Archiv des Autors: Geerd Heinsen

Biographien zum Hören und Sehen

 

Händel – die Macht der Musik heißt eine neun Folgen zu jeweils ca. 25 Minuten umfassende Hörbiographie des Bayerischen Rundfunks auf drei CDs. Händels Geschichte von der Wiege bis zur Bahre ist spannend, sie erzählt, dass Georg Friedrich Händel nach Vorstellung seines Vaters Jurist werden sollte, seine Musikbegabung auffällt, er erst Organist und mit 25 Jahren Kapellmeister in Hannover wird, nach Italien reist, für Kardinäle und Kastraten komponiert, in London mit Rinaldo reüssiert, nach England geht, spekuliert und selbstständiger Opernunternehmer wird, protegiert wird und dennoch in die Pleite treibt, neu beginnt, immer mit Widerständen kämpft, Kastraten und Diven, Triumphe und Niederlagen, die Oratorien als Wechselbad der Gefühle, König, Krieg und Festmusiken und die Transformation zum Zeremonienmeister der englischen Krone. Das Manuskript von Jörg Handstein zeigt den bewährten Erzähler, er ist ausführlich ohne detailversessen zu sein – die Zielgruppe sind Einsteiger und interessierte Fans. Als Erzähler fungiert der Münchener Tatort-Kommissar Udo Wachtveitl, dem Komponisten leiht Bernhard Schir seine Stimme. Die Hörbiographie erzählt aber nicht nur die Stationen eines Lebens, sie setzt sich mit Händels Musik auseinander und bringt Hörbeispiele, verknüpft Geschehnisse mit dem Schaffen, ohne über jedes Werk zu referieren. Die Bandbreite seiner Kompositionen wird sorgfältig ausgebreitet, die Hörbiographie ist aber keine Werkbiographie. Die Auswahl ist kompetent zusammengestellt, man hört viele kurze Musikbeispiele quer durch Händels Leben. Diese werden ergänzt durch Werke von Zeitgenossen, bspw. Telemann, Keiser, Buxtehude, Alessandro Scarlatti, Corelli, Steffani, Porpora und Hasse sowie weniger geläufige Namen wie Friedrich Wilhelm Zachow und Johann Jakob Froberger. Die eingespielten Ausschnitte sind aufnahmehistorisch weit gestreut, viele englische Ensembles, z.B. Christopher Hogwood und die Academy of Ancient Music, John Eliot Gardiner und die English Baroque Soloists oder Trevor Pinnock und The English Concert, Nicolas McGegan mit verschiedenen Ensembles, Alan Curtis mit Il complesso barocco, Robert King und The King’s Consort, Harry Christophers The Sixteen, aber auch Sigidwald Kuijken und La Petite Bande, Rinaldo Alessandrini, Andrea Marcon und René Jacobs und einige andere mehr. Erzählerisch und musikalisch ist dem Bayerischen Rundfunk eine animierte und inhaltsreiche Hörbiographie gelungen, die Lust auf mehr macht und zum Weiterhören verführen kann. (3 CDs, BR Klassik 900911)

Ariane Mnouchkine hat den diesjährigen Goethe-Preis der Stadt Frankfurt erhalten. Sie gründete 1964 das fast schon legendäre Théâtre du Soleil, dessen Intendantin sie bis heute ist und für das sie zahlreiche aufsehenerregende Inszenierungen verantwortete. Auch als Filmregisseurin ist Mnouchkne tätig und angesichts ihres unermüdlichen Engagements und Einsatzes für das Theater ist es umso weniger überraschend, dass sie sich 1977 einem anderen Theaterbesessenen widmete: Jean-Baptiste Poquelin, den die Nachwelt als Molière kennt. Mnouchkine hat vor 40 Jahren einen Spielfilm, oder besser gesagt einen Monumentalfilm gedreht: 244 Minuten Spieldauer, die Dreharbeiten erfolgten an über 200 (teilweise historischen) Schauplätzen, über 1000 Kostüme wurden gefertigt, über 100 Schauspieler und 500 Statisten sollen beteiligt gewesen sein. Aus ihrem eigenen Ensemble wurden zentrale Rollen besetzt, Molière ist Philippe Caubère. Für das Drehbuch bediente man sich der Molière-Biographie von Alfred Simon sowie bei Werken weiterer Autoren, die sich mit Molière und seiner Epoche auseinandersetzten. Der opulent in Szene gesetzte Film zeigt Molière (1622–1673) ab der Kindheit, der Tod der Mutter ist ein einschneidendes Erlebnis, ein Ausflug auf den Jahrmarkt mit den Attraktionen und Gauklern,  der Wunsch Schauspieler zu werden, erste Auftritte mit der Schauspielerin Madeleine Béjart, deren Liebhaber er wird und deren Tochter Armande er später heiraten sollte, ein frühes Leben als Wanderdarsteller, über ein Jahrzehnt zog er durch Frankreich und lernte sein Metier. Mit Komödien ist mehr Geld zu verdienen als mit Tragödien und als Autor und Darsteller schafft er es mit Hilfe von Mäzenen und Förderer bis vor Ludwig XIV., der ihn seine Hofunterhaltung organisieren lässt. Wenig Aufmerksamkeit widmet Mnouchkine Molières großen Werken, deren Erschaffung nicht im Mittelpunkt steht. Der Film endet mit Molieres qualvollem Tod. Vier Stunden Molière, manches ist zu viel, manches zu lang, Mnouchkine dehnt gerne Szenen ohne erkennbaren Sinn, sie schwelgt in den Szenen zwar freudvoll, aber spannungslos. Wer gerne ins Theater geht und die Freude des Marathonsitzens an großen Theaterabenden kennt, wird locker durchhalten, alle anderen werden wahrscheinlich gelegentlich ein wenig die Geduld verlieren. Ein Film über Molière ist ein Film übers Theater, ist ein Film über den Sonnenkönig. Es sind große Tableaus und krasse Gegensätze – eine bitterarme Bevölkerung und ein unermesslich wohlhabender Adel und Klerus. Dreck und Dekadenz, Lebensfreude und die Kunst als Mittel gegen die Trostlosigkeit – ein bildstarkes Panorama, der sorgfältig ausgestattete Film hat in dieser Hinsicht keinen Staub angesetzt. Musikalisch sind manche Szenen unterlegt mit Musik von u.a. Lully, Rameau, Purcell, Monteverdi, die Originalmusik komponierte René Clemencic. Dieses Jahr wurde Mnouchkines Molière von BelAir Classiques im Vertrieb der Naxos auch auf dem deutschen Markt neu verlegt. Die 2 DVDs sind nur in französischer Sprache und u.a. mit deutschen Untertiteln verfügbar, die Herkulesaufgabe der Synchronisation scheint nicht erfolgt zu sein.  (2 DVDs, BelAir Classiques BAC203)

Noch ein wenig weiter zurück in der Zeit. Heinrich Schütz (1585-1672) wurde in Köstritz geboren und wuchs in Weißenfels auf, wo sein Vater einen Gasthof führte. Dort entdeckte Landgraf Moritz von Hessen-Kassel den Knaben, der ihm eine Ausbildung an seiner Schule ermöglichte und ihm einen mehrjährigen Aufenthalt in Venedig finanzierte, wo Schütz zum Komponisten reifte. Das Ende seiner Lehre krönte Schütz 1611 mit seinem Opus 1 – Il Primo libro di Madrigali. Sein Lehrer Giovanni Gabrieli vermachte später seinem Lieblingsschüler testamentarisch einen seiner Ringe. Zurück in Kassel lockte bald der sächsische Hof in Dresden, für den Schütz über 50 Jahre bis zu seinem Tod tätig bleiben sollte. Viel über die Person des Heinrich Schütz scheint nicht bekannt, die Karriere startete in unglücklicher Zeit, seine Frau verstarb jung, der dreißigjährige Krieg machte das Leben schwer, Schütz setzte sich für seine Kollegen ein und versuchte trotz der widrigen Umstände seine Musiker zusammenzuhalten. Am 13. April 1627 erfolgte dann anläßlich einer fürstlichen Hochzeit die Uraufführung der ersten deutschen Oper, deren Musik (wie so oft bei Schütz) verschollen ist bzw. bei Bränden zerstört wurde. Das Libretto zu Dafne existiert übrigens noch, der renommierte Barockdichter Martin Opitz hat es geschrieben. Autor Jörg Kobel hat eine 66 minütige Biographie gedreht, die Aufnahmen von den Stationen zeigt und bei der Musik und Erzählung manchmal doch zu offensichtlich mit netten Bildern ohne besonderen Bezug unterlegt ist. Wenn bspw. das Gleichnis vom Weinstock besungen wird, sieht man Weinreben und man wünschte sich, mehr zur Musik, zur Aufführungspraxis und Wirkung zur erfahren. Schütz‘ Leben wird oft nur an den Stationen seines Lebens erzählt, musikhistorisch gibt es kaum Einordnungen, musikalisch erfährt man zu wenig, nur einige Werke werden erwähnt und in Ausschnitten musiziert oder eingespielt. So ist die bei Arthaus erschienene DVD ein Überblick, der kaum mehr verrät als ein guter Lexikon-Eintrag, aber dafür anschaulich bebildert ist und Musikausschnitte aufweist. (1 DVD, Arthaus 109175) Marcus Budwitius

 

Licht und Schatten

 

Dieses Buch gibt sich bescheiden. Auf knapp achtzig Seiten wird ein bedeutendes Kapitel deutscher, ja europäischer Musikgeschichte abgehandelt. Bach, Liszt und Wagner – Spaziergänge durch das musikalische Weimar von gestern und heute. Herausgekommen ist die reich bebilderte Neuerscheinung in der Edition Leipzig (ISBN 978-3-361-0025-3). Autor Heinz Stade, Journalist und Buchautor aus Erfurt, der thüringischen Landeshauptstadt, kennt sich aus. Er empfiehlt sich aber nicht als Lokalpatriot, der alles besser weiß. Er will neugierig machen und seine Leser ermuntern, sich selbst auf die Reise zu begeben. Jenen aber, die mit den Örtlichkeiten bereits mehr oder weniger gut vertraut sind, eröffnen sich neue Sichten. Bestenfalls haben sie das Bedürfnis, eigen Erfahrungen mit dem Weimar des Jahres 2017 abzugleichen. So festgefügt die Stadt in ihrem Innersten auch ist, unterliegt sie dem Gesetz des Wandels. Allenthalben wird etwas restauriert, mit neuem Anstrich versehen und heutigen touristischen Bedürfnissen sowie den Lebensgewohnheiten der Einwohner angepasst. Nicht jeder Besucher eilt zuerst in Goethes Haus am Frauenplan. Er will auch flanieren, einkehren, Thüringer Bratwürste essen, einfach nur schauen. Oder ganz praktische Dinge einkaufen. Die Zahl der kleinen Buchhandlungen, verwinkelten Antiquariate und Musikgeschäfte hat nicht zugenommen. Modische Accessoires dürften heutzutage leichter aufzutreiben sein als ein alter Kupferstich.

Weimar spielt nicht nur in den Biographien der im Titel genannten drei Herren eine Rolle. Allein Franz Liszt, der Rastlose, dessen eigentliche Heimat Europa war, verbrachte von den dreien die meiste Zeit in Weimar und hinterließ auch die deutlichsten Spuren. Alles in allem blieb er Weimar zwischen 1848 und 1860 fest verbunden. Als Hofkapellmeister hatte er in den drei Wintermonaten Residenzpflicht. Nach Goethes Tod 1832 sollte er der Stadt zu neuen Glanz durch Kunst und Musik verhelfen. Eines der bedeutendsten Ereignisse seines Wirkens war die Uraufführung von Richard Wagners Oper Lohengrin am 28. August 1850 – Goethes Geburtstag. Wagner konnte nicht dabei sein. Nach seiner Teilnahme an der Revolution 1848 in Dresden war er auf der Flucht. Bis er sich im Exil in Zürich niederlassen konnte, hielt er sich wiederholt inkognito in Weimar und Umgebung auf. Es gab sichere Verstecke für den politisch Verfolgten. Für Liszt war die Uraufführung des Werkes eines behördlich gesuchten Revolutionärs ein großes Wagnis, das auch am Hof der Residenzstadt argwöhnisch beäugt worden war. Wagner zeigte sich dankbar. Stade zitiert aus einem Brief von Heiligabend 1850 an Liszt: „Wahrlich, teurer Freund, Du hast aus diesem kleinen Weimar für mich einen wahren Feuerherd des Ruhmes gemacht.“ Gemeinsam mit der Fürstin Carolyne zu Sayn-Wittgenstein lebte Liszt mehr als zehn Jahre in wilder Ehe auf der Altenburg, einer Villa am Stadtrand, die jetzt von der Musikhochschule genutzt wird, die den Namen Liszts trägt. In relativer Abgeschiedenheit entstanden hier seine wichtigsten Werke. Als Gäste kehrte künstlerische Prominenz ein, darunter Friedrich HebbelBettina von ArnimHoffmann von FallerslebenPeter CorneliusHans von Bülow und Hector Berlioz. Liszt setzte sich sehr für Berlioz ein und führte dessen Oper Benvenuto Cellini in Weimar auf. In dieser gekürzten und ins Deutsche übersetzten Fassung wurde das Werk noch 1952 beim österreichischen Rundfunk mit Fritz Uhl in der Hauptrolle eingespielt. Bei späteren Aufführungen in der Originalsprache wurde ebenfalls auf Liszts Kürzungen zurückgegriffen.

Für Klavier-Transkriptionen von Franz Liszt habe ich eine ausgesprochene Vorliebe. Er war auf diesem Gebiet sehr tüchtig. Naxos ist mit seiner großen Edition der kompletten Klavier-Musik bei Volume 46 angelangt (8.573710). Diese CD enthält Stücke von Hector Berlioz. Beide Komponisten kannten und schätzten sich. Sie hielten über mehr als drei Jahrzehnte Kontakt und sind sich mehrfach begegnet. Stilistisch liegen sie beieinander. Mit seinen Bearbeitungen hat Liszt, der in seiner Weimarer Zeit als Hofkapellmeister auch Orchesterwerke und die Oper „Benvenuto Cellini“ aufführte, zur Verbreitung der Musik seines verehrten französischen Kollegen beigetragen. Dieses Werk ist auch auf der CD präsent. Liszt setzt nicht nur eine bestimmt Szene eins zu eins für das Klavier. Er lässt sich zu eigenen Gedanken inspirieren. Es spielt der chinesische Pianist Feng Bian. R.W.

Im Herbst seines bewegten Lebens ließ sich Liszt erneut in Weimar nieder und bewohnte von 1869 an eine Etage in der Hofgärtnerei, umschwärmt und umsorgt von seinen Schülern. Dort kann noch heute sein relativ bescheidener Lebensstil in Augenschein genommen werden. Die Räume sind Museum und werden als solches auch im Buch von Stade empfohlen. Ein Besuch lohnt sich, auch wenn das berühmte Domizil jetzt etwas überrestauriert wirkt. Ich erinnere mich noch an die verstaubte, dem Original offenbar nähere Ausstattung. In Weimer habe ich 1970 als junger Mann eine alte Frau getroffen, die Liszt noch persönlich gekannt hat: die Schriftstellerin Julie Kniese, Tochter des Bayreuther Chorleiters, der bis 1905 – er starb plötzlich an einem Herzinfarkt – die rechte Hand von Cosima Wagner und damit der Leiter der Festspiele gewesen ist. Sein Kind war Jahrgang 1880, bei Liszts Tod in Bayreuth also sechs Jahre. Sie habe oft auf seinem Schoß gesessen und an seinen großen Gesichtswarzen gezupft. Er habe das gern zugelassen und sei sehr gütig gewesen. In ihrem Haus, das einen verwunschenen Innenhof hatte, lebte sie wie Miss Havisham in Dickens Roman „Große Erwartungen“, eingesponnen in die eigene Vergangenheit, aus der sie nicht herausfand. Zum langen fadenscheinigen Kleid trug sie eine Haube. Kein gutes Haar ließ sie am Nachkriegs-Bayreuth der Wagnerenkel Wieland und Wolfgang, die sie heftig beschimpfte. Durch das von ihr herausgegebene Buch „Der Kampf zweier Welten um das Bayreuther Erbe“, das mir ein Bibliothekar geschenkt hatte, war ich auf sie aufmerksam geworden und bekam schnell heraus, dass sie noch lebte, in Weimar lebte. Dieses Buch ist dem Vermächtnis ihres Vaters, der Wagner bei der Uraufführung des Parsifal assistiert hatte, gewidmet. Kniese soll ein Heft geführt haben, in das er alle Bemerkungen und Anweisungen Wagners akribisch eintrug. Auf dieser Grundlage hätte das Werk für alle Zeiten genauso aufgeführt werden sollen wie 1882. Ein so absurder wie sinnloser Kunstkampf, der schon in dem Moment verloren war, als er begann. Tochter Julie meinte, ihn 1970 noch immer führen zu müssen. Sie zeigte mir Briefe, auch solche von Liszt. Im Geheimfach eines alten Sekretärs verwahrte sie nagelneue Briefmarkenbögen mit dem Porträt Hitlers. Das hat sich mir eingeprägt – auch als Teil Weimars.

Felix Mendelssohn Bartholdy – hier auf einer Ölskizze von Carl Joseph Begas – spielte als Zwölfjähriger in Weimar dem alten Goethe vor uns fand herzliche Aufnahme im Haus am Frauenplan.

Hitler ist oft in Weimar gewesen und wurde gefeiert. Auf historischen Fotos sind Straßen und Plätze zum Bersten voll mit Menschen. Die ganze Stadt schien auf den Füßen. Er logierte im Hotel „Elephant“ und zeigte sich auf dessen Balkon, den es noch gibt, der jubelnden Menge. „Lieber Führer komm heraus, aus dem Elefantenhaus. Lieber Führer sei so nett, tritt zu uns ans Fensterbrett.“ Solche Verse dürften damals populärer gewesen sein als Gedichte von Goethe und Schiller. Seinerseits setzte der Schriftsteller Thomas Mann, ein wortgewaltiger Hitler-Gegner, in seinem Exil dem Hotel im Roman „Lotte in Weimar“, der 1939 herauskam, ein gegensätzliches Denkmal. Solcherart sind die Zusammenhänge, auf die man in Weimar stößt. Auf Schritt und Tritt stößt. Mindestens einmal kommt der Stadtwanderer auf seinem Rundgang am gigantischen Gauforum vorbei, welches sich auf rund vierzigtausend Quadratmetern erstreckt. Die Nationalsozialisten hatten in diesem Rahmen fünf verschiedene Komplexe geplant, nur drei wurden fertig und dienen jetzt Thüringer Behörden als Arbeitsräume. Ein vierter unvollendeter Bau beträchtlichen Ausmaßes ragte noch zu DDR-Zeiten als Bauruine empor und ist jetzt als Einkaufszentrum und Kino in seiner bedrohlichen Hässlichkeit nicht mehr zu erkennen. In Weimar ist kein Vorbeikommen an den braunen Hinterlassenschaften. Für die Schriftstellerin Anna Seghers, die durch ihren Widerstandsroman „Das siebte Kreuz“ Weltrum erlangte, ist Weimar als Ort „in der deutschen Geschichte zugleich der beste und der schlechteste, denn hier wirkten große Dichter und hier war das Lager von Buchenwald“, wo während der Hitlerdiktatur mehr als fünfzigtausend Menschen umkamen.

Engelbert Humperdink: Seine Oper „Hänsel und Gretel“ wurde 1893 in Weimar uraufgeführt. Foto: Sammlung Manskopf

Friedrich Schiller hat seine Ode an die Freude, die durch Beethovens neunte Sinfonie vielleicht zur berühmtesten aller derartigen Vertonungen wurde, nicht in Weimar geschrieben, sondern in Leipzig und Dresden. Das war 1785. Erst vierzehn Jahre später ließ er sich in Weimar nieder, wo er enge Beziehungen zu dem dort bereits residierenden Goethe unterhielt, der noch immer in der Stadt omnipräsent ist. Goethe und Weimar sind eins. Im sehenswerten Haus am Frauenplan lassen sich Möbel, Büsten, Bücher und alle möglichen Sammlungen bestaunen. Was nicht direkt in Augenschein genommen werden kann, sondern erfühlt werden muss, ist die Atmosphäre tüchtigen Schaffens und Waltens, die den Besucher bereits im prächtigen Treppenhaus empfängt. Ein Ort der Strenge und Behaglichkeit. Offenbar die beste Mischung, um etwas Bedeutendes hervorzubringen.

Goethe – bleiben wir nur bei der Musik – zieht sich wie der sprichwörtliche rote Faden durch Kompositionen aller Art. So häufig wie er dürfte kein anderer vertont worden sein. Mit mehr als siebzig Liedern ist die Goethe-Abteilung im Liedschaffen Franz Schuberts die größte. Hugo Wolf sind auf seine Gedichte etliche der schönsten Lieder gelungen. Mozarts Veilchen gilt als der Inbegriff von musikalischer Lyrik. Felix Mendelssohn Bartholdy, der sich auch bei Goethe bediente, ist als Zwölfjähriger am Frauenplan von Carl Friedrich Zelter eingeführt worden und hat dem alternden Hausherrn vorgespielt und viel beschriebenes Entzückend verbreitet. Johannes Brahms fühlte sich zu Goethe genauso hingezogen wie Robert SchumannHans PfitznerMax Reger und Richard Strauss, der seine prächtige Gesamtaufgabe mit Werken des Dichters immer zur Hand hatte. Carl Loewe, der sich in Jena entschlossen Zutritt zum vergötterten Goethe verschafft hatte, legte mit seinem Erlkönig als Opus 1 sogleich eines seiner Meisterwerke hin. Zu dieser aus drei Ballen bestehenden Erstlingsgruppe gehört auch die schottische Ballade Edward, die Johann Gottfried Herder ins Deutsche übertragen und seiner wegweisenden Sammlung „Stimme der Völker in Liedern“ einverleibt hatte. Er galt als einer wichtigsten der Denker deutscher Sprache im Zeitalter der Aufklärung und bildete gemeinsam mit Christoph Martin Wieland, Goethe und Schiller das klassischen Viergestirn von Weimar. Herder wirkte von 1776 an als Superintendent an der Stadtkirche St. Peter und Paul, die heute gemeinhin als Herderkirche gilt. Thomas Mann – und wieder schließt sich ein Kreis – hatte das mit dem Goethepreis verbundene Geld für den Wiederaufbau der im Krieg stark beschädigten Kirche gestiftet. Der Preis war ihm bei seinem Besuch 1949 zu den Feiern zu Goethes zweihundertstem Geburtstag verliehen worden. Damals gab es die DDR noch nicht.

Camille Saint-Saëns hatte in Weimar mit seiner Oper „Samson und Dalia“ großen Erfolg. Foto: Sammlung Manskopf

Wer seine Schritte etwas abseits gegen den Park an der Ilm lenkt, wo Goethes schlichtes Gartenhaus steht, das zu einem Vorbild für Architekten werden sollte, kommt an Shakespeares Denkmal vorbei. Der hat nun nicht in Weimar geweilt. Warum also dort sein Denkmal? Es sollte vom starken Einfluss zeugen, den seine Werke auf Weimarer Klassiker genommen hatte. Initiator war die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft, die ihren 40. Gründungstag und den 340. Geburtstag des englischen Dramatikers zum Anlass nahm, den Bildhauer Otto Lessing mit dem Denkmal zu beauftragen. Es wurde 1904 enthüllt und gilt bis heute als das einzige auf dem europäischen Festland. Shakespeare blickt, lässig auf einem Stein sitzend, zur Sommerresidenz Goethes. Wohin auch sonst? Ein Kapitel für sich sind Shakespeare und die Musik, wobei es auch Spuren nach Weimar gibt. So hat Liszt den Shakespeare’schen Hamlet zum Thema einer seiner sinfonischen Dichtungen gemacht. In Webers Oberon gibt es eine Verknüpfung mit dem Weimarer Dichter Wieland, dessen romantisches Heldengedicht, versehen mit Motiven aus Shakespeares Sommernachtstraum und Sturm, die Vorlage für das Libretto bildete.

Johann Sebastian Bach mit seinen drei Söhnen. Friedemann und Carl Philipp Emanuel wurden in Weimar geboren und getauft. Der Taufstein hat sich in der Herderkirche erhalten. Foto: Wikipedia

Weimar kann für sich in Anspruch nehmen, Johann Sebastian Bach länger beherbergt zu haben als jede andere Stadt, in der er lebte. Bach hielt es insgesamt zehn Jahre in Weimar, wo ein Großteil des Orgelwerkes und mehr als dreißig Kantaten entstanden und die später berühmten Söhne Wilhelm Friedemann (1710) und Carl Philipp Emanuel (1714) geboren wurden. Im Buch wird dokumentiert, wie sich die Weimarer Zeit Bachs aufteilte. Erstmals sei er 1702/03 für nicht einmal ein Jahr als „HofMusicus bey Herzog Johann Ernsten“ in der Stadt gewesen. Nach Zwischenaufenthalten in Arnstadt und Mühlhausen kehrte Bach 1708 nach Weimar zurück und blieb bis zum Ende des Jahres 1717. Verblasst ist die unmittelbare Erinnerung an Bach auch deshalb, weil sich – wie bei Liszt und den Dichtern – kein Wohngebäude erhalten hat. Solche Adressen machen den Umgang mit dem Erbe einfacher – und konkreter. Besucher verlassen solche Gedenkstätten gern mit dem Gefühl, jetzt besser Bescheid zu wissen über denjenigen, der einst darin lebte und Großes vollbrachte. Wer sich Bach in Weimar vorstellen will, der muss seine Musik hören, die dort entstand. Er wird also nicht den großen Tisch sehen können, an dem Bach mit den Seinen saß. Der Leser erfährt, dass das Haus der Familie am Markt 17 – und damit in unmittelbarer Nähe zum „Elephant“ – bereits 1750 abgerissen wurde. Sein wichtigster höfischer Arbeitsplatz, die Kapelle im Stadtschloss, fiel 1774 einem Brand zum Opfer. Spuren in der Hofkirche sind verblasst, weil diese mehrfach umgebaut und im Februar 1945 durch Luftminen schwer beschädigt wurde. Dafür hat sich aber der Taufstein, in dem sechs seiner Kinder getauft wurden, erhalten. Immerhin. Erinnerung wird künstlerisch gepflegt. Großen Anteil an dieser Tradition kommt dem Organisten Johannes-Ernst Köhler zu, der 1990 in Weimar starb. 1953 – so ist zu lesen – rief er in der Herderkirche die „Stunde der Orgelmusik“ ins Leben und trug auch mit Schallplattenproduktionen zum Ruhme Bachs bei.

Richard Strauss leitete 1894 in Weimar die Uraufführung seiner Oper „Guntram“. Foto: Sammlung Manskopf

Doch die Geschichte um Weimar und die Musik ist längst nicht zu Ende. Unbedingt genannt werden muss noch der Komponist Engelbert Humperdinck, dessen Oper Hänsel und Gretel 1893 am Weimarer Hoftheater uraufgeführt wurde. Auch Guntram von Richard Strauss ist ein Jahr später erstmal in Weimar auf die Bühne gekommen. Die Leitung hatte Strauss selbst übernommen. Das Publikum nahm das Werk zwar freundlich auf. Im Spielplan konnte es sich aber nicht halten und wurde bald wieder abgesetzt. Bereits 1877 erblickte Samson und Dalila von Camille Saint-Saëns das Licht der Öffentlichkeit. Diese Oper wurde in deutscher Übersetzung auf deutschen Bühnen ein großer Erfolg, bis sie 3. März 1890 erstmals in einem französischen Opernhaus, dem Théâtre des Arts in Rouen herausgekommen ist. Der umnachtete Philosoph Friedrich Nietzsche, zunächst ein Anhänger, dann ein Widersacher Richard Wagners, hatte auch selbst komponiert und wurde von seiner Schwester in Weimar gepflegt, wo er 1900 auch starb. Ottmar Gerster, der während der Nazizeit mit seinen Opern Enoch Arden und Die Hexe von Passau sehr erfolgreich war, lehrte nach dem Krieg als Rektor an der Musikhochschule. Und – last but not least – darf auch Nike Wagner, die streitbare Urenkelin von Richard Wagner, nicht unerwähnt bleiben, die bis 2013 das Kunstfest in Weimar leitete und durch Aufführungen die Erinnerung an ihren Urahnen Franz Liszt beschwor. Viele Wege führen nach Weimar. Rüdiger Winter

Das große Bild oben zeigt eine Szene aus der Oper „Samson und Dalia“ von Camille Saint-Saëns und entstammt einer der beliebten und weit verbreiteten Bilderserien, mit denen der Liebig-Fleischextrakt beworben wurde. Das Werk wurde 1877 in deutscher Sprache am Hoftheater Weimar auf Betreiben von Franz Liszt uraufgeführt. Dirigent war Eduard Lassen, der auch als Komponist mit einer Schauspielmusik zu Goethes „Faust“ hervorgetreten ist. Die Oper hatte großen Erfolg, der sich auch auf anderen deutschen Bühnen fortsetzte. Erst am 3. März 1890 kam „Samson et Dalila“  erstmals an einem französischen Opernhaus, dem Théâtre des Arts in Rouen, heraus. 

Für die Nachwelt gerettet

 

Wahrlich gelohnt hat sich die Mordsarbeit, die sich  mit der Wiederherstellung der 1647 in Paris uraufgeführten Oper Luigi Rossis L’Orfeo stellte, deren Libretto gar nicht gedruckt und deren Musik nur in Bruchstücken erhalten geblieben war. Der französische Finanzminister Kardinal Mazarin hatte sie in Auftrag gegeben, um die Franzosen, insbesondere aber den Königshof mit der Gattung der italienischen Oper bekannt zu machen, sechs Stunden hatte sie einschließlich eines Pro- und eines Epilogs gedauert, 200 Bühnenarbeiter beschäftigt und so viel gekostet, dass sie einer der Gründe für den Aufstand von Adel und Parlament, die sogenannte Fronde, gewesen war.  Danach wurde das Werk vergessen, ist seit kurzem vereinzelt wieder auf den Spielplänen anzutreffen, so in Martina Franca arg beschnitten und in Verbindung mit einer modernen Komposition, als traue man ihm nicht zu, das Publikum ganz auf sich gestellt zu interessieren. Dabei ist die Musik überaus abwechslungsreich, enthält zwar auch den monteverdischen Sprechgesang, aber bereits auch Elemente eines frühen Belcanto, wunderbare Duette und Chöre.

Anders als bei den meisten Adaptionen des Orpheus-Stoffes steht im Mittelpunkt zumindest der ersten Hälfte der Oper die Dreiecksgeschichte  zwischen Orpheus, Eurydike und Aristeos, der mit allen Mitteln, zuletzt dem des Mordes mittels eines Schlangenbisses die Verbindung der beiden Liebenden zu verhindern sucht. Wahnsinn und Selbstmord sind die Strafe für das frevelhafte Vorgehen. Obwohl die Oper L’Orfeo heißt, bilden Eurydike und ihr Mörder trotz eines stattlichen Titelsängers bzw. einer Sängerin das Paar auf dem Cover von DVD und Blu-ray bei harmonia mundi. Auch spielen Götter, Grazien, Parzen eine viel bedeutendere Rolle als gewohnt, und eine ganz besondere Eigenart der „tragi-comédie“ ist das Auftauchen eines komischen Paares, Satiro und Momo, und einer komischen Alten, die, bedenkt man die Anwesenheit des erst neunjährigen Dauphins bei der Uraufführung, recht gewagte Spielchen treiben.

Regisseur Jetske Mijnssen verlegt das Werk in die Moderne, um es für das heutige Publikum zugänglicher zu machen, was vielleicht auch eine Untereschätzung desselben bedeutet. Für die Götterwelt allerdings durfte sich Gideon Davey insbesondere phantasievollen Kopfputz ausdenken, während die Szene von Ben Baur im Opernhaus von Nancy, Sitz der Opéra national de Lorraine, sich auf ein schlichtes holzverkleidetes Gemach mal mit Tisch und Stühlen für die Hochzeitsgesellschaft, mal als Trauerraum nur mit Sitzgelegenheiten versehen, beschränkt.

Vorzüglich und zum größten Teil außergewöhnlich stilgerecht singend sind die Solisten, die teilweise zwei Partien verkörpern. Eine wirklich hochattraktive Euridice, die hier den Neid der Venere erregt, ist Francesca Aspromonte mit silbrigem Sopran, der in der Todesszene seine Geschmeidigkeit und Ausdrucksvielfalt beweist. Orfeo wird von Judith van Wanroij mit schönem Glockenton verkörpert, in seiner Klage um die verstorbene Gattin weiß dieser Orpheus nicht nur ein ergreifendes Mienenspiel, sondern auch viel vokale Farbe einzusetzen. Ein leidenschaftliches Spiel und einen eleganten Mezzosopran kann Giuseppina Bridelli für den Schäfer Aristeo glänzen lassen und die Möglichkeiten, die ihr das Werk bietet, voll auszukosten. Einen zarten Sopran hat Giulia Semenzato für Venere und für Proserpina, für die Rossi herrliche Musik geschrieben hat. Markanter als Caronte denn als Vater Endimione klingt Victor Torres und ganz herrlich komisch ist Dominique Visse, der seinem Countertenor als Vecchia unvergleichliche, die Person charakterisierende Töne abgewinnt. Da kommen trotz aller Verdienste Renato Dolcini als Satiro und Marc Mauillon als Momo nicht ganz heran. Luigi de Donato als Augure und Plutone sowie Ray Chenez als Nutrice und Amore vervollständigen das hochkarätige Ensemble. Raphaël Pichon, gemeinsam mit Miguel Henry verantwortlich für die „Reconstituition“ der Oper, dirigiert das Orchester Pygmalion, und bei allen hat man das Gefühl, dass sie mit höchster Kompetenz und vollem Einsatz bei der verdienstvollen Sache sind. Unverzeihlich ist bei einem so unbekannten Werk das Fehlen einer Inhaltsangabe und einer Trackliste und auch sonst geizt man mit Informationen (Harmonia mundi 9859058.59 Blu-ray). Ingrid Wanja

 

Émile Adrien Belcourt

 

Der kanadische Tenor Émile Adrien Belcourt  (27. June 1926 in Laflèche, SK) starb am 3. August 2017 in Toronto (ON). Nicht-britischen Opernfreunden ist er vor allem als Loge in Reginald Goodalls englischsprachigen Ring (EMI) als charaktervoller Loge bekannt; und es war die Londoner ENO, an der er seine meisten Erfolge hatte, aber nicht nur dort. Im Folgenden ein Artikel zu seinem Tode aus der Canadian Encyclopedia (in Englisch).

The tenor, born in Laflèche, Saskatchewan passed away on August 3, 2017, after a lengthy career at the English National Opera.Though trained as a pharmacist, Émile Belcourt studied during the 1950s at the Academy of Music in Vienna with Editha Fleischer. After appearances in Germany and France, he made his English debut at Covent Garden 19 June 1963 as Gonzalve in L’Heure espagnole and in the same year joined Sadler’s Wells (later English National Opera). He made his debut as Pluto in Orpheus in the Underworld and sang Eisenstein in Die Fledermaus, the title role in Offenbach’s Bluebeard and His Six Wives, and Raoul in La Vie parisienne. His COC debut 8 September 1973 as Bernard of Clairvaux in the premiere of Charles Wilson’s Heloise and Abelard was followed by performances as Camille in The Merry Widow in 1973, Shuisky in Boris Godunov in 1974, Gonzalve in 1974, and Dr Falke in Die Fledermaus in 1975. He sang Shuisky with the Scottish Opera, Macheath in Britten’s version of The Beggar’s Opera at the 1976 Guelph Spring Festival, and Eisenstein with the Edmonton Opera and the English National Opera. In 1978, 1980 and 1982 he sang Loge in Das Rheingold in Seattle and in 1979 performed in the full Ring cycle there. Also in Seattle, he sang Tristan in Tristan und Isolde in 1981 and Siegmund in Die Walküre in 1982. He was described in the London Financial Times as „a character tenor of great accomplishment.“ In 1990, he continued to sing with the English National Opera. (Foto oben: Emile Belcourt als Loge an der Seattle Opera 1978/ Foto Chris Bennion)

Zeitlose „Lulu“

 

Nüchterner, um nicht zu sagen steriler, hätte die Bühne von Dmitri Tcherniakov für Alban Bergs Lulu in München nicht ausfallen können, und auch das verführerische Kindweib Lulu, stets in unschuldiges Weiß gekleidet und mit strenger Duttfrisur, allerdings in feurigem Rot, entspricht nicht den Erwartungen, die man gemeinhin in Bezug auf die Männerverführerin und -verderberin hat. Zwischen Eisengestänge geben Plexiglasscheiben den Blick auf die Bühne frei. Zunehmend roher und gewaltsamer tummeln sich dort zu den Zwischenspielen Paare aller Altersklassen in knallbunten, zeitlosen Kostümen (Elena Zaytzeva), zuletzt allerdings fast entblößt, während die Solisten den schmalen, nur mit Stühlen bestückten Streifen davor bevölkern. Das berühmt-berüchtigte Gemälde der Titelheldin ist hier nur eine mehr oder weniger vollständige Silhouette, wie sie bei Un- oder Kriminalfällen mit Kreide gezeichnet werden. Das Spiel wird als solches deutlich gemacht, wenn sich der Medizinalrat nach seinem Tod erhebt und die Bühne verlässt oder wenn der Kleidertausch zwischen Lulu und dem Pagen nicht stattfindet. Da auch der dritte Akt mitsamt dem heiklen Parisbild gespielt wird, erweist sich die an sich akzeptable Grundidee doch als Spannungskiller und lässt die Vorstellung nicht nur als reichlich lang, sondern auch streckenweise langweilig erscheinen. Daran ändert auch nichts, dass die „Fünfzehnjährige“ als junges Ebenbild Lulus erscheint und den Zuschauer ahnen lässt, dass auch in Zukunft die Männerwelt in Gefahr ist, den Verstand zu verlieren. Abgeändert hat die Regie den Schluss, indem sich Lulu selbst das Messer von Jack the Ripper in den sündigen Leib stößt. Das ist ebenso diskussionswürdig wie die verordnete Zeitlosigkeit für ein Werk, bei dem zumindest das Libretto auf der Grundlage von Wedekinds Lulu-Zyklus ein typisches Zeitprodukt in der Epoche der Frauenemanzipation ist.

Es dürften bereits an die zehn Produktionen sein, in denen Marlis Petersen die schwierige Partie mit hoher vokaler Kompetenz, aber doch auch mit nachlassender optischer Überzeugungskraft bewältigt hat. Nahaufnahmen sind ihr nicht gerade dienlich, aber der Sopran bewältigt auch die unangenehmsten Extremhöhen, die mörderischen Intervallsprünge fast unangestrengt. Dass sie von der Regie im Parisbild zu unablässigem Grimassieren und hektischem Gestikulieren, zum Sichwinden um den Stuhl herum angehalten wird, trägt nicht dazu bei, Optik und Musik miteinander in Einklang zu bringen, und das Laszive der Figur scheint die Regie nicht interessiert zu haben. Zu bebrillter Hässlichkeit verdammt ist Daniela Sindram als Gräfin Geschwitz des puren vokalen Wohllauts, der ihr Aufbegehren am Schluss zu einer der schönsten Szenen des Abends werden lässt. Nicht ganz heran an diese Leistung kommt Matthias Klink als Alwa in seinem Hymnus auf die Schönheit Lulus, dem er es etwas an lyrischem Schmelz, an Ekstase mangeln lässt, bei einer insgesamt doch beachtlichen Leistung, die durch die zeit-, aber auch charakterlosen Kostüme nicht eben gesteigert wird. Dem Machtmenschen Dr. Schön weiß Bo Skovus einen kraftvollen Bariton und eine angemessenen Darstellung zu verleihen. Als The Ripper erscheint er fast unkenntlich mit Perücke, was unerfahrenen Zuschauern beim Verstehen des Werks nicht dienlich ist. Einen höchst angenehmen Tenor setzt Rainer Trost für den Maler ein, gar nicht asthmatisch, sondern stimmpotent verkörpert Pavlo Hunka den Schigolch, stramm in jeder Hinsicht ist Martin Winkler als Athlet und Tierbändiger, für dessen Prolog der Regie leider nichts eingefallen ist. Die vielen anderen Mitwirkenden insbesondere im Parisbild bleiben gesichts- und charakterlos, nicht nur weil auf der schmalen Vorderbühne relativ aktionslos aufgereiht. Ganz anders klingt, was man aus dem Orchestergraben zu hören bekommt: Unter Kirill Petrenko schwelgt das Bayerische Staatsorchester in schillernden Farben bei kammermusikalischer Durchsichtigkeit, und die Sänger dürften sich gut aufgehoben gefühlt haben.  Mehr noch als bei anderen Produktionen werden hier die Zwischenspiele zu den spannendsten Teilen der Aufführung. (BelAir BAC 129Ingrid Wanja

Bellinis „Bianca e Gernando“

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Bei Naxos erschien der SWR-Mitschnitt der Bellini-Oper Bianca e Gernando (das G- in Gernando ist wichtig in der Unterscheidung zur Zweitfassung der Oper als Bianca e Fernando) von 2016 – wieder eine der wirklichen Überraschungen von „Rossini in Wildbad“, dem deutschen Festival, das seit Jahren mit hoher Qualität nicht nur bei Rossini-Aufführungen (und Mitschnitten) für Überraschungen sorgt. Die Ausgrabung von Bellinis Erstling ist uns Anlass genug, die Artikel des Bellini-Forschers Carmelo Neri zum Werk selbst und den von Reto Müller (künstlerische Säule in Wildbad und Vorsitzender der Deutschen Rossini Gesellschaft) zur verwendeten Edition aus dem Programmheft der konzertanten Aufführung 2016 mit kleinen Kürzungen zu. G. H.

 

Relief Bellinis an seinem Geburtshaus in Catania/ Wiki

Dazu die Besprechung des neuen Mitschnitts von Rolf Fath: Es waren häufig andere Opern als die des Namensgebers, mit denen Rossini in Wildbad Aufmerksamkeit fand, darunter Werke von Pacini, Pavesi, Vaccaj, Meyerbeers Semiramide oder Mercadantes I Briganti nach Schillers Räuber. In letzter hatte Maxim Mironov die 1836 in Paris von Giovanni Battista Rubini kreierte Partie des Ermano, sprich Karl, gesungen. Dem 35jährigen Russen, der 2012 einen grandiosen Ermano gesungen hatte, begegnen wir neuerlich in den im Juli 2016 in Bad Wildbad mitgeschnittenen konzertanten Aufführungen von Bianco e Gernando, wo er wieder in die Fußstapfen Rubinis tritt, der in Bellinis zweiter Oper anläßlich des Namenstags des Thronfolgers und späteren Ferdinand II. im Mai 1826 in Neapel erstmals die männliche Hauptpartie gesungen hatte (Naxos 2 CD 8.660417-18). Eigentlich war sie für Giovanni David bestimmt gewesen, doch Franz I. hatte aus Respekt für seinen ein Jahr zuvor verstorbenen Vater die Verschiebung des vom Impresario des Teatro San Carlo in Auftrag gegebenen Werks erzwungen, worauf David nicht mehr zur Verfügung stand. Gleich nach der bemerkenswerten Introduction mit ihrem instrumentalen Vorspiel und der kurzen Rezitativ-Erzählung des alten Vertrauten Clemente, wodurch sich diese World Première Recording der Originalversion von der bekannteren Genueser Fassung von 1828 unterscheidet, stürmt Gernando auf die Bühne bzw. in den Herzogspalast von Agrigent, um seinen von Filippo entmachteten Vater Carlo zu rächen. Mironov singt die Cavatina „A tanto duol“ – in der Urfassung hat er keine zweite Solonummer im zweiten Akt – mit schöner Linie und Empfindung, die Stimme klingt auf der Aufnahme zarter, zerbrechlicher als ich sie von Live-Eindrücken in Erinnerung hatte, auch ein bisschen spröde, farblos und angestrengt, doch im raschen Teil entwickelt Mironov eine mitreißende Emphase, bei der der Hörer aber auch immer ein wenig mitzittert.

Vittorio Prato, der amoralische Corrado aus den Briganti, ist wieder der Bösewicht und gibt den Filippo mit bereits recht ältlich und brösligen Bariton, doch forscher Energie in den Verzierungen und der Höhe. Gernandos Schwester Bianca ist Silvia Della Benetta, eine Sopranistin, mit der man Pferde stehlen kann, eine patente Alleskönnerin mit wenig individueller Stimme, die von Bellinis Norma über Verdi bis zur Butterfly angesetzt wird und 2017 bei Rossini in Wildbad in Aureliano in Palmira und Eduardo e Cristina überzeugte. Für diesen frühen Bellini wünscht man sich freilich eine virtuos angenehmere, weniger scharfe, oder soll man fast schon sagen weniger schrille Stimme, aber auch die 46jährige Italienerin singt mit Hingabe, setzt im ersten Finale dramatische Akzente und gestaltet das Duett mit Gernando in den lyrischen Teilen mit wissender Anmut. Da auch die Nebenrollen, darunter der charakteristische Luca Dall’ Amico als entmachteter Herzog Carlo, Marina Viotti in der Hosenrolle von Filippos loyalem Freund Viscardo und Zong Shi als Clemente recht erfreulich besetzt sind, ist diese von Antonino Fogliani forsch dirigierte Aufführung (mit dem Camerata Bach Choir aus Posen und den Virtuosi Brunensis) eine mehr als gute Ergänzung zu den wenigen Aufnahmen der zwei Jahre späteren Fassung, für die Felice Romani Domenico Gilardonis Text revidiert hatte.   Rolf Fath

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Zu Bellini: König Ferdinando IV mit Familie/ Gemälde von Angelica Kaufmann/ Wiki

Nun also der Text von Carmelo Neri: Vincenzo Bellinis Debüt als Opernkomponist mit Bianca e Gernando, das zunächst am Teatro San Carlo von Neapel mit einer herausragenden Besetzung in den Hauptrollen (David, Tosi und Lablache) für den „Gala-Abend“ vom 12. Januar 1826 angesetzt worden war, wurde wenige Tage vor der geplanten Aufführung abgesagt. Dafür gab es eine offizielle Begründung. (…) Es  ist wahrscheinlich, dass man einen schwachen Vorwand benutzt hat, um eine Maßnahme zu rechtfertigen, die aus ganz anderen Gründen notwendig geworden war. Die Sopranistin Adelaide Tosi, die für die Rolle Biancas vorgesehen war, musste nämlich die Stadt verlassen, weil sie womöglich ein anderes Engagement angenommen hatte. (…) Ohne den wertvollen Beitrag der „guten“ Tosi, und weil Bellini es nicht gutheißen konnte, dass sie durch die Mezzosopranistin Adelaide Comelli ersetzt würde, also durch eine wenig verdienstvolle und für die Rolle ungeeignete Interpretin, die gerade am Ort war, liegt die Vermutung nahe, dass die Theaterleitung darum bemüht war, beim König Franz I. eine Verschiebung der Aufführung zu erwirken.

Die Oper schien unter keinem guten Stern geboren, und der Maestro hatte sich bereits mit Domenico Gilardoni begnügen müssen, einem dichterischen Mitstreiter, der eine gehobene und schwülstige Sprache pflegte, und sich nun erstmalig als Operndichter versuchte (…). Gleiches galt für den Komponisten, von dem man kein Meisterwerk erwarten konnte. Überdies kam hinzu, dass Bellini, in seiner Absicht, ein innovatives Vorhaben umzusetzen, das ihm „seit der Zeit, als er das Konservatorium verließ“ vorgeschwebt hatte , aufgrund seiner Experimentierfreude Gefahr lief, das neapolitanische Publikum vor den Kopf zu stoßen, das mit der energischen Klangfülle der Opern Rossinis und dessen Nachahmer vertraut war, die er als „schändliche Plagiatoren“ zu bezeichnen pflegte .

Zu Bellini: Sie sang die erste Bianca: Henriette Méric-Lalande/ Wiki

Vorsichtshalber zog er es vor, nicht zu weit zu gehen, und vermied es, in Bianca e Gernando übertriebene Neuerungen einfließen zu lassen, sodass seine Reformabsicht erst im darauffolgenden Jahr in aller Deutlichkeit hervortrat, als er mit Felice Romani zusammenarbeitete und mit der Oper Il pirata an der Mailänder Scala einen denkwürdigen Triumph davontrug. Bei seinem Aufenthalt in Mailand bekräftigte er während einer Konversation mit einem Korrespondenten der Leipziger «Allgemeinen musikalischen Zeitung» seinen Wunsch nach „einer Umwälzung […], die er in der modernen Oper mit der größten Zuversicht hervorzubringen gedachte“. Und er fügte hinzu: „Er als Anfänger wage es bis jetzt keineswegs, die Cabaletten und all das übrige Zeug aus der Oper auf einmal zu verbannen, und müsse also noch einem Theile des Publicums huldigen, ohne dabey den andern Theil, die Kenner, deren Beyfall ihm sehr theuer sei, zu vernachlässigen, über den Beyfall der Cabaletten aber heimlich lachte“ . Diese „Cabaletten“, die Dichter und Musiker in ihre Bühnenkompositionen einsetzen mussten, um den Sängern Gelegenheit zu geben, ihre Bravour selbst entgegen der dramatischen Konventionen zur Schau zu tragen, kommen in Bianca e Gernando noch vor. Die Oper beinhaltet nur einige wenige der neuen Auffassungen, die der Komponist allmählich zur Entfaltung brachte.

Der Aufschub der Aufführung bereitete Bellini, wie sein Biograph Francesco Pastura bemerkt, die „nicht unbedeutende Mühe, gleich mehrere Stellen der Oper an die Stimmen der beiden neuen Interpreten anpassen zu müssen, wie sich anhand einer Handschrift der ersten Bianca-Fassung feststellen lässt, die im Bellini-Museum in Catania verwahrt wird“ . Dennoch war er bei vollendeter Arbeit zufrieden. Schließlich rückte der von ihm so sehr herbeigesehnte und gefürchtete Tag heran, nämlich der 30. Mai 1826, und wieder stand ein Festabend an, „da sich der glückliche Namenstag S. K. H. des Fürsten Ferdinands, des Herzogs von Kalabrien“ jährte. Wie dies bei solchen Anlässen üblich war, rüstete sich die Stadt für ein großes Fest. (…) Im Theater, das in einer „fünffachen Beleuchtung“ erstrahlte, gab es ein hohes Publikumsaufkommen und es stellten sich Zuschauer „hoher Vornehmheit“ ein. (…) Wer der Premiere der neuen Oper des jungen Künstlers aus Catania mit den hoch angesehenen Sängern Rubini, Lalande und Lablache beiwohnte, wurde einiger Merkmale gewahr, die diesen von anderen damals beliebten Komponisten abhob. Die schönsten Stellen erzielten die erhoffte Wirkung, und es ließ sich unschwer voraussagen, dass der vielversprechende Musiker in seiner schwierigen Kunst Bekanntheit erlangen würde.

Zu Bellini: der getreue Freund Florimo in Diskussion mit Verdi/ zeitgenössische Karikatur/ Wiki

Die warmherzige Aufnahme setzte sich auch bei den weiteren Aufführungen fort, und alle waren überzeugt davon, dass diese Oper vor allem aufgrund „einer Betonung der Leidenschaft, mit der die Seele des Zuhörers sympathisierte“ bewundernswert erschien. (…)  In der Überzeugung, dass gewisse Mängel in Bianca e Gernando der geringen Erfahrung beider Autoren geschuldet seien, ging der anonyme Verfasser des Artikels im «Giornale delle due Sicilie» am 13. Juni  allein mit dem Librettisten ziemlich hart ins Gericht, dem er eine Nachahmung der Tragödien Alfieris vorwarf, und eine Reihe von Ungereimtheiten, „die gegen jeden gesunden Verstand verstoßen“, sowie „Nachlässigkeiten in der Beherrschung der Verskunst, … die bei Texten, die gesungen werden unerträglich sind“; für den blonden Tonkünstler, dem er zunächst eine „größere formale Ökonomie der Mittel, sowie eine stärkere Bemühung um die Erreichung jenes Hell-Dunkel-Kontrasts, der die Magie des Theaters ausmacht“ anempfahl, fand er schmeichelnde Worte (…).  Wie sich leicht denken lässt, machte der beträchtliche Erfolg Bellini, Gilardoni und ihre Freunde euphorisch und erfüllte den gerissenen Domenico Barbaja mit größter Zufriedenheit. Indem er sein Vertrauen zwei vielversprechenden Künstlern geschenkt hatte, war es dem Theaterimpresario gelungen, bei sehr geringen Ausgaben viel zu verdienen.

Eine interessante CD bei Naxos vereint Auftragsmusik des Intendanten Barbaja (8.578237)

Bellinis erste Auftragsoper blieb also nicht unbeachtet, wie die folgenden Zeilen aus einer alten Lebensbeschreibung (von Giuseppe Bozzo 1851) verdeutlichen: Dort, wo es heißt: „der unsterbliche Pesareser […] hatte sich damals bisweilen noch mit derartigen Gesängen hervorgetan“, wird eine unleugbare Wahrheit verfochten, denn in seinen Werken gibt es Motive, welche an die auserlesenen Melodien des großen catanesischen Opernkomponisten erinnern, auf welchen jene „Gesänge“ großen Einfluss gehabt haben dürften; anders ausgedrückt, Rossini, der in mehreren Opern rührend und sentimental war – man denke nur an Tancredi oder Semiramide –, hat einen bis dahin noch unbeschrittenen Weg aufgezeigt, den Bellini dank seiner äußerst glücklichen Intuition als erster eingeschlagen hat,  und zwar mit den allseits bekannten Ergebnissen. Carmelo Neri/ Übersetzung aus dem Italienischen von Antonio Staude

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Zur Textlage ein Bericht von Reto Müller: Wer hätte das gedacht?! Obwohl Bellini neben Rossini und Donizetti der bedeu­tendste italienische Komponist der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist und sein Werkkatalog nur elf Opern aufweist, ist sein offizielles Operndebüt bislang durch eine moderne Wiederentdeckung unbe­rücksichtigt geblieben. Das hat damit zu tun, dass man Bianca e Gernando (Neapel 1826) gemeinhin mit dessen überarbeite­ter Fassung Bianca e Fernando (Genua 1828) gleichsetzt. Das geht soweit, dass einige Opernkataloge den zweiten Titel nennen und diesen mit dem Entstehungsjahr des ersteren versehen.

Zu Bellini: Michael Spyres sang die Arie des Gernando bei der Berliner Aids-Gala 2016/ rbb

Die Geschichte der Bad Wildbader Erst­aufführung in moderner Zeit begann mit einer Ankündigung der Opera St. Moritz / Opera Basel. Dieses kleine Festival setzte im letzten Jahr ziemlich mutig Bellinis Bianca e Fernando für den Sommer 2016 auf das Programm, obwohl die Verfüg­barkeit eines Aufführungsmaterials nicht gesichert war. Denn die RAI, die italie­nische Rundfunk- und Fernsehanstalt, die die Oper ausgegraben und 1976 in Turin aufgenommen hat, verfügt nicht mehr über dieses Material. Angeblich sollte es noch in Catania existieren, wo das Werk zum letzten Mal 1991 aufgeführt wurde (dokumentiert auf einer CD von Nuova Era). Aber in der Sommerpause war dar­über nichts zu erfahren. So hatte ich die Idee, dass St. Moritz / Basel die Oper ggf. in Zusammenarbeit mit ROSSINI IN WILD­BAD produzieren könnte – das Festival im Schwarzwald hat schon mehrfach und mit Erfolg bewiesen, innerhalb eines Jahres eine Aufführungsedition erstellen zu können. Natürlich sollte es dann eine Erstaufführung sein – also nicht die längst eingespielte Version Bianca e Fernando, sondern die Urfassung Bianca e Gernando von 1826.

St. Moritz / Basel wurde schließlich in Catania fündig und führt Bianca e Fernando (im folgenden BeF) wie geplant im Juni und September 2016 auf. Bei ROSSINI IN WILDBAD passte aber Bianca
e Gernando (BeG)
perfekt ins Konzept, nicht zuletzt dank der Präsenz von Maxim Mironov, der für die 1826 von Giovan Battista Rubini gesungene Partie des Gernando eine ideale Besetzung darstellt (wie er bereits 2012 mit der Rubini-Partie des Ermano in Mercadantes I briganti bewiesen hat).

Omaggio a Bellini/ OBA

Nun stellte sich die bange Frage, ob sich die Version von 1826 überhaupt zuver­lässig rekonstruieren ließ. Wie üblich bei italienischen Opern jener Zeit war BeG nicht als Partitur (also mit der vollständi­gen Orchestrierung) im Druck erschienen – es liegen nur handschriftliche Partituren vor. Noch im Jahr der Uraufführung gab Bellinis Freund und späterer Biograf Francesco Florimo einen Klavierauszug heraus – allerdings nur mit den wichtigs­ten Nummern. Die Rezitative fehlten, und einige große Ensembles wurden für Kla­vier zu vier Händen, ohne Singstimmen, zusammengefasst. Ein Klavierauszug von BeF erschien erst 1903 bei Ricordi. Ein Vergleich zwischen dem gedruckten Libretto von 1826 und diesen beiden Klavierauszügen ließ zunächst abschätzen, welche Stücke im Klavierauszug noch neu gesetzt werden mussten, damit sie von den Sängern einstudiert werden können. Für die vollständige Partitur wäre vielleicht das Autograf, also Bellinis eigene hand­schriftliche Komposition, nützlich gewe­sen. Aber diese online verfügbare Partitur ist unvollständig und stellt möglicherweise nur eine Entwurfsphase dar. Ebenfalls online gibt es zwei Kopistenabschriften, die sich in den Bibliotheken der Konser­vatorien von Neapel und Florenz befinden. Einige Beiträge von Friedrich Lippmann gaben mir einen Überblick über die Abweichungen zwischen BeG und BeF und ließen erkennen, dass die zwei Abschriften eine Mischform der beiden Fassungen darstellen. Lippmann erwähnte auch eine Kopistenabschrift, die im Bellini-Museum in Catania aufbewahrt wird. Aber erst ein Beitrag von Domenico De Meo im Programmheft der Aufführung von 1991 erhellte, dass es sich dabei um die wohl einzige vollständige Abschrift handelte, die die Urfassung von 1826 zuverlässig widerspiegelt. Leider war sie online nicht verfügbar…

Zu Bellini: Teatro San Carlo, Neaple Innenansicht Sammlung Ragni, Neapel/ Dank an Reto Müller

Eine Anfrage beim Dokumentationszen­trum für Bellini-Studien ergab, dass auch dort keine digitale Kopie davon vorhan­den war. Fabrizio Della Seta, der Direktor der kritischen Bellini-Gesamtausgabe, bestätigte mir die schwierige Quellenlage der beiden Opern, für deren kritische Ausgabe noch kein Herausgeber bestimmt wurde. Umso spannender wurde von ihm der „Testlauf“ in Wildbad eingeschätzt.

Eine Anfrage beim Museo Belliniano ergab, dass vor Ort kein Fotograf verfüg­bar wäre, der die rund 400seitige Partitur ablichten könnte. Was tun? – Ohne diese Abschrift ließ sich die Oper nicht zuverläs­sig aufführen. EasyJet macht’s möglich! Nach Rücksprache mit Festivalintendant Jochen Schönleber beschloss ich, mich per Direktflug von Basel nach Catania zu be­geben, ausgerüstet mit meiner Kompakt-Digitalkamera, die schon in anderen Fällen gute Dienste geleistet hat. Mit dem Direk­tor des Museums hatte ich zuvor telefo­nisch vereinbart, dass ich die Abschrift auch ohne seine Anwesenheit an einem Sonntag abfotografieren durfte. Carmelo Neri, Herausgeber eines Bellini-Briefwech­sels, half mir dabei, indem er die Seiten fixierte, damit sie nicht aufblätterten. Nach einer gut zweistündigen Arbeit
war die Partitur „im Kasten“.

Bellinis „Bianca e Gernando“ an der Oper von St. Moritz/ Szene/ Foto Opera St. Moritz AG

Florian Bauer, unser erfahrener Noten­setzer, hatte nun eine zuverlässige Quelle, aufgrund derer er die vollständige Oper mit dem Notenprogramm „Finale“ erfassen konnte, um dann eine saubere Partitur und die einzelnen Orchester­stimmen Orchester­stimmen auszudrucken. Ich erstellte der­weil ein partiturgetreues Libretto, das von Antonio Staude im Hinblick auf die Über­titel wörtlich übersetzt wurde (und nun auch als zweisprachige Ausgabe des Fes­tivals vorliegt). Vor allem aber galt es fest­zustellen, welche Teile der beiden alten Klavierauszüge Verwendung finden konnten und für welche Teile es uner­lässlich war, die zeitaufwändige Arbeit der Anfertigung einer Reduktion der Partitur für Klavier und Stimme anzufertigen. Einige Teile konnten durch kleine Kor­rekturen in den Noten oder durch die Unterlegung des ursprünglichen Textes angepasst werden.

Gegenüber der späteren Fassung weist Bianca e Gernando im Wesentlichen folgende Unterschiede auf: Die Oper hat keine Ouvertüre, sondern eine Introduktion (Nr. 1) mit einem instrumentalen Vorspiel und einem Rezitativ von Clemente. Das Rezitativ von Gernando „Quest’è mia reggia“ hat einen anderen, einfacheren Verlauf. Die Kavatine Gernando (Nr. 2) weist eine andere Cabaletta auf („Il brando immer­gere“). Auch die Cabaletta der Kavatine Filippo (Nr. 3) ist anders („Cessa crudel pensier“). Der letzte Teil des Terzetts (Nr. 4) ist musikalisch unverändert, weist aber einen anderen Text auf („Tu speri superbo“).Im Finale I (Nr. 5) ist die Kavatine Biancas abweichend. Im zweiten Akt gibt es keine zweite Solonummer für Gernando. Das Schlussterzett (Nr. 10) beginnt mit einer instrumentalen Einleitung. Die Oper endet nicht mit einer „Scena“ für Bianca, sondern mit dem Terzett  plus Chor.

Bellinis Erstling „Bianca e Gernando“ aus Bad Wildbad bei Naxos

Wie man sieht, bietet die Oper in der Urfassung nicht nur unbekannte Musik, sondern auch formal einige signifikante Unterschiede, die Bianca e Gernando einen eigenständigen Charakter verleihen. Im Wesentlichen ist diese Fassung insbesondere im 2. Akt stärker auf die Wiedervereinigung und Rückgewinnung der Macht der legitimen Herrscherfamilie fokussiert, wie die Abfolge der Nummern 7 bis 10 nach der Arie Filippos zeigt: Romanze Bianca – Duett der Geschwister – Kavatine Carlo – Terzett des Vaters und der beiden Kinder.

Neben der Edition von Bianca e Gernando arbeitete ich auch an der Ausgabe des Rossini-Briefwechsels für die Jahre 1831-1835 (Fondazione Rossini, hrsg. von Sergio Ragni). Erst dadurch wurde mir wirklich bewusst, welche große Wert­schätzung die beiden Musiker verband, als Bellini als Protegé Rossinis in Paris seine letzte Oper, I puritani, herausbrachte. Es hat daher einen geradezu symbolischen Wert, wenn „Rossini in Wildbad“ den Komponisten aus Catania mit der moder­nen Erstaufführung seiner einzigen noch unbekannten Oper ehrt! Reto Müller

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Reto Müller/ DRG

(Für unsere Wiedergabe haben wir auf die Anmerkungen/Fußnoten im Artikel von Carmelo Neri verzichtet, der Autor möge uns verzeihen – Dank an Carmelo Neri, Antonio Stade und Reto Müller für die Erlaubnis des „Nachdrucks“ der bei uns leicht gekürzten Texte aus dem Programmheft Rossini in Wildbad 2016) 

Zu Reto Müller: Der Schweizer Rossini-Kenner Reto Müller war hauptberuflich Fahrdienstleiter bei der Schweizerischen Bundesbahn, bevor er das Unternehmen nach dortigen Umstrukturierungen verließ und sich selbständig machte. Seit 1979 setzt er sich als Opernbesucher, Sammler und Forscher intensiv mit Leben und Werk von Gioachino Rossini auseinander und ist mittlerweile in zahlreichen Gremien aktiv. Durch seine beratende und organisatorische Tätigkeiten bei Rossini in Wildbad hat er das Festival mitgeprägt und den Anstoß zu mancher Wiederaufführung selten zu hörender Rossini-Werke gegeben. Neben zahlreichen Beiträgen und Rezensionen für Fachpublikationen, Opernzeitschriften und Programmhefte hält er in Bad Wildbad Einführungsvorträge und Seminare. Er ist geschäftsführender Vorsitzender der Deutschen Rossini Gesellschaft und freier Mitarbeiter der Fondazione Rossini in Pesaro und mittlerweile ein vielgefragter Experte für alle Fragen rund um Rossini. Aus seiner Passion hat er nun einen Beruf gemacht und bietet Diensleistungen wie Obertitel oder Recherchen unter dem Motto Go Rossini an. E-Mail: drg@rossinigesellschaft.de

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(Die bisherigen Beträge in unserer Serie „Die vergessene Oper“ finden Sie hier)

Lotfi Mansouri

 

Der bedeutende Regisseur und Entrepreneur Lotfi Mansouri starb am 30. August 2013 in San Francisco. Lotfallah „Lotfi“ Mansouri (* 15. Juni 1929 in Teheran), war ein US-amerikanischer Operndirektor und -regisseur iranischer Herkunft.

Auf Wunsch seines Vaters ging Mansouri an die University of California, Los Angeles (UCLA), um Medizin zu studieren, wurde aber auf Grund seiner Begabung als Sänger bald von Irving Beckman, dem Leiter des Opern-Workshops der Universität entdeckt. Er trat als Statist in einer Inszenierung der Oper Otello der San Francisco Opera auf und erhielt auf Grund seiner äußerlichen Ähnlichkeit mit dem Sänger 1956 die Titelrolle in dem Film The Day I met Caruso.

Joan Sutherland und Lotfi Mansouri hinter der Bühne von „The merry Widow“ 1980 in San Francisco/ Parlando-The-COC

Kurze Zeit später erhielt er eine Einladung des Los Angeles City College, die Aufführung von Mozarts Così fan tutte zu leiten und wurde auf Grund dessen Assistent Professor an der UCLA. Er erhielt ein Stipendium für eine Ausbildung bei Lotte Lehmann an der Music Academy of the West in Santa Barbara und wurde dort 1959 Assistent von Herbert Graf.

Als Graf 1960 als künstlerischer Direktor an die Zürcher Oper verpflichtet wurde, lud er Mansouri, der in diesem Jahr die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, ein, ihn als Regisseur zu begleiten. Im ersten Jahr in Zürich leitete er vier große Produktionen: die europäische Erstaufführung der Oper Amahl and the Night Visitors von Gian Carlo Menotti sowie die Verdi-Oper La traviata, Don Pasquale von Donizetti und Samson et Dalila von Saint-Saëns. Von 1965 bis 1976 war Mansouri Regisseur an der Oper von Genf.

Während seines Aufenthaltes in der Schweiz leitete er als Gast auch Aufführungen in Italien (u.a. an der Scala) und den USA (u.a. an der Metropolitan Opera und der Santa Fé Opera). 1971 erhielt er den Auftrag des iranischen Kultusministers, das Opernhaus von Teheran aufzubauen, dessen Bühnenproduktionen er bis 1975 leitete.

1976 wurde Mansouri Generaldirektor der Canadian Opera Company in Toronto, die er zwölf Jahre lang leitete. In der Zeit entstanden mehr als dreißig neue Opernproduktionen, darunter zwölf kanadische Erstaufführungen. Zu nennen sind Bergs Lulu und Wozzeck, Brittens Death in Venice, Wagners Meistersinger von Nürnberg und Thomas‘ Hamlet. 1983 führte er die Einblendung der englischen Übersetzung fremdsprachiger Operntexte während der Aufführung ein, ein Verfahren, das bald weite Verbreitung in Nordamerika fand.

Von 1988 bis 2001 war Mansouri Generaldirektor der San Francisco Opera. Hier entstanden u.a. Aufführungen von John Adams‘ The Death of Klinghoffer (1992), Conrad Susas Dangerous Liaisons (1994), Stewart Wallaces Harvey Milk (1996), André Previns A Streetcar Named Desire (1998) und Jake Heggies Dead Man Walking (2000). In Zusammenarbeit mit der Kirow-Oper wurden Prokofjews Krieg und Frieden, Mussorgskis Boris Godunow, Glinkas Ruslan und Ljudmila, Tschaikowskis Eugen Onegin u.a. aufgeführt. 2005 ehrte ihn die San Francisco Opera mit einem Galakonzert und er erhielt die San Francisco Opera Medal. (Quelle Wikipedia, mit Dank! Foto oben: Lofti Mansouri/ Free Social Encyclopedia for the World/ alchetron)

Audrey & John and Fritz

 

„Es war einmal…“, so beginnen Märchen. Und ein Märchen geschah in den sanften, wogenden Hügeln der englischen Sussex Downs, als der reiche Entrepreneur und Großgrundbesitzer John Christie für seine junge Frau ein Theater mitten im Grünen baute. Er war theaterbesessen und hatte bereits 1930 auf dem geerbten Grund des Herrenhauses von Glyndebourne nahe Lewes Opernaufführungen installiert: The Abduction from the Serail und die mitwirkende  Blonde alias Audrey Mildmay kennen und  lieben gelernt. Im Jahr darauf heirateten sie, und bereits 1931 wurde mit dem Bau eines kleinen Theaters begonnen, dessen Dimensionen und Repertoireauswahl den 02begrenzten stimmlichen Mitteln seiner jungen hübschen Frau angepasst wurden.

Im Folgenden also eine Märchengeschichte mit Folgen bis heute und anschließend ein umfangreicher Artikel von Jürgen Schaarwächter aus dem Booklet der Warner-Edition „Mozart – Fritz Busch in Glyndebourne“ mit freundlicher Genehmigung aller Beteiligter (s. nachstehend).

 

Szenenausschnitt aus der Glyndebourner Idomeneo-Produktion 1951/ vom Cover der LP-Ausgabe bei World Record Club 1979/ EMI/ Foto von Angus McBean, dem jahrzehntelangen „Hausfotografen“ Glyndebournes.

So bizarr es klingen mag – der 2. Weltkrieg kam John  Christie zu Hilfe bei dem Engagement herausragender Künstler, sowohl Sänger wie Dirigent und künstlerisches Personal. Nazi-Deutschland hatte da schon zahllose Theaterschaffende vertrieben, so den berühmten Dresdner Dirigenten Fritz Busch (1890 – 1952) sogar nach Buenos Aires, wo er Chef des Colón wurde, nachdem Kollegen wie Karl Böhm und andere mit den Nazis gemeinsame Sache machten und ihn denunzierten. Busch wurde die treibende künstlerische Kraft in Glyndebourne bis zu seinem Tod 1952 und blieb dem Hause bis dahin treu. Andere, wie Jani Strasser oder der Regisseur Carl Ebert (1887–1980), waren ebenfalls Emigrées und fanden in Glyndebourne bei Audrey & John ein willkommenes Zuhause, eine künstlerische Heimstatt auf hohem Niveau.

Warner hat nun in einer bemerkenswerten 9-CD-Box Fritz Buschs Mozart-Dokumente aus Glyndebourne versammelt. Man kennt die drei Gesamtaufnahmen, aber die angehängten zwei Querschnitte sind zumindest für Deutschland neu (Cosi fan tutte kam zuletzt bei Testament genial überspielt heraus). Die auf diesen fünf Aufnahmen versammelten Künstlernamen weisen so bedeutende Sänger wie Louise Helletsgruber, Irene Eisinger, Koloman von Pataky auf – auch sie auf der Flucht aus Wien und den anderen Opernzentren Europas. Audrey Mildmay fütterte sie durch und schenkte pausenlos Tee bei den Proben aus (wie berichtet wurde), sorgte sich um die Ihren und war eine bezaubernde Gastgeberin. Aus der freien Welt kamen die charismatische Ina Souez aus Amerika sowie Aulikki Rautawaara aus Finnland, beide wunderbare Sopranistinnen. Bizarr ist die Verpflichtung von Willi Domgraf-Fassbaender (1897 – 1978; laut Wikipedia NSDAP-Mitglied und strammer Nazi – ein verwirrendes Engagement in dem bis in die Achtziger hinein deutsch-aversen Glyndebourne-Betrieb; über 80 Jahre Glyndebourne berichteten wir in operalounge.de 2016).

„Busch at Glyndebourne“ bei Warner – Audrey Mildmay und John Christie, Glyndebourne Archive

Christie (1899 – 1953) liebte seine Frau und Mozart, schon wegen der stimmlichen Möglichkeiten für sie. Busch liebte ebenfalls Mozart und hatte neben Verdi reichlich Mozart in Dresden vor dem Krieg dirigiert. Carl Ebert (als Ersatz für den dankenden Max Reinhardt) war mit dabei, als die erste Premiere im neuen Haus über die Bühne ging: Le Nozze di Figaro, bemerkenswerter Weise für die Zeit in Italienisch (sort of, wenn man den Anglo-Anteil hört), aber 1934/5 ohne Rezitative eingespielt – eine Praxis, die sich ja bis zu Karajans Figaro 1949 gehalten hat. Man traute den Hörern die „langen“ Buffa-Rezitative dieses damals wenig bekannten Werkes zumal auf den teuren Schellacks nicht zu. Parallel dazu wurde 1935 Cosi fan tutte gespielt und aufgenommen, 1936 folgte Don Giovanni.  Auch diese beiden Opern waren kein Standardrepertoire und zeigen die innovative Kraft der Glyndebourne-Macher, die diese drei Opern in ganz kurzer Zeit in Sussex auf die Bühne brachten. Und es erscheint uns heute als ein Wunder, dass Glyndebourne auch noch eine Firma (Parlophone, später Columbia/ EMI) fand, die diese drei Gesamtaufnahmen auf unzähligen Schellacks zu produzieren wagte, die ersten ihrer Spezies (die in der Folge bei ebenso vielen Firmen bis heute herauskamen, zuletzt bei Naxos). Mozart wurde damals nicht viel gespielt und wenn dann verschnitten und natürlich in Englisch. Noch nach dem Krieg gab es den Tristan in Italienisch in Covent Garden (wo Thomas Beecham Mozart vorantrieb und Maggie Teyte mit dünner Stimme darin mitwirkte). Bemerkenswert also, dass Glyndebourne in so kurzer Zeit zum Zentrum des italienischen Mozart in England und später in Europa wurde.

Buschs musikalische Wirkung ist für die Zeit unglaublich modern, agogisch, mit Drive und Schwung. Hört man diese Vorkriegsopern heute, mag man nicht an ihr historisches Entstehungsdatum glauben. Er holte die besten Musiker aus London und aus den Flüchtlingslagern, trimmte den heute berühmten Chor (Jani Strasser) zu Höchstleistungen und achtete auf ein überzeugendes Interplay der singenden Akteure. Die Dokumente profitieren von Eberts Regie, den man auf dem bezaubernden Film „On such a night“ bei den Proben beobachten kann. Regie- und Musiktheater vom Feinsten also.

„Busch at Glyndebourne“ bei Warner – bemerkenswerte Ina Souz auf ihrer einzigen LP/ OBA

Die Besetzungen sind noch heute beispielhaft. Ina Souez (1903 – 1992; Fiordiligi und Donna Anna) kam aus Amerika. Sie hat eine bemerkenswerte Stimme, voller Feuer und Sinn für´s Drama. Es gibt eine LP mit Arien von ihr, wo sie auf dem Cover vor ihrem recht freizügigen Porträt als Norma posiert – eine bemerkenswerte Frau in der Tat, die für ihre Auftritte in Glyndebourne aus Covent Garden (Micaela) los geeist werden musste. Louise Helletsgruber kam aus Wien (1901 – 1967/ Donna Elvira/ Dorabella) und vereint die besten Eigenschaften der Wiener Mozartschule mit cremigem Gesang und schönem Affekt. Willi Domgraf-Fassbaender ist sein bekanntes Selbst. Audrey Mildmay (1900 – 1950) bleibt eine idiomatische (!) wenngleich dünnstimmige Susanna (pace Mrs. Christie, aber Ihre scones waren vielleicht besser). Aulikki Rautawaara (1906 – 1990/ Contessa) zeigt ebenfalls einen gutgeschulten, pastosen Mozart-Sopran. Der vor allem in GB gefeierte Tenor Heddle Nash (1894 – 1961) ist sich für den Don Basilio nicht zu schade und gibt einen gepflegten Ferrando, an dessen Seite Domgraf-Fassbaender großformatig-präsente Figur macht. Der kanadische John Brownlee (1900 – 1964) singt den Conte/ Alfonso und blieb in London und New York ein gefeierter Star. Und schließlich ist Irene Eisinger (1903 – 1994) eine zuverlässige Despina im Vorkriegssoubretten-Modus.  Für mich sind es die Damen, die hier in allen drei Opern das Rennen machen.

 

Busch at Glyndebourne Warner – „Le Nozze di Figaro“ 1934/ Szene/Glyndebourne Archive

Nach diesen drei  Mozart-Gesamaufnahmen war kein Geld mehr da für weitere. Das Projekt Idomeneo blieb liegen. Und es kam der Krieg, der mit seinen deutschen Bomben auch England erschütterte. Glyndebournes Spielbetrieb ruhte, das Theater und das Herrenhaus wurden zum Krankenhaus und Erholungsheim für verwundete Soldaten. Erst 1950 kam das Festival wieder auf die Beine. Christies, Busch und Ebert waren zur Stelle. Und es gab dann wieder Mozart pur, mit jungen, vielversprechenden Sängern aus Großbritanien, Wien, Europa. Glyndebourne nahm wieder Fahrt auf, als Festival mit Konzerten bei den Londoner Proms und gastweise beim Edinburgh Festival, mit neuen Produktionen.  Cosi fan tutte und Idomeneo sind als Querschnitte von 1950/ 51 aus diesen Nachkriegsjahren erhalten. Und mit was für glorioser Besetzung. Die ganz junge Sena Jurinac, Erich Kunz, Blanche Thebohm, der britische Alround-Tenor Richard Lewis (Geschmackssache, aber sehr beliebt), Mario Borelli, der junge aufstrebende Alexander Young (der sich zu einem Tenorstar entwickelte) und manche mehr. Birgit Nilsson wurde ausgebootet – sie wollte zu viel Geld. Der spätere Met-Intendant Rudolf Bing war Opern-Manager. Wieder dirigiert Fritz Busch, und auch das bekannt prachtvoll.

Da ist sie – die wunderbare Sena Jurinac als Contessa 1955 in Glyndebourne/Szene aus dem Film „On such a night“/ Glyndebourne Shop

Zudem erlebt einer dieser beiden Querschnitte, Idomeneo,  seine CD-Premiere. Es gab beide nach der Columbia-Erstausgabe in den späten Siebzigern nur als LPs in der begehrten EMI-Billigserie World Record Club mit Szenenfotos vorne drauf – wunderbar. Così fan tutte fand den Weg zu Testament. Idomeneo erscheint nun zum ersten Mal als CD. Beide sind eine mehr als willkommene Bonusgabe der Warner Classics, die mit dieser fabelhaft restaurierten Mozart-Edition Fritz Busch und Glyndebourne ein Denkmal setzen. Dank aber vor allem an Audrey & John Christie für ihr gelebtes Märchen, dem wir diese inspirierten  und inspirierenden Aufnahmen verdanken. Geerd Heinsen

 

Mozart – Fritz Busch at Glyndebourne; Warner Classics 8 CD, dreisprachige Beilage verschiedener Autoren; 0190295801748.. Und als PS.: Erinnert werden soll auch an die beiden Live-Mitschnitte der Londoner Glyndebourne-Konzerte 1950/51, Cosi fan tutte und Idomeneo, beide  also komplett von Busch dirigiert und weitgehend mit der LP-Besetzung der Querschnitte, also wieder Sena Jurinac, Richard Lewis und andere, aber diesmal – ohne Rücksichten auf bestehende Platten-Verträge – mit Leópold Simoneau, Birgit Nilsson (jaja), Alfred Poell und anderen mehr. Diese beiden also bei Immortal Recordings mit Hilfe des BrüderBuschArchivs in wirklich sehr passablem Klang und englisch-sprachiger Ausstattung. Unbedingt als Zusatz empfehlenswert und in operalounge.de oft besprochen, auch der Film von 1955, „On such a night“, über den operalounge.de mehrfach berichtete. G. H.

 

 

Glyndebourne: Pausenfreuden auf grünen Wienen/Glyndebourne Archive

Und nun der Artikel von Jürgen Schaarwächter vom BrüderBusch Archiv im Max-Reger-Institut, Karlsruhe: Das „englische Salzburg“: Fritz Busch und Mozart in Glyndebourne (aus dem Beilageheft zur neuen Warner-Edition). Eine Begegnung mit weitreichenden Folgen: 1930 produzierte John Christie auf seinem Anwesen Glyndebourne Die Entführung aus dem Serail, und schon im folgenden Jahr heiratete er die Blonde der Inszenierung, die kanadische Sopranistin Audrey Mildmay. Schon im Januar 1932 wurde mit dem Bau eines Opernhauses begonnen, dessen musikalische Ausrichtung einerseits auf die Interessen und Fähig­keiten der Hausherrin ausgerichtet, ansonsten aber als durchaus ambitioniert zu bezeichnen war. Nicht zuletzt weil der deutsche Dirigent Fritz Busch im Rah­men der nationalsozialistischen „Gleichschaltung“ seinen Posten als Generalmusikdirektor der Dresd­ner Staatsoper verloren hatte, konnte das folgende Schreiben der Agentin Frances Dakyns von November 1933 auf fruchtbaren Boden fallen: „Dear Fritz, There is a Mr. John Christie, who has built an Opera House (stage ungefähr wie Residenz Theatre in München) in the country at his house (in Sussex) GLYNDEBOURNE near Lewes. He has viel Geld und eine hübsche Frau – eine Sängerin – Zerlina. He is a good business man and thinks he can make good opera pay in England.“  Büschs Interesse war geweckt, in den folgenden Wo­chen konkretisierten sich seine Vorstellungen stetig. Doch erst als klar wurde, dass sich seine Verpflichtun­gen in Buenos Aires wegen finanzieller Schwierigkei­ten der dortigen Oper drastisch verkürzen würden, konnte er fest zusagen. Nun war es allerhöchste Zeit, Musiker für das Festival zu engagieren, der designier­te Generalmanager Rudolf Bing (Glyndebourne bis zu seinem Wechsel an die Metropolitan Opera 1949 verbunden) konnte nahezu täglich Rapport geben. Dem musikalischen Team gehörten neben Busch Jani Strasser, Hans Oppenheim und Alberto Erede an.

 

Glyndebourne: Das künstlerische Vor- und Nachkriegs-Garantie-Duo – Carl Ebert und Fritz Busch/GOF

Anfang Februar wurde klar, dass man Max Reinhardt nicht als Regisseur für die Eröffnungssaison gewinnen könnte; statt seiner wurde auf Buschs Anraten Rein­hardts Schüler Carl Ebert verpflichtet. Ebert, der der als Nazigegner 1933 Deutschland verlassen hatte, hat­te sich seit einem gemeinsamen Berliner Maskenball 1932 und einer Salzburger Entführung im selben Jahr als enger „Bruder im Geiste“  Buschs erwiesen – so­wohl in Bezug auf seine politische Einstellung als auch mit Blick auf den Perfektionsdrang in Richtung auf das „Gesamtkunstwerk“ Oper, in dem szenische Dar­bietung, musikalische Ausarbeitung, Ausstattung und Lichtkunst eine unlösbare Einheit ergaben.

Sechs intensive Probenwochen gingen dem ersten Festival voraus, und es mag nicht überraschen, dass sich Busch derart verausgabte, dass er, so berichtet seine Frau, „unmittelbar vor der ersten Aufführung einen leichten Herzanfall erlitt, mit dem er Glynde­bourne eröffnet hat, weil er sich weigerte, irgend­welche Rücksicht darauf zu nehmen.“ Insgesamt konnte er mit der Besetzung der Eröffnungssaison (Le nozze di Figaro und Così fan tutte) zufrieden sein. Willi Domgraf-Fassbaender, einst Mitglied der legen­dären Berliner Kroll-Oper, übernahm Guglielmo und Figaro, die ausgewiesene Mozart-Sängerin Luise Helletsgruber von der Wiener Staatsoper Cherubino und Dorabella, der bedeutende englische Tenor Heddle Nash Ferrando und Basilio. Außerdem waren u.a. Ina Souez als Fiordiligi, Roy Henderson als Graf und Aulikki Rautawaara als Gräfin mit von der Partie; und nicht zu vergessen Audrey Mildmay als Susanna. Unter dem Namen „Glyndebourne Festival Orchestra“ spielten fast ausnahmslos Mitglieder des London Symphony Orchestra.

Glyndebourne – die Rasenflächen warten auf die Pausenbesucher zum Dinner im Freien auf Wolldecken/ Glyndebourne Archive

.Der Eröffnungsabend (28. Mai) war ein Triumph; Audrey Mildmay bezauberte durch ihre Frische und ihren Charme sowie durch die Reinheit ihres Italienisch (damals – man kann es auch auf den Schall­platten hören – noch eine Seltenheit). Über Domgraf-Fassbaenders überschwänglichen Figaro gingen die Meinungen auseinander, doch insgesamt war sich die Presse einig, dass die Aufführungen der Perfektion extrem nahe gekommen seien. Dieser Nimbus umgibt die Klangdokumente dieser ersten Jahre noch heute. Die erste Saison endete mit einem Defizit von £7.000 – Christie hatte ein deutlich schlechteres Ergebnis befürchtet. Einen nicht unwesentlichen Anteil an den Einnahmen (neben den damals ausgesprochen hohen Eintrittspreisen von £2) nahm schon damals die Ver­köstigung in den Pausen ein – die exklusive Weinliste von Glyndebourne war legendär.

Die Saison 1935, die zusätzlich Neuinszenierungen von Die Entführung aus dem Serail und Die Zauberflöte brachte, für die das Bühnenhaus des Theaters vergrö­ßert worden war, war doppelt so lang wie die vorher­gehende – in gut vier Wochen fanden 25 Aufführun­gen statt. Der deutsche Tenor Walther Ludwig wurde als Belmonte und Tamino engagiert, Ivar Andresen, mit dem Fritz Busch seit vielen gemeinsamen Dresd­ner Jahren gut bekannt war, übernahm Osmin und Sarastro, der Australier John Brownlee debütierte als Don Alfonso und Sprecher. Die junge schottische So­pranistin Noel Eadie sprang kurzfristig für die Partien der Konstanze und der Königin der Nacht ein, Aulikki Rautawaara übernahm neben der Contessa die Pamina, Heddle Nash neben dem Basilio den Pedrillo. Luise Helletsgruber, die auf die Partie der Pamina gehofft hatte, wurde in der folgenden Saison durch die Donna Elvira getröstet, eine Paraderolle, mit der sie auch in Salzburg Triumphe feierte. Roy Henderson und Willi Domgraf-Fassbaender teilten sich die Partie des Papageno; außerdem war Domgraf-Fassbaender als Figaro und (alternierend mit Carl Ebert) als Bassa Selim zu erleben.

„Cosi fan tutte“: die LP-Ausgabe bei WRC/ EMI

Die bei den Salzburger Festspielen vergleichs­weise ungeliebte Così fan tutte blieb ein Renner in Glyndebourne – nach den sechs Aufführungen 1934 wurde die Oper bis 1939 insgesamt 27-mal gegeben. Auch Le nozze di Figaro blieb ohne Unterbrechung im Programm und war – nach ebenfalls sechs Aufführun­gen in der ersten Saison – bis 1939 insgesamt nicht weniger als 40-mal zu hören. In der Saison 1935 ergab sich kurzfristig eine Terminkollision – Ina Souez war gleichzeitig an Covent Garden als Micaela in Carmen engagiert, und erst nach einigem Hin und Her wur­den die Termine entzerrt, so dass Souez, von Busch in diesem Zusammenhang als die „vielleicht beste[…] Sängerin des Glyndeb. Ensembles“  beschrieben, auf die man unmöglich verzichten könne, allen Verpflich­tungen nachkommen konnte.

Die Verbindung zu Rundfunk und Schallplattenin­dustrie zeugt von der Weitsicht des Unternehmens Glyndebourne. Die Veröffentlichung von Buschs Interpretationen der drei da Ponte-Opern Mozarts 1934-36 für His Master’s Voice war damals singulär – zwar war schon seit 1907 diverses italienisches Standard-Repertoire (Rossini, Verdi, Puccini, Verismo) produziert worden, aber noch nie eine vollständige Mozart-Oper. So war gänzlich unabsehbar, wie sich die Sets mit 17 (Le nozze di Figaro), 20 (Così fan tut­te) und 23 (Don Giovanni) Schellackplatten verkaufen würden. Um zu sehen, wie sich die ganze Sache an­ließ, wurde 1934 mit einer mobilen Aufnahmeeinheit zunächst nur einen Vormittag lang aufgenommen (am 6. Juni); die restlichen Aufnahmen zu Le nozze di Figa­ro entstanden am 24. und 28. Juni 1935 (nur in einer Rolle ergaben sich Besetzungsinkonsistenzen: Der Doktor Bartolo wurde 1934 von Norman Allin, 1935 – und nur für die Schallplatte – vom damals 27-jährigen Italo Tajo gesungen, damals Mitglied des Opernchores). Um die Oper „handhabbar“ zu machen, wurden im Vergleich zur Live-Aufführung zahlreiche Kürzungen vorgenommen, insbesondere in den Rezitativen; doch auch Basilios Arie im vierten Akt, in den Aufführungen wichtiges Element zur Bewahrung der Proportionen des Ganzen und laut Kritiken ein eige­ner Höhepunkt, wurde aus den Aufnahmesitzungen gestrichen.

Glyndebourne – das Herrenhaus/ Wikipedia

Es ist interessant zu sehen, dass die Einspielung des Figaro mit jener der Così verschränkt erfolgte – die Aufnahme von Mozarts letztem Dramma giocoso fand von 25. bis 28. Juni 1935 und damit zwischen den restlichen Aufnahmesitzungen für Figaro statt. Dass weder Entführung noch Zauberflöte für Tonträger mitgeschnitten wurden, lag möglicherweise zum Teil in der nicht idealen Solistenbesetzung begründet, aber sicher auch in dem deutlich beschränkteren Markt für deutschsprachige Oper. Der erste Rundfunkmitschnitt erfolgte am 18. Juni 1936 durch die B.B.C. – eine unvollständige Übertragung von Le nozze di Figaro mit Mariano Stabile als Figaro.

 

Mozart und Glyndebourne: Louise Helletsgruber sang die Donna Elvira und Dorabella/ kulturpool.nl

Als Musterbeispiel des musikalischen und dar­stellerischen Zusammenspiels wird allgemein – auch wegen der fast gesellschaftsspielartig angelegten Personenkonstellation – Cosi fan tutte angesehen. Das „Doppelpaar“ und die beiden Drahtzieher der Handlung sind in perfekter Balance gehalten, und ge­rade als Ensembleleistung ist die Oper wohl auch in Glyndebourne so erfolgreich gewesen (schon beim Fi­garo waren zuerst die Ensembles eingespielt worden). Und in der Tat überstrahlen die Ensembleszenen nicht selten wegen des Miteinanders der Singakteure die Einzelleistungen. Im Rückblick betrachtet, sind neuere Einzelleistungen sicher jenen der frühen Jahre gleich­wertig oder überlegen – in musikalischer Hinsicht etwa sollte Sena Jurinac ihre Vorgängerin Ina Souez als Fiordiligi mit Leichtigkeit übertreffen (auch wenn Souez, die sich in Don Giovanni hörbar wohler fühlt, Spitzentöne bietet, nach denen Elisabeth Schwarz­kopf die ihren modelliert haben könnte). Eine weitere Qualität der frühen Glyndebourner Opernaufnahmen ist die Lebendigkeit des dramatischen Ausdrucks, der sich auch ohne die Optik vermittelt. Dieser dramati­sche Ausdruck ist besonders auch in den Rezitativen greifbar, und die Technik, die Secco-Rezitative mit dem Flügel zu begleiten, scheint heute weniger falsch als der Einsatz des Cembalos neben dem modernen Or­chester.

 

Es würde zu weit führen, wollte man sämtliche Folgesaisons in Glyndebourne bis 1939 im Detail betrachten. Im Vorfeld der Spielzeit 1936 wurde der Zuschauerraum auf 433 Plätze vergrößert; sie wurde am 29. Mai mit Don Giovanni eröffnet. John Brownlee übernahm die Titelrolle, Ina Souez, Luise Helletsgruber und Audrey Mildmay waren das Damentrio. Roy Hen­derson übernahm (neben Guglielmo und Papageno) den Masetto, der von Busch sehr geschätzte Koloman von Pataky von der Wiener Staatsoper den Ottavio. Als Leporello, Doktor Bartolo und Osmin brillierte der Neuzugang Salvatore Baccaloni – ein heute legendärer Singdarsteller, mit dem Busch viele Male zusammen­arbeitete. Alexander Kipnis übernahm den Sarastro, der dänische Tenor Thorkild Noval den Tamino, Aulikki Rautawaara war wieder die Pamina. 1937 sah keine Neuinszenierung in Glyndebourne, und auch die Tonträgerkooperation mit His Master’s Voice wurde auf Eis gelegt (bezeichnenderweise entstand Thomas Beechams Zauberflöten-Einspielung 1937/38 in Berlin).

Mozart in Glyndebourne – John Brownlee als Don Giovanni 1935/ Glyndebourne Archive

Erst 1950 – mittlerweile war das Edinburgh Fes­tival als Ableger von Glyndebourne gegründet wor­den – war Fritz Busch zurück in Sussex. Die erste Mozart-Neuinszenierung war Die Entführung aus dem Serail. Die Besetzung der Oper stellte Busch abermals nicht ganz zufrieden. Auch ließ sich eine Einspielung nicht realisieren – Endre Koreth, der Glyndebourner Osmin, war bereits von Decca für eine Gesamtauf­nahme engagiert worden, die aber unter Josef Krips mit dem Ensemble der Wiener Staatsoper zustande kam. Così fan tutte hingegen beglückte Busch zu­tiefst. Der Funke sprang wieder über, die intensive Probenarbeit wurde belohnt, die Presse überschlug sich. Binnen kurzer Frist wurden von His Master’s Voice Aufnahmesitzungen anberaumt, um Mitte Juli, zu Halbzeit des Festivals, zumindest Highlights aus Cosi einzuspielen. Für 1951 wurden Neuinszenierun­gen von Don Giovanni und Idomeneo angesetzt – für Idomeneo sollte es die erste professionelle Aufführung in Großbritannien werden (in einer von Hans Gäl eingerichteten, stark gekürzten Fassung). Ein neues Mozart-Ensemble bildete sich heran, das ohne Frage den Besetzungen in Wien oder Salzburg gegenüber mithalten konnte. Neben Jurinac wurde der kanadi­sche Tenor Léopold Simoneau verpflichtet, den Busch in New York entdeckt hatte. Richard Lewis, der Ferrando von 1950, übernahm die Titelrolle im Idomeneo und blieb alleiniger Rolleninhaber in Glyndebourne bis 1974. Am schwierigsten zu besetzen war die Sopran­partie der Elettra – nachdem Hilde Zadek und Blan­che Thebom die Rolle abgelehnt hatten, schlug Busch die junge Birgit Nilsson vor, mit der er in Stockholm zusammengearbeitet hatte. Carl Ebert lehnte die nor­dische Kühle ausstrahlende Sängerin ab, doch wurde sie mangels Alternative engagiert. Ihre Honorarfor­derungen für ihre Mitwirkung an der Produktion von Ausschnitten aus der Oper für die Schallplatte (die am 2. und 3. Juli in London erfolgte) sorgten dafür, dass sie in den wenigen ihren Part betreffenden Ausschnitten durch den Cherubino der Saison Dorothy MacNeil er­setzt und nie wieder nach Glyndebourne eingeladen wurde. Auch Simoneau (der kontraktlich an das nie­derländische Philips-Label gebunden war) konnte auf dem schönen Klangdokument nicht mitwirken, das später mit dem Grand Prix du Disque ausgezeichnet wurde. Bei der (vom Rundfunk übertragenen) vorletz­ten Aufführung von Don Giovanni am 19. Juli 1951 erlitt Busch während des ersten Aktes einen Schwächean­fall und übergab während der Pause den Taktstock an seinen Assistenten John Pritchard, der nach Buschs Tod 1952 die Wiederaufnahmen des Idomeneo dirigier­te und 1964 Nachfolger Vittorio Guis als musikalischer Leiter des Festivals wurde. Jürgen Schaarwächter, 2017 Max-Reger-Institut mit BrüderBuschArchiv, Karlsruhe

 

Busch und Mozart in Glyndebourne: der Autor Jürgen Schaarwächter/ BrüderBuschArchiv

Wir danken ganz außerordentlich Dr. Schaarwächter und Bertrand Castellani von Warner Classics für die Genehmigung zur Übernahme des Textes aus dem Beilage-Booklet der neuen Edition  „Mozart – Fritz Busch in Glyndebourne“. Jürgen Schaarwächter vom BrüderBuschArchiv hat in zahlreichen Veröffentlichungen über die Mozart-Aufnahmen Fritz Buschs in Glyndebourne geschrieben, so auch in den Boklets zu den Live-Mitschnitten bei Immortal Performances;

Margot Hielscher

 

Eine Ikone des deutschen Ufa-Films, Margot Hielscher (* 29. September 1919 in Berlin), starb am  20. August 2017 in München. Die Schlagersängerin, Schauspielerin und Kostümbildnerin war der Inbegriff der Vertreterin der dauerhaft  heiteren, charmanten und gutgelaunten Darstellerin, der es auch nach dem Krieg gelang, sich auf der Leinwand und im öffentlichen Bewusstsein zu halten.

Hielscher absolvierte zunächst von 1935 bis 1939 eine Ausbildung als Kostümbildnerin und Modedesignerin. Dabei kam sie in Berlin zwangsläufig auch mit Film- und Gesangsgrößen jener Zeit in Berührung. Sie wurde zur Fortbildung in Gesang und Schauspielerei ermutigt und ließ sich bei Albert Florath und Maria Koppenhöfer ausbilden.

Spät, aber doch – „Hallo Fräulein“ 2009 bei Bear Family: Margot Hielscher

Ab 1939 arbeitete sie als Kostümbildnerin beim Film. Dabei wurde sie von Theo Mackeben entdeckt, der sie sogleich für den Film engagierte. In dem Streifen Das Herz der Königin spielte sie 1940 ihre erste Rolle neben Zarah Leander. Durch ihre Rollen in verschiedenen Liebeskomödien, bei denen sie auch als Sängerin hervortrat, zählte sie bald zu den beliebtesten Darstellerinnen des deutschen Films während des Zweiten Weltkriegs. Sie unternahm während der Kriegszeit und auch danach mehrfach Tourneen als Sängerin zur Truppenbetreuung.

Ihren Karrierehöhepunkt erlebte Margot Hielscher jedoch erst nach dem Krieg, seit sie als Sängerin vor begeisterten GIs auftrat. In dem Film Hallo Fräulein (1949), zu dem sie auch das Co-Drehbuch beisteuerte, fanden sich teilweise ihre Erlebnisse der unmittelbaren Nachkriegszeit wieder. Während der Dreharbeiten lernte sie ihren künftigen Ehemann, den Filmkomponisten Friedrich Meyer, kennen, den sie zehn Jahre später heiratete.

Fortan hatte die gesangliche Karriere für sie Vorrang, in Filmen trat sie häufig bei Gesangseinlagen auf. In den Jahren 1957 und 1958 vertrat Margot Hielscher die Bundesrepublik beim Grand Prix Eurovision de la Chanson Européenne. 1957 belegte sie mit dem Lied „Telefon, Telefon“ den 4. Platz, 1958 mit dem Lied „Für zwei Groschen Musik“ den 7. Platz. Der Musiker und Entertainer Götz Alsmann bezeichnete ihre Stimme später einmal als Mischung aus Jazzgesang und Operettensopran.

In den 1960er Jahren moderierte sie im Bayerischen Fernsehen ihre eigene Talkshow Zu Gast bei Margot Hielscher, in der rund 700 Prominente (unter anderem Maurice Chevalier und Romy Schneider) zu Gast waren.

Kammerkätzchen im deutschen Film: Margot Hielscher/ filmreporter.de

Zahlreiche Auftritte in Fernsehserien bis in die 1980er Jahre erhielten sie dem Publikum. 1991/92 trat sie in Berlin im Theater des Westens in dem Sondheim-Musical Follies neben Eartha Kitt, Brigitte Mira und Renate Holmauf. Eine ihrer letzten TV-Rollen spielte sie 1994 in der Serie Der Nelkenkönig, danach zog sie sich vom Filmgeschäft zurück. Daneben war sie selbst Gast in vielen großen deutschen Unterhaltungsshows, so unter anderem 1998 bei Boulevard Bio. Von da an war sie vor allem durch Bühnenauftritte präsent, so 2006 in der Philharmonie im Gasteig, 2007 in der Berliner Philharmonie und 2008 in der Komödie im Bayerischen Hof.

Insgesamt wirkte Margot Hielscher in 60 Spielfilmen und in etwa 200 Fernseh-Produktionen mit. Darüber hinaus sind über 400 Gesangsaufnahmen von ihr erhalten. Bei der Produktion des im September 2010 veröffentlichten Albums Mezzanotte von Ulrich Tukur war Hielscher seine Duettpartnerin bei dem Lied „Hörst du das Meer“?

Margot Hielscher lebte seit 1942 im Münchner Stadtteil Bogenhausen (Herzogpark). Noch 1941 hatte ein Verehrer, der Schauspieler Fritz Odemar, sein Wohnhaus im westhavelländischen Semlin verkauft, um der jungen Schauspielerin mitten im Krieg einen Pelzmantel zu Füßen legen zu können. Für die 22-Jährige hatte er eine Wohnung in der Hildegardstraße 1 in Berlin angemietet. Hielscher pflegte Bekanntschaften unter anderem zu Erich Kästner, Benny Goodman und Joachim Fuchsberger. 2011 besuchte Götz Alsmann sie und unterhielt sich mit ihr über ihr Leben und Werk. Dieses Gespräch dokumentiert der einstündige Film Herr Alsmann trifft Frau Hielscher von Klaus Michael Heinz, ausgestrahlt im WDR Fernsehen am 1. November 2011.

Margot Hielscher starb im August 2017 im Alter von 97 Jahren in München. (Quelle Wikipedia)

Düster-düsterer-am düstersten

 

Versuchen üblicherweise Regisseure und Bühnenbildner im Sferisterio von Macerata die unglücklichen Bühnenmaße zu kaschieren , so wählten 2013 Francisco Negrin und Louis Désiré für Il Trovatore den entgegengesetzten Weg und betonten sie durch ebenso lange und schmale Tische und Bänke, rot bei Momenten des Hasses und der Rache und weiß bei denen der Liebe beleuchtet. Eine Art Wachturm im Hintergrund, auf dem sich der Tod im il rogo mehrfach wiederholt und vielmals Nonna bzw. Madre wie Nipotino bzw. Figlio in verbrannten Gewändern und selbst schlimm zugerichtet umhergeistern, machen dem Zuschauer deutlich, mit welchen Traumgespinsten die unglückliche Azucena zu kämpfen hat. Aber auch die Getreuen des Conte oder die Zingari wirken wie Untote, die Kostüme sind durchweg in Schwarz, selten blitzt Rot auf, gehalten, und der Tod ist allgegenwärtig, wie der Kampf ausgerechnet mit Sensen nahelegt. Wird es besonders dramatisch, also oft, geraten die Kandelaber an der Rückwand ins Flackern, erscheinen die Bewegungen des Chores stark ritualisiert. Geschickt wird von einem Bild ins nächste übergeleitet, und so kommt man, was bei ohnehin spät beginnenden Vorstellungen im Freien wohltuend ist, mit einer Pause aus. Regie und Bühne gelingt es, die Düsternis, die bereits in Handlung und Musik angelegt ist, noch erheblich zu verstärken.

Verdis Oper „Il Trovatore“ aus Macerata bei Dynamic

Die DVD von Dynamic zeigt eine Wiederaufnahme von 2016 in abgesehen von der Azucena neuer Besetzung, aber man findet unter YouTube auch Ausschnitte von 2013 und stößt zwangsläufig dabei auf die Aufnahme von dem „echten“ Schuss auf Cavaradossi Fabio Armiliato und seine Tosca Raina Kabaivanska, die verzweifelt Aiuto und nach einem Medico ruft.

So dramatisch ging es beim Trovatore weder 2013 noch 2016 zu, die Sängerbesetzung allerdings lässt sich durchaus hören und sehen, auch wenn der Manrico ein noch unerfahrener Debütant in seiner Partie ist. Piero Pretti ist ein stattlicher Bursche mit einer bereits zum tenore eroico tendierenden Stimme, etwas hart klingend, aber mit sicherer Höhe auch in der Stretta und dem begehrten Squillo die Ensembles überstrahlend. Von ähnlicher Stimmqualität ist der Luna von Marco Caria, ein dunkler, kerniger Bariton mit Brunnenvergiftertimbre, der sich in den rasanten Cabaletten wohler fühlt als im Balen del suo sorriso, das Dirigent Daniel Oren, ansonsten sicher und routiniert, sehr langsam interpretiert. Auch 2013 dabei war Enkelejda Shkosa, deren Azucena durch einen runden, warmen Mezzosopran von schönem Ebenmaß erfreut. Eine echte Verdi-Stimme, auch für die frühen Opern geeignet, hat Anna Pirozzi für die Leonora, eine hochpräsente Mittellage und atemberaubende Piani und Schwelltöne, aber leider zuweilen mit einem unangenehmen Klirrklang in der Extremhöhe. Höchst achtbar meistert Alessandro Spina die schwierige Partie des Ferrando mit all ihren Finessen. Gern weilt die Kamera auf der Ines von Rosanna Lo Greco, denn sie ist weitaus hübscher als die eher einem älteren Divenideal huldigende Sängerin der Leonora und hat dazu einen angenehmen Mezzo. Die bewährte Qualität von Chor und Orchester, siehe Otello von dort, lässt sich auch auf dieser DVD bewundern, und über unbekanntere, aber tüchtige Sänger freut man sich sowieso mehr als über die altbekannten (Dynamic 37769Ingrid Wanja      

Für flotte Beine

 

Er gehört zu den bekanntesten Wiener Operetten-Komponisten überhaupt – Carl Millöcker. Vor allem sein Bettelstudent ist berühmt geworden. Nun ist eine CD erschienen bei cpo mit Orchestermusik von ihm, und das ist – wie könnte es bei einem Wiener Operettenkomponisten anders sein – vor allem Tanzmusik. Anders als Strauß oder Ziehrer war Millöcker kein Leiter einer Tanzkapelle, sondern ein Theaterpraktiker. Er war in Sachen Tanzmusik kein Routinier. Was nicht heißt, das er keine amüsante Stücke schreiben konnte, die sich auf ähnlich hohem Niveau bewegen. Im Gegenteil. Seine Instrumentierung weist eine erstaunliche Sorgfalt auf, die sich in ihrer Durchsichtigkeit und Eleganz an den Wiener Klassikern orientiert.  Erstaunlich, dass man seine Musik so wenig spielt – er hatte nicht den Hang, seine Zeitgenossen mit rasselnder und lärmender Musik zu blenden, er war kluger Komponist, der sich oft mehr Gedanken gemacht hat über die Wirkung von Operetten und Tanzmusik als viele berühmte Kollegen. Nicht selten finden sich ganz zarte, getupfte oder sensible Töne in dieser doch eigentlich für handfeste Zwecke gedachten Gebrauchsmusik Dieser seltsam sphärische Zauber, der über manchen Kompositionen schwebt (etwa dem Pizzicato-Walzer), erinnert mitunter an den jüngeren Hellmesberger.

Ob Ouvertüre, Marsch oder Walzer – diese Auswahl dürfte Freunden Wiener Operettenmusik höchst willkommen sein! Denn erstaunlicherweise gibt es von einem so begabten Komponisten wie Millöcker wenig Orchesterwerke auf Tonträgern. Außer einigen alten Boskowsky-Einspielungen und diversen, meist gräßlich uminstrumentierten Piecen in den Kellern unserer Rundfunkanstalten existiert so gut wie nichts. Insofern ist diese CD eine Pioniertat, für die man nur dankbar sein kann.

Christian Simonis‘ Art, dieses Musikgenre zu dirgieren habe schon immer gemocht seit seiner sensationell pointierten und leichtfüßigen Hellmesberger-CD mit den Göttinger Sinfonikern vor fast 20 Jahren.

Er ist kein Haudrauf- Dirigent, sondern immer ein bißchen verhalten-distanziert, aber das bekommt diesen fragileren Tanzmusiken wie Hellmesberger und Millöcker sehr gut, und grade hier passt sein Stil, der es mit der lauten Fröhlichkeit nicht übertreibt, wieder perfekt. Alles federt, manches wirkt fast kammermusikalisch. Nach der hübschen Gung’l – Album mit den Nürbergern  (auch bei cpo) ist auch dies wieder mal keine überflüssige, sondern erfreuliche, wenn nicht sogar notwendige Ergänzung des Repertoires in Sachen Leichte Klassik. (Carl Millöcker: Waltzer – Märsche – Polkas; Nürnberger Symphoniker ; Christian Simonis cpo 555004-2)

 

 Jerome Kern gehört zu den wichtigsten amerikanischen Komponisten des 20. Jahrhunderts – von 1905 bis in die 40er Jahre hinein haben seine Operetten, Musicals und Filmmusiken das Land geprägt. Jetzt ist beim Label Nimbus Records eine pralle Doppel-CD erschienen mit 51 großen Jerome-Kern-Songs.

„His 51 finest“ – diese Ankündigung ist sicher etwas vollmundig, denn der Superlativ vermittelt den Eindruck, man könne von diesem exzellenten Muiscalkomponisten wirklich so etwas wie einen Extrakt erstellen, der auf 2 CDs die tatsächlich besten Aufnahmen präsentiert. Das ist bei einem so fruchtbaren Songwriter, der in seinem Leben mehr als 700 Musiknummern verfasst hat, einfach unmöglich.

Der eigentliche Kanon der Aufnahmen allerdings die Interpretion inzwischen unlöslich, zwingend und makellos mit der Komposition verwoben ist, bleibt tatsächlich so überschaubar, das er vermutlich bequem auf eine einzelne CD passt – die Astaire-Songs aus „Swing-Time“, Paul Robeson singt „Ol’man river“ und Frank Sinatra „The song is you“. Der Rest ist im wahrsten Sinn des Wortes Interpretationssache und dem Geschmack des Kompilators überlassen – viele klassische Songs sind so oft so gut interpretiert worden, dass schwer zu entscheiden ist, wer die beste Einspielung produziert hat.

Eigenwillig überzeugend: Die hier getroffene Auswahl ist recht eigenwillig, aber überzeugend. Mal kein Paul Whiteman and his Orchestra und kein Kern höchstselbst am Klavier, dafür Ikonen wie Dinah Shore, Bing Crosby, Howard Keel und eine Menge gute Dancebands der Dreißiger, die in meinen Augen viel zu unbekannt sind in Deutschland. Und sogar britische Tanzensemble wurden berücksichtigt wie Ambrose and his Orchestra – die noble zurückgenommene Art der Briten passt überraschend gut zur distinguierten Eleganz vieler Nummern Kerns.

Vielleicht also nicht die ultimative Auswahl an Kern-Musical-Songs – die wird es nie geben, es sei denn, man wagte sich an eine 100-CD-Box. Aber doch eine sehr kurzweilige, deren Akzent zu Recht auf den 30er und 40er Jahren liegt, der glücklichsten Kern-Ära. Einige wichtige frühe und späte Beispiele interessanter Kern-Interpretationen sowie einige wenige Film-Ausschnitte runden das Album ab (The song is you – Music of Jerome Kern mit Fred Astaire | Bing Crosby | Frank Sinatra | Paul Robeson u.v.a. Nimbus Records RTS 4310). Matthias Käther

Enzo Dara

 

Keinem Rossini-Fan ist der Name Enzo Dara unbekannt – der bedeutende italienische Bass-Buffo (geboren 19. Oktober 1938) starb am 25 August 2017 und bleibt als wunderbarer Vertreter eines köstlichen Humors und genialer Darstellung in Erinnerung.  Sein Debüt in der Opr erlebte er 1960 in Fano als Colline in Puccinis „La Bohéme“. In Reggio Emilia hingegen entdeckte er 196 als Don Bartolo in Il „Barbiere di Siviglia“ seine Eignung für komische Partien. Beim Festival dei Due Mondi in Spoleto ist er 1969 Mustafa in „L’Italiana in Algeri“, und an der Scala zwei Jahre später ist er wieder Don Barolo in der Produktion des Barbiere di Siviglia, dirigiert von Claudio Abbado. Ebenfalls mit der Scala ist er auf deren Tournee am Royal Opera House von London 1976 als Dandini in „La Cenerentola“.

Enzo Dara in „Il viaggio á Reims“ an der Scala/ Foto Lelli e Masotti/ Teatro alla Scala

Er ist wiederum Don Bartolo an der Met in New York im Jahre 1982. Andere Theater, an denen er gesungen hat, sind die Staatsoper Wien,  die Nationaloper von Paris, das LIceu von Barcelona, die Oper von Monte Carlo, das Opernhaus von Houston. Er war der erste Barone di Trombonok in der modernen Version von „Il viaggio a Reims“ in Pesaro und an der Scala sowie Wien.
Seine besten Gaben waren die vokale Beweglichkeit (agilità vocale), sei es im canto vocalizzato, sei es vor allem in der sillabazione veloce, und ein angeborener Sinn für das Komische, der nie übertrieben wurde. Dank der Interpretation von Rollen wie Don Pasquale, Don Bartolo, Don Magnifico, beginnend mit den Siebzigern, verkörpert er „eine Säule bei der Wiedergeburt des Belcanto“.  Seit dem Ende der Achtziger widmete er sich vorzugsweise der Regie.
Enzo Dara war auch Schriftsteller und Journalist. 1994 veröffentlichte er sein erstes Buch „Auch der Buffo in aller Bescheidenheit“, eine Sammlung von Erinnerungen, Anekdoten und Betrachtungen über die Welt des Operntheaters,  das er erst als Liebhaber und Student, dann als Sänger in den verschiedenen Abschitten der Karriere erlebt hatte. (Quelle italienische Wikipedia/ Übersetzung Ingrid Wanja/ Foto oben: Enzo Dara als Don Magnifico/ allmusic)

Zu selten aufgeführt

 

Nicht aus dem Sichwundern heraus kommt man beim Genuss der Aufführung von Berlioz‘ Opéra Comique Béatrice et Bénédict von Glyndebourner Festival 2016, dem Staunen darüber, dass dieses zauberhafte Werk nicht öfter aufgeführt wird. Seine Verehrung für Shakespeare brachte der Komponist, verheiratet mit einer berühmten Shakespeare-Schauspielerin, dazu, als Libretto das Lustspiel Much Ado about nothing zu wählen, wobei viel von den geistreichen Dialogen, den Wortspielen, mit denen sich die beiden Titelfiguren beharken, im gesprochenen Text erhalten blieb, während die Arien, Duette und Terzette, aus neun wurden im Verlauf der Zeit fünfzehn Nummern, freier gestaltet  und  musikalisch von atemberaubender Schönheit sind, so das Duett zwischen Héro und Ursule, das es an Sinnlichkeit und romantischem Flair durchaus mit der Nuit d’ivresse aus den Trojanern aufnehmen kann.

Das Stück spielt in Messina, das die siegreich aus einem Feldzug zurückkehrenden Kämpfer, darunter Bénédict und sein Freund Claudio, erwartet. Claudio liebt glücklich und erwidert Héro, Bénédict liegt im Dauerstreit mit Béatrice, den er sofort nach seiner Rückkehr wieder aufnimmt. Durch eine List ihrer Freude werden die beiden Streithähne davon überzeugt, dass sie einander lieben, so dass am Ende nicht eine, sondern zwei Hochzeiten gefeiert werden.

Zum Vorspiel, das einige der später verwendeten Themen aufgreift, werden viele weiße, aus den verschiedensten Stilepochen stammende Stühle über die Bühne geschleppt. Trotz des Handlungsortes Messina wird die Bühne nie bunt, sondern Kulissen (Barbara de Limburg) und Kostüme (Laurent Pelly, der zugleich Regisseur ist) sind in verschiedenen Grautönen gehalten, letztere im Stil der Fünfziger des vergangenen Jahrhunderts. Schachteln und Schubladen, in die sich die beiden Titelhelden auch symbolisch nicht wollen stecken lassen, sind die einzigen Kulissen, die sich beliebig aus- und zuklappen, verschieben und verstellen lassen, so dass Bewegtheit nicht durch Farbenspiel, sondern Beweglichkeit erzeugt wird.

Die Regie weiß nicht nur die Solisten espritreich zu führen, sie macht auch aus den vorzüglich singenden Chormitgliedern (Leitung Jeremy Bines) einfallsreiche Schauspieler, hält stets die Waage zwischen Poesie und Komik und lässt den Himmel im Hintergrund heiter strahlen oder düster dräuen.

Stéphanie d’Oustrac ist die quirlige, kratzbürstige Béatrice mit apart timbriertem Mezzosopran feiner Konturen, der sich im zweiten Akt zu schöner Fülle entfaltet. Die Zerrissenheit der Figur zwischen Emanzipationsstreben und dem nach Liebesglück weiß sie perfekt mitzuteilen. Eine blonde Schönheit ist Sophie Karthäuser, die der Héro nicht nur viel sanfte Anmut verleiht, sondern sie auch mit warmem, rundem Sopran singen lässt. Katarina Bradić ist beider Freundin Ursule mit sattem Mezzo. Blasser als die Damen bleiben die beiden Liebhaber: Paul Appleby, der zunächst zwischen Tenor und Bariton nagesiedelt erscheint, im zweiten Akt in seiner großen Arie aber mit einer strahlenden Höhe brillieren kann. Claudio ist der etwas konturenlos bleibende Philippe Sly. Zwei köstliche Typen gibt es mit dem Chorleiter Somarone und seiner als Parodie auf die Gattung angelegten Fuge (Lionel Lhote) und dem Herrscher Léonato, dem Georges Bigot viel Bühnenpräsenz verleiht. Der Chor glänzt außer mit der bereits erwähnten Fuge noch mit einem ebenso köstlichen Trinklied. Antonello Manacorda sorgt mit dem London Philharmonic Orchestra dafür, dass es im Orchestergraben ebenso brillant, spritzig und elegant zugeht wie auf der Bühne. Die DVD  ist purer, knappe zwei Stunden dauernder Genuss (Opus Arte 1239 D). Ingrid Wanja    

Das Archiv der Firma Ricordi

 

Wer noch immer den schönen und gutsortiertern Geschäften von Ricordi, einst nicht nur in jeder größeren italienischen Stadt eine Fundgrube für den Musikfan, nachtrauert, der erhält durch einen prachtvollen Bild- und Textband mit dem Titel Eine Kathedrale der Musik – Das Archivio Storico Ricordi Aufklärung über die Geburt, Entwicklung und Erfolge und schließliche Zerschlagung des einstigen Familienbetriebs über vier Generationen von Verlegern, die von 1808 bis 1919 nicht nur das italienische Musikleben entscheidend beeinflussten. Der Vergleich des Archivs mit dem kirchlichen Bauwerk stammt übrigens vom Komponisten Berio, und der Leser und Betrachter der zahlreichen Fotos ist zunehmend geneigt, ihm in seinem Urteil zuzustimmen.

Ein schöner Bild- und Textband: „Eine Kathedrale der Musik – Das Archvio Storico Ricordi“ im Prestel Verlag

Es fällt auf, dass auf dem Cover des Bandes kein Verfassername zu finden ist, erst ganz hinten innerhalb des Impressums ist Caroline Lüddersen als „Autorin“ genannt, als Verlage Bertelsmann und Prestel, da erstere Besitzer des Archivs, das sich jedoch in Mailand befindet, sind, obwohl sie den Verlag Ricordi einige Jahre nach seinem Erwerb 1994 wieder verkauften. Eine stärkere Hervorhebung des Verfasserinnen-Namens wäre durchaus angebracht gewesen, denn ihre Ausführungen sind hochinteressant, umfassend und angenehm zu lesen.

Die Autorin erläutert in einer Einleitung ihr Vorgehen, das den Leser von einer Geschichte des Verlags bis 1994 über dessen Bedeutung für die Weltkulturgeschichte führt und schließlich im Anhang eine Auflistung der Dokumente bietet, zu denen allein 8000 handschriftliche Partituren und 10 000 Libretti gehören. In einer „Kleinen Geschichte des Verlags Ricordi“ wird diese nach dessen jeweiligen Besitzern gegliedert, deren jeder einen Beinamen, so wie man es von den Medici kennt, zugeteilt bekommt. So verläuft die Entwicklung des Verlags aus kleinsten Anfängen von Giovanni- dem Fleißigen über Tito I. den Geselligen, Giulio das Genie und Tito II. den Kosmopoliten ehe dessen nach Meinung des Vaters missratener Sohn die Reihe abbricht und von da an (1919) eine Doppelspitze das Unternehmen führt.

Tito Ricordi/ Archivio storico, Prestel

Die Verlagsgeschichte ist natürlich zugleich Kulturgeschichte, die Ricordis profitieren vom Blühen der Hausmusik, kämpfen um das Urheberrecht und gegen die Freiheiten, die sich Interpreten „ihrer“ Komponisten nehmen, setzen sich mit der Konkurrenz Sonzogno auseinander, sind Komponisten wie Verdi und Puccini nicht nur Geschäftspartner, sondern Freunde und Förderer. Sie müssen nicht nur Geschäftsleute, sondern können durchaus auch künstlerisch tätig sein. Verdienstvoll ist, dass das Buch auch die vielen heute nicht mehr allseits bekannten Komponisten wie Catalani, Boito, Franchetti, Alfano oder Montemezzi berücksichtigt, ebenso Korngold, der ebenfalls von Ricordi verlegt wurde.

Ein besonderes Interesse gilt natürlich dem Verhalten der Verlagseigentümer während der faschistischen Epoche, die in Italien bekanntlich wesentlich länger dauerte als in Deutschland, weil früher begann. Der Krieg verschonte auch das Archiv nicht, seine Räume wurden am 13.8.43 zerbombt, aber man hatte die größten Schätze zuvor in Sicherheit gebracht, wozu allerdings offensichtlich nicht Aldo Finzi gehörte, dessen Werk verschollen ist.

„La Casa Ricordi“, ital. Spielfilm von Carmine Gallone 1954/ Szene/ RAI TV

War es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert die Kammer- und Hausmusik gewesen, die im Mittelpunkt des Verlagswesens stand, so wurde es zunehmend die Oper, nach 1945 aber sicherten die Cantautori der populären Musik und das Schallplattengeschäft das Überleben der Firma. Über die Jahre hinweg konnte man erleben, wie die klassische Musik in den Ricordi-Läden aus dem Zentrum der Verkaufsräume in immer abgelegenere Ecken verbannt wurde. Bertelsmann begann mit der Katalogisierung und Digitalisierung, machte aus der Sammlung, die als Wirtschaftsarchiv gegründet worden war, ein Forschungsarchiv, zeigte bereits 2013 in der Berliner Repräsentanz und auch in anderen Städten besonders wertvolle Stücke und begann 2016 mit dem Erstellen einer Collezione Digitale.

Nur staunen kann man über die Fülle interessantesten Fotomaterials, seien es Gegenüber-Stellungen von handschriftlicher und gedruckter Partitur, Autographe von Rossini, Bellini, Donizetti, Libretti und deren Änderungen durch die Zensur, Regiebücher oder der Briefwechsel zwischen Komponist und Verleger über Otello, sogar Anmerkungen über Dauer und Stärke des Beifalls bei der Uraufführung. Viele Szenenfotos erstrecken sich über eine Doppelseite und man bewundert  Bühnenbild und Kostüme vergangener Zeiten, über die damit mehr ausgesagt wird, als ihr Schöpfer beabsichtigt hatte, d.h., sie legen Zeugnis ab für 200 Jahre Kulturgeschichte und wecken im Betrachter den Wunsch, nun auch einmal im Internet zu begutachten, wieweit die oben erwähnte Collezione bereits gediehen ist (Prestel Verlag, 225 S., Register, Personenverzteichnis, Bibligraphische Hinweise, Fotonachweis,  ISBN 978 37913 5624 2; oben ein Ausschnitt aus dem Rocordi-Poster zu „Turandot“/ AR). Ingrid Wanja

Felicia Weathers zum 80.

 

1977 sang Felicia Weathers im Bremer Theater am Goetheplatz eine Reihe von „Salome“-Vorstellungen, die ich fast alle gesehen habe. Ich war fasziniert von ihrer Ausstrahlung, von ihrer Bühnenpräsenz und von ihrer schlanken, unverwechselbaren Stimme. Wir sind ins Gespräch gekommen, insbesondere über ihre Dalibor-Aufnahme mit Sándor Kónya unter Rafael Kubelik. Aus diesem ersten Kontakt hat sich eine nun schon vierzig Jahre währende Freundschaft ergeben. Ich habe sie später in zahlreichen Liederabenden und Recitals erlebt – auch als Schauspielerin, als sie vor gut zehn Jahren in dem Stück „I Have A Dream – Die Martin Luther King Story“  von Gerold Theobalt zusammen mit Ron Williams auftrat.

Jede Begegnung mit Felicia Weathers, die auf eine sehr erfolgreiche Karriere zurückblicken kann, ist ein Gewinn. Ihr Charme, ihre Herzlichkeit und ganz besonders ihr ansteckender Humor haben mich bis heute bezaubert. Und von ihrer klugen Sicht der Dinge – egal ob es um Musik, um Politik, um Philosophie oder um Lebensweisheit geht – kann man nur profitieren. Es ist kaum zu glauben: Felicia Weathers ist am 13. August 2017 stolze 80 Jahre geworden. ich gratuliere herzlichst!

 

Felicia Weathers: Spirituals & Folksongs bei Decca

Felicia Weathers, Tochter eines Juristen aus St. Louis, begann ihre Ausbildung an den Universitäten von Washington und Indiana, wo Dorothea Manski und Charles Kullmann ihre Gesangslehrer waren. „Mein Studium in Amerika war viel breiter als man es hier kennt“, sagt sie. „Hier ist man beschränkt auf das Singen, man studiert Oper oder Lieder. Bei uns muss man alles machen: also auch Bühnentechnik, Bewegung auf der Bühne, Regie-Kursus usw.“. Daneben hat sie auch Psychologie studiert und erhielt zweimal die Ehrendoktorwürde verliehen.

Ihre eigentliche Karriere bekann, wie bei vielen amerikanischen Sängern, in Europa. 1961 war sie Preisträgerin eines internationalen Sängerwettbewerbs in Sofia, wurde anschließend von Herbert Graf nach Zürich geholt, wo die Königin der Nacht und die Zerlina (Don Giovanni) ihre ersten Rollen waren. Noch im selben Jahr ging sie für eine Spielzeit ein festes Engagement in Kiel ein, wo sie bereits die Salome sang. Von Kiel aus entwickelte sich die Karriere der jungen Sängerin, die innerhalb von zwei bis drei Jahren zum Weltstar aufstieg, in schwindelerregendem Tempo. Sie war schnell Gast an der Bayerischen Staatsoper,  wo sie in Rudolf Hartmanns Salome-Inszenierung sensationelle Erfolge hatte. Bald eroberte sie sich die großen deutschen Opernhäuser wie Köln, Frankfurt, Stuttgart, Berlin und Hamburg, wo ein Glanzpunkt ihre aufregende Teena in Schullers The Visitation war.

Schon 1962 lud Karajan sie ein, neben Birgit Nilsson und Franco Corelli in Wie die Liu in Turandot zu singen. Daneben war sie an der Wiener Staatsoper u.a. als Butterfly und Aida zu hören, Partien, die sie sehr häufig gesungen hat. „Dabei hatte ich überhaupt nicht vorgehabt, in Deutschland oder Europa zu bleiben. Schließlich befand sich meine ganze Familie drüben.“

Bald war sie Gast an den großen Bühnen der Welt: In London sang sie Elisabetta (Don Carlo), in Chicago die Renata in Prokofieffs Der feurige Engel, Jenufa in San Francisco. An der Metropolitan Opera debütierte sie 1965 als Lisa in Pique Dame. Sehr häufig sang Felicia Weathers, die auch in den Opernhäusern in Paris, Budapest und Edinburgh zu hören war, in Italien, wo sie u.a. in der Hindemith-Oper Sancta Susanna auftrat.

Daneben wurde schnell die Schallplatten-Industrie auf sie aufmerksam. Für Decca sang sie mehrere Recitals ein, deren Spannweite von italienischen Opernarien, Strauss-Liedern über Musicals bis hin zu ungarischen Volksliedern von Kodaly und Spirituals reicht. Besonders herausragend sind ihre Arien von Verdi und Puccini sowie ihr Recital mit italienischen Opernarien. Wolfgang Denker

 

Felicia Weathers: Verdis Elisabetta/ Foto WD

Vor einiger Zeit führte ich mit Felicia Weathers ein Interview, das hier noch einmal in Erinnerung gerufen werden soll. Anfang der siebziger Jahre wurde es plötzlich stiller um Sie. Was waren die Gründe? Es gab in meinem Leben private Einschnitte durch meine Scheidung. Ich habe mich in dieser Zeit sehr zurückgezogen, wollte in dieser Zeit auch mehr für meinen Sohn da sein. Und ich wollte endlich einmal ‚Felicia’ kennenlernen. Meine Karriere ging ja so schnell, dass ich nie dazu kam, mich selbst zu analysieren. Für mich persönlich war das eine hervorragende Zeit, denn ich bin wirklich bis zu den Grundlagen meines Seins gegangen. Vielleicht war es auch eine besondere Form von Eitelkeit. Und dann passierte es, dass meine Eltern beide auf einmal starben, was für mich ein Schock war. All diese Sachen waren für mich so stark, dass ich einfach psychologisch und seelisch nicht mehr weiter konnte. So habe ich etwa von 1970 bis 1975 fast nichts von mir hören lassen. Aber in dieser Zeit habe ich kennenlernen müssen, wer meine Freunde waren, wer meine Feinde waren und sind, wer für mich etwas tun würde und wer nicht – all diese Dinge kamen heraus. Und sofort kamen die Gerüchte: Ah! Kann sie nicht mehr singen? Und sogar mein New Yorker Manager hat mich angerufen: ‚Bist Du noch da? Wir haben gehört, dass Du im Irrenhaus bist. Jemand hat gesagt, Du seiest eingeliefert worden.’

Dies nur zur Anschauung, wie die Sachen laufen können. Die Leute wollen immer etwas Sensationelles hören. Ich kann den Leuten aber leider Gottes nichts Sensationelles bieten, da müssen sie auf die Stars vom Film schauen. Aber bei mir werden sie es nicht finden. Ich bin stockbürgerlich und  ein ganz einfacher Mensch…

Wie und wo wurde der Faden der Karriere wieder aufgenommen? Nach einer gewissen Zeit war mein Sohn alt genug. Und ich hatte auch wirklich das Gefühl, wieder arbeiten zu müssen. Und so habe ich wieder angefangen, peu a peu, aber ohne große Publicity. Denn mir war auch in der Publicity früher vieles passiert. Man hat viel über mich geschrieben, von dem vieles stimmt, aber eben viele dieser Jet-Set-Geschichten auch nicht. Auf alle Fälle: Ich wollte einfach arbeiten und sehen, ob ich es noch kann. Zuerst habe ich in Bern gesungen, dann verschiedene Gastvorstellungen in Deutschland. Und sehr viel in Italien und Frankreich.

Welche Rollen, welches Repertoire standen da im Vordergrund? Ich habe z. B. in Frankfurt Suor Angelica gesungen oder meine erste Minnie  in Toulouse. Ich will nicht sagen, dass meine Liebe nicht der Oper gehört; es ist eine wunderbare Sache, eine Rolle zu interpretieren. Aber ich bin auch zu sehr vielen Liedern gekommen. Und da liegt mir stimmlich, ob Lied oder Oper, Strauss sehr gut. Daher setze ich auch meistens Strauss, aber auch Brahms auf das Programm. Und ich habe eine Neigung zu Hugo Wolf, der komischerweise in Deutschland nicht so viel gehört wird. Schubert liegt mir als Mensch weniger, obwohl er wirklich, wirklich schöne Lieder geschrieben hat. Aber Schumann ist mir von beiden doch der liebere. Dann, wo ich mich sehr wohl fühle, sind alte Lieder von Dowland, Rameau, Händel, Purcell. Das ist Reinigung für die Stimme.

Felicia Weathers: Verdi- und Puccini-Arien bei Decca

Sie haben auch viele Spirituals bei Auftritten mit deutschen Männerchören gesungen. In der Zeit als ich wieder angefangen hatte zu singen, hatte ich viele Auftritte deutschen Männerchören zu verdanken. Es waren sehr herzliche Menschen mit einer Liebe zur Musik, die zwar laienhaft, aber doch ehrlich, echt und schön war. Das hat mir sehr geholfen, Musik und Publikum auch von einer anderen Seite zu betrachten. Nun begegnete ich bei diesen Chören immer Arrangements von Spirituals, die zwar sehr schön waren, aber von der harmonischen Struktur, vom Kontrapunkt und Rhythmus, von der ganzen Idee her nicht zu unserer Musik passten. Es war vielleicht eine Melodie von uns, aber es hat nichts mit dem zu tun gehabt, was diese Musik für uns bedeutet. So musste ich mich immer mit einem Arrangement zurechtfinden, was total europäisch war. Dabei haben Spirituals mit dem afrikanischen Rhythmus der Sprache zu tun, mit Geben und Zurückgeben, mit Predigt und Antwort. Das ist alles ein Spiel, eine Geschichte, die in einem Lied abläuft. So kann z. B. das Klavier oder andere Stimmen den Rhythmus der Arbeit und der Arbeitsgeräte enthalten. Es erschien mir sehr reizvoll, für diese Männerchöre, die schöne Stimmen und auch begeisterte Sänger haben, Arrangements zu schreiben, damit sie traditionelle Spirituals richtig singen können. Meine Absicht war, zwei Dinge zu tun, was andere Arrangeure nicht getan haben: Das sind die Akzente und einen phonetischer Text unter den englischen zu setzen – deutsch phonetisch, sodass es für die Sänger problemlos lesbar ist. Denn wenn wir z. B. Konsonanten weglassen, dann hat das eine Bedeutung bei uns. Das ist wie ein Dialekt, ist auch Tradition. Und dass diese Tradition respektiert wird, darum bitte ich, das ist mein Anliegen.

Felicia Weathers: Schicksalsrolle Salome/ WD

Warum gibt es überhaupt so wenig europäische Sänger, die Spirituals singen? Wahrscheinlich haben sie es nicht versucht. Bis auf Fischer-Dieskau, der hat es schon versucht und gut gesungen. Also, sie können es schon. Aber das hängt auch mit einer anderen Tradition zusammen, die hier Gott sei Dank allmählich gebrochen wird. In Deutschland denkt man bei Liederabenden nur an klassische deutsche Lieder. Wir sagen „Recital“. Das heißt alles, eine bunte Palette. Nicht zu bunt, aber wir singen Lieder, wir singen Chansons von Faure oder Duparc oder Debussy. Wir singen auch spanische Lieder, z. B. de Falla und Granados. Dann werden auch schöttische, russische oder ungarische Volkslieder auf das Programm gesetzt. Oder auch antike Arien. Aber auch das ändert sich in Deutschland durch die Programme internationaler Sänger, die eben nicht nur Lieder bringen.

Sie sind auch als Regisseurin hervorgetreten.  Ich bin jetzt wieder aus meinem Schneckenhaus gekommen. Aber ich hoffe, ich werde verstanden, dass ich nicht nur herauskomme, um zu singen. Sondern ich will das tun, was ich tun muss, wo ich etwas geben kann. Und das hat nicht nur mit singen zu tun. Ich singe sehr gern noch und werde es auch weiter tun. Aber ich bin jung und gesund genug, um mehr als eine Sache zu tun. Ein Ponnelle kann Regie, Bühnenbild und Kostüme machen; ein Karajan kann dirigieren und inszenieren – und es wird bewundert.  Und niemand hat gefragt: „Wie kommen Sie dazu, zwei Dinge auf einmal zu machen?“ Aber wenn ein Sänger etwas anderes macht, denkt man sofort: Hoppla, es muss etwas los sein mit seiner Stimme. Das liegt wahrscheinlich an der weitverbreiteten Auffassung, dass ein Sänger zu dumm ist, etwas anderes außer singen zu machen. Das ist natürlich nicht der Fall. Sehr oft trifft man einen Sänger, der auch Arzt ist, oder der Psychologie oder Chemie vorher oder gleichzeitig studiert hat. Ich habe sogar auch etwas Naturwissenschaft studiert, was auch zur Musik passt. Denn ich glaube, Musik ist auch eine mathematische Frage. Also war mein Entschluss: Warum sollte ich einfach nur singen, wenn ich jetzt die Energie habe, auch etwas anderes zu tun.

Ihre erste Regiearbeit war Madama Butterfly 1980 in Heidelberg? Ja, dann habe ich in Amerika zwei Projekte gemacht: Zum einen einzelne Opern-Szenen an einer Universität im Rahmen von Meisterklassen. Dann für die National Opera in New York und Philadelphia Il Trovatore.

Ich glaube, heutzutage muss man sich selber kümmern, wenn man ernsthaft etwas machen will. Man kann nicht irgendwo oben sitzen und sagen: Hier bin ich, Leute, jetzt mache ich dies oder das. Ich glaube nicht, dass ich solch ein Mensch bin. Ich möchte viel lieber die Leute animieren, mir solche Dinge anzubieten, die mich fordern, bei denen ich mein Können zeigen kann.

Felicia Weathers: Arien bei Decca

Würde Sie nicht eine Salome-Inszenierung reizen? Ja und nein. Ich habe in einer solchen Vielfalt von Salome-Inszenierungen gesungen: Salome im Pop-Stil mit kurzem Rock, Salome mit Polizisten auf der Bühne… – mein Gott, was alles noch! Für mich waren die Inszenierungen in München von Hartmann, von Rennert an de Met und von Marherita Wallmann in Rom die wichtigsten. Mir fehlt in den meisten Inszenierungen immer das Gefühl von heißem Wind über Wüstensand. Ein Wind geht durch das ganze Stück, ist in der Musik. Man spürt, dass die Wüste nah sein muss. Das ist etwas, was der Hartmann damals gemacht hat. Bei Margherita Wallmann hat alles pulsiert. Sie hatte die ganze Bühne in Rot, mit blutroten Teppichen, alles strahlte Hitze aus. Man brauchte nur auf der Bühne zu stehen, dann war es schon sehr erotisch.

Wenn ich Salome inszenieren sollte, ich glaube, ich würde das Bühnenbild ganz sandfarben machen, dann mit roten Feuerfarben, Sonnenuntergangsfarben. Wenn ich an die Inszenierung selbst denke, würde ich vielleicht, wie Ponnelle, alles in zwei oder drei Dimensionen machen; mit Hintergrundszenen, Seitenszenen. Es würde bestimmt nicht alles auf der vorderen Bühne spielen. Aber meine Inszenierungsideen sind nicht komplett, sind wahrscheinlich auch nicht meine eigenen. Ich habe ein Stückchen von hier, ein Stückchen von da. Ich kann das nicht total ausschalten, um zu sagen, wie würdest du, Felicia, für dich das machen.

Felicia Weathers mit dem Sänger Ron Williams/ WD

Welche Erfahrung haben Sie selbst mit Regisseuren gemacht, was ist für Sie besonders wichtig? Für mich ist es am schlimmsten, wenn ich mit einem Regisseur arbeite, und wir fangen gleich an – und es gibt überhaupt keine Erklärung. Als ob der übersieht, dass er mit intelligenten Menschen arbeitet. Wir müssen eine gewisse Intelligenz haben, sonst würden wir diese Noten und diese Musik nicht interpretieren können.

Und eine Geschichte zum Schluss: Bei einer Salome ist mir mit einem Regisseur folgendes passiert: Er kam vom Schauspiel, hat dieses Stück als Schauspiel gesehen und es auch zwei Wochen als Schauspiel inszeniert. Bis er nicht mehr weiterkonnte und er irgendwie zugeben musste, dass da doch wohl auch ein paar Noten dabei sind. Und er musste fast total wieder von vorne anfangen. Dann hat er es aber recht gut gemacht und wir sind gute Freunde geworden. (Wolfgang Denker)