In der Titelpartie einer Mozart-Oper in Salzburg zu debütieren – noch dazu in der Eröffnungsproduktion der Festspiele – ist für jeden Sänger eine enorme Herausforderung. Auch für Russell Thomas bedeutete das Engagement für die Hauptrolle in La clemenza di Tito einen Meilenstein in seiner Karriere. Zudem trug diese Inszenierung den Stempel des Besonderen durch die Zusammenarbeit des griechischen Dirigenten Teodor Currentzis mit dem amerikanischen Regisseur Peter Sellars. Beide hatten bei ihrer Deutung in der Felsenreitschule dem Stück jeden feierlichen Krönungspomp ausgetrieben, die Handlung in einem Flüchtlingslager unserer Tage angesiedelt und mit schockierenden Bildern von Terror, Tod und Trauer für divergierende Publikumsreaktionen gesorgt. Thomas sollte in seiner Interpretation weniger den heroischen als den verwundbaren Herrscher betonen, der am Ende den Folgen des auf ihn verübten Attentats erliegt. Der Sänger musste den gesamten 2. Akt im Krankenbett liegend absolvieren, seine körperlichen Leiden äußerten sich in existentiellem Gesang mit gebrochenen, gequälten, ersterbenden Tönen und Koloraturen wie schmerzvolle Zuckungen.
Thomas ist ein Verfechter des zeitgenössischen Regie-Theaters und hat daher auch Sellars Konzept verstanden und akzeptiert. „Ich liebe diese Art von Theater, und ich brauche sie für meine eigene künstlerische Arbeit. Ich will solche eigenwilligen, auch seltsamen Ideen und Komponenten. Das fordert mich heraus, mein Bestes zu geben. Und es hilft mir vor allem in meiner szenischen Darstellung, denn ich bin kein besonders guter Schauspieler. Auch für die Zuschauer bedeutet es eine Herausforderung. Man kann doch ein Werk nicht immer nur in derselben Manier zeigen und sehen. Im Zeitalter des Fernsehens muss man ein Stück relevant machen für das heutige Publikum. Tito mit seiner Großmut, seiner Milde und der Gabe zu verzeihen entspricht dem Ideal eines Herrschers. Aber solche Charaktereigenschaften gibt es heute nicht mehr, die Realität in unseren Zeiten sieht ganz anders aus. Historisch gesehen, war Tito kein freundlicher, gütiger Mensch. Bei der Figur in Mozarts Oper fehlt der teuflische Aspekt. Currentzis hat bei den Proben immer wieder gesagt: ‚Aggressiv singen! Sei kein schöner Mozart-Sänger!’ Das war ein enormer Anspruch, den ich zu erfüllen hatte. Wie zeige ich, dass in diesem idealisierten Herrscher auch ein Teufel steckt? Schaut man sich die Partie an, findet man in der ersten Arie eine schöne Linie, aber bald einen zornigen, sogar aggressiven Ausdruck in seinen Soli. Mit Sellars und Currentzis habe ich über sechs Wochen intensiv geprobt, obwohl ich die Partie bei meinem Debüt an der New Yorker Met schon gesungen hatte. In Salzburg zu sein und die Stadt Mozarts zu erleben war ein großes Glück. Dieser Ort mit seiner reichen Geschichte, den vielen Kirchen, der reichen Tradition an Dirigenten und Solisten, die hier wirkten, ist einfach phänomenal und einzigartig. Und ein Auftritt in Salzburg ist für die Karriere eines Künstlers eben enorm wichtig.
Mozart spielte in meiner Laufbahn von Beginn an eine wichtige Rolle. Den Tamino habe ich über hundert Mal gesungen, wobei mir meine Deutsch-Kenntnisse, die ich beim Studium der Sprache am Goethe-Institut in Rothenburg ob der Tauber erworben hatte, zugute kamen. Probleme mit der Technik sollte man bei Mozart nicht haben, seine Musik auch nicht in schwacher stimmlicher Verfassung singen. Mozart macht einen Interpreten zum ehrlichen Sänger.“ Auch den Idomeneo hat Thomas bereits gesungen, darüber hinaus die Tenorsoli in der c-Moll-Messe und im Requiem sowie mehrere Konzertarien des Komponisten.
Betrachtet man das Repertoire von Russell Thomas, erstaunt dessen enorme Vielfalt. Man findet italienische, französische und deutsche Partien, einige von lyrischem, andere von heldischem Charakter, einige mit virtuosem Anspruch an die Koloraturfähigkeit, andere, die eher dem Charakterfach zugeordnet werden. Für den Sänger ist solche Mannigfaltigkeit ganz normal. Er braucht die Abwechslung. Gleich nach der letzten Salzburger Aufführung reiste er zum Tanglewood Festival für ein Gala-Programm mit dem 2. Akt der Tosca als Partner von Kristine Opolais und Bryn Terfel sowie der 9. Sinfonie von Beethoven. Nur einen Monat später gibt er sein Rollendebüt als Verdis Otello in Atlanta, kehrt danach zurück an die Met für den Rodolfo in La bohème und beendet das Jahr an der Oper Frankfurt mit dem Henri in Verdis Les Vepres Siciliennes.
„Jeder möchte heute Spezialist sein – im Rossini- oder Mozart-Fach, als Verdi- oder Wagner-Sänger. Für mich wäre es langweilig, immer nur dasselbe Repertoire zu singen oder mich auf drei, vier Partien zu konzentrieren. Ich will mein Leben interessant machen. Ich bin kein Heldentenor, aber ich liebe den Otello und finde diese Herausforderung reizvoll und spannend. Dabei sehe ich mich nicht in der Tradition von Del Monaco oder Vickers, eher in der Nachfolge von Bergonzi als lirico-spinto-Tenor. Das Rollendebüt in Atlanta wird in einer konzertanten Aufführung stattfinden. Danach entscheide ich, wie es mit der Partie weiter geht. An der Met würde ich sie erst nach mehreren Versuchen vorstellen wollen. Natürlich habe ich Erfahrungen im Verdi-Fach (Ismaele an der Met, Manrico an der Cincinnati Opera, Gabriele Adorno in Covent Garden, Carlo in den Masnadieri an der Washington Concert Opera), aber der Otello ist durch die Länge der Partie etwas Besonderes. Die Herausforderung liegt weniger in der Höhe oder Tiefe, sondern vor allem in der emotionalen Beanspruchung, der man als Interpret ausgesetzt ist. Fast die ganze Zeit muss man mit stentoraler Stimme singen, und es ist wichtig zu entscheiden, wo man alles geben muss und wo man sparen kann. Im gesamten 2. Akt gibt es keine Pause für den Sänger, da wird totaler Einsatz verlangt. Dagegen kann man sich im 3. Akt erholen. Ich trage mir in die Partitur private Zeichen ein, wo ich flüstern oder in der mezza voce singen kann. Noch einmal: Ich weiß, dass ich kein großer Schauspieler bin, bei mir geschieht die Darstellung durch den Einsatz der Farben und die Phrasierung.“
Auch im deutschen Repertoire sucht Thomas Wagnisse. In einer konzertanten Aufführung des Rheingold bei der New York Philharmonic rühmte die Presse seinen ‚terrific Loge with personality and energy’. „Nachdem ich schon einige Male den Florestan gesungen habe, möchte ich in einigen Jahren den Tannhäuser probieren. Erik und Siegmund interessieren mich weniger, aber ich liebe den Steuermann! Nichts soll und darf nach eingefahrenen Regeln gehen.“
So interessiert Thomas auch das slawische Repertoire, obwohl er bisher nur eine Erfahrung damit gemacht hat – mit dem Prinzen aus Dvoráks Rusalka an der North Carolina Opera, was die Presse mit ‚commanding voice and physical presence’ kommentierte. „Ich würde gern Janácek-Rollen erarbeiten und damit vielleicht zu einem besseren Darsteller werden. Janáceks Opern, Jenufa oder Katja, sind menschliche Geschichten mit Figuren, die einen dazu bringen, besser zu agieren.“
Es gibt dennoch Rollen, von denen Thomas träumt, sie aber als unrealistisch für seine Karriere einschätzt. „Schon viele Angebote hatte ich für Rossinis Otello, aber die Partie liegt für mich zu tief. In dieser Lage singe ich nicht gut. Jahrelang war meine Traumrolle der Don José, denn die erste Oper, die ich live sah, mit 12 Jahren, war Carmen. In Toronto konnte ich meinen Wunsch realisieren. Ähnlich begeistert hat mich der Hoffmann, den ich bisher bereits in drei Produktionen gesungen habe. Trotz der Länge und exponierten Tessitura der Partie war ich nie müde, hatte auch keine Probleme mit der Höhe, eher mit der Stamina für die langen Solonummern, aber ich bekam das Gefühl, dass mich danach nichts mehr erschüttern kann. So denke ich an so unterschiedliche Rollen wie Edgardo in der Lucia, Enzo in La Gioconda, Radames, Canio, Andrea Chénier und den Faust in Mefistofele.“
Russell Thomas studiert seine Partien akribisch, liest zuerst das Libretto, auch in englischer Übersetzung, um den Inhalt genau zu verstehen. Ebenso beschäftigt er sich mit Sekundärliteratur, um zu verstehen, wo eine Geschichte ihren Ursprung hat. Bei Otello vergleicht er Shakespeare mit Verdi, um zu sehen, auf welche Szenen des Dramas der Komponist in seiner Vertonung verzichtet hat. Erst dann studiert er den Notentext, hört dabei vergleichend mehrere Aufnahmen. „Mein Favorit für Otello ist Del Monaco, aber das ist nicht meine Stimme, ebenso wenig wie die Galusins. Solche Sänger führen mich in die von mir gewünschte Richtung, aber es wäre hoffnungslos, sie kopieren zu wollen. Ich würde meine Stimme ruinieren.“
Zu Deutschland hat Russel Thomas eine besondere Affinität. Er liebt Berlin und möchte sich hier eine Wohnung kaufen. Einige Auftritte an der Deutschen Oper Berlin sind bereits fixiert, so sein erster Alvaro in der Forza oder der erste Otello in Europa 2019. Auch den Salzburger Tito wird er an diesem Haus interpretieren, denn Sellars Inszenierung ist eine Koproduktion mit der Dutch National Opera, Amsterdam, und der Deutschen Oper Berlin. (Foto oben: Russell Thomas/ Foto Fay Fox/ http://www.russell-thomas.com/)