allerlei erklärende Texte in Deutsch und Englisch und viele historische Fotos, die allein den Kauf der Box lohnen. Interessant ist auch die spannende Geschichte der Masterbänder, die inzwischen der Mediathek der Sächsischen Landes-, Staats- und Universitätsbibliothek Dresden „zur dauerhaften und sicheren Verwahrung übereignet wurden“. Dass sich Dresden mit der Neuerscheinung auch selbst feiert, nimmt der aufmerksame Leser  nachsichtig zur Kenntnis. Sind „halt a so“, die Dresdner. Einige Beiträge, die eins zu eins aus der bei Sammlern bis heute gesuchten Dresdner Schriftenreihe „Gestaltung und Gestalten“ aus den fünfziger Jahren übernommen wurden, halten heutiger Prüfung nicht stand. In dem Bericht „Wo Richard Strauss lebte“ von Ernst Krause heißt es über seine Villa in Garmisch: „Das Haus Zoppritzstraße 42 wird heute in würdiger Form als Gedenkstätte bewahrt und ist das Ziel der Strauss-Freunde aus der ganzen Welt.“ Abgesehen davon, dass es sich – damals wie heute – um die Zoeppritzstraße handelt, ist das Gebäude mitnichten eine zugängliche Gedenkstätte. Es befindet sich nach wie vor samt originaler Einrichtung in Familienbesitz und kann nur von außen in Augenschein genommen werden, wie mir erst dieser Tage auf Anfrage im Rathaus von Garmisch-Partenkirchen bestätigt wurde. Krauses Beitrag ist ein recycelter Artikel …

„Der Rosenkavalier“ von 1950 unter Kempe in seiner westdeutschen LP-Erstausgabe bei Accanta/ Fonoteam/ OBA

Und wer ist der Autor Ernst Krause? Ein vor allem in der DDR bekannter Kritiker und Musikschriftsteller, der auch eine Strauss-Biographie hinterließ, in der er mit den Verstrickungen des Komponisten mit den nationalsozialistischen Machthabern sehr nachsichtig umging. In seinem oft aufgelegten Buch „Opern A bis Z“ gab er sich – was die Aufführungspraxis anbelangt – gern etwas besserwisserisch und belehrend. Schallplattenaufnahmen der behandelten Werke wurde nur dann angeführt, wenn sie in der DDR offiziell zugänglich waren. Daraus ergaben sich Zerrbilder vom internationalen Musikmarkt. Krause lebte von 1911 bis 1997 und war zeitweise Vizepräsident der Internationalen Richard-Strauss-Gesellschaft. Er war immer in der Staatsoper Unter den Linden anzutreffen und ließ sich freundlich auf Gespräche mit anderen Besuchern ein. Ich selbst erinnere mich gern an solche Begegnungen. Bei den Opern von Strauss war für ihn nichts verhandelbar. Krause plädierte dafür, den Rosenkavalier komplett zu geben. In seinem Opernführer (2. Auflage 1978) lehnt er Kürzungen der so genannten Mädge-Erzählung des Ochs im ersten Aufzug „aus inhaltlich-strukturellen Gründen“ ab. Sie könnten nicht gebilligt werden. Ob ihrer Freizügigkeit hatte diese Szene noch vor der Uraufführung den Unwillen der Intendanz auf sich gezogen. Gutsbesitzer Ochs schildert darin, wie die jungen Mädchen „aus dem Böhmischen herüber“ kämen, nicht nur als Erntehelferinnen. Wie sich das mische, das „junge, runde, böhmische Völkel, schwer und süß“, mit „dem deutschen Schlag scharf und herb wie ein Retzer Wein“. Und überall stehe was und lauere und schleiche zueinander und liege beieinander usw. usf. In der Aufnahme von 1950 sind die besonders gepfefferten Passagen weggelassen. Es bleiben aber noch genug Zeilen stehen, die in anderen Plattenaufnahmen – zum Beispiel in der berühmten EMI-Produktion mit Otto Edelmann unter Herbert von Karajan – weggelassen werden. Insofern haben wir es hier mit einer Mischfassung zu tun, die mir in dieser Form noch nicht untergekommen ist. Im Booklet wird darauf allerdings nicht eingegangen, was schade ist. Rüdiger Winter

Heinrich Dorns „Nibelungen“

.

Am Theater Zwickau-Plauen gab es Anfang Mai 2004 eine nicht geringe Sensation: eine Nibelungen-Oper aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, noch vor Wagners Ring, dessen Libretto vom Komponisten nur ein Jahr zuvor im Druck erschienen war. Für jeden Freund der deutschen romantischen Oper ein Muss, war diese Ausgrabung wieder einmal dem rührigen Intendanten lngolf Huhn zu verdanken, der bereits in Freiberg-Döbeln mit diesem Genre überregionale Aufmerksamkeit erregt hatte (so der Rattenfänger von Hameln von Nessler) und später in Annaberg-Buchholz mit Opern von Goldmark und anderen überraschtewir hatten in operalounge.de über Ingolf Huhn und seine hochverdienstvolle Arbeit als Intendant berichtet.

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen“: Gruppenfoto von August Kotsch 1871 mit Heinrich Dorn rechts stehend/ Wiki

Eine Oper wie Heinrich Dorns Nibelungen ist heute absolut vergessen, nur der Titel hat für wenige Kenner überlebt (neben Gades Versuch an diesem Stoff und manchen Balladen der vaterländischen Zeit – 1827 erschien erstmals die neuhochdeutschen Übersetzung von Karl von Simrock des mittelalterlichen Nibelungenliedes von ca. 1200 mit zahlreichen Illustrationen von Julius Schnorr von Carolsfeld und Eugen Neureuther; 1861 kam Hebbels Drama heruas). Nach den Sechzigern des 19. Jahrhunderts hat man keine Note mehr davon gehört, wenngleich zwei Ohrwürmer daraus noch lange in „deutschen Gauen“ von Männer-Chören gesungen wurden. Die Einschätzung der Musik bleibt auch nach dem erneuten Hören schwierig. Gewiss, nicht alles ist große Musik, wenngleich niemand Geringerer als Franz Liszt die Uraufführung in Weimar 1854 betrieb. Manches in dieser Oper ist – wie lngolf Huhn zugab – „nur“ Kapellmeistermusik, zwar professionell orchestriert, aber auch gelegentlich eher Füllmasse. Und nicht immer sind die sehr anspruchsvollen Chöre mehr als große Liedertafelmusik, gerne auch in Parallelführung gehalten.

Aber andere Passagen weisen außerordentlich stimmungsvolle Szenen auf, mit dichter, sowohl erfolgreich martialischer wie auch lyrischer Atmosphäre, z. B. wenn sich die Liebenden (in Akt 3) zu einer sehnsuchtsvoll-zärtlichen Streichermelodie trennen und sich ewige Treue schwören, wenn Siegfried am Bach (dto.) ein liedhaftes Solo schmettert, das unverkennbar auf Schumann und das deutsche Lied hinweist, wenn sich „deutsche“ Schwerter gegen miese Hunnenhorden erheben (Akt 4) oder wenn sich Schwertmaiden empört-frustriert über den Verlust ihrer unbesiegbaren Unabhängigkeit beklagen (Akt 1) – zum Teil in abenteuerlichen Reimen (etwa: „Soweit des Wächters Blicke reichen – der Strand bedeckt mit Trümmern und mit Leichen, oder auch: „Der Sonne Strahl in Purpur glüht, das Schiff die See durchzieht. Hinab, hinab des Ankers Last, die Ruder fort, das Tau erfasst!“). Dies alles in fünf Akten der Großen  Oper  á la  Meyerbeer mit starken Anklängen an Weber (Euryanthe!), Spohr und Marschner, aber auch an Italiener der Zeit und selbst an Wagner, den man in manchen Moment nicht nur in der Dramaturgie  vorweggenommen sieht.

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen“: Szene aus der Plauener Aufführung 2004/ Foto Peter Awtukowitsch

Nicht nur die Orchestrierung und Chorführung sind von einiger Schwierigkeit, auch die Solopartien liegen anspruchsvoll. Die vier Männer-Protagonisten Günther/Tenor, Siegfried/Bariton, Hagen und Etzel/Bässe stammen aus dem üblichen Personal der großen romantischen Oper eines Weber oder Marschner. Die beiden Frauengestalten sind mit Eglantine und Euryanthe verwandt – natürlich auch mit Elsa und Ortrud, zumal die extrem weitreichende Brunhild für Wagners Nichte Johanna konzipiert wurde. In Erinnerung bleiben nach der Aufführung in Plauen die Auftrittsszenen der beiden Frauen, die wunderbaren Duette Brunhild-Chriemhild sowie Siegfried-Hagen und das machtvolle Terzett beim Planen von Siegfrieds Tod. Das Solo Siegfrieds vor seiner Ermordung gehört ebenfalls zu den Höhepunkten der Oper, die es gelegentlich am großen lyrischen Bogen und an erinnerbaren Melodien fehlen lassen mag, die aber als Möglichkeit einer Großen Deutschen Oper dieses Sujets vor Wagner ihre Bedeutung hat. Was aus der deutschen Oper ohne Wagner geworden wäre – hier wird es demonstriert. G. H.

.

.

Heinrich Dorn und Richard Wagner, Leipzig 1830.Man kannte sich aus jungen Jahren. Dorn, Kapellmeister am Leipziger Theater, führte erste Kompositionen des siebzehnjährigen  Wagner  auf, der ihm als „ein wahrer teutonicus“ erschien und „kraftvolle  Schösslinge  zu treiben versprach“. Die Uraufführung einer Wagnerschen  Ouvertüre  in  B-Dur  am  24. Dezember 1830 zeitigte eine unfreiwillig komische Wirkung. „Sie barg“ zwar, wie Dorn sich später erinnerte,“in sich bereits die Keime all‘ der großen Effekte, welche später die ganze musikalische Welt aufregen sollten, ohne aber selbst irgend einen andern Effekt hervorzubringen als den der  absolutesten  Verwunderung“. Und Wagner vermutete dann, wohl nicht zu Unrecht, dass Dorn „sich habe einen Spaß machen wollen“; einen „sich alle vier Takte wiederholenden Paukenschlag nämlich“ zog Dorn an das helle Licht und bestand darauf, „dass der Musiker ihn stets mit der vorgeschriebenen Stärke zur Ausführung brächte“, – das Resultat war ein sich stets steigernder  Lacherfolg beim Publikum.

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen“: Hans Feodor und Rosa von Milde: die Protagnisten der Weimarer Uraufführung/ Foto OBA

Riga 1837. Man traf sich wieder. Dorn war städtischer Musikdirektor, Wagner wurde Kapellmeister am Theater und studierte ein Jahr später Dorns Oper Der Schöffe von Paris ein. „Wenn er am Pult stand“, schrieb Dorn später, „riss sein feuriges Temperament auch die ältesten Orchestermitglieder unbedingt fort.  ‚Immer frisch, immer munter, immer ein bißchen frisch‘, das waren seine Lieblingsrufe“. (…) Auch wenn er Wagners neuen Kompositionen „Beethovensche Durchführung – schöne Gedanken – hochmodernes Außenwerk“ bescheinigt, bleibt doch ironische Distanz. Dass dann Dorn Wagners Flucht aus Riga unterstützt, um – so sah es Wagner – selbst dessen Position einzunehmen, vergiftet beider bis dahin durchaus freundschaftlich-kollegiales Verhältnis. Dennoch war es Dorn, der 1843, nur wenige Monate nach der Dresdner Uraufführung, erstmals Wagners Fliegenden Holländer in Riga einstudierte und der 1856 die Berliner Erstaufführung des Tannhäuser dirigierte.

München 1865. Man begegnet sich nach langen Jahren erneut. Dorn reiste nach München zur denkwürdigen Uraufführung von Wagners Tristan und lsolde. Unbefangen meldet er sich in Wagners Haus zum Besuch an. Wagner ist unangenehm berührt. Über den Tristan hat Dorn dann wenig Rühmenswertes zu berichten. Er apostrophiert die „Ungeheuerlichkeit der Tondichtung“, fragt: „Ist das Poesie? Ist das deutsch? Hat das überhaupt einen Sinn?“, um schließlich zu resümieren: „Das ist die ‚höhere Katzenmusik‘.“

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen“: Szene aus der Plauener Aufführung 2004/ Foto Peter Awtukowitsch

Inzwischen hatte allerdings ein für beide Komponisten entscheidendes künstlerisches Ereignis stattgefunden – die Begegnung mit dem Nibelungen-Stoff, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter Philologen, Dichtern, Malern und Musikern für so viel Aufregung gesorgt hatte. Gänzlich unabhängig voneinander und doch fast zeitgleich gestalteten Dorn und Wagner die Nibelungen als Opernstoff. Franz Liszt, der eigentlich Wagners (noch nicht komponierten) Siegfried in Weimar herausbringen wollte, führte statt dessen Dorns Oper Die Nibelungen am 22. Januar 1854 auf (obwohl er das Werk als einer zur „Neige gehenden Stilart“ zugehörig empfand …). Nach Weimar und Berlin kam Dorns Oper noch in Wien, Königsberg, Breslau, Stettin und Sondershausen auf die Bühne. Ein durchaus achtenswerter Zeiterfolg also (wenn auch dann bis auf den heutigen Tag keine weiteren Einstudierungen mehr folgten).

.

Dorn hatte im Nibelungen-Stoff „das interessanteste tragische Opernbuch, welches die deutsche Bühne der Neuzeit aufzuweisen hat“, gesehen und befand sich damit in repräsentativer geistiger Gesellschaft. Er komponierte den Stoff im Rahmen der musikalischen Zeitmode, im Stil der vornehmlich von Meyerbeer geprägten Grand Opéra, zugleich Traditionen der deutschen romantischen Oper aufgreifend. (…)

.

Über Wagners Ring weiß sich Dorn nur ablehnend zu äußern, und darin steckt gewiss auch ein verletztes Konkurrenzempfinden, waren seine eigenen Nibelungen doch bereits seit Anfang der 60er Jahre in Vergessenheit geraten. Dorn moniert beispielsweise ausgesprochen national-konservativ (und erahnt ganz richtig Wagners sozial-anarchistische Grundhaltung), „dass Wagners Tetralogie … nach dem Sagenkreis der isländischen Edda und den Fabeln der nordischen Mythologie, aber ganz ohne Rücksicht auf das altdeutsche Heldengedicht gearbeitet ist“. (…) Er kritisiert den „durchaus fremden Stoff, der schon seiner entsetzlichen Rohheit wegen niemals national werden kann. … Wenn solche Darstellungen vorzugsweise ‚deutsch‘ sein sollen, dann dürfen sie wenigstens keinen Anspruch auf das Prädicat ‚künstlerisch‘ machen, und dann würde es auch besser sein, sie wären nicht deutsch … Der Bayreuther Siegfried ist ein Sohn der wissentlich blutschänderischen Umarmung (und in diesem ‚wissentlich‘ liegt das Scheußliche) Siegmund’s des Wälsung und dessen ehebrecherischer Schwester Sieglinde, geborne Wälsung, verheirathete Hunding. … Im Uebrigen sind Wagner’s Nibelungen ein Nationaldrama für Island, und dort würde auch das Moos nicht fehlen.“

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen:  Hagen tötet Siegfried an der Quelle/ Schnorr von Carolsfelds Fresko in der Münchner Residenz/ Wiki

1879 fordert Dorn in einem Aufsatz „Gesetzgebung und Operntext“ gar, Wagners Ring dem soeben von Bismarck erlassenen „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ zu unterwerfen. Verständlich nur, dass auch Wagner gegen Dorn zu Felde zog, wenn auch weit weniger drakonisch. (…) Zwei Musiker – ein Stoff: persönliche Haltungen und künstlerische Ansichten mussten naturgemäß aufeinanderprallen, zumal das Sujet so auffällig ins Zentrum des deutschen Nationalbewusstseins gerückt war. Die Auswirkungen konnten unterschiedlicher nicht sein: Wagners Ring bis heute dominant und allgegenwärtig im Musiktheater, Dorns Nibelungen hingegen seit langem vergessen. Schon darum lohnt eine Wiederbegegnung mit diesem Werk. Eckart Kröplin

.

.

Die Nibelungen: Große Oper in 5 Akten von Heinrich Dorn; Libretto von Eduard Gerber nach der Tragödie „Der Nibelungen-Hort“ (1828) von Ernst Benjamin Salomon Raupach; UA: 22. Januar 1854 am Hoftheater Weimar durch Franz Liszt, Berliner Erstaufführung am 27. März 1854 an der Hofoper, weitere Aufführungen bis in die 60er Jahre in Königsberg, Breslau, Wien , Stettin und Sondershausen. Erstaufführung in moderner Zeit am 8. Mai am Theater Plauen-Zwickau durch lngolf Huhn; Bühne/ Kostüme Marie-Luise Strandt. Zu den Solisten gehörten Judith Schubert, Maria Gessler, Martin Kronthaler, Michael Simmen, Hagen Erkrath, Guido Hackhausen und andere; Georg Christoph Sandmann  dirigierte das Philharmonische Orchester Plauen-Zwickau.

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen“: Heinrich Salomon sang den Hagen in der Uraufführung/ Wiki

Personen: Brunhild, Königin von lsenland – Mezzosopran, Chriemhild, Schwester des Burgunderkönigs Günther – Sopran, Günther, König – Tenor, Siegfried, Thronerbe von Niederland und sein Freund – Bariton, Hagen von Tronegge, Vasall Günthers – Baß, Etzel, König der Hunnen – Baß, Herold der Königin – Tenor, Marschall Dankwart – Baß, Volker von Alzei – Tenor, Ein hunnischer Krieger – Tenor; Ritter, Burgunder, Walküren , Hunnen; Ort/Zeit: Europa um 400 n. Chr.

.

Inhalt 1. Akt: Auf lsenland am Hof der Königin Brunhild. Der Burgunderkönig Günther kommt mit Gefolge und seinem Freund Siegfried, um die amazonenhafte Königin Brunhild zu freien. Angesichts ihres Rufes der notorischen Körperstärke, der sich die Freier aussetzen müssen, wird er ängstlich. Da kommt ihm das Angebot seines Freundes, für ihn einzuspringen, gerade recht. Siegfried hat – wie er beiläufig singt – einst einen Drachen erschlagen und ihm einen Tarnhelm abgenommen. Diesen setzt er nun ein, besiegt Brunhild und entwendet ihr einen Ring, den er später seiner Braut Chriemhild schenkt, die er sich als Preis für den Einsatz ausbedungen hatte. Brunhild zieht besiegt mit den Nibelungen ab nach Burgund.

2. Akt: In Worms am Hofe Günthers, zwei Jahre danach. Natürlich kommt es zwischen Chriemhild und der von Liebe nicht gerade erfüllten Brunhild (die ihre Frustration nicht benennen kann) zum Streit, bei dem Chriemhild mit dem Ring des Siegfried (und Brunhilds) prahlt, weil Brunhild sie die Frau eines Vasallen schimpft. Entsetzt erkennt Brunhild die Zusammenhänge und fordert – mit ihrem Mann und Hagen allein – Rache für ihre Schande. Hagen sieht die Ehre des Hauses verletzt und verspricht dessen Tod, zumal Chriemhild ihm die verwundbare Stelle Siegfrieds am Rücken ausgeplaudert hatte. Außerdem soll Hagen den Nibelungenschatz an sich nehmen, den Siegfried verwahrt.

3. Akt. Wenige Tage später. Im ersten Teil nehmen Siegfried und seine Frau zärtlichen Abschied, Chriemhild ist durch einen düsteren Traum verstört und sucht vergebens, ihn von der Jagd abzuhalten. Sie eilt ihm in den Wald nach. Dort (im zweiten Teil) treffen Siegfried und Hagen aufeinander. Hagen spricht von verletzter Ehre und weist Siegfried zur nahen Quelle für einen Trunk. Wie auf den Bildern von Schnorr von Carolsfeld sticht er dem Knieenden den Speer in die Stelle, die das Lindenblatt beim Baden im Blut des Drachens hinterlassen hatte. Siegfrieds Tod rechtfertigt Hagen vor den versammelten Mannen, Chriemhilds Ruf nach Rache wird mit ihrer Verhöhnung durch Günther und Brunhild beantwortet. Da ertönt das Signal des Unterhändlers des Königs der Hunnen, Etzel. Chriemhild wittert ihre Chance zur Rache – Etzel hatte sie schon immer begehrt.

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen“: Illustration zu Simrocks hochdeutscher Erstausgabe 1827 von Schnorr von Carlosfeld/ OBA

4. Akt. Am Hofe Etzels, zehn Jahre später Sie ist die Frau Etzels unter der Bedingung geworden , dass dieser ihr beim Mord an ihrer Familie hilft. Sie hat die Burgunder zu Friedens-Verhandlungen nach Ungarn eingeladen. Alle sind gekommen, auch Brunhild und Hagen.

5. Akt: ebendort, am nächsten Morgen Alle bis auf Hagen sind abgeschlachtet, nur dieser leistet Widerstand und weigert sich, das Versteck des Nibelungenhortes zu verraten – er hat ihn im Rhein versenkt. Rasend erschlägt ihn Chriemhild und setzt die Halle in Brand, um sich anschließend selber zu erstechen. „Enden sollen all‘, bezwungen wie der Stamm der Nibelungen“.

.

.

Der Autor, der Musikwissenschaftler  Eckardt Kröplin/EK

Eine Zeittafel:  Heinrich Ludwig Egmont Dorn – Daten zu seinem Leben 1804: Am 14. November in Königsberg geboren; 1823 Beginn des Jurastudiums in Königsberg. In der Folgezeit Reisen nach Leipzig, Dresden (Bekanntschaft mit Weber) , Prag, Wien und Berlin. Hier Klavier- und Kompositionsschüler von Ludwig Berger, Carl Friedrich Zelter und Bernhard Klein; 1826 Uraufführung von Dorns Oper Rolands Knappen in Berlin; 1827 Uraufführung von Dorns Oper Der Zauberer und das Ungetüm in Berlin. Dorn geht als Kapellmeister an das Theater in Königsberg Uraufführung von Dorns Oper Die Bettlerin in Königsberg; 1827-1832 Dorn wirkt als Kapellmeister am Leipziger Theater. Robert Schumann ist Schüler von Dorn. Dorn bringt erste Werke des 17jährigen Richard Wagner zur Uraufführung; 1831 Uraufführung von Dorns Oper Abu Kara in Leipzig;  1832 Dorn wird Städtischer Musikdirektor in Riga; 1837 Richard Wagner kommt als Theaterkapellmeister nach Riga; 1838 Am 1. November in Riga Uraufführung von Dorns Oper Der Schöffe von Paris in Wagners Einstudierung und unter dem Dirigat von Dorn 1839 Dorn wird Nachfolger Wagners als Theaterkapellmeister in Riga 1841  Uraufführung von Dorns Oper Das Banner von England in Riga; 1843 Am 3. Juni Erstaufführung von Wagners Oper Der fliegende Holländer durch Dorn in Riga (erste Aufführung nach der Dresdner Uraufführung vom 2.1.1843); Dorn geht in der Nachfolge von Conradin Kreutzer als Theaterkapellmeister nach Köln; 1844 -1847 Dorn leitet die Niederrheinischen Musikfeste; 1845 Gründung der Rheinischen Musikschule in Köln durch Dorn (sie wurde dann unter Dorns Nachfolger Ferdinand Hiller Konservatorium); 1849 Dorn wird zum Königlichen Kapellmeister an der Berliner Hofoper berufen (als Nachfolger von Otto Nicolai); 1854    Am 22. Januar Uraufführung von Dorns Oper Die Nibelungen in Weimar durch Franz Liszt; Am 27. März Erstaufführung der Nibelungen an der Berliner Hofoper 1856   Am 7. Januar dirigiert Dorn die Berliner Erstaufführung von Wagners Tannhäuser; Uraufführung von Dorns Oper Ein Tag in Rußland in Berlin; 1865 Dorn reist nach München und nach Paris zu den Uraufführungen von Wagners Tristan und lsolde und Giacomo Meyerbeers Africaine; Uraufführung von Dorns Oper Der Botenläufer von Pirna in Berlin; 1869 Verleihung des Professorentitels und Pensionierung; 1879 Dorns Schmähschrift gegen Wagner „Gesetzgebung und Operntext“ erscheint 1892;  Am 10. Januar stirbt Dorn in Berlin

.

.

Den Artikel  von Eckart Kröplin, dem ehemaligen Chefdramaturgen des Theaters Zwickau-Plauen, Hochschul-Professor in Leipzig und renommierten Musikwissenschaftler, sowie die Zeittafel und die Inhaltsangaben entnahmen wir mit großem Dank an Professor Kröplin mit Kürzungen dem Programmheft zur Aufführung in Plauen und Zwickau 2004. Dank an Caroline Eschenbrenner vom Theater Zwickau-Plauen für die Fotos und ebenfalls Dank an Wolfgang Denker für die Archiv-Recherche. Einführung und Redaktion Geerd Heinsen.

.

.

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen“: Vogtlandtheater Plauen/ Theater Plauen

Dazu auch eine Original-Kritik zu der Plauener Aufführung am 8. Mai 2004 – Germanisches  vor Wagner: Wie vielleicht die deutsche Opern-Welt ohne Wagner geklungen hätte, zeigte sich in Plauen am 8. 5. lngolf Huhn ist hier der neue (natürlich aus Freiberg-Döbeln bekannte ehemalige) Intendant mit dem besonderen Interesse am früheren neunzehnten Jahrhundert. Er führte, wie bereits u. a. mit Lortzings oder Nesslers Opern, wieder einmal vor, was wir alles  nicht kennen. Für diesen erneuten Blick auf unsere eigene opern-kulturelle Vergangenheit kann man ihm nicht genug danken. Danken muss man ihm vor allem für die prächtig besetzte Ausgrabung der Nibelungen von Heinrich Dorn (1854 und damit weit vor Wagners „Ring „). Wer kennt den Namen noch? Nur der Opern-Titel geistert durch die Wagner-Rezeptionsgeschichte, denn Nibelungen vor Bayreuth? Der aus Berlin angereiste Besucher freute sich erst einmal über die hübsche Stadt Plauen mit ihren eindrucksvollen Jahrhundertwende-Häusern und großzügigen Straßen, dann aber auch über das kleine, elegante Opernhaus in Creme, Gold und Rot – ein geschmackvoll renoviertes Theater mit guter Akustik und liebenswürdiger Atmosphäre.

Und der Gast war auf die hohe Qualität der Aufführung von rund drei Stunden nicht vorbereitet – als Hauptstädter neigt man doch leider manchmal zu einer gewissen Hochmütigkeit gegenüber der „Provinz“, zumal in einem kleinen Haus, das sich nun aber als Hochleistungsträger entpuppte und schnöde Gedanken beschämte. Denn sowohl das Philharmonische Orchester unter dem rasanten jungen GMD Georg-Christian Sandmann wie auch der tapfere Chor (Eckehard Rösler) brauchten den Vergleich mit ranghöheren Theatern nicht zu scheuen. Hier wurde mit Liebe, mit Schmiss und mit vollem Einsatz musiziert. Sandmann hielt die Seinen zu brisken Tempi und zu knalligen Tutti an, ließ die meist parallel laufenden Stimmen in Chor und Orchester voll ausspielen und einen sonoren, romantischen Klang hören. Der sinnliche Streicherteppich zu Beginn des dritten Aktes, die martialischen Kampfszenen im vierten oder die schönen Ensembleszenen wie etwa zum Ende des zweiten Aktes evozierten dichte Stimmung und ein typisch „deutsches“ Idiom in der Rückschau auf Weber (Euryanthe) und Marschner (Templer), aber auch im Vorgriff auf Wagner selbst (Lohengrin, Tannhäuser, Holländer). Auch war es ein Gewinn, deutschsprachige Stimmen absolut wortverständlich und idiomatisch zu erleben (und die zwei Ausnahmen fügten sich unmerklich dem hinzu).

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen“: Szene aus der Plauener Aufführung 2004/ Foto Peter Awtukowitsch

Das Ensemble hätte nicht treffender sein können und lässt den Hut tief ziehen vor der sorgfältigen Auswahl und der Qualität! Drei wirklich sensationelle dunkle Männerstimmen und zwei herausragende lyrisch-dramatische Soprane findet man selbst an großen Häusern nicht ohne Schwierigkeit. Hier, in Plauen (und später dann in Zwickau) prunkte das Haus damit. Judith Schubert (zwar Amerikanerin, aber doch ganz unmerklich und mit bester Diktion) durchmaß die für Wagners Nichte Johanna geschriebene mörderische Partie der Brunhild mit fabelhaftem „Peng“ und traumhafter Sicherheit, führte in den Ensembles mit leuchtender Ortrud-Stimme und schöner Präsenz: eine sensationelle  Leistung. Ihre „Gegenspielerin“ Chriemhild war mit Maria Gessler interessant und hochaktiv besetzt. Es ist wahr – das Ganze liegt der eher viel lyrischeren Stimme zu hoch und ist ihr natürlich auch viel zu dramatisch (namentlich der Elsa-nahe Schluss), aber sie setzte ihre Mittel professionell ein, und wenn sie nicht zu sehr drückte (wo die sehr helltimbrierte Stimme zum Grellen neigt, namentlich in der hier dann doch knapp werdenden Höhe), hatte sie weite Passagen von lyrischer Innigkeit, zumal sie eine attraktive Frau mit schönen roten Haaren ist (aber man möchte ihr doch lyrischere Partien raten…). Die dunkle Herren-Trias war – schlicht gesagt – ,,eine Wucht“! Der elegante Siegfried des Martin Kronthaler glänzte mit liedhaftem legato, mit schönstem, individuellem Timbre (namentlich in seiner Soloszene zu Beginn des zweiten Teils vom 3. Akt), mit angenehmer, spielfreudiger Erscheinung und natürlich mit bereits erwähnter Textdeutlichkeit. Hier steht ein Wolfram, ein Posa, ein Figaro von Rang! Auch Hagen Erkrath fiel als Namensbruder Hagen mit seinem gutgeführten, markanten und aussagekräftigen Bassbariton auf, auch er ein Gewinn für jedes Haus. Und schließlich gab es mit Hasso Wardeck einen hochpräsenten, sonoren ebenso wie „bedrohlich“ klingenden König Etzel, an dessen Hof sich auf Chriemhilds Betreiben das Schicksal der Nibelungen erfüllt. Dass diese nun von dem stimmlich recht schwachbrüstigen Guido Hackhausen (als König Günther, hier mit mit -ü-) angeführt wurden, ist vielleicht dem Mangel an geeigneten Tenören besonders für kleine Häuser zuzuschreiben, wo man eben alles (oder zumindest vieles) singen und besetzen muss. Aber auch er machte  viel aus seinem hierfür begrenzten lyrischen(!) Medium und ließ eine außerordentliche und werkdienliche Textdeutlichkeit hören. Die übrigen Rollen waren mehr als zufriedenstellend verteilt. Werner Rautenstengel,  Tara Iva Niv, Michael Simmen und Hasso Wardeck waren Comprimari  von Präsenz  und Kapazität, mehr als angenehm!

Zu Dorns Oper „Die Nibelungen“: Szene aus der Plauener Aufführung 2004/ Foto Peter Awtukowitsch

Die Inszenierung wurde dem Werk und dem vaterländischen Pathos des Ganzen weniger gerecht. Bei aller Hochachtung vor dem regieführenden Hausherrn Ingolf, aber seine Sicht (optisch ausgeführt von Marie-Luise Strandt, alte Mitkämpferin von Ruth Berghaus und eben deren Ansatz immer noch verpflichtet) schien mir zu sehr in der überdetaillierten, alten und heute wirklich verstaubt-komisch wirkenden DDR­ Schule eines Herz oder Kupfer verhaftet. Das Geschehen (wieder mal!) in die Entstehungszeit der bösen Junker zu verlegen, die „Herrschenden“ in weiße Bismarck-Militär-Mäntel zu hüllen, die Gibichungenhalle zum Lortzingschen Teekränzchen chez Chriemhild zu denunzieren, Könige durch Kriechen auf dem Bauch zu demütigen – das dient dem Werk nicht, dessen zugegeben angestaubtes vaterländisches Pathos dadurch ziemlich humoristisch wirkte (drastisch darin von den abenteuerlichen Reimen des Librettos unterstützt).

Ausgräber des Seltenen – der Annaberger Intendant Ingolf Huhn/EVWTAB

Da wurde zu vieles zu (klein?)bürgerlich und zu tendenziös-­postsozialistisch angegangen. Eine leere Bühne und phantasievollere Kostüme hätten gereicht. Aber im Ganzen waren diese Irritationen eher zu vernachlässigen, denn die Optik störte nicht wirklich (man seufzte nur dann und wann…), und die Personenregie war zumindest plausibel-straightforward wie die Handlung auch. Was bleibt ist der Eindruck von einer Großen Oper, von heroischer Musiksprache, von fabelhafter Orchestrierung. Und wenn vielleicht nicht gerade geniale Erfindung vorherrschte, so hörte man doch ein typisch deutsches Idiom aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, das sich durch reichen Klang, durch gutgestrickte Ensembles und Chorszenen und durch schöne, atmosphärische Momente auszeichnet. Und durch ein prachtvolles Ensemble auf der Bühne wie im Graben. Was will man mehr? Geerd Heinsen

.

.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Hasse-Bereicherung

 

Johann Adolf Hasses Dramma per musica Attilio Regolo auf das Libretto von Metastasio – eine Produktion der Dresdner Musikfestspiele von 1997 – hat Profil Hänssler in ihrer Semperoper Edition als Vol. 11 auf 3 CDs herausgebracht (PH 07035). Die Ausgabe ist aufwändig ausgestattet mit zwei Beiheften, in welchen sich ein ausführlicher Einführungstext mit schönern historischen Abbildungen und das komplette Libretto finden. Allerdings gibt es darin auch einige orthografische Ungenauigkeiten („Konzertanten Aufführung…“) sowie ein strittiges Aufführungsdatum. (Die hier verwendete Live-Aufnahme mit mdr-Logo auf dem Cover ist laut Booklet S. 26 der 22. Mai, die Firma Hänssler selbst nennt auf Nachfragen den 21. Mai, während sich in den Archiven der Sammler zwar die Radioübertragung vom 22. Mai findet, die aber einen anderen Titelhelden aufweist: Derek Lee Ragin! Woher stammt also die Hänssler-mdr-Aufnahme mit Axel Köhler in der Titelpartie?  Eine Flickarbeit? Ein Reservetape der Generalprobe? Zumindest hat Derek Lee Ragin die offizielle Rundfunkübertragung am 22. Mai gesungen, wie nachzuhören ist. G. H.)

Frieder Bernius dirigiert die Cappella Sagittariana Dresden, die seit 1972 gleichermaßen auf modernen wie historischen Instrumenten musiziert und 1992 erstmals bei den Dresdner Musikfestspielen auftrat. Werke von Hofkomponisten der Elbmetropole (Hasse, Naumann, Zelenka) standen von  Beginn an im Zentrum der künstlerischen Tätigkeit des Ensembles. Mit Hasses L’Olympiade begann 1992 der Festspielreigen, es folgten seine Artemesia und der hier dokumentierte Attilio Regolo von 1997, der den Konflikt dieses ehemaligen römischen Konsuls, der sich jetzt in karthagischer Gefangenschaft befindet, beschreibt. Ihm droht der Tod, sollten die Römer die Forderungen der Karthager nicht annehmen. Attilio überbringt diese als Gesandter, empfindet diese jedoch als unehrenhaft und kehrt zurück nach Karthago in den sicheren Tod.

Mit Bernius, einem Spezialisten der Alte-Musik-Szene, wirkt ein kompetenter Dirigent am Pult, der ein Affekt betontes, farbiges Spiel garantiert und die Besetzung sicher führt. An ihrer Spitze steht Axel Köhler, der die Titelpartie kurzfristig für Derek Lee Ragin übernommen hatte (daher gab es wohl auch eine Art Reserveaufnahme beim mdr). Wie anspruchsvoll und herausfordernd diese Verpflichtung war, erklärt sich aus dem Fakt, dass der gefeierte Kastrat Domenico Annibali in der Dresdner Uraufführung als Titelheld brilliert hatte. Der Countertenor, in der DDR ein Publikumsliebling neben Jochen Kowalski, hat am Ende des 1. Aktes seinen ersten Auftritt mit „Non perda la calma“ und absolviert ihn sicher und mit angenehmer, persönlicher Tongebung. In den Arien „Taci“ und „Non tradir“ im 2. Akt kann er effektvolle tiefe Töne einsetzen, mit denen er an seine Vergangenheit als Bariton erinnert.

Ähnlich prominent besetzt in der Kreation des Werkes war die Rolle der Attilia, Regolos Tochter, mit Faustina Bordoni (Hasse). In der konzertanten Dresdner Aufführung 1997 singt Martina Borst (deren Biografie im Booklet fehlt). Sie begann ihre Laufbahn am Nationaltheater Mannheim und trat vorwiegend in Mozart- und Rossini-Partien auf. Ihr heller Mezzo klingt recht anonym und in der Auftrittsarie „Goda con me“ schwerfällig. Auch für die zweite Arie, „Mi parea del porto“, ein Gleichnis über Meer und Sturm, fehlt ihr die erforderliche Attacke. Den günstigsten Eindruck hinterlassen „Non e la mia speranza“ gegen Ende des 2. Aktes und „Vuol tornar la calma“ im 3. Akt durch ausgeglichene, ansprechende Stimmführung. Eine zentrale Rolle fällt dem Tenor als römischer Volkstribun Manlio zu, die Markus Schäfer souverän ausfüllt. Die Partie nimmt in ihrem heroischen Aplomb Mozarts Tito vorweg und der Sänger wird diesem Anspruch mit vehementem Stimmeinsatz gerecht, auch wenn einzelne exponierte Töne ihn an seine vokale Grenze führen. Glänzend gelingt ihm die von Ruhm und Ehre kündende Arie „Oh qual fiamma“. Regolos Sohn Publio war schon bei der Uraufführung als Hosenrolle konzipiert und wird hier interpretiert von Sybilla Rubens. Der Sopran gefällt in der munteren Auftrittsarie „Se più felice“ mit seinem schlanken Fluss und lieblichen Ton. „Ah – se provar“ im 2. Akt, das sich als Treuebekenntnis an den Vater richtet,  weiß die Sängerin mit innigem Gefühl wiederzugeben. Publio ist verliebt in seine Sklavin Barce, einst eine vornehme Karthagerin, die Carmen Fuggis zuverlässig wahrnimmt. Mit ihrer Arie „Sempre è maggior“ endet der 1. Akt in gefälliger Koketterie. Mit dem bewegten„S’espone a perdersi“ beendet sie auch den 2. Akt und gefällt hier mit munteren Koloraturketten und gekonnten Ausflügen in die Extremhöhe. Schließlich fällt ihr auch im 3. Akt mit dem lieblichen „Ceder l’amato oggetto“ das letzte Solo zu, mit dem die Sopranistin einen reizenden Schlusspunkt setzt. Verlobt ist Barce mit dem karthagischen Botschafter Amilcare, als der mit Randall Wong ein Sopranist zu hören ist. Seine Arie im 1. Akt („Ah se ancor mia“) ist gestrichen (obwohl im Libretto abgedruckt), so kann er nur mit einem Auftritt („Fá pur l’intrepido“ im 3. Akt) wirken. Die helle, hohe Stimme mit kindlicher Anmutung überzeugt in dieser erregten Nummer durch vehementen Einsatz und bravouröse Bewältigung der virtuosen Anforderungen. Einen dunklen Farbton bringt Michael Volle, inzwischen ein gesuchter Wagner- und Strauss-Sänger, als römischer Volkstribun und Attilias Verlobter Licinio ein. Die Stimme klingt hier noch sehr schlank und flexibel, wirkt stilistisch keineswegs als Fremdkörper. Alle Sänger vereinen sich im Finale harmonisch zum Chor der Römer, die Attilio als dem Helden Roms einen würdigen Abschied bereiten.

Die Live-Veröffentlichung (einschließlich reichem Applaus und gelegentlichem Husten) schließt eine Lücke in der Hasse-Diskografie und ist deshalb hochwillkommen. Bernd Hoppe

Statisch zauberhaft

 

Jean-Philippe Rameau hat drei Versionen seiner dritten Tragédie en musique Dardanus in fünf Akten und einem Prolog hinterlassen. Die Uraufführung 1739 erlebte mindestens 26 Aufführungen, 1744 gab es eine radikale Umarbeitung, 1760 zusätzlich eine überarbeitete Wiederaufnahme. Für die vorliegende Aufzeichnung aus der Opéra national de Bordeaux vom April 2015 wählte man eine Mischfassung, die überwiegend auf der Erstfassung beruht und die man mit dem Prolog sowie wenigen einzelnen Nummern von 1744 ergänzt hat. Dardanus, ein Sohn Jupiters, ist der Gründer Trojas. Im Mittelpunkt der Oper steht die Liebe zwischen ihm und Iphise (der Tochter des mit Dardanus verfeindeten Königs Teucer), die beide zu Beginn nicht wissen, dass sie vom anderen ebenfalls geliebt werden. Teucer verspricht die Hand seiner Tochter dem verbündeten König Anténor. Mit Hilfe des Zauberers Isménor kann Dardanus Iphise treffen, mit Hilfe von Venus wird alles gut. Dardanus rettet Anténor vor einem Ungeheuer, dieser verzichtet auf Iphise, Teucer lenkt ein und gibt nach – ein glückliches Ende. Eine übersichtliche Geschichte, die nur durch Zauberei und göttliche Eingriffe vorankommt, „das Wunderbare bestimmt die Handlung dieser Dichtung … es wird vielleicht allzu verschwenderisch davon Gebrauch gemacht„, soll der Librettist damals schon bemerkt haben. Die Figuren bleiben zu blutleer und statisch, es entwickelt sich fast nichts, doch das

Magische eröffnet die Möglichkeit des Zauberhaften und Phantasievollen, und das steht im Zentrum dieser Aufnahme, die in der Box sowohl auf DVD als auch auf BluRay (inklusive 20 Minuten Bonusmaterial, überwiegend Probenausschnitte und Gespräche mit den Beteiligten) enthalten ist. Knapp drei Stunden dauert die Aufzeichnung, ein dreißig minütiger allegorischer Prolog ohne wesentlichen Bezug zur Handlung eröffnet das Werk; wenn die Handlung beendet ist, geht die Oper noch 20 Minuten weiter. Neben der schmalen Handlung gibt es einige Chorszenen und viele instrumentale Stellen für Tänzer. Es gibt in Dardanus keine Entwicklung entlang der Affektbandbreite – ein Mangel, der schon früh bei der Aufführung französischer Barockopern die italienische Kritik auslöste, es handele sich nicht um ein  Drama, sondern um eine Maskerade. Der berechtigte Vorwurf ist aber auch eine Eigenart, die der Regisseur Michel Fau als Stärke betonen will. Die Regie verfolgt kein zusätzliches Konzept, das man verstehen muss, keine Szene weist über sich hinaus, es gibt keinen zusätzlich integrierten roten Faden oder Wink mit dem Zaunpfahl. Dem Publikum wird vielmehr ein Zugang über die Sinne ermöglicht, man setzt auf Phantasie und Verzauberung und will so einen Zugang zum zauberhaften Sujet der Oper eröffnen. Die französische Barockoper ist dekorativ, die auffälligen Kostüme von David Belugou sind inspiriert von der damaligen Zeit und von barocken Opernkostümen, Venus hat das Frivole der Louis XV-Epoche. Dazu gibt es einige gemalte Bühnenbilder (Bühne: Emmanuel Charles) sowie Lichteffekte und starke Farbeindrücke mit gelegentlich Bonbon-bunten Neigungen. Visuell setzt man ganz auf Stimmungen und Gestimmheit, um die Dürre des Geschehens zu transformieren, der Prolog ist opulent und etwas kitschig, die großartige Traumszene des 4. Akts tänzerisch nachtverloren. Der Wechsel von Handlung, Chor und Ballett ist von Rameau nicht auf Spannung angelegt und soll es hier auch nicht sein. Die Bildregie leidet unter dieser statischen Verzauberung, sie kann oft nur Gesichter und Körper zeigen, in der Totalen passiert wenig, (abgesehen von den nicht immer originell wirkenden Tanzszenen des Choreographen Christopher Williams) und man kann vermuten, dass Dardanus als Stimmungsinszenierung live mehr hergab als in der Konserve der Aufzeichnung. Dennoch hat man hier eine bemerkenswerte Umsetzung, wenn man sich auf diese Herangehensweise des Lyrischen, Verträumten und Bunten einlassen und Dardanus auf sich wirken will. Das Orchester hat in Dardanus viele sängerlose Passagen und steht mehr als sonst bei einer Abfolgeoper aus Rezitativ und Arie im Fokus des Zuhörens. Raphaël Pichon dirigiert die sehr gut aufgelegten Chorsänger und das Orchester seines Ensembles Pygmalion und setzt dabei auf rhetorische Deutlichkeit und flüssige Tempi ohne Neigung zu aufgesetzten Effekten. Die Wahl der Sänger ist durchweg ohne Schwächen und rollendeckend, die Herausforderung bei Rameau liegt nicht in virtuosen Koloraturen, sondern im rhetorischen Ausdruck des französischen Sprechgesangs. Der Prolog gehört Karina Gauvin, die als sinnliche Venus charmant und wohlwollend eingreift, Mezzosopran Gaëlle Arquez ist beeindruckend und souverän als unglückliche Iphise, Tenor Reinoud van Mechelen in der Titelrolle als Dardanus hat seine schönste Arie im 4. Akt, in dem er die Arie „Lieux Funestes“ (aus der Fassung von 1744) hingebungsvoll singen darf. Stark besetzt sind die tiefen Männerstimmen: Bassist Nahuel di Pierò als Teucer und Isménor und Bariton Florian Sempey, der als Anténor seiner Figur ein durchgängiges Entsetzen darüber verleiht, was man ihm alles zumutet. Die anmutig singende Katherine Watson nimmt mehrere kleine Rollen ein (Amour, Une Bergère, Bellone, Un Songe), dazu sind Ètienne Bazola (Un berger) sowie in der Traumszene Giullaume Gutiérrez und Virgile Ancely dabei. (1 DVD + 1 BluRay, harmonia mundi, HMD 9859051.52) Marcus Budwitius

„Lieder sind wie kleine Opern“

 

Die Sopranistin Hanna-Elisabeth Müller ist auf dem Weg zu einer Weltkarriere. Für operalounge.de sprach Corina Kolbe mit ihr über internationale Debüts, die Arbeit mit Kirill Petrenko und ihre erste Solo-CD bei belvedere mit spätromantischen Liedern.

 

Hanna-Elisabeth Müller: Zdenka in München mit Joseph Kaiser/ Foto Wilfried Hösl

Sie feiern zurzeit einen Bühnenerfolg nach dem anderem. Nach Ihrem Einstand als Marzelline in Fidelio an der New Yorker MET waren Sie im Mai erstmals an der Mailänder Scala zu erleben. Das war zugleich Ihr Rollendebüt als Donna Anna in Mozarts Don Giovanni.  Eine meiner absoluten Lieblingsopern! Vielleicht ist das sogar die beste Mozart-Oper überhaupt. An der Bayerischen Staatsoper, wo ich bis zum Ende der Spielzeit 2015/16 festes Ensemblemitglied war, hatte ich schon die Zerlina gesungen. Mit der Partie der Donna Anna bin ich einen großen Schritt weiter vorangekommen. Außerdem übernehme ich bei meinem Debüt am Opernhaus Zürich Anfang nächsten Jahres die Rolle der Ilia in Idomeneo.

Wie hat das Mailänder Publikum reagiert? Italiener sind für ihre große Opernleidenschaft bekannt. Die Atmosphäre im Theater hat mich sehr beeindruckt. Ich hatte das Gefühl, dass die Oper für alle Zuschauer eine Herzenssache ist. Einige von ihnen haben sogar mitgesungen, offensichtlich kannten sie die Arien auswendig. In Deutschland erlebt man das wahrscheinlich nicht so oft.

In Berlin sind Sie kürzlich in Mahlers Vierter Sinfonie mit dem Deutschen Symphonie-Orchester unter Robin Ticciati aufgetreten. Auch das war ein Debüt. Richtig, die Sinfonie habe ich zum ersten Mal mit einem Berliner Orchester gesungen. Das Schwierige daran ist, dass ich bis zum letzten Satz warten muss. Damit alles punktgenau klappt, muss ich im richtigen Augenblick hochkonzentriert sein. Dass man in einer solchen Situation etwas nervös wird, ist wohl ganz normal. Ich hatte erst auch ein bisschen Bedenken, weil ich nicht mittig am Bühnenrand, sondern seitlich im Orchester stand. Dann hat aber alles bestens geklappt. Die Akustik der Berliner Philharmonie ist einfach phänomenal.

Hanna-Elisabeth Müller: Marzelline an der Met mit Adrianne Pieczonka/ Foto Ken Howard/MetOpera

Wo sehen Sie hier die größten Herausforderungen für eine Sopranistin?  Für einen Sopran liegt das Stück eher ungewöhnlich. Es wird daher oft von Mezzosopranen gesungen. Der Gesang ist nicht auf hohe Töne ausgerichtet, man braucht dafür auch viel Tiefe. Vom Brustregister muss man den Übergang zu den engelhaften Pianostellen schaffen, die am Ende der Liedstrophen stehen. Diese wunderschönen leisen Passagen haben etwas Ätherisches an sich.

Nach vier Jahren im Ensemble der Bayerischen Staatsoper sind Sie jetzt freischaffend tätig. Alle Brücken nach München haben Sie deswegen aber nicht abgebrochen. Ich bin glücklich, dass ich von vielen Seiten tolle Angebote erhalte und von der Staatsoper weiterhin als Gast eingeladen werde. Dem Haus bin ich nach wie vor mit dem Herzen verbunden. Im Herbst gehe ich mit dem Bayerischen Staatsorchester als Pamina in der Zauberflöte auf Japan-Tournee. Im nächsten Frühjahr singe ich dann unter Leitung von Kirill Petrenko die Sophie im Rosenkavalier in München und in der Carnegie Hall in New York. Und im Sommer 2018 kehre ich als Zdenka in Arabella nach München zurück.

Hanna-Elisabeth Müller: Donna Anna/ „Don Giovanni“ mit Bernard Richter/ Foto BresciaAmisano/ Teatro alla Scala

Welche Erfahrungen haben Sie mit Kirill Petrenko gemacht? Petrenko ist ein Traumdirigent für das Opernhaus. Wenn er sein Amt als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker übernimmt, werden es die Münchner sicherlich tief bedauern. Als Dirigent ist er überaus detailgenau, klug und aufmerksam. Auf Absprachen mit ihm kann man sich als Sänger hundertprozentig verlassen. Man geht auf die Bühne und ist beruhigt. Ich habe die Arbeit mit ihm immer genossen.

Wie sind Sie überhaupt zum Singen gekommen? In unserer Familie hat Musik von Anfang an eine große Rolle gespielt. Meine Eltern sind leidenschaftliche Konzertgänger, und wir Kinder durften alle ein Instrument lernen. Bis ich Gesangstunden nahm, spielte ich Geige. Zu Hause bekam ich immer viel moralische Unterstützung, sodass ich frei und ohne Zukunftsängste in mein Studium starten konnte. Und gleich nach meinem ersten Vorsingen kam ich in das Opernstudio der Bayerischen Staatsoper. Mit meinen Lehrern hatte ich immer großes Glück. Gerade wenn man jung ist, braucht man jemanden, der einem behutsam dabei hilft, die eigene Stimme zu formen und vor Verletzungen zu bewahren.

Welche Rolle hat das Lied für die Entwicklung Ihrer Stimme gespielt? Beim Label belvedere ist gerade Ihre erste Solo-CD „Traumgekrönt“ mit Stücken von Richard Strauss, Arnold Schönberg und Alban Berg erschienen. Meine Stimme ist am Liedrepertoire gewachsen. Erst kurz vor dem Vorsingen an der Staatsoper hatte ich angefangen, Opernarien einzustudieren. Beides ergänzt sich meiner Ansicht nach sehr gut. Lieder sind wie kleine Opern, in die man viele Farben hineinbringen kann. Andererseits sind die Piano-Nuancen, die man beim Liedvortrag gestaltet, auch eine Bereicherung für die Opernpartien. Die Stimme wird dadurch facettenreicher.

In der Oper treten Sie in einem größeren Rahmen auf. Was empfinden Sie, wenn Sie als Liedsängerin den gesamten Abend über im Mittelpunkt stehen? Bei solchen Auftritten habe ich kein Orchester hinter mir und ich kann mich weder in einem Kostüm noch in Requisiten verstecken. Man ist ganz nah beim Publikum, sodass eine intime Atmosphäre entsteht. Die Vorbereitungen für Liederabende sind besonders intensiv, weil man das Programm selbst zusammenstellt und auf die richtigen Übergänge zwischen den Stücken achten muss.

Hanna-Elisabeth Müller und die Pianistin ihrer neuen CD bei belvedere, Juliane Ruf/ Foto Chris Gonz

Wie haben Sie das Repertoire für Ihre neue CD ausgewählt? Bei meiner Suche bin ich auf viele wunderschöne Melodien und Gedichte gestoßen, auch wenn manche Texte bei Strauss für meinen Geschmack etwas zu lieblich sind. Die spätromantischen Lieder von Schönberg und Berg liegen mir schon lange am Herzen. Besonders gefällt mir das Rilke-Gedicht „Traumgekrönt“, das Berg in seinen „Sieben frühen Liedern“ vertont hat. Und bei Strauss finde ich die Art, wie er für die Stimme komponiert hat, wohltuend natürlich. Interessant ist auch, dass in seinem Lied „Malven“ kantige Harmoniefolgen zu hören sind, die ich gar nicht erwartet hätte. Mir ist bewusstgeworden, wie nahe diese drei Komponisten beieinander sind.

Verraten Sie uns zum Schluss noch ein besonderes Rezept, um die Stimme in Form zu halten? Ich versuche eigentlich, so normal wie möglich zu leben. Weder zu gesund noch zu ungesund. Manchmal packt mich allerdings das Grauen, wenn alle Menschen um mich herum husten. Sport und ausreichender Schlaf sind in jedem Fall wichtig. Und Alkohol ist für mich absolut tabu, wenn ich am nächsten Tag Probe habe. Außerdem gehe ich nicht gern auf laute Partys, wo sich alle gegenseitig anschreien. Ein paar Stunden laut zu sprechen, ist für mich anstrengender, als zwei Konzerte zu singen (Foto oben: Hanna-Elisabeth Müller im Studio/ © Chris Gonz Teldex Studio Berlin).

Historienpflege

 

Die erfreuliche Knappertsbusch-Renaissance geht weiter. Wohl kein Label setzte sich in den letzten Jahren so intensiv für den „Kna“ ein wie Orfeo. Dies verdient an dieser Stelle gesondertes Lob. Zuletzt erschienen die Bayreuther Meistersinger von 1960 (C 917 154 L); erstmals in bestmöglicher Tonqualität), der Münchner Lohengrin von 1963 (C 900 153 D); gleichsam der Heilige Gral in der Diskographie) und eine Doppel-CD mit Werken von Beethoven, darunter die siebte Sinfonie und das vierte Klavierkonzert (C 901 162 B / als Solist brilliert Wilhelm Backhaus). Nun also eine weitere Ausgrabung, diesmal aus dem Archiv des WDR: zwei Konzertmitschnitte aus dem Kölner Funkhaus von 1962 und 1963, somit der Spätphase dieses Dirigenten. In Köln am Rhein war Hans Knappertsbusch, verglichen mit München und Wien, eher selten zu Gast. Immerhin liegt bereits seit einem Jahrzehnt eine weitere Platte mit Wagners SiegfriedIdyll und Brahms‘ vierter Sinfonie vor – natürlich ebenfalls bei Orfeo, möchte man beinahe hinzufügen (C 723 071 B). Die Neuerscheinung (C 916 172 A) ist für den Sammler indes nicht wirklich so neu, waren die nunmehr präsentierten Aufnahmen doch schon seit langem anderweitig greifbar. Neu ist, dass sie diesmal klanglich aufbereitet wurden, da auf die Originalbänder zurückgegriffen werden konnte. Wunder darf man sich nicht erwarten, handelt es sich doch ausschließlich um Mono-Produktionen (wie bei Knappertsbusch leider die Regel), doch darf der Rundfunk-Klang durchaus als gediegen bezeichnet werden.

Das kürzeste enthaltene Werk, die gut zehnminütige Ouvertüre zu Webers Oper Euryanthe, ist in gewisser Weise beinahe der wichtigste Kaufgrund, handelt es sich doch um die einzige überlieferte Aufnahme unter Knappertsbuschs Dirigat; die anderen Werke liegen in Alternativen vor. Der typische Stil des knorrigen Kapellmeisters ist tatsächlich bereits nach wenigen Takten spürbar. Das ist tiefstes 19. Jahrhundert, in dessen Gedankenwelt der Dirigent, im Dreikaiserjahr 1888 geboren, noch sozialisiert wurde. Anekdotenhaft ist überliefert, dass der „Kna“ die Euryanthe-Ouvertüre als „Scheißstück“ (sic) bezeichnet haben soll. Glücklicherweise ist von einer etwaigen Geringschätzung bei der Aufnahme nichts spürbar. Eher möchte man sagen: So und nicht anders. Die Ouvertüre diente als Auftakt dieser Radioproduktion vom 14. Mai 1962. Es folgte das dritte Beethoven-Klavierkonzert in c-Moll mit dem früh verstorbenen ungarischen Pianisten Géza Anda als Solisten. Die einleitende orchestrale Exposition kommt mächtig, wie könnte es anders sein. Anda erweist sich als kongenial. Energisch und expressiv sein Anschlag, nuanciert seine Phrasierung, virtuos sein Spiel insgesamt. Den Ton gibt gleichwohl der damals 74-jährige Knappertsbusch an – wie wäre es seinerzeit auch anders möglich gewesen? Da ist er wieder, der hochromantische Beethoven, wie man ihn heutzutage weitgehend verschmäht. Das Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester erweist sich schon in den frühen 1960er Jahren als beachtlicher Klangkörper, der imstande ist, dem nicht immer einfachen und probenscheuen Dirigenten zu folgen. Überhaupt kommt das recht düstere und sehr symphonisch angehauchte dritte Klavierkonzert, wie das strahlende und kaiserliche fünfte, einem Knappertsbusch meines Erachtens auch viel eher noch entgegen als das leichtgewichtigere vierte. Der gewaltige Kopfsatz (hier knapp 18 Minuten lang) kann bereits als der Höhepunkt des Werkes gelten, das Orchester bedrohlich grummelnd im Ausklang desselben. Im verinnerlichten Largo gibt sich Anda von seiner lyrischen Seite und weiß auf ganzer Linie auch hier zu überzeugen. Interessant, dass ein als konservativ geltendes dirigentisches Urgestein und ein als modern titulierter Pianist so gut miteinander harmonieren können. Im abschließenden Rondo ist naturgemäß wieder mehr Raum für orchestrale Zurschaustellung – ohne dass sich Knappertsbusch freilich jemals in den Vordergrund drängte. Als einfühlsamer Konzertbegleiter war er sogar hochbeliebt. Hier hört man, wieso. Prächtig ausmusiziert die Coda in C-Dur.

Die Dritte von Brahms war für Hans Knappertsbusch so etwas wie der Parsifal unter den Sinfonien. Sie diente als Abschluss der besagten Kölner Rundfunkproduktion von 1962. Dem Vernehmen nach wünschte er sich den langsamen Satz für sein eigenes Begräbnis. Die Liebe für dieses Werk drückt sich auch diskographisch aus: Von keiner anderen Brahms-Sinfonie gibt es eine solche Vielzahl an Knappertsbusch-Aufnahmen. Chronologisch betrachtet, ist die Kölner Aufnahme die vorletzte; ihre Tempi sind beinahe auf die Sekunde gleich mit seiner allerletzten (und womöglich besten) mit dem Südfunk-Sinfonieorchester von 1963 (Hänssler CD 93177). Lediglich im berühmten Scherzo ist er in Köln 1962 noch etwas flotter. Eine Gesamtspielzeit von bald 42 Minuten muss gleichwohl als monumental gelten. Kurioserweise gibt es ausgerechnet die hochdramatische erste Brahms-Sinfonie, die man auf den ersten Blick womöglich am ehesten mit ihm assoziieren würde, nicht unter seinem Dirigat – er setzte sie nach 1947 auch nie mehr auf eines seiner Konzertprogramme. Von Leichtigkeit kann bei Knappertsbuschs Deutung der Dritten indes keine Rede sein. Er verleiht dem Werk eine Größe, wie sie andere Interpreten nie erreichten (als einzige Ausnahmen mögen hier das letzte Konzert von Otto Klemperer [Testament] und vielleicht noch Leonard Bernsteins Wiener Einspielung [DG] angeführt werden). Beinahe buchstabierend tastet er sich vor und leuchtet die Partitur in ihrer vollen Schönheit bis ins kleinste Detail aus. Hier darf alles sein, kann sich allmählich entwickeln. Großartig der Spannungsaufbau und die Temporückungen, die wiederum ans 19. Jahrhundert gemahnen. Wehmütig gelingt der langsame Satz (unglaubliche zehneinhalb Minuten lang) und erweist sich in „Kna’s“ Deutung tatsächlich als einer Totenfeier würdig. Das Poco allegretto ist hier nicht forsch und tolldreist, sondern vielmehr bedeutungsschwer und verhalten. Den Finalsatz eröffnet Knappertsbusch mit beeindruckenden Orchesterausbrüchen; stellenweise sieht man vor seinem geistigen Auge den in jeder Hinsicht großen Dirigenten sich titanenhaft aufbäumen. Die Tempogestaltung ist hier selbst für „Kna“-Verhältnisse einmalig. Das unverhofft gnädig-sanftmütige Ende beschließt das Werk und diese herrliche Interpretation.

Als einziges auf der Doppel-CD enthaltene Werk datieren die Brahms’schen Haydn-Variationen auf den 10. Mai 1963. In derselben Rundfunkübertragung wurde auch Bruckners siebente Sinfonie gespielt, deren Auftakt sie bildeten. Womöglich steht uns die offizielle Veröffentlichung des Hauptwerkes noch bevor? Die Haydn-Variationen jedenfalls sprengen mit 23:12 Minuten jeden Rahmen – selbst die Stuttgarter Aufnahme von 1963 ist marginal schneller (22:55). Sehr feierlich der Chorale St. Antoni, dunkel timbriert die Blechbläser. Die Wuchtigkeit hält auch in den acht Variationen an. Prachtvoll dann auch das Finale. Einen Wermutstropfen gibt es indes: Zwischen etwa 19:52 bis 19:58 fällt der Ton komplett aus. Darüber wurde bereits auch in Internetforen gerätselt. Ein Produktionsfehler? Summa summarum eine willkommene Bereicherung der „Kna“-Diskographie, sowohl für Einsteiger als auch für Fortgeschrittene. Die labeltypisch qualitativ hochwertige Präsentation nebst informativem Booklet rundet die Sache ansprechend ab. Womöglich war dies auch noch nicht Orfeos letzter Beitrag in Sachen Knappertsbusch … Daniel Hauser