Archiv für den Monat: Oktober 2018

Poetischer Herz-Tod

 

Herz-Tod. Auf die Idee, eine CD so zu titeln, muss man erst mal kommen. Decca ist darauf gekommen – und zwar bei einer Liedauswahl mit Günther Groissböck (481 6957). Herztod ist zunächst einmal ein medizinischer Befund. Der Sänger wandelt ihn durch Kunst in Poesie. Auf dem Cover sieht Groissböck aus, als wollte er auf eine Beerdigung gehen. Das ist durchaus beabsichtigt, wie aus dem Booklet zu erfahren ist. Dort findet sich ein ausführliches Interview mit Ines Steiner. Beide sind per Du. Da spricht es sich offenbar leichter über letzte Dinge. Der Sänger schildert auch eigene Erfahrungen aus dem familiären Umfeld mit dem Tod. „Es ging mir zugegebenermaßen auch darum, die Hörer mithilfe dieses schroffen, harten Titels … und natürlich vor allem über diese wunderbare, teilweise auch sehr sinnliche, abgründige Musik etwas tiefer zu erreichen; sie vielleicht sogar etwas anders, bewusster, dabei aber auch vertikaler oder gar dreidimensionaler empfinden zu lassen.“

Was steht auf dem Programm? Vier ernste Gesänge von Johannes Brahms, Richard Wagners Wesendonck-Lieder, die Michelangelo-Lieder von Hugo Wolf und Gustav Mahlers Rückert-Lieder. Da wird gestorben, gelitten, getrauert, Abschied genommen: „Es ist alles von Staub gemacht, und wird wieder zu Staub“, heißt es beim Prediger Salomo, den sich Brahms als Textvorlage wählte. Groissböck spricht in Bezug auf die Programmauswahl von „Endlichkeit und Mühsal der menschlichen Existenz“. Keine Stücke also, mit denen man einen erfüllten Tag entspannt ausklingen lässt. Der Sänger und sein Pianist Gerold Huber bohren tief und muten ihrem Publikum einiges zu. Wer sich darauf einlässt, muss sich aber nicht fürchten. Im Gegenteil. Das Künstlerduo, das schon für die Decca bei der Winterreise und beim Schwanengesang von Schubert zusammenarbeitete, gewinnt dem Thema auch jene elementaren Kräfte ab, die sich gegen den Tod stellen. In ihrer Interpretation trägt der Tod nicht den Sieg davon. Die CD wirkt auf mich außerordentlich tröstlich und versöhnlich. Ich habe sie mehrfach gehört. Auch zu sehr später Stunde.

Beide Künstler bringen eine große Ruhe und Gelassenheit in den Vortrag ein. Sie meiden Extreme. Groissböck wirkt stimmlich mächtig und unerschütterlich wie ein Fels. Manchmal hätte ich mir ein wenig mehr Farbe gewünscht, auch wenn das Thema zum Schwarzweißen neigt. Wenn ich mich für einen Zyklus entscheiden müsste, meine Wahl fiele auf die Wesendonck-Lieder, obwohl ich meine Schwierigkeiten damit habe, wenn ein gestandener Mann wie Groissböck danach greift. Nicht nur wegen der realen biographischen Bezüge der Lieder, die Zeugnis ablegen von der leidenschaftlichen und schwärmerischen Beziehung zwischen Wagner und der reichen Kaufmannsgattin Mathilde Wesendonck. Für mich sind sie in weiblichen Gefühlswelten, Empfindungen und Sichten angesiedelt. Nicht alles lässt sich nivellieren, was beide Geschlechter unterscheidet. Groissböck sieht das anders und damit wohl auch moderner und nicht so traditionell tradiert. Er habe „im Text keine verbindliche Geschlechtszugehörigkeit entdeckt“, sagt er im Interview. Und er habe sich gefragt, warum denn nicht mal diese „gender-neutralen“ Lieder als Mann singen, weil es ja auch Titel wie „Schmerzen“ oder „Stehe still“ gebe, zu „denen etwas draufgängerisches Testosteron sehr gut passt“.

Er ist nicht der erste Sänger, der sich diesem Zyklus zuwendet und damit in eine bislang traditionelle Sängerinnendomäne einbricht. Zuvor hatten sich bereits René Kollo und Jonas Kaufmann – um zwei prominente Beispiele zu nennen – damit versucht. Groissböck will also nicht in fremden Territorien wildern oder gar den Kolleginnen die Lieder wegnehmen. Er dringt mit seiner fesselnden Darbietung in jene Bereiche vor, wo sich die Gefühle von Frau und Mann treffen und ineinander gehen. Am Ende hatte auch ich vergessen, dass ich diesen Liederzyklus bisher am liebsten von Frauen gesungen höre. Rüdiger Winter

Gre Brouwenstijn

 

Gre Brouwenstijn (geboren als Gerda Demphina: 26 August 1915 in Den Helder – 14 December 1999 in Amsterdam) hat mir mit ihrem Fidelio einen tiefen Eindruck hinterlassen. Ich sah sie in den späten frühen Siebzigern an der Deutschen Oper Berlin im Tandem mit Hans Beirer (neben der notorisch munteren Lisa Otto), beide nicht unstatiös und figürlich quasi ineinander passend, zumal keine dramatische Sängerin im kurzen Lederwams der Kuchta attraktive Figur machte. Aber die leuchtende, wirklich vor Emotionen vibrierende große Stimme der Brouwenstijn, ihr dramatischer Ausdruck, ihre völlige Verinnerlichung der Leonore wirkten im wahrsten Sinne mesmerisierend. Ich war völlig gebannt von ihrer Verkörperung und vergaß alles Drumherum. Ihre große Arie geriet zu einer Hymne an die Freiheit, ihr Duett mit dem wie stets tapferen Beirer zu einem Fanal der Gattenliebe.

Ihre Aufnahmen geben diese magische Wirkung nur in Teilen wieder, dann fand ich sie ein wenig zu oft recht „atmig“, manchmal auch zu bürgerlich im Ausdruck. Aber die gerühmte Don-Carlos-Aufführung aus London oder die Sieglinde auf der Leinsdorf-Einspielung sind wirklich unerreicht und wunderbar. Im Folgenden ein Porträt der großen holländische Sängerin von Paul Korenhoff von 1991, das wir mit seiner freundlichen Genehmigung hier wiederholen. G. H.

 

Im Juli 1954, als die Proben für die vierten Bayreuther Festspiele nach dem Kriege in vollem Gange waren, sah man vor allem der Tannhäuser-­lnszenierung von Wieland Wagner mit Spannung entgegen. Zum einen war der „Tannhäuser“ in Bayreuth zuvor nur selten zu sehen gewesen, zum anderen wuchs die Überzeugung, dass Wielands Regiestil Neu-Bayreuth einen ganz eigenen Stempel aufdrücken würde. Im Verlauf der Proben begann sich die Neugier der bekannten Bayreuther Gerüchteküche auf die Solisten zu konzentrieren. Der Heldentenor Ramon Vinay aus Chile war in Bayreuth kein Unbekannter mehr, und dem Bariton Dietrich Fischer-Dieskau war sein Ruhm bereits vorausgeeilt. Besonders gespannt war man auf die neue Elisabeth, eine holländische Sopranistin, die den Gerüchten zufolge eine warme, strahlende lyrische Stimme mit dem Äußeren des Filmstars Ingrid Bergman vereinte Bis dahin war die Karriere der 1915 im holländischen Den Helder geborenen Sängerin ruhig  verlaufen.  Die Kriegsjahre hatten ihr einen frühen Start verwehrt, und während der ersten Jahre danach sang Gre Brouwenstijn hauptsächlich in den Niederlanden und in England (vor allem Verdi: Aida, Trovatore-Leonora, Ballo-­Amelia, Desdemona; aber auch Mozart und Beethoven ).

Ihr Bayreuther Debüt stellte den Beginn einer bedeutenden Wagner-Karriere dar. So wurde sie bei den Festspielen von 1956 als Freia, Sieglinde, Gutrune und Eva gefeiert. Ihre Senta und Elsa, Rollen, die sie anderswo mit großem Erfolg sang, sollte Bayreuth nie zu hören bekommen. Ihre Gelassenheit und der Verzicht auf eine Karriere um jeden Preis, eben Eigenschaften, die schon die vorangegangenen Jahre geprägt hatten, führten 1957 nämlich zu einem Bruch zwischen ihr und der Familie Wagner. In diesem Jahr hatte sie auch anderweitige Verpflichtungen, so zum Beispiel beim Holland-Festival, das traditionellerweise bis in die Mitte des Juli hineinreicht, und deshalb nahm sie die Einladung zu den Wagner-Festspielen nicht an. Ein solches Verhalten wurde in Bayreuth nicht gern gesehen. Die halbe Welt mochte der Holländerin Gre Brouwenstijn als einem der wenigen bedeutenden jugendlich-dramatischen Soprane zujubeln – wer es in dieser Zeit wagte, ein Engagement nach Bayreuth auszuschlagen, brauchte sich keine Hoffnung mehr auf eine erneute Einladung machen. Es hat Gre Brouwenstijn nicht geschadet, und über viele Jahre hin war sie an der Wiener Staatsoper einer der von Karajan am meisten geschätzten Wagner-Soprane. Die Brüder Wagner konnten ganz ohne sie auch nicht auskommen, denn obwohl sie in Bayreuth nie mehr sang, hat Wieland Wagner sie später doch für Produktionen verpflichtet, die er außerhalb Bayreuths inszenierte.

Vier Jahre nach ihrem sensationellen Bayreuther Debüt bot sich Gre Brouwenstijn eine neue große Aufgabe: 1958 sang sie am Londoner Opernhaus von Covent Garden eine Reihe von Vorstellungen von Verdis Don Carlo unter der Leitung von Carlo Maria Giulini in der legendären Inszenierung von Luchino Visconti. Zu diesem Zeitpunkt war sie schon lange keine Unbekannte mehr. Sie besaß internationale Anerkennung als Verdi­-Sopran, nicht nur aufgrund ihrer stimmlichen Mittel, sondern auch weil sie über ein bemerkenswertes Stilgefühl und eine große Schauspieler-Persönlichkeit verfügte. Ihr Auftreten wirkte gelegentlich statuarisch, aber von dem Moment an, da sie mit ihrer eleganten Erscheinung die Bühne betrat, strahlte sie Persönlichkeit und Wärme aus und wurde – wenn es die Szene erforderte – zum Mittelpunkt der Handlung. Deshalb war sie besonders als Aida und Amelia erfolgreich. Noch deutlicher zeigte sich ihre Stärke jedoch in Rollen, die grundsätzlich einen passiven Charakter besitzen, so zum Beispiel bei Verdis beiden Leonoren und Desdemona. Als Zeitgenossin einer Callas, Olivero, Rysanek, Varnay und Mödl und unter dem Einfluss vieler großer Dirigenten und Regisseure der fünfziger Jahre begriff sie, dass schönes Singen allein keine Oper macht, dass vielmehr der Gesang aus der darzustellenden Persönlichkeit hervorgehen muss. So konnte sie sogenannte Passivität in eine begreifbare und nachvollziehbare Charaktereigenschaft umwandeln und der Tragik dieser von ihr gespielten Persönlichkeiten eine tiefere Dimension verleihen. In dieser Beziehung erreichte sie ihren Höhepunkt mit der Darstellung der Elisabetta im Londoner Don Carlo neben solchen Größen der damaligen Zeit wie Fedora Barbieri, Jon Vickers, Tito Gobbi und Boris Christoff. Die großartigen Kostüme Viscontis passten perfekt zu ihrer Bühnenerscheinung, und der Charakter einer Königin, die ihre unglückliche Ehe als Gefängnis erlebt, aber dennoch gegen die Liebe zu einem anderen Mann ankämpft, war wie für sie geschaffen. In dieser Rolle fand sie die für sie ideale Verbindung von innerem Adel, Herzenswärme und Opferbereitschaft.

Die Rolle, in der diese Elemente am idealsten verkörpert sind und die deshalb auch ihre großartigste war, ist die Leonore im Fidelio. Zum ersten Mal sang sie die Titelpartie in dieser Oper am 15. November 1949 – im Februar 1971 nahm sie mit ihr Abschied von der Bühne. Während all dieser Jahre hat sie die Musik Beethovens immer wieder gesungen, und nach Ablauf einiger Zeit galt sie von Berlin bis Buenos Aires als die ideale Fidelio-Interpretin. Vier Jahre nach dem Londoner Don Carlo eröffnete sich ihr mit der Plattenaufnahme ein neuer Horizont. Nach einer Vorstellung des Ballo in San Francisco fand sie in ihrem Hotelzimmer ein Telegramm des bejahrten Bruno Walter vor, mit der Bitte, ihn am folgenden Morgen in Beverly Hills aufzusuchen. Der Grund wurde bald deutlich: Walter wollte eine Aufnahme des Fidelio machen und suchte dafür eine Leonore. Zusammen gingen sie die gesamte Partie durch, und danach war die Unterzeichnung des Vertrages nur noch eine Formalität. Einen Monat später traf jedoch die Mitteilung ein, dass Bruno Walter gestorben sei, und Gre Brouwenstijn kam nie dazu, ihre Glanzrolle im Schallplattenstudio einzuspielen (Aber zahllose „graue“ Aufnahmen mit ihr in dieser Partie ebenso wie Verdis Elisabetta aus London und viele mehr belegen ihren Rang/ G. H.).

Es hat wenig Sinn zu bedauern, dass ihr Fidelio nie offiziell auf Schallplatte festgehalten wurde, so wie es auch keinen Zweck hat darüber nachzugrübeln, wie ihre Karriere wohl verlaufen wäre, wenn sie 1957 in Bayreuth nicht abgesagt hätte oder wenn sie zu dieser Zeit Rollenangebote von der Met oder der Scala angenommen hätte. Für die, die sie noch im Theater oder Konzertsaal erlebt haben, bleiben Erinnerungen im Übermaß; an ihre Rollen in Opern von Wagner, Verdi und Beethoven, aber Gre Brouwenstijnauch an ihre Verkörperung der Jenufa, Tosca, Marta (Tiefland), Agathe, Tatjana oder Chrysothemis und sicher nicht zuletzt an die vielen Male, da sie die Sopranpartie im Verdi-Requiem oder in der Neunten Symphonie von Beethoven (namentlich letztere unter Furtwängler anlässlich der Bayreuther Festspiele im Jahre 1954) gesungen hat. Das größte Kompliment, das man Gre Brouwenstijn zurückblickend machen kann, ist vielleicht, dass sie nicht nur als Sängerin, sondern vor allem als beeindruckende Charakterdarstellerin in Erinnerung bleibt. Paul Korenhof/Übersetzung. Barbara Geßler/Textred. G. H.)

 

Paul Korenhof war der Chefredakteur des holländischen Opernmagazins Opera Scala und der Schallplattenzeitschrift Luister, er hat zudem ein Recital von Gre Brouwenstijn bei Philips mit Arien von Beethoven, Weber, Verdi und Wagner herausgeben, dem der vorliegende Artikel entnommen ist; gleichzeitig ist bei DECCA die Leinsdorf-Walküre wieder erschienen. In einer Sonderedition hat zudem Covent Garden bei opus arte ihren Don Carlos als CD herausgebracht.  Berliner Opernbesuchern wird ihr Fidelio in Erinnerung bleiben! Foto oben: Gre Brouwenstijn als Sieglinde in San Francisco/ Künstlerpostkarte/ Korenhof

Teodulo Mabellini

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Wer war Teodulo Mabellini? Sein Name ist den wenigsten Musikfreunden präsent, vielleicht aber zumindest denen, die eine Aufnahme der Messa per Rossini besitzen, die seine Komponisten-Kollegen aus Anlass dessen Todes mit ihren Beiträgen verfasst haben, darunter Namen wie Verdi, Coccia, Ricci, Rossi und eben Mabellini (der das Lux aeterna beisteuerte).   Alex Weatherson schreibt in seiner Kritk zum neu erschienenen Buch von Claudio Paradiso (Teodulo Mabellini: Maestro dell´Ottocento musicale fiorentino): With an index finger poised above the heart of his world – that is, above Firenze – this fundamental collection of essays triumphantly exceeds the sum of all its parts, only very rarely do the most qualified come together to celebrate a long lost musical magnet from an obliterated past and seldom do they do it with the distinction they do here but the hopelessly neglected pistoiese composer Teodulo Mabellini has long been a candidate for such a scholarly endorsement. That the most fascinating musicisti slip out of sight and sound is a factor underscored on a daily basis in our digital ears, Mabellini (1817-1897) was not just a musical metronome holding up his conductor’s baton ticking away the enlightened culture of his sovereign haven, but was fated to be discarded during the patriotic upheaval of his mid-career and dropped like a stone into an abyss putting an end to all past, present and future potential.

Dass der Zeitgenosse und Kollege Giuseppe Verdis zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist, belegt auch die soeben veröffentlichte Neuausgabe einer seiner bedeutendsten Kompositionen, seines Requiem. Grund für eine Begegnung mit eben diesem unbekannten Komponisten, die uns  Guido Johannes Joerg vermittelt, der dieses bedeutende geistliche Werk im Verlag Christoph Dohr herausgegeben hat.

Teodulo Mabellini um 1897 in einer Fotografie von Giacomo Brogi/ OBA

Teodulo Mabellini (1817–1897) war zu seinen Lebzeiten nicht nur einer der bedeutendsten Orchesterdirigenten in Italien; seine Opern, seine Oratorien und Festkantaten, seine Kirchenmusik, seine Lieder und Instrumentalkompositionen waren äußerst beliebt und brachten es auf eine ansehnliche Zahl an Aufführungen. Das Musik- und Kulturleben von Florenz prägte er für mehr als fünfzig Jahre. Vergessen wurde er einmal wegen der Dominanz der Musik und Persönlichkeit Verdis (ähnlich erging es Dutzenden von fleißigen und begabten Zeitgenossen und deren Musik) und weil er die Ochsentour eines italienischen Opernkomponisten wegen seiner sehr respektablen Festanstellungen nicht mitmachen musste: jenes typische Leben eines von Theater zu Theater reisenden Freischaffenden, das seinerzeit als notwendiges Übel verstanden wurde, um zu Erfolg und Ruhm zu gelangen.

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Eine typische Komponistenlaufbahn… Teodulo Mabellini wurde am 2. April 1817 als Sohn eines Instrumentenbauers in Pistoia nahe Florenz geboren. Er wuchs in einfachen Verhältnissen auf; der Vater lehrte ihn musikalische Grundlagen. Als Neunjähriger trat Teodulo bereits öffentlich als Flötist und Pianist auf; er spielte in Musikkapellen und im Ballett- und Opernorchester und sang im Chor der Kathedrale von Pistoia, wo er auch Unterricht in Harmonielehre und Kontrapunk erhielt. 1832 wurden seine frühesten Kompositionen aufgeführt. 1836, nach erfolgreichem Abschluss eines dreijährigen Musikstudiums in Florenz, brachte das dortige Teatro Alfieri seine erste Oper Matilde e Toledo heraus, die gut aufgenommen wurde. (Zur gleichen Zeit bemühte sich der 1813 geborene Giuseppe Verdi – dreieinhalb Jahre älter als Mabellini – vergeblich um die Organistenstelle in Busseto; seine erste Oper Oberto, conte di San Bonifacio sollte erst 1839 am Mailänder Teatro alla Scala herausgebracht werden.) Der Erfolg seiner Oper brachte Mabellini ein Stipendium des Großherzogs der Toskana ein, so dass der Zwanzigjährige im Mai 1837 für dreieinhalb Jahre nach Novara gehen konnte, um bei Saverio Mercadante, einem der fruchtbarsten Opernkomponisten jener Zeit, zu studieren. Für den Dom von Novara entstanden zwei Messen, für den Florentiner Hof Kantaten – und am 12. November 1840 erlebte der gerade einmal 23jährige Komponist seinen ersten nachhaltigen Erfolg mit seiner am Teatro Carignano in Turin uraufgeführten Oper Rolla, die sogleich vom Mailänder Musikverlag Ricordi veröffentlicht wurde. Das tragische Werk um einen fiktiven Renaissancebildhauer erlebte anschließend zahlreiche Wiederholungen in ganz Italien und auch im Ausland. Bevor Mabellini seine Studien bei Mercadante beendete, wurde am 13. November 1841 – ziemlich genau ein Jahr nach der erfolgreichen Premiere seines Rolla und wieder in Turin – seine Oper Ginevra di Firenze (auch Ginevra degli Almieri) herausgebracht.

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MabellinI: Kostumentwurf für die Oper „Rolla“ (1841) von Filippo del Buono (im Archiv des Conservatorio di San Majella, Florenz)/ Wiki

…mit untypischer Fortsetzung: Bis hierher war die Laufbahn Mabellinis typisch für die eines italienischen Komponisten des frühen 19. Jahrhunderts. – Doch anstelle der Ochsentour, die einen Opernkomponisten von Stadt zu Stadt und Theater zu Theater, zwischen Erfolgen und Fiaskos bevorstand, konnte er sich ein solides Auskommen in Florenz sichern. In der Hauptstadt der Toskana gab es ein lebendiges kulturelles Leben unter einer liberalen Regierung; freilich war Florenz alles andere als der Nabel der Musikwelt. – Der Erfolg seiner am 4. Juni 1843 am Teatro della Pergola in Florenz uraufgeführten Oper Il conte di Lavagna sorgte dafür, dass ihm die Leitung des Orchesters der Società filarmonica di Firenze übertragen wurde. Als Orchesterdirigent gelang es ihm im Verlauf etlicher Jahrzehnte, seine Landsleute mit dem Kernrepertoire der internationalen, vor allem der deutsch-österreichischen klassischen und romantischen Instrumentalmusik bekannt zu machen – auf höchstem interpretatorischen Niveau. (In Italien wird er bis heute für diese Leistungen geschätzt, während man ihn als Komponisten auch dort vergessen hat.) Mabellini schrieb weiterhin Opern; der Schwerpunkt seiner kompositorischen Arbeit verlagerte sich aber auf die Ausgestaltung großer offizieller Feierlichkeiten der Stadt Florenz und des Großherzogtums Toskana, wo Festkantaten und abendfüllende Oratorien Tradition hatten. Am 22. Juni 1845 wurde im repräsentablen Saal der Fünfhundert im Palazzo Vecchio in Florenz das „geistliche Drama“ Eudossia e Paolo o I martiri uraufgeführt – das erste einer Reihe von Werken, wie sie seinerzeit beliebt waren: einer Mischform aus Oratorium und sakraler Oper, die auch Rossini mit seinem Mosè in Egitto bedient hatte. Mabellinis Oratorien erlebten eine Vielzahl an Aufführungen; einige ihrer Titel wurden aufgrund der nicht eindeutig zuzuordnenden Gattung auch als Opern verstanden.

Dirigent und Komponist: Nachdem Mabellini Anfang 1848 zum Kapellmeister der Florentiner Hofkapelle bestellt wurde, konnte er sich weiter für das deutsch-österreichische Repertoire einsetzen, wie es am Hof des Habsburgisch-Lothringischen Großherzogs gepflegt wurde. Kurz darauf wurde er noch zum Operndirigenten des Teatro della Pergola berufen, an dem er ebenfalls mehrere Jahrzehnte lang wirken sollte. Er war einer der ersten italienischen Orchesterleiter, der nicht als Instrumentalmusiker begonnen hatte; zusammen mit dem bedeutenden italienischen Kapellmeister und Orchesterleiter Angelo Mariani begründete Mabellini das Berufsbild des modernen Dirigenten. Er wurde geschätzt für seine Werktreue, mit welcher er klassische und zeitgenössische Werke aufführte, und für seine Bescheidenheit im Umgang mit den Zeitgenossen.

Mabellini: Titelblatt für das Libretto von „Il conte di Lavagna“/ OBA

Mabellini war nicht einmal dreißig Jahre alt, als er sich sowohl als Komponist von Bühnenwerken, repräsentativen Kantaten und Kirchenmusik wie auch als Dirigent mit respektablen Festanstellungen hatte etablieren können: er hatte erfolgreich die Gattung der Oper bedient, die wichtigste Form im italienischen Musikleben – und sogar an wichtigen Opernhäusern; seine Musik hatte sich zum wesentlichen Bestandteil der Repräsentationen des Toskanischen Hofes entwickelt. Das Orchester der Società filarmonica konnte er rasch zu einem der wichtigsten Klangkörper in Italien formen. 1846 heiratete er die Tochter eines Florentiner Apothekers; aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor. Mabellini hatte sich musikalisch wie gesellschaftlich bestens positioniert.

Kirchenmusikalisches Hauptwerk: Mehrere Messen und Motetten waren seit der Studienzeit in Novara entstanden; die 1847 entstandenen Responsori per la settimana santa wurden in den nachfolgenden Jahrzehnten in der Florentiner Hofkapelle jeweils während der Karwoche musiziert. Ein Werk aber war es vor allen anderen seiner Kompositionen, das ihm zu seinen Lebzeiten größten Erfolg und Ruhm in Italien und ganz Europa einbrachte: seine Grande Messa di Requiem von 1850/51, die Vorbild und Modell für alle nachfolgenden Totenmessen im 19. und frühen 20. Jahrhundert sein sollte – einschließlich Verdis Messa da Requiem von 1874. Mabellinis Requiem c-Moll für Solostimmen, Chor und großes Orchester ergänzte und vervollständigte er 1856 um eine Vertonung des Responsoriums Libera me, Domine. Bei der Uraufführung des Requiems am 15. Mai 1851 in der Kirche San Gaetano in Florenz war Gioachino Rossini anwesend, der den „echten liturgischen Stil“ der Totenmesse lobte und einen Vergleich mit Mozarts Requiem anstellte: während die Deutschen jenes rühmten, würden die Italiener ab sofort dasjenige Mabellinis bevorzugen.

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Mabellini: Für die „Messa per Rossini“ steuerte er das „Lux aeterna“ bei, hier die Aufname unter Helmut Rilling bei Hänssler Profil

Der Vergleich war nicht überzogen. Mabellinis Requiem war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa die am meisten aufgeführte Totenmesse – vor denjenigen Mozarts oder Cherubinis. Nicht von ungefähr bat Verdi den Kollegen Ende 1868, sich an der Gemeinschaftsarbeit einer Messa per Rossini zu beteiligen, die am ersten Todestag Rossinis am 13. November 1869 in Bologna musiziert werden sollte, deren Aufführung aber schließlich nicht zustande kam. (Erst in den 1970er Jahren konnten die verloren geglaubten Autographe wieder aufgefunden und 1980 die Messa per Rossini zur Uraufführung gebracht werden.) Mabellini vertonte in dieser Totenmesse, bei deren Struktur sich Verdi an Mabellinis Vorbild orientiert hatte, das Lux aeterna – seine einzige Komposition übrigens, von der bislang eine Schallplattenaufnahme vorliegt. (Nachdem die Aufführung nicht zustande gekommen war, überarbeitete Mabellini seinen Beitrag 1880 zu einer Festkantate, die anlässlich der Enthüllung einer Büste Palestrinas in Rom aufgeführt wurde.) Und selbst in Verdis eigener Messa da Requiem von 1874 finden sich – abgesehen von der formalen Anlage und der ähnlichen Orchesterbesetzung – deutliche Hinweise darauf, dass Verdi die 24 Jahre vorher entstandene Totenmesse seines Zeitgenossen bestens kannte und schätzte: manche Abschnitte weisen ganz eindeutig auf dieses Vorbild hin, gelegentlich hat Verdi sogar thematische und formale Strukturen übernommen und dann seinem Stil angeglichen.

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Lange Jahre hatte es die anfänglich eher als modernistisch verstandene Messa da Requiem Verdis schwer, sich gegen Mabellinis Meisterwerk durchzusetzen. Die italienischen Komponisten des letzten Jahrhundertviertels orientierten sich noch sehr an Mabellinis Requiem; erst spät nahm man sich dasjenige Verdis als Vorbild für eigenes kirchenmusikalisches Schaffen. Nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde Mabellinis Grande Messa di Requiem freilich kaum mehr aufgeführt. Und dass es zum Doppeljubiläum 2017 – dem 200sten Geburts- und 120sten Todesjahr des Komponisten – in seiner Heimatstadt Pistoia und in Florenz zu keinen Aufführungen seiner bedeutenderen Werke kam, war unter anderem auch dem Fehlen von brauchbarem Notenmaterial geschuldet.

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Mabellini: Sein „Requiem“ wurde von Guido Johannes Joerg im Verlag Chrstoph Dohr herausgegeben

Kompositorische Meisterschaft: Als Komponist hatte Mabellini zahlreiche hervorragende Qualitäten: er hatte eine hervorragende Ausbildung, er arbeitete erfolgreich in verschiedenen Gattungen, er beherrschte meisterhaft Kontrapunkt und Instrumentation, war technisch sicher und souverän und er baute auf einer gründlichen Kenntnis der europäischen klassischen Musik auf. Sein Personalstil unterscheidet sich deutlich von Mercadante oder Verdi; er verbindet den italienischen belcanto mit den Traditionen der deutsch-österreichischen Instrumentalmusik. Seine Opern- und seine Kirchenmusik unterscheiden sich deutlich. Die großen Fugen und Doppelfugen seiner Messen und seines Requiems sind nicht nur kontrapunktische Meisterwerke; sie sind auch glänzend instrumentiert. Gut möglich, dass selbst Johannes Brahms Mabellinis Requiem gekannt hat – sein Deutsches Requiem von 1868/69 weist sehr ähnlich strukturierte und orchestrierte Fugen auf.

Mabellini hinterließ acht Opern (Matilde e Toledo, Rolla, Ginevra di Firenze, Il conte di Lavagna, I veneziani a Constantinopoli, Maria di Francia, Il venturiero und Fiammetta), vier Opern-Oratorien (Eudossia e Paolo, L’ultimo giorno di Gerusalemme, Il convinto di Baldassarre und Elima il mago) sowie zahlreiche Festkantaten und –chöre. Seine Kirchenmusik beinhaltet neben dem Requiem neun große Messen und zahlreiche Motetten – zumeist mit Orchesterbegleitung. Er schuf etliche Klavierlieder (romanze) und patriotische Lieder, Klavierstücke, instrumentale Kammermusik, mehrere Konzerte für Blasinstrumente mit Orchester und einige Werke für Orchester und Blasorchester (banda).

Ausführlichere Biographien liegen bislang ausschließlich in italienischer Sprache vor. Empfehlenswert ist der von Claudio Paradiso herausgegebene Sammelband Teodulo Mabellini – Maestro dell’Ottocento musicale fiorentino (Rom, Società Editrice di Musicologia, 2017), den man unter www.sedm.it als Printausgabe bestellen oder als pdf-Datei herunterladen kann. Der Band beinhaltet unter anderem eine ausführliche Biographie und ein detailliertes Werkverzeichnis. Auch der italienische und ins Englische übersetzte Wikipedia-Artikel ist recht sorgfältig und aktuell.

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„Teodulo Mabellini: Maestro dell ‚Ottocento musicale fiorentino“ a cura di Claudio Paradiso, Societa Editrice di Musicologia, Roma 2017 Saggi, Prefazione di Marcello de Angelis, 551pp; ISBN 978-88-85780-03-3 (gebunden)

Musikkritische Neuausgabe des Requiems: Mabellinis Grande Messa di Requiem von 1850/51 zusammen mit dem Libera me, Domine von 1856 liegt nun in einer von dem Musikwissenschaftler Guido Johannes Joerg nach den originalen Quellen erarbeiteten musikkritischen Ausgabe vor, die der Musikverlag Christoph Dohr in Köln veröffentlicht hat. Die Partitur ist am 21. August erschienen, Klavierauszug und Aufführungsmaterial (Orchesterstimmen und Dirigierpartitur) folgen in Kürze. – Die Neuausgabe basiert auf den originalen Handschriften des Komponisten, welche die Musik eindeutig wiedergeben, während die 1853 respektive 1856 in Paris erschienenen Erstdruckausgaben zahlreiche Fehler aufweisen: der Notenstecher war mit Handschriften italienischer Komponisten ebenso wenig vertraut, wie mit den Eigenarten von Mabellinis Notenschrift, und traf falsche Entscheidungen; das Material wurde außerdem sehr übereilt hergestellt. Überhaupt sind Druckausgaben aus jener Zeit heutzutage kaum brauchbar: sie sind unübersichtlich aufgebaut, die Systeme liegen zu eng beisammen und überschneiden sich fast, die Solo- und Chorstimmen sind in alten Schlüsseln notiert, und es hat kein Orchesterstimmensatz überlebt.

Da das sakrale Hauptwerk des Komponisten Teodulo Mabellini nun in einer modernen Notenausgabe vorliegt, besteht neben der Möglichkeit, zahlreiche immer wiederholte Vorurteile endlich – anhand des Notenbilds – schlüssig zu widerlegen, auch die Grundlage zu ersten Aufführungen und Einspielungen nach immerhin fast 120 Jahren. Sämtliche Artikel in den einschlägigen Musiklexika sind befangen, denn ihre Autoren haben stets nur die gleiche ungerechte Beurteilung eines Musikhistorikers wiederholt, anstatt sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen und sich von der augenfälligen Qualität der Kompositionen überzeugen zu lassen. Man mag ihnen zugestehen, dass es nicht einfach war, an das Notenmaterial heranzukommen. Doch nun besteht die Möglichkeit und außerdem die Verpflichtung, Vorurteile zu revidieren und ein gerechteres Urteil zu fällen. Und gewiss werden sich bald auch die Konzertbesucher einen lebendigen Höreindruck machen können.

Mabellini – der Autor dieses Artikels: Guido Johannes Joerg/ facebook

Zwei kleinere Werke Mabellinis, die vorab in der Edition Dohr vorgelegt wurden, sind von Musikern und Kritikern sehr gut aufgenommen worden; weitere Erst- und Neuausgaben sind in Vorbereitung. Möge sich alsbald ein experimentierfreudiges Theater finden, das auch eine Oper Mabellinis wiederbelebt – sein Rolla etwa hat einiges Potential. Es gilt, einen zu Unrecht vergessenen Komponisten des 19. Jahrhunderts wiederzuentdecken, der meisterliche und dabei durchaus eingängige Musik geschaffen hat, der in allen wesentlichen Gattungen arbeitete, und dessen Musik auf der Opernbühne, in der Kirchen oder auf dem Konzertpodium bestens funktionieren dürfte und einen wichtigen Beitrag zur Bereicherung des Repertoires leisten kann. Guido Johannes Joerg

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Der Musikwissenschaftler Guido Johannes Joerg ist als Herausgeber an der Edizione critica delle opere di Goachino Rossini beteiligt und hat etliche Werke von Rossini, Hermann Bendix, Francesco Florimo, Eugen Lasch, Johann Martin Friedrich Nisle, Georg Schmitt oder Guido Tacchinardi beim Carus-Verlag und beim Musikverlag Christoph Dohr veröffentlicht. Außerdem zählt er zu den Mitautoren des Verdi- und des Puccini-Handbuchs (Metzler/Bärenreiter). Mabellinis Requiem ist beim Musikverlag Christoph Dohr in Köln erschienen (http://www.dohr.de/autor/mabellini.htm) erschienen.

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Foto oben: Büste von Teodulo Mabellini/ Foto Massimo Luca Carradori/ linealibera. Die Aufnahme entstand anlässlich der Feierlichkeiten zum 100. Todestag des Komponisten 2017 in Pistoia durch die Aktivitäten der Scuola di Mabellini. Gleichzeitig würdigte eine Ausstellung im Dom zu Pistoia eine Reihe von wieder aufgefundenen Gipsbüsten („I busti ritrovati“) von vergangenen Honoratioren der Stadt, zu denen auch die von Mabellini zählt. Der Fotograf hat liebenswürdiger Weise die Verwendung seines Fotos gestattet, ihm und Davide De Crescenzo, dem Chefredakteur der italienischen online-Zeitung into toscana, danken wir besonders.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge dieser Serie hier

Hildegard Hillebrecht

 

Operngängern in München, aber auch in Stuttgart und vor allem in Berlin erinnern sich natürlich an Hildegard Hillebrecht (-Stöhr offiziell geboren 1927/ laut des Datums in ihrer Todesanzeige bereits 1925  – gest. 2018) mit zahllosen Rollen und Einspringern wie Ariadne, Küsterin, Kaiserin oder sogar Donna Anna. Gerade an der Deutschen Oper Berlin ist sie ein häufiger Gast gewesen und hat manche Vorstellung gerettet – auch mit unterschiedlichen Reaktionen, zumal man oft in den späteren Jahren Tüchtigkeit vor Klangschönheit konstatieren musste. Aber aus der deutschen Opernlandschaft der sechziger und siebziger Jahre war sie nicht wegzudenken, und ihre zahllosen Dokumente, offzielle wie live, belegen ihre stets verfügbare Präsenz im Opernleben jener Jahre. Am 7. Oktober 2018 starb sie – bemerkenswerter Weise fast im Geheimen und ohne öffentliche Beachtung. Beigesetzt wurde sie auf dem Friedhof in München-Vaterstetten, wie die karge Todesanzeige in der Süddeutschen Zeitung vom 19. 10. 2018 belegt. Offenbar stand sie der Petrigemeinde Baldham in Vaterstetten nahe.

 

Recht lakonisch und auf der Homepage der Bayerischen Staatsoper auch nicht auffindbar (die Rubrik Biographie öffnete sich nicht) hier erst einmal ein lapidarer Nachruf (nebst einigen Rollenfotos) der Bayerischen Staatsoper als Eintrag auf deren offiziellen Facebook-Seite. Wir trauern um die Bayerische Kammersängerin Hildegard Hillebrecht-Stöhr. Sie verstarb am 7. Oktober 2018. Die Sopranistin verkörperte eine Vielzahl an Rollen an der Bayerischen Staatsoper und in der ganzen Welt. Hildegard Hillebrecht-Stöhr wurde am 26. November 1927 in Hannover geboren. Sie studierte zunächst Medizin, widmete sich dann aber der Gesangskarriere.

 

Da greift man doch lieber auf den wie stets sehr ausführlichen Kutsch/Riemens zurück: Hillebrecht, Hildegard, Sopran, * 26.11.1927 Hannover; sie studierte zuerst Medizin, dann wechselte sie zur Gesangausbildung. Sie war hier Schülerin von Margarethe von Winterfeldt, von Franziska Martienssen-Lohmann und von Paul Lohmann. Debüt 1951 in Freiburg i. Br. als Leonore im »Troubadour«. Sie war dann 1951-54 am Opernhaus von Zürich engagiert; hier sang sie am 20.6.1952 in der Uraufführung der Neufassung von Hindemiths »Cardillac«. Dann sang sie 1954-59 an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg, 1956-61 am Opernhaus von Köln. Seit 1961 hatte sie eine große Karriere an der Staatsoper von München; regelmäßig gastierte sie an den Staatsopern von Wien und Hamburg. Seit 1972 wieder Mitglied des Opernhauses von Zürich. Ebenfalls seit 1954 langjähriges Mitglied der Städtischen Oper Berlin (seit 1961 Deutsches Opernhaus Berlin), deren Ehrenmitglied sie wurde. Hier sang sie u.a. am 29.9.1968 in der Uraufführung der Oper »Ulisse« von Luigi Dallapiccola. 1962 übernahm sie bei den Festspielen von Bayreuth die Elsa im »Lohengrin«. Man hörte sie bei den Festspielen von Salzburg (1956 Ilia in »Idomeneo« von Mozart, 1964-65 Chrysothemis in »Elektra« und Titelheldin in »Ariadne auf Naxos« von R. Strauss) und München, beim Holland Festival, an der Covent Garden Oper London (1967 als Kaise rin in der »Frau ohne Schatten« von Richard Strauss), an der Berliner Staatsoper, in Rio de Janeiro, Tunis, Paris und Rom. In der Spielzeit 1968-69 trat sie an der Metropolitan Oper New York auf. Weitere Gastspiele am Teatro Colón Buenos Aires, an den Opern von San Francisco, Bordeaux und Nizza, bei den Festspielen von Edinburgh, in Kopenhagen, Amsterdam, Venedig, Barcelona, am Théâtre de la Monnaie Brüssel, in Dresden und Prag. Auch als Konzertsolistin hatte sie eine internationale Karriere. – Schön gebildete, ausdrucksvolle Stimme von ungewöhnlicher Tonfülle, vor allem in Opern von Verdi, Puccini (»Tosca«), Mozart, Wagner und Richard Strauss bewundert.

Schallplatten der Sängerin bei Electrola (Querschnitt »Don Giovanni«), Eurodisc (Santuzza in vollständiger »Cavalleria rusticana«, Querschnitte »Don Carlos«, »Maskenball« und »La forza del destino« von Verdi, komplette Aufnahme »Rosenkavalier« von R. Strauss), DGG (»Ariadne auf Naxos« von R. Strauss, »Don Giovanni«, »Doktor Faust« von Busoni, »Zauberflöte«) sowie ein »Tannhäuser«-Querschnitt auf Opera.

[Nachtrag] Hillebrecht, Hildegard; sie war 1954-62 an der Deutschen Oper am Rhein, 1959-63 am Opernhaus von Köln engagiert. Sie blieb seit 1961  ein gefeiertes Mitglied der Münchner Staatsoper. Durch Gastverträge war sie lange Jahre hindurch mit der Staatsoper Stuttgart, seit 1972 auch mit dem Opernhaus von Zürich verbunden. 1959-61 und 1965-76 war sie dazu an der Städtischen Oper Berlin verpflichtet. 1977 verabschiedete sie sich in München als 2. Norn in der »Götterdämmerung« von der Bühne. Aus der Vielzahl ihrer Gastspiele sind zu nennen: Metropolitan Oper New York (1968-69, 1970-71 als Sieglinde, Chrysothemis in »Elektra« von R. Strauss und Leonore im »Fidelio«), Covent Garden Oper London (1967 und 1969 als Kaiserin in der »Frau ohne Schatten« von R. Strauss, eine ihrer großen Partien), Teatro Colón Buenos Aires (1964 als Ariadne auf Naxos von R. Strauss, 1966 als Fidelio und Chrysothemis), San Francisco Opera (1965 Elsa und Ariadne), Staatsoper Wien (1960-85 u.a. als Elisabetta im »Don Carlos« von Verdi und als Donna Anna im »Don Giovanni«), Oper von Rio de Janeiro (1954 als Eva in den »Meistersingern«), Osterfestspiele Salzburg (1967 Sieglinde), Staatsoper Dresden (1967), Holland Festival (1958), Teatro Liceo Barcelona (1962), Königliche Oper Kopenhagen, Nationaltheater Prag, Teatro Fenice Venedig (1969 als Chrysothemis), Oper von Rom (1968), Oper von Bordeaux, Staatsoper Berlin, Festspiele Edinburgh (1966 als Elsa im »Lohengrin«), Opernhäuser von Straßburg (1962 als Sieglinde), Los Angeles (1964), Helsinki und Genf. Auf der Bühne trug sie ein sehr umfangreiches Repertoire vor. Daraus seien genannt: die Abigaille in Verdis »Nabuccco«, die Elena in der »Sizilianischen Vesper« vom gleichen Komponisten, die Amelia im »Maskenball«, die Leonore in der »Macht des Schicksals«, die Aida, die Desdemona im »Othello« und die Alice Ford im »Falstaff« von Verdi, die Santuzza in »Cavalleria rusticana«, die Agathe im »Freischütz«, die Elisabeth im »Tannhäuser«, die Isolde im »Tristan«, die Gutrune in der »Götterdämmerung«, die Kundry im »Parsifal«, die Arabella in der Oper gleichen Namens von R. Strauss, die Marschallin im »Rosenkavalier«, die Gräfin im »Capriccio« von R. Strauss, die Jenufa (eine ihrer erfolgreichsten Kreationen), die Katja Kabanowa und die Emilia Marty in »Die Sache Makropoulos« von Janáček, die Rosalinde in der »Fledermaus«, die Ursula in »Mathis der Maler« von Hindemith, die Maria in »Der Friedenstag« von R. Strauss, die Giulietta in »Hoffmanns Erzählungen«, die Ninabella in »Die Zaubergeige« von W. Egk und die Elisabeth in »Elisabeth Tudor« von W. Fortner. [Lexikon: Hillebrecht, Hildegard. Großes Sängerlexikon, S. 10858; (vgl. Sängerlex. Bd. 6, S. 375-376) (c) Verlag K.G. Saur] mit Dank!

Una voce molto fa‘

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Es hatte sich bei Opernfreunden in Ost- wie West-Berlin wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass beim heißumlagerten Gastsspiel der Römischen Oper mit ihrer muffigen Pappe-Produktion des Barbiere di Siviglia 1987 eine junge, unbekannte Sängerin auftreten würde, die Anlass zu größten Hoffnungen geben sollte. Und wer eine Karte legal oder eher noch auf dem illegalen Markt ergattern konnte, sang nach der Vorstellung ihr Lob in den allerhöchsten Tönen: Cecilia Bartoli. Damals noch mit bezauberndem Mädchenspeck, mit großen schwarzen Kulleraugen und einer schauspielerischen Mimik, dass man vor Vergnügen fast  die Sitze der ehrwürdigen,  rappelvollen Komischen Oper ruinierte. Was haben wir gelacht! Und  was haben wir auch gestaunt ob der Kunst, der Frische, der Neuheit dieses unverbrauchten Mezzos, ob dieser schieren Lust am Bühnenleben. Es war wirklich – so abgedroschen das klingen mag – ein mir bis heute unvergessliches Erlebnis (nachzuholen auf dem reizenden Video aus Schwetzingen aus diesen Jahren, wo sie in Hampes Inszenierung von kongenialen Kollegen umgeben ist).

Rossini: Becilia Bartoli als Rosina im „Barbiere di Siviglia“: hier mit Carlos Feller in der köstlichen Michael-Hampe-Produktion in Schwetzingen 1988/ nun bei Euroarts 200118

Ich lernte sie während dieses erwähnten Berliner Gastspiels kennen und traf sie noch einmal später in Paris im Apartment einer Freundin,  und war bezaubert von ihrem Charme, ihrem Witz, ihrer verbalen Kannonade in mehreren Sprachen  – hingerissen von eben ihrer unverwechselbaren Persönlichkeit.

Sie steckte damals in ihren internationalen Anfängen. 1988 gab es einen Rossini-Versuchsballon unter Patané bei Decca, dann kam sie wegen Barenboim zur Erato, wo es eine ganz wunderbare Mozart-CD von ihr gibt (eine Zusammenstellung mit anderen Erato/Teldec-Künstlern 1996) neben Barenboim-Gesamtaufnahmen von Don Giovann/Zerlina und Cosi fan tutte/Dorabella (beide 1990; aus Zürich gibt es auf DVD – Arthaus und andere – noch einmal Mozarts Cosi fan tutte von 2001). Dann nahm sie Decca-Produzent Christopher Raeburn exklusiv  unter seine Fittiche, und ihr kometenhafter Aufstieg bei der und vor allem auch durch die Decca begann, fast beispiellos für eine nicht sehr große Stimme, die sich schnell im Settecento etablierte und namentlich mit Rossini ihr Zentrum fand (trotz Raeburns Drängen widerstand sie klugerweise der Italiana im Studio und bis zum letzten Sommer auf der Bühne in Salzburg). Wovon die vielen Einspielungen zeugen, die die Decca nun in einer goldenen, hochluxuriösen, limitierten Box herausgebracht hat. Auf 15 CDs und 5 DVD sowie einer Interview-DVD sind hier viele der bekannten Decca-Zeugnisse von Cecilia Bartolis Umgang mit Freund Gioachino versammelt. Was für eine Leistung, was für ein Kompendium, was für eine Künstlerin. Brava veramente! G. H.

 

Dazu Rossini- (und Bartoli-) Langzeit-Bewunderer Bernd Hoppe mit seinem Dauer-Abonnement in Pesaro: Eine opulente Luxuskassette von goldener Pracht mit 15 CDs und 6 DVDs (483 3936) widmet Decca ihrem Exklusivstar Cecilia Bartoli anlässlich der 30jährigen Zugehörigkeit zu diesem Plattenlabel. 1987 hatte die Mezzosopranistin ihr Gesangsstudium in der italienischen Hauptstadt beendet und danach sofort als Rosina in Rossinis Barbiere di Siviglia auf der Bühne der Römischen Oper debütiert. Es war die Vorbereitung für das Gastspiel des Institutes an der Ostberliner Komischen Oper anlässlich der 750-Jahrfeier Berlins. Die Intendanz hatte viel Vertrauen und große Hoffnung in die junge Anfängerin gesetzt, ihr eine solch exponierte Rolle anzuvertrauen. Der stürmische Erfolg rechtfertigte die riskante Besetzung – ein neuer Stern am Rossini-Himmel war geboren. Denn diesem Komponisten galt von nun an Cecilia Bartolis musikalisches Interesse und künstlerisches Wirken. Daher bedeutet Deccas Würdigung der Sängerin anlässlich ihres Jubiläums gleichzeitig auch eine verdienstvolle Hommage für den Schwan von Pesaro anlässlich seines 150. Todestages.

In der Geburtsstadt des Komponisten an der italienischen Adria ist Cecilia Bartoli bislang nur ein einziges Mal aufgetreten. Das verwundert, gilt die Sängerin doch als Rossini-Interpretin par excellence. Aber man muss bedenken, dass sie seine heroischen  Mezzorollen bisher nicht in Angriff genommen hat – weder Tancredi noch Arsace in der Semiramide, weder Calbo in Maometto secondo oder Malcolm in der Donna del lago befinden sich in ihrem Repertoire. Das schränkt  natürlich die Einsatzmöglichkeiten auch beim Rossini Opera Festival ein. Der einmalige Auftritt war 1988, als sie im Auditorio Pedrotti del Conversatorio Rossini die relativ kleine Partie der Lucilla in der Farsa comica La scala di seta sang. Fonit Cetra hatte den Mitschnitt 1989 auf CD veröffentlicht und dieser wurde nun von Decca in die Jubiläumsbox integriert. In Lucillas munterer Arie „Sento taler nell’ anima“ hört man schon das Versprechen für die Zukunft – von individuellem Reiz das Timbre, kokett der Vortrag, eloquent der Gesang.

Bereits ein Jahr nach dem Debüt als Rosina nahm die Decca Cecilia Bartoli unter Vertrag, produzierte mit ihr Gesamtaufnahmen, Arien und Lieder aus dem Oeuvre des italienischen Komponisten. Als Auftakt – natürlich – die Rosina des Barbiere di Siviglia, die in der vorliegenden Sammlung sogar doppelt vertreten ist. Die frühe CD-Gesamtaufnahme entstand im Juni 1988 im Teatro Comunale di Bologna und wurde 1989 veröffentlicht. Giuseppe Patané dirigiert und prominente Partner stehen der Anfängerin zur Seite. Leo Nucci singt den Figaro mit der ganzen virilen Pracht seines Baritons, William Matteuzzi bringt für den Conte d’Almaviva seine reichen Rossini-Erfahrungen ein, verzichtet allerdings auf die Bravourarie im letzten Akt „Cessa di più resistere“. Auch Enrico Fissore als Bartolo ist stilistisch mit diesem Idiom bestens vertraut. Einzig Paata Burchuladze mit seinem urigen slawischen Bass ist eine ungewöhnliche Wahl für den Basilio. Als Rosina verströmt Bartoli den ganzen Zauber ihrer Jugend, die Stimme klingt weich, gerundet  und ausgeglichen. Auffällig ist bereits hier das hohe Maß an Raffinement, das die Sängerin fortan immer wieder in ihre Rolleninterpretationen einfließen lassen sollte. Da die Stimme nicht übermäßig groß ist, nimmt Bartoli sie eher noch zurück, singt vieles verhalten, wo andere Interpretinnen ihr Organ groß auffahren, punktet aber dafür mit sublimen Nuancen und feinsten Details.

Als DVD liegt der Box ein Mitschnitt von den Festspielen in Schwetzingen 1988 bei, wo Bartoli unter Gabriele Ferro singt und in Gino Quilico als vokal umwerfendem Figaro einen charismatischen Partner zur Seite hat. Auch David Kuebler als Conte, Carlos Feller als Bartolo und Robert Lloyd als Basilio sind erste Wahl in dieser zauberhaften Inszenierung von Michael Hampe. Bartoli überrascht schon in ihrer Auftrittskavatine und auch in den folgenden Nummern mit neuen Verzierungen, was für ihre Phantasie spricht, aus der sie bis heute künstlerisches Kapital für ihre Rolleninterpretationen schlägt.

Auch die Cenerentola ist zweifach vorhanden in der Anthologie, zum einen als CD-Einspielung von 1992 (wiederum aus Bologna) mit Riccardo Chailly am Pult, zum anderen als DVD mit der Aufzeichnung einer Inszenierung aus der Houston Grand Opera drei Jahre später unter Bruno Camanella. In Bologna ist William Matteuzzi wie so oft in diesen Jahren der Tenorheld an ihrer Seite; gestandene Buffa-Kämpen wie Enzo Dara als Don Magnifico, Alessandro Corbelli als Dandini und Michele Pertusi als Alidoro sichern das hohe Niveau der Aufnahme. Alle drei Bassbaritone standen auch in Houston in der entzückenden Inszenierung von Fabio Sparvoli (ausgeborgt aus Bologna) auf der Bühne, wo die Bartoli mit ihrem Charme und den hinreißenden Kulleraugen bezaubert. Lediglich Raúl Giménez als aristokratischer Don Ramiro mit schwärmerischem Tenor ist ein neuer Name in der Besetzung – aber auch er stilistisch erfahren in diesem Idiom und mit seinem eleganten Auftreten zudem optisch ein Gewinn. Später, im Juni 1995, sollte Bartoli mit ihm sowie Luba Orgonasova und Roberto Scandiuzzi unter Myung-Whun Chung am Pult der Wiener Philharmoniker das Stabat Mater aufnehmen, das sich auch in der Sammlung findet. Die Angelina in der Cenerentola ist hinsichtlich der Virtuosität ein Prüfstein für jede Interpretin. Aber es kommt auch auf die menschliche Gestaltung der Figur an, deren Warmherzigkeit, Güte, Bescheidenheit. Im berühmten Schlussrondo „Naqui all’affano“ mit dem effektvollen Schlussteil „Non più mesta“ demonstriert Bartoli ein Feuerwerk an Bravour und führt die Partie mehrere Jahre als ihre signature role im Repertoire.

Die dritte Doublette betrifft den Turco in Italia, in welchem Bartoli als Fiorilla eine veritable Sopranpartie zu singen hat. Die CD-Produktion stammt aus Mailand von 1997 und wird dirigiert von Riccardo Chailly, die DVD hält eine bonbonbunte Aufführung mit  poppiger Dekoration aus dem Opernhaus Zürich von Cesare Lievi (2002) unter Franz Welser-Möst fest, die bei Arthaus Musik erschienen war. Hier ist Ruggero Raimondo der stimmlich etwas ausgetrocknete Selim, dem Bartoli als Donna Fiorilla resolut Paroli bietet, im Duett mit ihm („Tu m’ami, lo vedi“) aber auch verliebt gurren kann. In der Tenorpartie des Don Narciso steht mit Reinaldo Macias ein Sänger auf der Bühne, der mit angenehmem Timbre und emphatischem Gesang für sich einnimmt. Bartoli bewältigt ihre Arie am Ende („Squallida veste“) souverän, singt mit feinen, leuchtenden Tönen und kantabler Linie, um dann im virtuosen Schluss („Caro padre“) neben robusten Effekten in der Tiefe mit Koloraturgirlanden und schwebenden Trillern zu brillieren.

Im Dezember 2011 und im März 2012 entstanden, gleichfalls im Opernhaus Zürich, das wegen seiner mittleren Größe zu ihren bevorzugten Häusern gehört, zwei DVD-Aufnahmen, in denen Bartoli jeweils ein Rollendebüt gab. In der französischsprachigen Opéra Le Comte Ory war sie wieder in einer Sopranpartie, der Comtesse Adèle, zu hören. In der witzigen Inszenierung von Moshe Leiser & Patrice Caurier erscheint sie in damenhafter Eleganz von strenger Aura mit Brille und Hochsteckfrisur, kann hier eine ganz andere Facette ihres schauspielerischen Könnens ausspielen. Ihre Gesangslinien sind besonders fein gesponnen und delikat. Die brustigen Töne in der Tiefe wirken da umso stärker im Kontrast. Dass Orchestra La Scintilla schlägt unter Muhai Tang ein rasantes Tempo an und Bartoli wirbelt  wie im Sturm mit ihren halsbrecherischen Koloraturläufen. Dann wieder tippt sie graziös die staccati oder schlägt im pathetischen Finale heroische Töne an. Als Titelheld hat sie in Javier Camarena einen aufstrebenden Tenor aus Mexiko zur Seite, der soeben bei Decca sein erstes Soloalbum mit einer Hommage an Manuel García vorlegt, bei dem ihn Cecila Bartoli künstlerisch betreut und damit eine neue Serie bei der Firma (Mentored by Bartoli) eröffnet hat. Sie selbst singt mit ihm ein Duett aus Armida und wagt sich damit in neue Soprangefilde vor. (Eine Besprechung folgt.)

Die andere neue Rolle ist die hybride Partie der Desdemona aus der Tragedia  lirica Otello, die von den Regisseuren Moshe Leiser und Patrice Caurier, mit denen die Sängerin oft und offenbar gern zusammenarbeitet, in der Gegenwart verortet wird. Wieder steht Javier Camarena neben ihr auf der Bühne – als Rodrigo hat er im 2. Akt die Arie „Che ascolto?“ zu singen, deren bravouröser Schlussteil später (neben Zitaten von Musik anderer Komponisten) als Vorlage für das Duetto buffo di due gatti diente. Attraktion der Besetzung mit ihrer Tenor-Phalanx ist John Osborn als Titelheld – einer der heute führenden Sänger im heroischen Rossini-Repertoire und dem der französischen Grand opéra. Fulminant trumpft er auf im Duett mit Jago (Edgardo Rocha) und dem nachfolgenden Terzett mit Rodrigo und Desdemona; mit rasendem Furor stattet er die letzte Auseinandersetzung mit Desdemona vor dem Mord aus. Bartoli in einer ernsten, tragischen Rossini-Partie zu erleben, ist eine Seltenheit. Im kleinen Schwarzen ist sie optisch eher unauffällig, aber bei den Close-ups sieht man, wie sie in der Rolle lebt, der Figur intensiven Ausdruck verleiht und ihr das Mitgefühl des Zuschauers sichert. Höhepunkt ihrer bewegenden Darstellung ist nach dem dramatischen Finale des 2. Aktes mit ihrem Vater Elmiro das innige Lied von der Weide („Assisa a’ piè d’un salice“) im 3. Akt. In der letzten Szene mit Otello erreicht ihre stimmliche und gestalterische Interpretation eine existentielle Dimension.

Die Anthologie wird ergänzt durch einige Recitals – Rossini Arias unter Patané von 1988, Rossini Heroines unter Ion Marin von 1991, wo sie sich auch einigen jener Partien (Malcolm, Tancredi) nähert, die sie sich live bisher versagt hat, sowie ein Recital mit 19 Songs und der Cantata Giovanna d’Arco mit Charles Spencer am Flügel von 1990. In einer Zusammenstellung mit Highlights und Rarities aus den Jahren 1991 bis 2018 finden sich Auszüge aus der CD von 1999 Cecilia & Bryn, wo der walisische Bassbariton der Mezzosopranistin als Figaro und Taddeo zur Seite steht. Sie ist hier als Rosina und Isabella besonders kokett und von unglaublicher Eloquenz in den Koloraturrouladen. In der Zusammenstellung befinden sich auch einige Erstveröffentlichungen auf CD bzw.  first-ever releases, wie eine weitere Interpretation der Giovanna d’Arco-Kantate mit dem Orchestra Filarmonica della Scala unter Riccardo Chailly.

Schließlich bringt die Sammlung auch das DVD-Portrait von 1992, das, aufgenommen in Rom und im La Fenice von Venedig, Cecilias frühe Jahre spiegelt – in ihrer eigenen temperamentvollen Schilderung, in Berichten ihrer Mutter oder Beiträgen von Decca-Produzent Christopher Raeburn – und ergänzt wird durch den Mitschnitt eines Konzertes im Londoner Savoy Hotel mit György Fischer am Flügel.

Die Decca-Box als attraktive Hommage an Cecilia Bartoli ist eine Fundgrube vor allem für jene Musikfreunde, die für sich den Kosmos Rossini entdecken wollen. An ältere Sammler, die bereits fast alles im Regal stehen haben, richtet sie sich weniger, zumal die einzelnen Scheiben auf den Papphüllen nur sparsame Angaben enthalten. Und man wird die bereits angeschafften Ausgaben schon wegen ihrer reich ausgestatteten Booklets nicht weggeben. Auch der neuen Veröffentlichung liegt ein dickes Buch bei, das interessant und lohnend ist durch die enthaltenen Artikel prominenter Rossini- und Opern-Experten wie Philip Gossett, Alberto Zedda und William Weaver. Bernd Hoppe

Sie selbst schreibt im Vorwort des dicken Booklets: Mir wird ganz schwindlig, wenn ich diese gewaltige Kollektion voller CDs und DVDs erblicke, die anlässlich des 150. Todestages von Rossini wiederveröffentlicht werden. Diese Musik spiegelt in der Tat meine vollständige Karriere und künstlerische Laufbahn wider. Ich erkenne, dass mir Rossini während meiner Arbeit während der letzten dreißig Jahre ein treuer Freund war und ich ihn noch mehr liebe als je zuvor. Grazie, carissimo Gioachino!

Nachstehend bringen wir zur Goldenen Box einen Artikel vom renommierten Musikwissenschaftler Sergio Ragni (der in Neapel ein eigenes musikalisches Museum, die Casa-Museo Sergio Ragni unterhält) und Ilaria Narici, der akademischen Direktorin der Fondazione G. Rossini, die sich beide in der beeindruckenden Beilage zu Rossini und Cecilia Bartoli äußern. Daniel Hauser hat uns die Übersetzung gemacht. Grazie tutti!

Inhalt: Il Barbiere di Siviglia (Gesamtaufnahme); La Cenerentola (Gesamtaufnahme); Il Turco in Italia (Gesamtaufnahme); La Scala di Seta (Gesamtaufnahme); Stabat Mater; 19 Klavierlieder; Kantate „Giovanni d’Arco“ (in der originalen Klavierfassung und der Orchesterfassung von Sciarrino, eingespielt mit Riccardo Chailly) +Cecilia Bartoli singt Rossini-Arien aus Italiana in Algeri, Donna del Lago, Tancredi, Otello, Stabat Mater, Pietra del Paragone, Cenerentola (Cecilia Bartoli, Arnold Schoenberg Chor, Orchester der Wiener Volksoper, Giuseppe Patane / 1988) +„Rossini Heroines“ – Arien aus Semiramide, Donna del Lago, Elisabetta, Zelmira, Maometto II (Cecilia Bartoli, Orchestra del Teatro La Fenice, Ion Marin / 1991) +Opern-Inszenierungen auf DVD: La Cenerentola (Cecilia Bartoli, Raul Gimenez, Alessandro Corbelli, Enzo Dara, Michele Pertusi, Houston Symphony Orchestra, Bruno Campanella / Houston Grand Opera, 1995);  Le Comte Ory (Cecilia Bartoli, Javier Camerena, Orchestra La Scintilla, Muhai Tang / Opernhaus Zürich, 2012); Otello (Cecilia Bartoli, John Osborn, Peter Kalman, Javier Camarena, Orchestra La Scintilla, Muhai Tang / Opernhaus Zürich, 2012); Il Barbiere di Siviglia (Cecilia Bartoli, Gino Quilico, Carlos Feller, Robert Lloyd, Paul Kappeler, Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, Gabriele Ferro / Oper Stuttgart, 1988); (Cecilia Bartoli, Ruggero Raimondi, Oliver Widmer, Opernorchester Zürich, Franz Welser-Möst / Opernhaus Zürch, 2002); Künstler: Cecilia Bartoli, Luba Orgonasova, Raul Gimenez, Ramon Vargas, Roberto Scandiuzzi, Michele Pertusi, Leo Nucci, Libero Arbace, Enrico Fissore, William Matteuzzi, Enzo Dara, Alessandro Corbelli, Oslavio di Credico, Luciana Serra, Chor der Wiener Staatsoper, Wiener Philharmoniker, Orchestra del Teatro Comunale di Bologna, La Scala Orchestra, Myung-Whun Chung, Giuseppe Patane, Riccardo Chailly, Gabriele Ferro (jpc mit Dank)

Deccas Rossini-Box: der Autor und Musikwissenschaftler Sergio Ragni/ Rai tv

Sergio Ragni  schreibt: Wenn Rossinis Musik eine Einschränkung hat, dann ist es die, dass sie perfekt aufgeführt werden muss, um sie vollumfänglich zu schätzen. Einzig eine ausgezeichnete Interpretation wird ihre wahre Größe enthüllen.

Die Beziehung zwischen Cecilia Bartoli und Rossini beruht auf Gegenseitigkeit. Während bei der Sängerin damit gerechnet werden kann, Aufführungen von höchster Authentizität zu geben, die es dem Zuhörer ermöglichen, die Wichtigkeit des betreffenden Werkes wahrzunehmen, ist es Rossini, der sie dazu geführt hat, die Bedeutung der Musik zu entdecken und ihr die interpretative Erkenntnis zu geben, die ihre Arbeit seit dem Beginn ihrer Karriere auszeichnet.

Rossini definiert die Ideale des Belcanto in seinen Schriften durch ein Zitat von Petrarca: „Das Lied, das erklingt, klingelt in deiner Seele.“ Seine Musik muss mit einer Kombination aus Können und Leidenschaft gesungen werden, welche die Grenzen des Textes überschreiten. „Musik“, sagt Rossini, „hat ein höheres, expansiveres und abstrakteres Ziel. Es ist, sollte ich beinahe sagen, die moralische Atmosphäre, die den Raum füllt, in dem die Figuren in einer Oper die Handlung darstellen. Es drückt das Schicksal aus, das sie verfolgt; die Hoffnung, die sie anspornt; das Glück, das sie umgibt; das Entzücken, das sie erwartet; den Abgrund, in den sie fallen werden; und es tut all dies auf eine Weise, die unbestimmbar ist, aber so verführerisch und durchdringend, dass es alles übertrifft, was durch die Gestik oder das Wort vermittelt werden kann.“

Cecilia hat diese Idee schon von klein auf beibehalten. Der Belcanto-Stil, den Rossini seinen Sängern vorschreibt und den sie meisterlich beherrscht, ist eine Sprache, die keine Übersetzung benötigt: Sie geht direkt ins Herz des Zuhörers, um eine emotionale Reaktion auszulösen. Seine schillernden Rouladen können, wenn sie mit der richtigen Energie ausgeführt werden, selbst in seinen komischen Opern atemberaubend sein.

Es ist Cecilias hervorragende technische Fähigkeit, der Schlüssel für das Singen des Rossini’schen Belcanto, der ihre Rollenwahl bestimmt und zu einer Erweiterung ihres Repertoires geführt hat. Es ist kein Zufall, dass Rossini die Gesangstechnik der Kastraten als die beste Form der Ausbildung für Sänger ansah, oder dass seine Frau Isabella Colbran – für ihn die größte Sängerin ihres Zeitalters – die Lieblingsschülerin des großartigen Kastraten Girolamo Crescentini war. Dank der akrobatischen Virtuosität, die Rossinis Musik einfordert, war Cecilia in der Lage, die anspruchsvollsten Partituren aufzunehmen, die eigens geschaffen wurden, um die fast übermenschlichen Gaben jener Sänger hervorzuheben, die wir aus mehr als einem Grunde als die „höchsten Virtuosen“ bezeichnen könnten.

Rossini: Cecilia Bartoli als Cenerentola in Monte-Carlo/ Foto Alain Hanel/ Opéra de Monte-Carlo

Sie hat die Stimme und die Ausdrucksfähigkeit, um ziemlich unerwartete moderne Interpretationen von Werken zu geben, die für Broschi, Rauzzini, Carestini und ihre Kollegen geschrieben wurden; Interpretationen, die das Publikum an andere Hörerlebnisse gewöhnten. Obwohl sie „Crossover“-Techniken misstrauisch meidet, die darauf abzielen, ein weniger zugängliches Genre zu popularisieren, ist sie Königin der Musik, an die sie glaubt, und erfolgreich darin, ein neues Publikum zu erreichen und zu erobern – ein breiteres, jüngeres Publikum, dessen Angehörige es eher gewohnt sind, ihren musikalischen Nervenkitzel anderswo zu suchen.

Wer Cecilia zuhört, wird sofort den unglaublichen natürlichen Instinkt erkennen, der so untrennbar mit ihrer musikalischen Expertise verbunden ist – eine Mischung aus scheinbar widersprüchlichen Elementen. Ihr Gesang wird immer von großer Leidenschaft beflügelt, doch bleibt sie gleichwohl innerhalb der strengen Grenzen des Belcanto, die darauf abzielen, formale Schönheit und Ausgewogenheit zu erreichen, Elemente, die ganz zentral sind für Rossinis Musik und alle Werke, die sie aufführt. Bartoli gehört seit Jahrzehnten zu den herausragendsten Stars der internationalen Musikszene, und dennoch erweitert und belebt sie ihre erstaunliche Karriere, indem sie ihre Zeit und Energie der musikwissenschaftlichen Forschung widmet und neue Rollen studiert. Jede neue Aufführung, jede neue Produktion fügt ihrer Kunst eine weitere Facette hinzu.

Sie fordert sich ständig heraus, wobei jede neue Unternehmung über die Grenzen hinausgeht, die sie sich selbst gesetzt hat, und neue stilistische und vokale Parameter etabliert.

Der einzige Weg, um solche Ergebnisse zu erzielen, besteht darin, einen ganz anderen Ansatz zu wählen, als den, der normalerweise von Sängern erwartet wird. Ihre Aufgabe ist es, die vom Dirigenten zugewiesene Rolle zu singen, während sich letzterer mit den technischen Aspekten der Partitur befasst und sicherstellt, dass alle Beteiligten einen dem Komponisten und dem Zeitraum des Werkes angemessenen Stil einhalten. Mit anderen Worten: Es ist der Dirigent, der dafür verantwortlich ist, die tiefsitzende Bedeutung der Musik, die gespielt wird, hervorzuheben.
Wenn Cecilia jedoch an einer Partitur arbeitet, behält sie ein höheres Maß an Kontrolle für sich selbst, angetrieben von der Notwendigkeit, über eine Aufführungspraxis hinauszugehen, die allzu oft von der Tradition kompromittiert wird. Mit ihrem absoluten Respekt für die wissenschaftlichen Kriterien, die sie als eine wesentliche Grundlage für jede moderne Aufführung ansieht, arbeitet sie in aktiver Partnerschaft mit dem Dirigenten und den anderen Künstlern und ist bereit, den besten Weg vorzuschlagen, um die gedruckten Noten zu interpretieren, mit der Absicht, eine wohlüberlegtere und authentischere Aufführung zu erzielen.

Rossini: Cecilia Bartoli bei den Aufnahmen zu „Heroines“ unter Ion Marin bei Decca/ Foto Decca Booklet

Die Palette der Werke in dieser Kollektion ist ein unwiderlegbarer Beweis für Cecilias Genie in Sachen Rossini. Die schiere Menge seiner Musik, die sie aufführte und/oder aufnahm, zeigt ihr beständiges Interesse und Engagement für den Komponisten.

Als sie 1988, sehr früh in ihrer Karriere, ihr Rollendebüt als Clarice in La pietra del paragone in Catania gab, sprachen die Rossini-Liebhaber und die anspruchsvollsten Opernfans von einem Wunder. Die Gewissheit, mit der sie sich durch die anspruchsvolle Partitur navigierte, die für Marietta Marcolini, eine von Rossinis Lieblingsaltistinnen, geschrieben worden war, markierte den Beginn eines neuen Kapitels im Rossini-Revival.

Nach der legendären Marilyn Horne, die mehr als einmal davon gesprochen hat, Cecilia einen symbolischen Taktstock zu geben, erhellte eine neue junge Sängerin die Opernbühne und brachte Rossinis unglaubliche Musik nicht nur mit einer vorbildlichen Koloraturtechnik, sondern auch mit dem Geist und der Gerissenheit von so vielen von Rossinis Hauptrollen zu Gehör.

Ein Jahr nach der Kreation von Clarice in La pietra del paragone wurde Rossinis Muse Marietta Marcolini, der Gegenstand seiner Zuneigung, die erste Isabella, die Italienerin, die entschlossen war, ihren Geliebten von Algier nach Hause zu bringen. Marcolinis Charakter und mediterrane Glut scheinen durch die Leistung ihrer modernen Kollegin zu leuchten.

Cecilia Bartoli hat den wahren Geist von Rossini entdeckt, weil sie nach dem sorgfältigen Studium der Partitur, als sie auf die Bühne trat, die Last des Lernens beiseitelegen und sich einfach amüsieren kann. Sie fordert Rossini, den dynamischsten Komponisten, heraus, indem sie die Energie, die von seiner Musik ausgeht, mit ihrer eigenen Tatkraft und Intensität verbindet. Fast wie auf einer Mission verfolgt sie ihre Studienphase mit ihrer musikalischen Brillanz und all den erstaunlichen Mitteln ihrer Intuition.

Rossini: Cecilia Bartoli bei Aufnahmen zu „Il Turco in Italia“mit Riccardo Cailly/ Foto Decca Booklet

Ihre Cenerentola ist sich ihrer eigenen Stärken bewusst und deshalb ihren Stiefschwestern weniger unterwürfig. Ihre Gräfin Adèle wird, anstatt von den Eskapaden des Grafen Ory schockiert zu sein, fast unwiderstehlich angezogen von der Ablenkung, die er ihrer selbstauferlegten „Witwenschaft“ bringt. Es ist das Temperament der Sängerin, das sie auf einen bestimmten Weg der Interpretation führt.

Diese Notizen könnten darauf hindeuten, dass Bartoli nur Rossinis komische Rollen singt. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein: Sie hat sich im tragischen Repertoire als unerreicht erwiesen. In diesen Werken wächst die Rolle, die sie als Künstlerin und Frau spielt, ebenso wie ihr Wunsch, mit dem Publikum zu kommunizieren. Die Freude, Rossinis proto-romantische Heldinnen mit ihrer Stimme und ihrem Charisma zum Leben zu erwecken, erhellt ihre Seele und ermöglicht es ihr, eine Partitur mit überzeugender Ausdruckskraft zu spielen. Ihre herzzerreißende Inkarnation Desdemonas zum Beispiel – einer Frau, die in ihrem eigenen tragischen Drama isoliert ist und Zuflucht sucht in der exklusiven Schönheit des Weidenliedes – ist von historischer Bedeutung; ein Maßstab für alle, die ihr folgen.

Und Cecilia hat viele weitere Rossini-Schätze zu bieten. Sie hat nichts unversucht gelassen, von der geistlichen Musik bis zu den Kantaten – hier kann die Arie für Ceres aus Le nozze di Teti e di Peleo, eine der schwierigsten im gesamten Katalog des Komponisten, nicht unerwähnt bleiben – und schließlich die Unzahl an vokalen kammermusikalischen Werken. In letzterem Repertoire verstärkt sie die Eleganz der Musik mit ihrer Fähigkeit, Note für Note die endlosen und kaleidoskopischen Nuancen von Emotion, Sensation, Schlussfolgerung und Ironie hervorzuheben, mit denen Rossini diese Stücke, die schönsten im gesamten italienischen Kammerrepertoire, punktiert – wie ihre Aufnahmen zweifelsohne beweisen. Sergio Ragni, 2018/ Übersetzung Daniel Hauser

Rossini: Cecilia Bartoli als Cenerentola in der Decca-DVD-Aufnahme aus Houston/ Foto Decca/ Houston Grand Opera, als Audio-CD in der Box enthalte.

Und Ilaria Narici äußert sich zu  Lektionen im Rossini-Stil:  Als Cecilia Bartoli als Lucilla in einer Inszenierung von La scala di seta 1988 beim Rossini-Opernfestival in Pesaro auftrat, war sofort klar, dass sie nicht nur ihre Berufung gefunden hatte, sondern dass es sich hier um ein seltenes Geschenk für alle Rossini-Liebhaber handelte. Die Homogenität ihrer Stimme über den Registern, ihre melodische Projektion, die Stimmagilität, die Fähigkeit, ihre volle Stimme zu benutzen, während sie unter einem Schleier von Ornamenten verborgene Akzente setzte, und die perfekte Aussprache wurden von ihrer unberührten, aber beherrschenden Bühnenpräsenz ergänzt. Sie schien die Qualitäten der großen Sängerinnen aus Rossinis Zeit so selbstverständlich zu verkörpern: Isabella Colbran in erster Linie, aber auch Geltrude Righetti-Giorgi – die Rosina (Il barbiere di Siviglia) und Angelina (La Cenerentola) geschaffen hat und in deren Fußstapfen Cecilia seither mit ihren außergewöhnlichen Interpretationen beider Rollen gefolgt ist – und Maria Malibran.

In ihrer Annäherung an die Opern, die geistliche Musik (Stabat Mater) und die Kammerminiaturen verkörpert Bartoli den authentischen Rossini-Stil. Die wahren Grundlagen für letzteren wurden in den vergangenen Jahrzehnten dank der Restaurierungs- und Wiederbelebungsarbeit der Fondazione Rossini in Pesaro geschaffen, die kritische Editionen der Gesamtwerke herausgab – im Gefolge von Alberto Zeddas bahnbrechender Ausgabe von Il barbiere di Siviglia (1969), veröffentlicht von Ricordi – in Zusammenarbeit mit dem Rossini Opernfestival, das die Editionen in Live-Produktionen umsetzt. Jene, die hinter der akribisch realisierten musikwissenschaftlichen Analyse von Autographen, Manuskripten, Libretti und allen Unterlagen stehen, die bei der Ausarbeitung eines Textes, der die Absichten des Komponisten genau widerspiegelt, haben Bartoli immer als aufmerksame, gewissenhafte, intellektuelle und neugierige Künstlerin wahrgenommen, die Rossini ihre eigenen außergewöhnlichen Ressourcen widmet. Ihre Erfahrung im barocken Vokalbereich, der mit dem Rossini-Stil verwandt und in gewisser Weise komplementär ist, bestätigt die Einsicht und Intelligenz ihrer musikalischen Entscheidungen.

Die Auswirkungen, die ein Künstler auf die Art und Weise haben kann, wie ein Repertoire aufgenommen und verbreitet wird, werden manchmal unterschätzt. Musik braucht das Medium der Künstler, um ein Publikum zu erreichen. Und Cecilia, eine kultivierte, autoritative und leidenschaftliche Musikerin, hat die Rezeption und Popularisierung von Rossinis Musik, insbesondere seiner vokalen Kammermusik, nachhaltig beeinflusst. Ihre intensiven, musikwissenschaftlich informierten und sachkundigen Darbietungen der Lieder, Arietten und Stücke aus den Péchés de vieillesse haben diesem komplexen Lexikon in all seinen Facetten neues Leben eingehaucht. Die Musikwissenschaftler der Fondazione Rossini, angeführt von Philip Gossett und Bruno Cagli, haben ihr Wissen in die Auswahl der Werke eingebracht, die ihren Stimmfähigkeiten am besten entsprechen, so wie Rossini es mit seinen Lieblingssängern gemacht hat. Dies hat zu Aufführungen und Aufnahmen geführt, die nicht nur von großem Erfolg und Beifall gekrönt sind, sondern auch eine große Fangemeinde gewannen und bis heute eine echte Lektion im Rossini-Stil darstellen. Ilaria Narici, akademische Direktorin der Fondazione G. Rossini (Übersetzungen ins Deutsche Daniel Hauser)

Puschen-Oper

 

Es ist ein verführerischer Titel: „Das Wohnzimmer als Loge“. So heißt das neue Buch, das Matthias Henke und Sara Beimdieke beim Verlag Königshausen & Neumann (230 Seiten, 38 Euro, ISBN 978-3-8260-5942-1) herausgegeben haben. Untertitel: „Von der Fernsehoper zum medialen Musiktheater“. Ich gestehe, dass die Publikation mich überrascht hat, weil sie nicht davon handelt, was ich erwartet hatte, nämlich einer Analyse der aktuelle Situation, in der immer mehr Menschen Opernaufführungen nicht live im Theater sehen, sondern im Kino in Form von Broadcasts aus der Met oder Covent Garden, im Fernsehen bei arte, 3sat & Co, oder neuerdings auch einfach am Computer als Live-Stream im Internet bei OperaVision und ähnlichen Portalen. Wie gesagt, von all dem handelt „Das Wohnzimmer als Loge“ nicht. Vielmehr geht es primär um eigenständige Opern oder Musikwerke, die direkt fürs Fernsehen geschrieben wurden. Den Auftakt machte 1951 Gian Carlo Menottis Amahl and the Night Visitor, für den Sender NBC erschaffen und von diesem erstausgestrahlt. Seither gab es zirka 140 Produktionen von vergleichbaren Fernsehopern, u.a. Bohuslav Martinůs The Marriage von 1953 oder Rainer J. Schwobs Paßkontrolle, 1958 vom ORF produziert.

Das sind – allesamt – keine Stücktitel, die einem breiten Publikum bekannt sind; sie werden vermutlich nicht einmal eingefleischten Opernfans sonderlich vertraut sein. D.h. man kann in diesem Buch mit elf Essays viel Neues entdecken und kennenlernen. Dazu gehört auch das Phänomen „Fernsehoper in Japan“ zwischen 1959 und 1989, Kazusa Haii stellt diese in einem Beitrag vor. Ob die Werke von Komponist Osamu Shinmizu (1911-1986) hierzulande eine echte Chance haben, Interesse zu erregen: etwa seine Fernsehoper Shuzenji Monigatari (englisch: Tale of Shuzenji) von 1959? (Ich wage das zu bezweifeln.)

Persönlich am spannendsten fand ich Kurt Hickethiers Beitrag „Fernsehspiel und Fernsehoper: Von der Bühne zum Studio“, weil er darin von TV-Aufzeichnungen von bekannten Opern spricht und Mitwirkenden, die den meisten Opernfans vertraut sein werden. Hickethier holt historisch aus und beginnt in der Nazi-Zeit. Denn die Anfänge des Fernsehspiels im Dritten Reich, im Fernsehprogramm des Senders „Paul Nipkow“ in Berlin-Witzleben ab 1935, fallen zusammen mit verschiedenen Formen des musikalischen Fernsehspiels: der „Musikalischen Filmgroteske“, dem „Musikalischen Schattenspiel“ und dem „Musikalischen Lustspiel“. Zur letzten Kategorie gehört „Herzen auf Urlaub“ von Peter Arnold, Musik von Dolf Brandmeyer, am 22. Juni 1040 ausgestrahlt. Es war eine durchkomponierte Operette, die so erfolgreich war, dass sie im Winter 1941 en suite elf Mal wiederholt wurde, d.h. sie wurde weitere elf Mal live aufgeführt und ausgestrahlt; andere technische Möglichkeiten gab es damals nicht, elektronische Aufzeichnungen kannte man noch nicht.

Die erste wirkliche Fernsehoper im deutschen Fernsehen war 1940 die Abu Hassan von Carl Maria von Weber, Regie führte Günter Stenzel, Bühnenbilder von Karl Joksch, der in den 1950er Jahren für den NWDR arbeitete. Die Bearbeitung der Weber-Oper stammte von Herman Roemmer, der als Librettist und Schriftsteller 1935 für Eduard Künneke die opulente Operette Die große Sünderin geschaffen hatte, an der Berliner Staatsoper uraufgeführt mit Tiana Lemnitz und Helge Rosvaenge.

Aufgrund der Kriegsbedingungen – es gab die Verpflichtung zur Verdunkelung – gelangte die Weber-Oper nachmittags von 15 bis 16.15 Uhr zur Aufführung, danach am gleichen Tag nochmal von 18 bis 19.15 Uhr. In der Rolle der Fatima konnte man die junge Elisabeth Schwarzkopf bewundern, die 1938 am Deutschen Opernhaus in Charlottenburg debütiert hatte; 1942 holte Karl Böhm sie an die Wiener Staatsoper als ‚rising star‘.

Dieser Abu Hassan war so erfolgreich, dass er bis Juni 1940 noch acht Mal im Fernsehen zu sehen war. Mit Schwarzkopf entstand 1944 auch eine Radioaufnahme, darin singt Erich Witte den Abu Hassan und Michael Bohnen den Omar, Leopold Ludwig dirigiert das Berliner Rundfunk-Sinfonie-Orchester. Leider geht Knut Hickethier auf diese Aufnahme nicht ein, so wie er auch sonst nicht auf die musikalischen Qualitäten (oder Nichtqualitäten) der Fernsehopern eingeht oder darauf, wie sie bei Opernfans heute in Erinnerung geblieben sein könnten.

Immerhin erwähnt er, dass das Fernsehen der frühen 1950er Jahre stark „von ehemaligen Mitarbeitern des NS-Fernsehens geprägt wurde“. Er erwähnt als erste ‚große‘ Oper im bundesdeutschen Fernsehen La Traviata“am 9. Dezember 1953, als Live-Übertragung in der Fernsehregie von Herbert Junkers (auch er hatte schon im NS-Fernsehen Regie geführt). Über die Besetzung erfährt man nichts; leider. Im Januar des gleichen Jahres war bereits „Amahl und die nächtlichen Besucher“ zu sehen, als Gastspiel einer holländischen Truppe.

Spannend fand ich den Hinweis auf eine Übertragung der Lustigen Witwe zu Ostern 1953; sie schrieb Programmgeschichte, weil die Live-Sendung aus dem Operettentheater in Hamburg-St- Pauli abgebrochen werden musste: das Publikum hatte gegen die anwesenden Kameras protestiert und fühlte sich dermaßen gestört, dass das TV-Team mitten in der Aufführung abziehen musste! Trotzdem gab es danach immer wieder Übertragungen aus Opernhäusern, weil die Theater damit ihre Bekanntheit und ihr Renommee bei einer breiten Öffentlichkeit erhöhen konnten. Auf die diversen inzwischen auf DVD erhältlichen Aufzeichnungen, beispielsweise aus der Deutschen Oper Berlin, geht der Artikel nicht ein. Dafür auf die 1961 produzierte Serie von zwölf Fernsehoperetten, die Regisseur Kurt Wilhelm kostengünstig en bloc herstellte. Aber auch hier erfährt man nicht, welche zwölf Titel das sind und auch nicht, ob es diese heute irgendwo zu sehen gibt, bei YouTube oder auf DVD.

Wie gesagt, wer sich auf eher unbekanntes Repertoire einlassen möchte, ist mit diesem Essay-Band gut bedient. Wer etwas zum Wandel in der Rezeption von Oper vom Theater hin zu TV, Kino und Internet erfahren möchte, wird hier nur begingt fündig. Das kann man bedauern, aber auch als Chance zur Horizonterweiterung verstehen. Der Band ist übrigens nur begrenzt bebildert, so dass man von vielen der diskutierten Fernsehopern nur bedingt einen Eindruck bekommt. Kevin Clarke

Dusolina Giannini

 

Nur nostalgische Opernfans werden mit dem Namen Dusolina Giannini etwas anfangen können (Dezember 19, 1902 – Juni 29, 1986), aber die vielen Dokumente lassen eine italienisch geschulte, volle und dem Verismo verpflichtete, robuste Sopranstimme hören, die allerdings – zu meiner Überraschung, als ich sie 1983 in Berlin kennenlernte – in Berlin bei Marcella Sembrich ausgebildet wurde. Ich hatte die Ehre, ihr Tischherr bei einem Diner zu Ihren Ehren sein zu dürfen, dass die West-Berliner Hochschule für Musik und der dto. Senat gaben, als sie 1983 ihre musikalische Hinterlassenschaften der HdK stiftete und dafür nach Berlin angereist war, einundachtzigjährig. Die bezaubernde Dame mit dem beblümten Kapotthütchen sprach fließend Deutsch und war von außerordentlicher Lebendigkeit. Bei Suppe und Riesling schwatzen wir über ihre Karriere, ihr Leben, ihre Ansichten zur Kunst und zur Opernlandschaft jener Tage. „Alles beruht auf einer guten Technik, ich könnte heute noch singen!“ „Da glaub ich nicht!“ platzte ich ungläubig und etwas ungezogen  (ah Jugend!) heraus. Sie lächelte erneut, klopfte mit dem Löffel ans Glas um Ruhe zu bitten. Ihr Gesicht straffte sich, und das Wunder der Verwandlung ließ durch das Anspannen der nötigen Muskulatur sie nun um vierzig Jahre jünger aussehen:  Sie setzte – mit den ersten paar Tönen noch etwas zitterig – zur Nilarie an, a capella, aus dem Stand/Sitz, die Suppe vor sich. Die ganz hohen Noten tippte sie nur an, aber der Ton war noch immer voll, unverkennbar sie, unglaublich. Ich fiel fast vom Stuhl. „Geht doch noch!“ sagte sie zufrieden und strahlte mich an. Im allgemeinen Beifall freute sie sich über meine Sprachlosigkeit. Was für eine Frau.

Dusolina Giannini mit Blumenhut/ Foto OBA

Im Folgenden gibt es eine Zusammenfassung unseres Gespräches von 1983, die Ingrid Wanja liebenswürdiger Weise besorgt hat, während mein Dank auch an Wolfgang Denker für seine bewährte Archivarbeit geht. G. H.

 

Von Dusolina Giannini sagte Arturo Toscanini  enthusiastisch: ,,E la musica in persona, nella sua bellezza, nella sua sincerita e nella sua purezza.“ Um diese „bellezza“ meinte eine damals bekannte Sängerin angesichts der andächtig lauschenden Noch-nicht-einmal-Debütantin Giannini sich sorgen zu müssen, als sie bedauernd deren Lehrerin Marcella Sembrich zurief: ,,Questa bella faccia innocente – in questa professione! Peccato!“

Die „sincerità“ feierte ihren größten Triumph, als Dusolina Giannini ihre Zuneigung gegenüber dem  deutschen  Publikum  auch  unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg selbst gegenüber den Vorwürfen  immerhin  eines  Arthur  Rubinstein  nicht verleugnete. Sie war unter den ersten, die im Titaniapalast in Berlin heute legendäre Konzerte gaben. Die „purezza“  drückte  sich rührend aus in der Scheu der Sängerin, die schon mit 12 Jahren die Azucena sang und eine überzeugende Santuzza jugendlichsten Alters darstellte, sich privat jedoch nicht zu fragen getraute, was  für ein schreckliches Unrecht ihr Turiddu denn angetan habe.

Gründe, meinte sie, gab es für sie schon genug, nicht selbstgefällig, aber zufrieden in den Spiegel schauen  zu  können  und  zu   ihrem   Spiegelbild zu sagen: ,,Dusolina, du hast deine Sache gut gemacht“ , ein Selbstlob, das aus einer Bescheidenheit erwächst, die die Sängerin nie den spektakulär-triumphalen Opernerfolg suchen;  sondern das sich liebevolle Bemühen vor allem um das deutsche Lied vorrangig sein ließ; aus einer Redlichkeit heraus, die  ihr Auftreten an der Mailänder Scala scheitern ließ, weil sie sowohl dem üblichen Bestechen der Kritiker wie dem Anheuern einer Claque abhold war. Nicht als Opernsängerin, auch nicht als Sängerin, sondern als Künstlerin bezeichnete sie sich.

Ihre farbigen und temperamentvoll erzählten Erinnerungen reichen weit zurück. Mit drei Jahren wahrscheinlich hatte sie ihren  ersten Auftritt als   Sängerin: auf  einem Tisch   inmitten  einer Menschengruppe, deren Bitten um  eine  Darbietung sie erst nachgab, als man ihr auch ihr heißgeliebtes rotes Stühlchen hinaufgereicht hatte „Erblich belastet“ war  sie  von  beiden  Eltern her. Die Mutter war als Geigerin Mitglied eines Kammerorchesters und spielte auch Mandoline. Der Vater, Ferruccio Giannini, war ein recht bekannter Tenor, der den ersten amerikanischen Turiddu sang und den ersten Faust kreierte. Ein Großonkel war Dirigent eines Orchesters von ebenso musikalischen Onkeln und Tanten, eine Schwester wurde eine bekannte Gesangslehrerin, ein Bruder zeitweise erfolgreicher Komponist, dessen Oper „The Scarlet Letter“ sie 1936 bei der Uraufführung mit zum Erfolg verhalf. Es gab also in ihrem Leben von Kindesbeinen an „Musik, Musik und nur Musik“.

Der Vater war ein überaus unternehmender Mann, der zeitweise eine „banda concertante“ leitete, einer der ersten Sänger auf Schallplatten war, der in Philadelphia ein Theater gründete, in dem nicht nur Opern, sondern auch Stücke der Commedia dell’Arte aufgeführt wurden . Die ganze Familie, deren musikalische Grundausbildung die Mutter besorgte, wurde für dieses Unternehmen eingespannt, so dass die l2jährige Dusolina (,,Ich glaube, ich habe in der Schule nichts gelernt, ich habe nur gesungen.“) unter dem Gelächter des Publikums den tenorsingenden Vater als „figlio“ Manrico bei dem schon erwähnten Trovatore  in den  Arme schließen musste. Auch eine  Aida  mit der  älteren  Schwester in der Titelrolle, mit dem Vater als Radames und ihr selbst als Amneris stand auf dem Programm; der Vater überwachte die Entwicklung  der  Stimme seiner Tochter mit Sorgfalt, und als er die 15jährige zu der bekannten Gesangspädagogin Marcella Sembrich brachte, meinte diese abwehrend: ,,Was wollen Sie denn bei mir? Die Stimme sitzt doch.“ Der Vater bestand auf  einer  „seriösen“  Ausbildung, auf der Vermittlung der „Frauenfinessen“ durch eine weibliche Lehrerin. Ein Bekannter, Besitzer einer Zigarrenfabrik, finanzierte das Studium, das von Dusolina und ihrer sie begleitenden Schwester in einer kärglichen New Yorker Umgebung mit großem Ernst absolviert wurde.  Sie  fühlte sich der geliebten Lehrerin gegenüber verpflichtet: ,,Sie war auch  eine  große  Frau,  nicht nur eine große Künstlerin. Sie liebte mich  sehr, und ich liebte sie. Ich wollte sie nicht enttäuschen.“

Dusolina Giannini als Santuzza/ Foto mit Widmung/ OBA

So konnte die Giannini , als die große Chance kam, kühn, aber    wahrheitsgemäß  behaupten: „Ich bin bereit.“ Es ging um das Einspringen bei einem Konzert in der New Yorker Carnegie Hall, nach dem die Zeitungen einmütig schrieben: ,,A new star is born.“ Agenten stürmten die Garderobe, und die Einundzwanzigjährige stand vor der Entscheidung: ,,In three  years I will make you a rich girl“ oder „I’ll make you a world­carreer“. Sie wählte das letztere, aber trotz der nun folgenden Engagements nahm sie weiter Unterricht. Im Herbst 1923 sang sie unter Bruno Walter Dvoráks „Zigeunerlieder“, im Herbst 1924 Arien aus Oberon und Figaros Hochzeit.

Mit dem Versprechen des Berliner  Agenten Erik Simon (,,You must come to Berlin, you will have Berlin at your feet“)  begann  die  Zeit,  die die Sängerin heute als die glücklichsten Jahre ihrer Karriere bezeichnet. ,,Berlin hat mich  an sein Herz genommen“, stellte sie nach den beiden ersten Konzerten hier beglückt fest.

Eine andere große Liebe brachte zunächst Tränen. ,,Ich weiß nicht, diese Lieder, diese Lieder…“, mit diesen nur gestammelten Worten war sie schluchzend weggelaufen, nachdem sie zum ersten Mal Lieder von Schubert und Schumann gehört hatte. Sie konnte nur erklären: ,,Ich weiß  nicht, was es ist, aber diese Lieder sind mein  eigenes Ich.“ Der Liedgesang sollte ihre gesamte Karriere hindurch einen Vorrang einnehmen, auch als sie nun in Hamburg ihre  erste  Bühnenpartie,  die Aida, sang; Tosca, Recha, Forza-Leonora, Donna Anna und andere Rollen folgten. Die berühmtesten Dirigenten verpflichteten sie immer wieder: Toscanini, Furtwängler, Blech, Busch, Kleiber, Stokowski und immer wieder  Bruno  Walter, Pierre Monteux und Ernest Ansermet, die sie besonders liebten. 1938 erreichte sie auf einer Schiffsreise ein  Telegramm Winifred Wagners mit dem Angebot, im Sommer 1939 in Bayreuth die Kundry zu singen. Obwohl die amerikanischen Agenten, in der Mehrzahl Juden, sie zu einer Absage drängten, nahm sie das Angebot an, denn in Bayreuth zu singen, war für eine. Künstlerin ihrer Generation und ihres Formats der Traum schlechthin. Der Krieg zerschlug ihre Pläne und bewahrte sie vielleicht vor einem  Schicksal  ähnlich  dem der Französin Germaine Lubin. Eine gewisse Entschädigung für Dusolina Giannini war später in San Francisco der konzertante Parsifal unter Ansermet.

Schon 194 7 kam Dusolina Giannini wieder nach Europa, erst 1949 durfte sie nach  Berlin (hier fehlte eine nähere Begründung, aber ihre politische Vergangenheit blieb unerwähnt und im Dunkel/G. H.), wo  sie  es durchsetzte, dass der immer noch belastete Michael Raucheisen sie am Klavier begleitete. Auf der Fahrt durch die zerbombte Stadt weinte sie fassungslos. Aber ihr Wunsch hatte sich erfüllt: wieder in Deutschland zu  singen.

Um  Politik hatte sie sich nie gekümmert – sie hatte die Deutschen als Musikliebhaber lieben gelernt. 1956 dann gab sie allein in Berlin fünf Abschiedskonzerte, wollte sich ganz aus dem musikalischen Leben zurückziehen und wurde  doch  rückfällig, als Herbert Graf ihr 1962 die Leitung des Zürcher Opernstudios anbot. ,,Nur wer ,es‘ gehabt hat, kann ,es‘ verstehen„, sagte sie im Rückblick  auf  ihre  Karriere. Und um ,es‘ zu haben, musste man zweierlei auf ­ bringen, was sie dann schmerzlich vermisst: „Andacht und Besessenheit!“ Sie  fühlte sich als ,,Dienerin der Musik“. Viele der heutigen „Stars“, die vielleicht eine schöne Stimme haben,  aber keine Sänger sind, empfand sie als „Schwindler“, die in ihren Augen nie das erreichten, was ein Aureliano Pertile verkörperte, der „keine Mätzchen“ kannte, oder ein Hans Beirer , der nur deshalb noch singen konnte, weil er „echt  ist,  weil er sich selbst treu geblieben ist“!

Sie bedauerte die heutige Generation, weil  sie nicht mehr die Mutter kennt, die am Herd steht, wenn das Kind nach Hause kommt, und sich geduldig seine Sorgen anhört; nicht mehr den Vater, der die Prinzipien einer konsequenten Erziehung vertritt, nach denen sie sich selber zeitlebens richten konnte. Die Sänger von heute aber hatten ihr Mitgefühl, weil sie des übereifrigen Regisseurs nicht zuletzt deshalb bedürfen, weil sie nicht mehr den Mut haben, sich allein von der Musik inspirieren zu lassen, eben weil sie nicht mehr zu hören vermochten. (Dies 1983!)

 

Dusolina Giannini bei Naxos

Hinsichtlich der Dokumente verweise ich auf die 2 LPs bei Preiser und die CD bei Naxos: eine wunderschöne, frische Norma von 1931, Arien aus Aida, Forza, eine hinreißende Carmen, Santuzza und  Manon,  sowie zwei italienische canzoni; dann weitere Arien aus ForzaOtello, jeweils Arien und Duette aus Butterfly (mit Marcel Wittrisch) sowie Tostis Dauerbrenner „Mattinata“. Lieder von Brahms und Strauss –  diese sind ein Muss für Fans des Liedgesangs und demonstrieren (schon aufgrund der Begleitung von Michael Raucheisen) die bemerkenswerte Kunst der Giannini. Als Aida hört man sie dann noch in der Gesamtaufnahme bei EM Italiana, auf der  sie neben Aureliano Pertile,  Irene  Minghini-Cattaneo (der Ricordi-Gattin) u.a. unter Carlo Sabajno ihren Verdi-Gesang dokumentiert. Aber es gibt noch mehr. G. H.

Französischer Klangrausch mit Raritäten

 

Am 6. November 1968 starb der bedeutende Dirigent Charles Munch im Alter von 77 Jahren. Dieses Datum jährt sich in Kürze zum 50. Male. Charles Münch, 1891 im damals zum Deutschen Reich gehörigen Elsass geboren, verkörperte wie kein anderer Dirigent die nicht immer einfachen deutsch-französischen Beziehungen, kämpfte im Ersten Weltkrieg auf Seiten Deutschlands und unterstützte im Zweiten Weltkrieg als Direktor des berühmten Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire die französische Résistance. Seinen größten Ruhm erlangte er zweifellos während seiner 13-jährigen Amtszeit als Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra zwischen 1949 und 1962, in der zahllose heute legendäre Einspielungen für RCA entstanden. Erst im hohen Alter kehrte er wieder nach Frankreich zurück, gründete noch 1967 das Orchestre de Paris und stand diesem bis zu seinem überraschenden Ableben im Folgejahr während einer Amerika-Tournee vor.

Warner ehrt Munch nun (2018) mit einer nicht weniger als 13 CDs umfassenden Box (0190295611989), welche sämtliche für EMI und Erato entstandenen Einspielungen zwischen 1935 und 1968 enthält. Es sind insgesamt vier Orchester beteiligt, allesamt französisch: Neben dem 1967 aufgelösten Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire und dem im selben Jahr daraus weitgehend hervorgegangenen Orchestre de Paris handelt es sich um das Orchestre National de la Radiodiffusion Française bzw. de’l O.R.T.F. (so seit 1964) sowie das seinerzeit berühmte Orchestre des Concerts Lamoureux.

Die ersten sechs CDs versammeln Stereoaufnahmen der ganz späten Lebensjahre Munchs von 1965 bis 1968. Die CDs Nr. 1 bis 3 werden vom Orchestre de Paris, die CDs Nr. 4 bis 6 vom Orchestre Lamoureux bestritten; lediglich Honeggers vierte Sinfonie „Deliciae Basiliensis“ auf CD 6 steuert das O.R.T.F.-Orchester bei. Eröffnet wird die Box mit der 1967 im Salle Wagram eingespielten Symphonie fantastique von Berlioz, die als fast einziges Werk doppelt vorliegt (so auch von 1949 mit dem Rundfunkorchester). Es handelte sich hierbei um das allererste Zusammentreten des neugegründeten Orchestre de Paris. Die Symphonie fantastique lag Munch sehr am Herzen: Neben den beiden hier enthaltenen Aufnahmen gibt es nicht weniger als drei weitere Studioeinspielungen (1954 und 1962 aus Boston und 1966 aus Ungarn). Gemeinhin gilt die ’54er Living Stereo-Einspielung von RCA Victor als der Klassiker, während die Pariser Aufnahme altersweiser daherkommt. Die Tempi sind in den Altersaufnahmen gemäßigter, in sich ruhender, ohne aber an Intensität einzubüßen – ein Grundmerkmal der späten Interpretationen dieses Dirigenten, welches auch beim Ravel’schen Boléro zu Tage tritt. Dieser wurde wenige Wochen vor Munchs Tod Ende September/Anfang Oktober 1968 in Paris eingespielt und ist mit gut 17 Minuten deutlich getragener (und m. E. auch überzeugender) als die gehetzt wirkende Bostoner Aufnahme aus den 50er Jahren (13:49); Ravel selbst übrigens sah ein zu schnelles Tempo für das Stück als ruinös an. Auch in den übrigen enthaltenen Ravel-Werken (die Suite Nr. 2 aus Daphnis et Chloé, die Pavane pour une infante défunte, die Rapsodie espagnole und das Klavierkonzert G-Dur mit Nicole Henriot-Schweitzer) beweist Munch seine Meisterschaft.

Auf der dritten CD befindet sich eine der herausragendsten Aufnahmen der ersten Sinfonie von Brahms, die für Geld zu haben ist. Im Jänner 1968 ebenfalls im Pariser Salle Wagram eingespielt, nimmt sich Munch beinahe 50 Minuten Zeit, in denen er die monumentale Größe dieser gewichtigen Sinfonie betont. Vom pochenden Anfang des Kopfsatzes über das tief empfundene Andante sostenuto und das hier wirklich graziöse Scherzo bis hin zum apotheotischen Finalsatz. Dort vergehen sage und schreibe sechs spannungsgeladene Minuten, ehe das weltbekannte und hymnusartige Hauptthema erklingt. Dass Munch trotz solcher Tendenzen sein französisches Temperament keinesfalls verloren hat, kann man in der abschließenden Coda mustergültig miterleben: mehr à la française kann das eigentlich kaum klingen. Der typisch französische Klang der Blechbläser, der ein wenig an die Marseillaise denken lässt, verrät die illustre Tradition des Orchestre de Paris, die im dortigen Konservatorium seit dem frühen 19. Jahrhundert gepflegt wurde. Ein Wermutstropfen bleibt indes: Leider bediente sich Warner nicht des überlegenen japanischen Remasterings, das dem hier vorliegenden hörbar vorzuziehen sind.

Das heutzutage etwas im Schatten stehende Orchestre Lamoureux erlebte seine große Zeit in den 1950er und frühen 60er Jahren unter den Chefdirigenten Jean Martinon und Igor Markevitch, als es zu zahlreichen bedeutenden Produktionen herangezogen wurde (darunter Markevitchs spektakuläre Einspielung der Symphonie fantastique, die m. M. n. sogar jene Munchs noch übertrifft). Auch wenn dieser Klangkörper nicht ganz die Spielkultur anderer Orchester aufweist, so nimmt einen der wahrlich gallisch zu nennende Elan mit. In der vorliegenden Box werden in der Hauptsache das Cellokonzert Nr. 1 von Saint-Saens und das Cellokonzert d-Moll von Lalo (mit André Navarra) sowie die Sinfonien Nr. 3 und 4 von Roussel vom Lamoureux bestritten. Von Charles Munchs Einsatz auch für zeitgenössische Komponisten zeugt die zusätzlich inkludierte zweite Sinfonie von Henri Dutilleux, die dieser 1959 dem 75. Jubiläum des Boston Symphony Orchestra widmete – für den damaligen Chefdirigenten Munch also gleichsam eine Pflichtübung. Interpretatorisch überzeugender wird man all die genannten Werke schwerlich zu Gehör bekommen. Dies gilt genauso für die beiden Sinfonien von Arthur Honegger, die zweite und die vierte, die Warner in die Kassette gepackt hat (es spielen das Orchestre de Paris bzw. das Orchestre National de l’O.R.T.F.).

Mit der siebten CD verlässt man das Stereozeitalter und macht eine Zeitreise in die 1930er Jahre. Das vierte Klavierkonzert von Saint-Saens mit keinem geringeren Solisten als Alfred Cortot von 1935 eröffnet den Reigen. Munchs enorme Bandbreite erkennt man, wenn hier auf das Violinkonzert D-Dur von Vivaldi die Berceuse von Gabriel Fauré (mit Denise Soriano) und das Violinkonzert von Ernest Bloch (mit Joseph Szigeti) folgen. Auch das in Stereo nicht vorliegende Klavierkonzert für die linke Hand von Ravel ist hier in Mono versammelt (zweifach; wiederum mit Cortot sowie mit Jacques Février), ferner unter anderem die jeweils ersten Klavierkonzerte von Tschaikowski und Liszt (mit Kostia Konstantinow und Joseph Benvenuti). Hier findet man auch die dritte Dopplung, nämlich die Pavane pour une infante défunte, diesmal von 1942. Selbst eine Bach-Kantate wurde ausgegraben: „Meine Seele rühmt und preist“ BWV 189 mit dem Bariton Pierre Bernac.

Eine besondere Liebe verband Charles Munch mit der Wiener Klassik, die durch das fünfte und siebte Violinkonzert sowie das zwanzigste Klavierkonzert von Mozart (Solisten: Jacques Thibaud, Denise Soriano und Jean Doyen) sowie das „Kaiser-Konzert“ von Beethoven (mit Marguerite Long am Piano) angemessen repräsentiert ist. Weitere Lücken in der Munch-Diskographie können ebenfalls durch hochbetagte Einspielungen geschlossen werden, darunter Debussys La Mer und Ravels La Valse. Nahezu alle dieser zwischen 1935 und 1949 entstandenen Mono-Produktionen werden vom Orchester des Pariser Konservatoriums übernommen; einzig die ’49er Symphonie fantastique (Orchestre National de la Radiodiffusion Française), die genannte Bach-Kantate (ungenau als „Kammerorchester“ bezeichnet) sowie das Klavierkonzert Nr. 4 von Saint-Saens (genauso nichtssagend schlicht „Orchester“ genannt) entstanden mit anderen Klangkörpern.

Richtet sich die erste Hälfte dieser Box mit seinen gut klingenden Stereoaufnahmen aus den 1960ern also an die breite Öffentlichkeit, ist die zweite Hälfte mit den Monoeinspielungen aus den 1930ern und 40ern aufgrund der nicht zu leugnenden klanglichen Einschränkungen und trotz des hohen künstlerischen Wertes eher für den Munch-Sammler geeignet. So sind zwei sehr unterschiedliche Abschnitte im langen Dirigentenleben von Charles Munch aufnahmetechnisch festgehalten, was sich auch im jeweiligen Stil zeigt. Zeichnen sich die frühen Einspielungen durch Spritzigkeit und meist flotte Tempi aus, erlebt man in den späten Tondokumenten den reifen und abgeklärten Munch, der nach seinem Indian Summer in Boston einen markanten Altersstil entwickelte, der sich selbst von jenem der späten 50er und frühen 60er Jahre deutlich unterscheidet. Da die Warner-Box gewissermaßen die Bostoner Jahre zeitlich umschließt und nur den „jungen“ und „ganz alten“ Munch abdeckt, empfiehlt es sich, die bei RCA zumeist bereits in ausgezeichneter Stereophonie dokumentierten Einspielungen seiner besten Jahre zusätzlich kennenzulernen (Charles Munch/Boston Symphony Orchestra – The Complete RCA Album Collection, 86 CDs). Daniel Hauser

Warum nun noch eine …

 

Man muss sich schon sehr anstrengen, will man erreichen, dass der Zuschauer wenig Anteil am Schicksal Mimis und Rodolfos in der Bohème aus Covent Garden bei der Hausfirma  Opus Arte nimmt, und Richard Jones ist das über weite Strecken gelungen, wobei ihm Stewart Lainig als Designer ein williger Helfershelfer war. Der erste und letzte Akt verdammt die vier Künstler zum Leben in einer klitzekleinen Dachkammer, die keinerlei Raum für das bei allem Elend muntere Treiben der jungen Leute lässt, gerade einmal zwei Stühlen Raum gibt. Im naturalistischsten aller veristischen Stücke malt Marcello in die Luft und hat auch das Weihnachtsbild keine Atmosphäre, weder im Draußen noch im Drinnen des Momus, denn alles wirkt zu fein, zu bunt, zu unberührt vom Leben in einer umtriebigen Großstadt, eher einer Revue als dem Stück angemessen.  Im dritten Bild steht eine Baracke allein auf weiter Flur, die Zöllner kommen aus dem Nichts und verschwinden in demselben, dass man mit Schnee nicht geizt, ihn schon vor Beginn der Oper vom Bühnenhimmel fallen lässt, hilft da wenig. Immerhin ist es interessant zu erfahren, dass Musetta im letzten Akt zu einem sittsamen Leben zurückgekehrt ist, so züchtig ist ihr Kostüm, und kaum zu glauben ist, dass sie im zweiten Akt noch ihren Slip in die Menge warf. Der Regisseur hat mit viel Erfolg verhindert, dass die Figuren Charme entfalten, und wenn doch ein gewisser Zauber besonders im zweiten Teil des dritten Aktes entsteht, dann ist es den Sängern und, wen wundert es, der Musik zu verdanken, die mit Dirigent Antonio Pappano natürlich einen berufeneren Anwalt gefunden hat als in den mit der Optik Betrauten.

Einen recht pummeligen Rodolfo gibt Michael Fabiano mit für Puccini recht hellem und flachem Tenor, der das Fehlen von Rundung und Farbe immerhin mit gewaltigem Geschluchze auszugleichen versucht. Eine sehr gute Besetzung für die Mimi ist Nicole Car, hochgewachsen, so dass Tenöre sich recken und strecken müssen, mit feinem lyrischem Sopran, der das unverzichtbare Aufblühen der Stimme in der Höhe nicht verweigert. Ein Gewinn für die Produktion ist auch der Marcello von Mariusz Kwiecien mit höchst angenehm timbriertem Bariton von betörendem Ebenmaß. Uncharmant muss sich die Musetta von Simona Mihai geben, dazu kommt eine zu kleine Stimme, die dem berühmten Walzer Eleganz und erotisches Flair verweigert. Ein verhaltenes, anrührendes Mantellied singt Luca Tittoto als Colline, dunkler als bei der Partie gewohnt und im Verhältnis zum Marcello ist der Bariton von Florian Sempey für den Schaunard. Den Chor in der turbulenten Weihnachtsszene gut zusammen hält der von Berlin nach London gewechselte Chorleiter William Spaulding in der Produktion, die während dreier Vorstellungen im Herbst 2017 aufgezeichnet wurde,  2018 auf den Markt gekommen  und eine Co-Produktion mit Madrid und Chicago ist (Opus Arte 1272 D/ 2018). Ingrid Wanja     

Anton Rubinsteins „Moses“

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Anton Rubinstein gehört zu den interessanten, aber im ganzen wenig bekannten Komponisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, im Schatten von Chopin und Liszt stehend, von der politischen Wirklichkeit seiner Zeit des russischen Riesenreichs und der Zerstückelung Polens  betroffen, zwischen beiden Ländern als Nationalkomponist reklamiert (wobei sein Grab in St. Petersburg liegt), im westlichen Einfluss Deutschlands und Frankreichs ausgebildet und sozialisiert und in Russland verankert, zählt er zu den kosmopolitischsten Künstlern seiner Epoche. Seine Oper Der Dämon hat sich bis heute gehalten und wurde in der jüngsten Vergangenheit manche Male aufgeführt (so Moskau 1950 mit Kozlowski bei Melodya, 1971 RAI mit Rossi Lemeni und Zeani, 1974 Moskau bei Meolodya, Wexford bei Naxos, 1997 Bregenz mit Silins bei Koch, Paris 2003, Moskau 2015, Brüssel 2016, Barcelona 2018). Rubinsteins Klavierkonzerte hört man gelegentlich im Rundfunk und findet sie auf CD, seine Klaviermusik zählt zu der technisch anspruchsvollsten.

Rubinsteins „Moses“ bei Warner Classics (3 CD 190295583439)

Nun hat überraschend Warner Classics Polen eine Live-Aufnahme von 2017 der Geistlichen Oper in acht Bildern, Moses, herausgebracht  (3 CD 190295583439) sogar in der originalen deutschen Sprache auf das Libretto von Hermann Levi Mosenthal, dem Librettisten auch von Goldmarks Königin von Saba). Michael Jurowski dirigiert seine Herzensangelegenheit, für die er Jahre gekämpft hat. Es spielt das Polish Sinfonia Iuventus  Orchestra (ein Universitätsorchester) und es singt der Warschauer Philharmonische Chor. Zu den Solisten zählen Torsten Kerl, Stanisław Kuflyuk, Evelina Dobraceva, Małgorzata Walewska und auch ein paar übrige deutsche Kräfte. Dass aus Polen eine weitere original deutschsprachige Aufnahme kommt und man nicht beim traditionell polonisierten Text geblieben ist, überrascht und erfreut, das war bis vor sehr kurzem nicht so. Man denke an Paderewkis Manru aus Breslau bei Dux, der einer dringenden sprachlichen Revision ins deutschsprachige Original bedarf und auf eine Neuaufnahme wartet..

Wir finden das Werk so eindrucksvoll wie Quo vadis von Feliks Nowowiejski, das wir kürzlich in den beiden Aufnahmen von Dux (erstaunlicher Weise ebenfalls im originalen Deutsch) und cpo (im traditionellen Polnisch, die Dinge bewegen sich eben) vorgestellt hatten. Und beide Opern sind sich auch ähnlich in Duktus und Musiksprache. Den nachstehenden Artikel von Piotr Maculewiz  zu dieser interessanten biblischen Oper  entnahmen wir der dünnen Beilage zur 3-CD-Ausgabe bei Warner in unserer eigenen Übersetzung durch Daniel Hauser, eine Besprechung folgt.

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Rubinstein: „Moses“/ Michail Jurowsky erfüllte sich einen Herzenswunsch/ Warner

Als PS muss angefügt werden, dass die Sache mit dem verfügbaren Libretto eine ärgerliche ist. Offenbar wurde versäumt, auf der letzten Beilagen-Seite dem Hinweis zum Downloaden des dreisprachigen Librettos (immerhin original deutsch, polnisch und englisch) die Netzadresse folgen zu lassen. Man sucht sich blind. Dafür findet man nach einiger Zeit einen QR auf der Rückseite der Box aufgeklebt, also einen elektronischen Hinweis, den man einscannen soll (vorher eine app herunterladen), um dann endlich auf die Warner-Seite des Librettos zu gelangen. Da ist was schief gelaufen. Was macht die kirchengläubige alte Frau, wie ich ohne ein smart, nun? Man fragt da besser den pickligen Ekel oder einen  fortschrittlichen Freund. Und vielleicht entbehrt auch bezeichnender Weise dann Hermann Levi Mosenthal seines „Levi“ beim Auffinden des Librettos, er wird zum schlichten H. Mosenthal …. G. H.

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Hier nun die Rezension der Aufnahme von Daniel Hauser: Zu Lebzeiten des Komponisten Anton Rubinstein (1829-1894) gab es lediglich eine verbürgte konzertante Aufführung seiner geistlichen Oper Moses, der letzten in einer Art biblischen Tetralogie (neben Der Thurm zu Babel, Sulamith und Christus); auf die Bühne brachte es das Werk nie, doch war genau dies die Intention Rubinsteins. Die seltsame Werkklassifizierung zeugt hiervon, handelt es sich doch auf den ersten Blick vielmehr um ein Oratorium. Die Nähe zu den großen Oratorien Händels und Mendelssohns ist unverkennbar. Thematisch hat ersterer mit dem „Choratorium“ Israel in Egypt bereits 1739 einen Vorläufer geschaffen. Beiden gemein ist die zu ihrer Zeit sehr verhaltene Aufnahme durch das Publikum.

Dass Moses nun nach über einem Jahrhundert des Dornröschenschlafes doch wieder ins öffentliche Bewusstsein rückt und von Warner sogar als 2017 entstandene Einspielung vorgelegt wird, ist in erster Linie dem jahrelangen Engagement des russischen Dirigenten Michail Jurowski (dem Vater von Wladimir Jurowski) zu verdanken. Vielleicht musste es ein Russe sein, der seinem Landsmann Rubinstein damit späte Anerkennung verschafft.  Indem es vornehmlich polnische Kräfte sind, mit denen das Vorhaben schließlich umgesetzt werden konnte, wird auch ein wenig Völkerverständigung betrieben. Keineswegs selbstverständlich, dass diese Oper nun in der deutschen Originalsprache erklingt.

Das Polish Sinfonia Iuventus Orchestra (also ein Jugendorchester) und der Warschauer Philhamonische Chor meistern ihre Aufgabe vorzüglich – soweit sich dies mangels Vergleichsmöglichkeiten überhaupt seriös sagen lässt. Unter den Solisten ragen der noble Bariton Stanislaw Kuflyuk in der Titelrolle, der im Wagner- und Strauss-Fach beschlagene Tenor Torsten Kerl als Pharao und Stimme Gottes, die unter anderem am Bolschoi-Theater heimische Sopranistin Evelina Dobraceva als Königstochter Asnath sowie die international angesehene Mezzosopranistin Malgorzata Walweska als Mutter des Moses hervor.

Trotz der spätromantischen Klangpracht sollte indes nicht verschwiegen werden, dass das fast dreieinhalbstündige Werke (das sich folglich auf drei CDs verteilt) in seiner relativen Statik doch eher an ein Oratorium denn eine lebendige Oper erinnert. Gewisse Längen sind unvermeidlich. Die megalomanischen Dimensionen des Werkes werden bereits durch die mehr als zwanzig Gesangspartien und die zwei eingesetzten Chöre deutlich. Ein Eingang ins Standardrepertoire ist insofern schon aufgrund der gewaltigen aufführungstechnischen Anforderungen mehr als fraglich. Hat man es hier mit einem Oratorium vom selben Range wie jene Händels und Mendelssohns zu tun? Eher nein.

Freilich ist diese Produktion gleichwohl eine wichtige Bereicherung der überschaubaren Diskographie Anton Rubinsteins und führt dessen Verwurzelung in der deutschen Romantik vor Augen, wovon Anklänge an Mendelssohn, Schumann und auch Brahms zeugen. Dem Vernehmen nach plant Jurowski bereits weitere Projekte, die idealerweise ebenfalls in Aufnahmen dokumentiert werden sollen.

Trotz diverser Einschränkungen, die weniger an der engagierten Aufführung als vielmehr am Werk selbst liegen, ist diese Weltersteinspielung also zu begrüßen. Sie dürfte auf absehbare Zeit die einzige des Rubinstein‘schen Moses bleiben (Polish Sinfonia Iuventus Orchestra/Michail Jurowski Aufnahme: 2017, Erscheinungsdatum: 2018; Warner Classics 3 CD 190295583439 ). Daniel Hauser

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Anton Rubinstein (rechts) mit seinem Bruder Nikolai, 1862/ Wikipedia

Nun also der Artikel von Piotr Maculewiz  zu Werk und Verbreitung: Anton Rubinstein (1829-1894) war eine der prominentesten Figuren der russischen und internationalen Musikszene im 19. Jahrhundert. Geboren in eine assimilierte jüdische Familie, war der Pianist, Dirigent und Lehrer (unter anderem war er der Gründer des Petersburger Konservatoriums, wo Peter Tschaikowski zu seinen Schülern gehörte) auch ein produktiver und sehr populärer Komponist seiner Ära, der sich seine Zeit aufteilte zwischen Russland und den westeuropäischen Ländern. Seine Klavierkonzerte (insbesondere das Klavierkonzert Nr. 4) und Opern wurden sehr geschätzt; seine Oper Der Dämon aus dem Jahre 1871, welche auf einem Gedicht von Lermontow basierte, erlangte vor allem in seiner Heimat Russland anhaltende Popularität. Rubinsteins Reihe biblischer Opern mit Themen aus dem Alten und Neuen Testament ist interessant und originell; die Serie umfasst Der Thurm zu Babel, Sulamith, Moses und Christus. Die Entstehung dieses Interesses ist einerseits mit der Faszination für die romantischen Oratorien von Mendelssohn (Paulus, Elias) verbunden und andererseits mit der Renaissance ähnlicher Werke von Georg Friedrich Händel, der sich ebenfalls alttestamentarischer Narrative bediente. Zu dieser Zeit fanden die monumentalen Editionen in Deutschland in deutscher Fassung Verbreitung (die Originale waren sämtlich in englischer Sprache), was die breite Öffentlichkeit begeisterte. Der große Pianist zeigte viel Interesse am musikalischen Historizismus (der zu seiner Zeit nicht oft gesehen wurde) und gab Rezitals von Werken früherer Komponisten – daher seine Bewunderung für und seine unzweifelhafte Inspiration durch barocke Oratorien mit ihrer vollen Klangpracht, vorgesehen für größere Besetzungen. Eine spannende Eigenschaft von Rubinsteins ästhetischer Haltung war sein Widerstand gegen den modernistischen Trend innerhalb der deutschen Kunst jener Zeit, repräsentiert durch die Kunst der „neuen deutschen“ Komponisten, hauptsächlich Liszt und Wagner (zusätzlich distanzierte er sich auch vom nationalen Trend der russischen Musik, was ihm Kritik in seinem Heimatland einbrachte). Trotz seiner Freundschaft mit Liszt verfolgte der russische Komponist keinen ähnlichen Weg, sondern berief sich eher auf das klassische und klassizistische Erbe der Romantiker (wie Brahms). Die Idee einer „religiösen Oper“ wurde gleichsam im Gegensatz zum Konzept von Wagners Musikdrama geboren. Der Wunsch des Komponisten war es, dem biblischen Inhalt einen ebenso eindrucksvollen theatralischen Ausdruck zu verleihen – er hielt konzertante Aufführungen in zeitgenössischen Kostümen, ohne Bühnenhandlung und Dekoration für nicht kommunikativ genug und als unzulänglich für diese erhabenen Themen. Er erwog sogar ein spezielles Theater für diese Bedürfnisse errichten zu lassen, gewissermaßen den „Tempel“ Wagners ausgleichend.

Der junge Anton Rubinstein spielt für den Zaren/ Gemälde von Francis Luis Mora/ American Gallery

Moses entstand zwischen 1884 und 1891 nach einem Libretto von Salomon Hermann Mosenthal. Der österreichische Dramatiker ist heute vor allen Dingen als Librettist von Otto Nicolais komischer Oper Die lustigen Weiber von Windsor nach Shakespeares gleichnamigem Stück in Erinnerung geblieben. Der Erfolg dieser Arbeit brachte dem Schriftsteller auch Ruhm; er arbeitete mehrmals mit dem russischen Komponisten Rubinstein zusammen (einschließlich Die Makkabäer von 1874, was in Russland und Deutschland sehr erfolgreich war); die Musik zu Moses wurde nach Mosenthals Tod komponiert. Die Oper erzählt die Geschichte des Propheten in acht suggestiven Bildern, mit einem enormen Aufführungsapparat (zuvor wurde sie auf der Bühne von Rossini präsentiert, später von Arnold Schönberg; der Prophet war auch der Protagonist zahlreicher Oratorien, so Händels Israel in Egypt und zeitgenössisch mit Rubinsteins Werk in einer 1895 entstandenen Komposition von Max Bruch, die ebenfalls vergessen wurde). Im expressiven, neoromantischen Stil gehalten, enthält Moses viele großartige Arien, besonders in den beeindruckenden Massenszenen, welche die berühmten dramatischen Episoden darstellen, die im biblischen Pentateuch beschrieben werden. Die Last der musikalischen Erzählung ruht auf dem Titelcharakter (Bariton), der hauptsächlich in feierlichen Begleitrezitativen und Ariosi auftritt. Die Chöre repräsentieren eine Gruppe – das Volk von Israel (wie auch die Ägypter) – und stellen einen besonders wichtigen Partner für ihn dar. Unter den zahlreichen dramatischen Personen der biblischen Erzählung (20 Soloparts) ist die Stimme Gottes (Tenor) hervorzuheben, die in der Bühnenmusik viele Präzedenzfälle hat und in einer besonders eindrucksvollen Szene die Gesetze übergibt. Eine spezielle Rolle hat das große Orchester, das auf besonders farbenfrohe Weise behandelt wird und sehr wirkungsvoll (mit einer interessanten Nachahmung des antiken Instrumentariums) wichtige Szenen illustriert – die ägyptischen Plagen, die Durchquerung des Roten Meeres, Jahwes Erscheinung im brennenden Dornbusch und andere.

Rubinsteins Grab in St. Petersburg/ Wikipedia

Moses wurde niemals auf der Bühne aufgeführt, obwohl eine Aufführung am Neuen Deutschen Theater in Prag (der späteren Státní Opera) 1892 vorbereitet wurde. Die Generalprobe hatte bereits stattgefunden, als die Aufführungen abgesagt wurden – offiziell aus finanziellen Gründen, aber es hätte auch Probleme mit der Zensur geben können. Es war eine Zeit wachsender Bestrebungen einer tschechischen Unabhängigkeit und die Echos der Geschichte von einem kleinen tapferen Volk, das sich „von der Macht des Pharaos“ befreit, hätte Wien erschüttern können. Wir wissen, dass es 1894 eine konzertante Aufführung des Moses in Riga gab, später in mehreren anderen Zentren (höchstwahrscheinlich wurden jedes Mal lediglich Fragmente aufgeführt), und dann verschwand er von den Bühnen und aus dem Bewusstsein des Publikums für über ein Jahrhundert. Ein Grund dafür waren die enormen Kosten für die Inszenierung eines Werkes mit einer solch großen Besetzung, aber auch die Tatsache, dass die Mode für „Sakralopern“ seinerzeit bereits vorüber war. Der Tod des Autors kurz nach dem Komponisten bedeutete auch, dass das Werk ziemlich schnell in Vergessenheit geriet.

Das prestigeträchtige Konzert unter der Schirmherrschaft des Polnischen Komitees für die UNESCO und des Ministeriums für Kultur und nationales Erbe, das am 15. Oktober 2017 in der Nationalen Philharmonie stattfand (vorangegangen war eine für die Veröffentlichung bestimmte Aufnahme des Werkes mit derselben Besetzung), war vermutlich die Uraufführung der gesamten, integralen Oper, welche über hundert Jahre auf ihre Wiedergutmachung gewartet hatte. Möglich wurde dies durch das persönliche Engagement von Michail Jurowski, der viele Jahre der Vorbereitung der Aufführung dieses Werkes widmete und vom Polish Sinfonia Iuventus Orchestra Unterstützung für dieses Projekt erhielt. Maestro Jurowskis Traum ist es, dass dieses außergewöhnliche künstlerische Unterfangen eine weitere Renaissance dieses interessanten und schönen, zu Unrecht vergessenen Werkes einer der originellsten Figuren der Musikszene des 19. Jahrhunderts beflügelt. Piotr Maculewiz (Übersetzung Daniel Hauser)

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Leo Borchard

 

Leo Bochard war ein Dirigent mit deutsch-russischen Wurzeln, der am 31. März 1899 in Moskau geboren wurde. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges folgte er Wilhelm Furtwängler, der von der amerikanischen Besatzungsmacht zunächst als politisch belastet eingestuft worden war, an die Spitze der Berliner Philharmoniker. Das erste Konzert im zerstörten Berlin fand am 26. Mai 1945 unter seiner Leitung im zum Konzertsaal umfunktionierten Kino Titania-Palast an der Schlossstraße im Bezirk Steglitz statt, der heute nur noch in seiner originalen Fassade erhalten ist. Auf dem Programm stand unter anderen Werken die vierte Sinfonie von Tschaikowski. Nicht zuletzt durch den großen Erfolg beim Publikum wurde Borchard wenig später vom Berliner Magistrat mit der Leitung des Orchesters beauftragt. Seine Amtszeit war nur von kurzer Dauer. Unter tragischen Umständen wurde er am 23. August 1945 an einem alliierten Grenzpunkt am Bundesplatz (Bezirk Wilmersdorf) von einem amerikanischen Soldaten erschossen. Das Auto mit Borchard hatte – entgegen der vorherrschenden Befehlslage – nicht angehalten.

Beigesetzt ist der Dirigent auf dem Steglitzer Friedhof in einem Ehrengrab. An seinem ehemaligen Wohnhaus in der Nähe erinnert eine Gedenktafel an Borchard, die allerdings sein Wirken als Dirigent ausspart. Gewürdigt wird darauf der Widerstand gegen die Nationalsozialisten, den er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, der Schriftstellerin Ruth Andreas-Friedrich, leistete. Wenige  Tondokumente vermitteln nur eine annähernde Vorstellung von der Begabung des Dirigenten. Die meisten stammen bereits aus den 1930er Jahren. Testament hatte auf einer CD Einspielungen mit den Berliner Philharmonikern zusammengefasst (SBT 1514). Es sind nur kurze Stücke oder Auszüge aus sinfonischen Werken, die auf Schelllackplatten passen mussten. Mit fast sechzehn Minuten ist Wotans Abschied und Feuerzauber aus Wagners Walküre das umfänglichste Stück, welches seine Bedeutung aber mehr von der Tatsache herleitet, dass Hans Reinmar als Solist besetzt ist. Nachhaltiger blieb der vielseitige Leo Borchard durch seine Mitarbeit an dem Oratorium Der Großinquisitor von Boris Blacher in Erinnerung. Er richtete dafür den Text nach dem Roman „Die Brüder Karamasow“ von Fjodor Dostojewski ein. Außerdem ist er als Übersetzer von Tschechow und der Tschaikowski-Biographie „Geschichte eines einsamen Lebens“ der russischen Autorin Nina Berberowa in Erscheinung getreten. R.W.

Genialer Dirigent

 

Emmerich Kálmán gehört zu den bekanntesten Operettenkomponisten des 20. Jahrhunderts – doch wir verbinden seinen Namen meist nur mit seinen beiden großen Kassenschlagern: Die Czardasfürstin und Gräfin Mariza. Jetzt ist beim Label cpo eine vergessene Operette erschienen: Kaiserin Josephine. Emmerich Kálmán war sehr produktiv, neben einigen kleineren Possen und Einaktern hat er immerhin 15 abendfüllende Operetten und drei Musicals komponiert. Paradoxerweise sind ausgerechnet die konservativeren Stücke von ihm Dauerbrenner, in denen er sich auf altbewährte Operettenrezepte verlassen hat. Doch Kálmán war ständig auf der Suche nach neuen Ausdrucksmitteln in seinem Genre, er hat mit Jazzelementen ebenso experimentiert wie mit Exotismen und opernnahen Strukturen. Sicher ist er da manchmal zu exzentrisch gewesen, um ein großes Publikum glücklich zu machen. Wie in Kaiserin Josephine, wo er sehr mit der großen Oper kokettiert.

Das Ganze ist eine Historien-Operette, die sich um die oft romantisierte Liebes-Geschichte Napoleons dreht. Die Gestalt Josephines gäbe einiges her. Daraus hätte man durchaus eine schöne Geschichte stricken können – aber dies hier ist dann doch eher eine recht zusammenhangslose kitschige Revue, die sich über ein Jahrzehnt und acht zähe Bilder erstreckt und die mit der Krönung endet – eigentlich schade, denn das historisch interessanteste an dieser Ehe war nicht die Krönung, sondern die Scheidung, die erste moderne der Neuzeit überhaupt (Napoleon hatte die neuen liberalen Gesetze dafür praktischerweise kurz vorher selbst erlassen.) Das wäre ein toller potenzieller Operettenstoff, der hier gar nicht genutzt wurde. Sehr merkwürdigist, dass Kálmán stattdessen für seine letzte echte Operette so ein verzwicktes und humorloses Libretto gewählt hat – und es dann musikalisch sehr unentschlossen zwischen großer Ausstattungsoper und Musical angesiedelt hat. Große, etwas steif durchkomponierte Tableaus und Melodramen dominieren, und nur hin und wieder blitzt etwas von Kálmáns altem Charme auf.

Verpatzte Chance in den Hauptrollen: Wenn man dieses opernhafteste Werk Kálmáns schon ausgräbt, müsste man es auch groß besetzen. Um die enormen Anforderungen an die Hauptakteuere Napoleon und Josephine souverän umsetzen zu können, bräuchte es eigentlich ein Paar vom Schlage Diana Damrau / Jonas Kaufmann. Vincent Schirrmacher als Napoleon ist eine ordentliche Tenorbesetzung, er hat sogar beachtlich sinnliche Momente – aber wenn die Partie nicht mit Leichtigkeit und Anmut serviert wird, fällt die Musik zusammen wie ein misslungenes Soufflée. Miriam Portmann als Josephine versetzt dem Werk endgültig den Todesstoß. Sie ist weder textlich zu verstehen (was allerdings auch am tontechnisch unausgewogenen Mitschnitt liegen kann), noch gelingt es ihr, die Partie mit Charme und Delikatesse zu zelebrieren.

Genialer Dirigent: Das ist doppelt bedauerlich, denn ich werde nicht müde zu betonen, dass der wohl beste österreichische Operettendirigent der Gegenwart Marius Burkert heißt. Er müht sich nach Kräften, sein Ensemble aufzuwerten (übrigens gibt es in den kleineren Rollen auch gut besetzte Sänger wie Roman Martin) und stimmliche Mattheit durch orchestrale Brillanz wettzumachen. Auch diesmal ist das Franz Lehár-Orchester unter seiner Leutung absolut überzeugend; zu schade, dass Burkerts Talent dort wirklich nicht gut eingerahmt ist. Aber so bekommt man wenigstens eine Ahnung, wie elegant und mondän Kálmáns großartige Instrumentierung klingt (mit Vincent Schirrmacher, Mirjam Portmann, Theresa Grabner, Roman Martin; Chor des Lehár Festivals Bad Ischl, Franz Lehár-Orchester; Leitung Marius Burkert; cpo 2 CD 555136-2). Matthias Käther

Historischer Brahms

 

Im engeren Sinne handelt es sich bei der Neuveröffentlichung der 6 CDs umfassenden Brahms-Box mit Aufnahmen von Wilhelm Furtwängler bei Warner Classics um keine Neuheit. Alle enthaltenen Sinfonien, Konzerte, sonstigen Orchesterwerke sowie das Deutsche Requiem sind dem Sammler seit langem geläufig. Muss man sie also haben? Zumindest die Aufmachung macht tatsächlich einiges her. Für die CD-Hüllen wurden ursprüngliche LP-Cover verwendet, wie man es in Boxen dieser Art in den letzten Jahren häufig beobachten konnte.

Enthalten sind insbesondere Live-Aufnahmen, was im Falle Furtwänglers meist von Vorteil ist, konnte dieser große Künstler seine volle Kreativität doch selten in der Sterilität eines Aufnahmestudios entfalten. Bei der klanglichen Qualität sind darob indes Einschränkungen hinzunehmen. Doch seien wir ehrlich: Wer sich mit Furtwängler beschäftigt, für den muss der Klang ohnehin zweitrangig sein, gibt es doch keine einzige Stereoaufnahme dieses Dirigenten.

Es sind vier Orchester beteiligt: Die Berliner und die Wiener Philharmoniker, das Luzerner Festspielorchester sowie die Stockholmer Philharmoniker. Abgesehen von den Schweden arbeitete Furtwängler mit den genannten Klangkörpern häufig, insbesondere freilich mit „seinen“ Berlinern und mit den Wienern, denen er jahrelang als Abonnement- und später führender Gastdirigent eine Zeitlang praktisch vorstand.

Die großartige erste Sinfonie, von Hans von Bülow euphorisch als „Beethovens Zehnte“ gefeiert, liegt hier in einem Mitschnitt aus dem Wiener Musikverein vom 27. Jänner 1952 vor. Der Furtwängler-Kenner weiß, dass der Maestro die Erste häufiger als die anderen drei Sinfonien dirigierte und sich nicht weniger als elf Aufnahmen erhalten haben. Sieht man von einem Mitschnitt des letzten Satzes vom 23. Jänner 1945 aus Berlin ab, handelt es sich kurioserweise ausschließlich um Nachkriegsaufnahmen. Warner entschied sich wohl ganz bewusst nicht für die Wiener Studioeinspielung vom November 1947. In Fachkreisen gilt gerade der Mitschnitt mit dem NWDR-Sinfonieorchester vom 27. Oktober 1951 aus Hamburg als Furtwänglers genialste Interpretation. Nichtsdestotrotz darf der hier inkludierte Mitschnitt als typisch eigenwillig und furios bezeichnet werden.

Hinsichtlich der zweiten Sinfonie ist die Auswahl von in Frage kommenden Aufnahmen Furtwänglers weit geringer. Gerade einmal vier haben sich erhalten, zwei davon aus Kriegstagen, zwei aus der Zeit danach. Dass man sich für den Live-Mitschnitt mit den Berliner Philharmonikern aus dem Deutschen Museum in München vom 7. Mai 1952 entschied, ist bereits der Tatsache geschuldet, dass die Rechte der 1948 entstandenen Londoner Studioaufnahme bei der Decca liegen (die Kriegsaufnahme von 1943 befindet sich im Übrigen in Privatbesitz und wurde bis dato nicht veröffentlicht). Die Frage, ob Furtwänglers subjektives Pathos diesem pastoralen Werk entgegenkommt, stellt sich spätestens im Finalsatz nicht mehr.

Auch bei der dritten Sinfonie gibt es nur vier erhaltene Furtwängler-Aufnahmen (interessanterweise sämtlich mit den Berliner Philharmonikern). Warner gab der RIAS-Produktion vom 18. Dezember 1949 und somit der ältesten Aufnahme den Vorzug. Die an sich lyrisch angelegte Dritte erklingt hier ungewohnt monumental. Bei der Vierten schließlich liegen nominell sieben Tondokumente Furtwänglers vor, wobei auch hier eines bislang unveröffentlicht blieb. Entschieden hat man sich für diejenige Aufnahme vom 24. Oktober 1948 aus dem Berliner Titania-Palast. Wieder kam das Berliner Philharmonische Orchester zum Zuge. Die Dramatik der vierten Sinfonie kommt Furtwänglers Lesart natürlich besonders entgegen.

Hinsichtlich der Konzerte sind in der Box das zweite Klavierkonzert (mit den Berliner Philharmonikern), das Violinkonzert (mit dem Luzerner Festspielorchester) sowie das Doppelkonzert (mit den Wiener Philharmonikern) inkludiert. Leider hat sich kein Mitschnitt vom ersten Klavierkonzert erhalten. Die Solisten lesen sich wie das Who is who der damligen Musikszene: Beim zweiten Klavierkonzert – übrigens der ältesten Aufnahme aus der Box (8./9. November 1942) – handelt es sich um Edwin Fischer, beim Violinkonzert um Yehudi Menuhin und beim Doppelkonzert schließlich um Willi Boskovsky und Emmanuel Brabec. Diese Aufnahmen bezeugen, dass sich Furtwängler auch als exzellenter Begleiter erwies, der sich nicht unnötig in den Vordergrund drängte. Sie vermitteln, wie bereits die Sinfonien, ein Brahms-Bild, das man so heutzutage nicht mehr vorfindet.

Abgerundet werden die Orchesterwerke durch die Haydn-Variationen und die orchestrierten Ungarischen Tänze Nr. 1, 3 und 10. Es handelt sich um Studioproduktionen aus Wien, die am 30. März bzw. am 4. April 1949 im Musikvereinssaal entstanden. Kurioserweise spielte Furtwängler ausgerechnet den fünften Ungarischen Tanz, den wohl populärsten unter allen, nicht für die Schallplatte ein.

Auf der letzten CD schließlich findet man Ein Deutsches Requiem, somit das einzige Vokalwerk dieser Kassette. Dafür konnte auf einen Mitschnitt von Sveriges Radio zurückgegriffen werden, der am 19. November 1948 im Konserthus in Stockholm zustande kam. Daneben gibt es noch zwei weitere Aufnahmen dieses Werkes unter Furtwänglers Stabführung: 1947 aus Luzern und 1951 aus Wien (aber mit den Wiener Symphonikern). Als Solisten fungierten in der hier vorliegenden Aufnahme: Kerstin Lindberg-Torlind (Sopran) sowie Bernhard Sönnerstedt (Bariton). Hinzu kamen der Chor und das Philharmonische Orchester Stockholm. Eine tief spirituelle Auseinandersetzung mit dem gewaltigen Opus, das dem Dirigenten einiges bedeutet zu haben scheint.

Abschließend doch noch ein Wort zur Tonqualität: Diese ist von für Monoverhältnisse und für das Alter angemessen bis hin zu gerade noch erträglich (Deutsches Requiem). Die Studioproduktionen klingen tendenziell etwas besser. Dies sollte indes niemanden ernsthaft davon abhalten, diese interpretatorisch und aus  historischen Gesichtspunkten höchst bedeutenden Aufnahmen besitzen zu wollen. Daniel Hauser

Marinella, Marinella …

 

An Montserrat Caballé, die mit 85 Jahren am 6. Oktober in Barcelona verstarb, erinnere ich mich genau. Ich ging noch zur Schule, kurz vor dem Abitur in unserer Kleinstadt in der Nähe von Bremen, und mein Vater hatte ein Abonnement für die Familie am dortigen Theater, wo die Caballé mit der rothaarigen Kollegin Lore Paul in der Lustigen Witwe alternierte. Lore Paul gefiel mir mehr. Die aber landete später als Souffleuse im Graben, während Montserrat Caballé ihren internationalen Durchbruch in New York als Ersatz für die schwangere Horne  (ihrerseits Ersatz für die Scotto) in Donizettis Lucrezia Borgia neben Alain Vanzo verbuchen konnte. Der Rest ist Geschichte, auch „Barcelona“ 1992 mit Freddy Mercury bei den Olympischen Spielen.

Nachstehend noch einmal eine Zusammenfassung ihrer glanzvollen Karriere, von der ich immer wieder ein Stück miterleben konnte, mal in London, mal in Barcelona, mal in München, auch in Berlin in der legendären konzertanten Semiramide neben der Horne (die Sache mit der Fliege…) oder bei der Tosca mit dem Slow-motion-Finale. Aber eben leider auch in der ebenso legendären Ermione 1987 in Pesaro erneut neben der Horne, wo sie dem Buhorkan des aufgebrachten Publikums die Dirigierpartitur Gustav Kuhns entgegen hielt und behauptete, sie haben alle diese kleinen schwarzen Noten gesungen. Hatte sie nicht, beziehungsweise hatte sie für sich neu entdeckt. 1994  sang sie wieder in Bremen ohne nachhaltigen Erfolg (wie sich der Kollege Wolfgang Denker erinnert), auch wenn die angereisten Fans das anders sahen. Und mehrere Jahre später  erlebte (muss man sagen) ich sie mit ihrer ellenlangen Tochter beim open-air-Konzert an den Docks von Bremerhaven, wo der aufkommende Wind nicht nur den Musikern die Blätter von den Pulten riss und man nur ahnen konnte, welcher Kunst man beiwohnte. Sie hat einfach zu lange ihren eigenen Zirkus mitgemacht.

De mortui nihil nisi bene – sie war eine große Sängerin, in Bestzeiten mit einer stupenden Singtechnik, den berühmten gefloateten Topnoten unglaublicher Süße. Und als ihre ersten LPs bei RCA erschienen, die mit den Zarzuela-Ausschnitten und dem geheimnisvollen Foto hinter dem schwarzen Fächer, danach die Rossini- und Bellini-Arien, da raunte die Fachwelt und wir Opernliebhaber. Wer war sie? Weder die Scotto noch die Callas hatten diese Stimme, auch die Sutherland und natürlich die Sills nicht. Wir waren verzaubert. Schnell machte die Caballé Karriere und unendlich viele Schallplatten. Sie hat vielen, vielen Bewunderern wirklich ein Paradies auf Erden bereitet. Sie ist um die Welt gereist, hat unendlich viele Menschen erreicht, hat mit ihrem sprichwörtlichen Lächeln und grenzenlosen Humor Oper von einer menschlichen Seite kommuniziert. Daran wird man sich erinnern. Nicht an die hässlichen Steuerprobleme der jüngsten Zeit, nicht an die Gerüchte über die mafiösen Methoden ihres Bruders, der eine Welt-beherrschende Künstleragentur betrieb. Nicht an die vergeblichen Versuche, ihre singende Tochter in Engagements zu bringen. Auch nicht daran, dass sie vielleicht letzten Endes zu groß gesungen hat und beim Belcanto hätte bleiben sollen. In Erinnerung bleibt eine generöse, freundliche, äußerst humorvolle füllige Frau mit dem großen Lächeln und der in Bestzeiten wirklich wunderbaren Stimme. Und ihre erste LP mit den Zarzuela-Arien, immer noch ihre beste (trotz der aufregenden DVD ihrer Norma aus Orange) lässt für uns noch immer diesen Hauch von Zitrus und heißer spanischer Ebene  herüber wehen. „Marinella“, „Marinella“ –  eine bedeutende Stimme ist verstummt. Gracias, Senora. G. H.

 

Dazu ein originaler Auszug  aus dem unersetzlichen Sängerlexikon von Kutsch&/Riemens: Caballé, Montserrat, Sopran, * 12.4.1933 Barcelona; ihre Ausbildung erfolgte am Conservatorio di Liceo in Barcelona bei Eugenia Kemmeny, Napoleone Annavazzi und Conchita Badia und wurde in Mailand abgeschlossen. 1956 Bühnendebüt am Stadttheater von Basel (Mimi in »La Bohème«), dem sie bis 1959 angehörte. 1959-62 war sie am Stadttheater von Bremen engagiert; 1962-63 unternahm sie eine Konzerttournee durch Mexiko und gastierte an der Oper von Mexico City als Manon von Massenet, 1963 sehr erfolgreiches Gastspiel in ihrer Heimatstadt Barcelona. 1965 ersetzte sie in New York ohne vorherige Probe Marilyn Horne in einer konzertanten Aufführung von Donizettis »Lucrezia Borgia« in der dortigen Carnegie Hall. Sie sang 1965 bei den Festspielen von Glyndebourne die Gräfin in »Figaros Hochzeit« und die Marschallin im »Rosenkavalier«. 1965 folgte sie einem Ruf an die Metropolitan Oper New York, an der sie als Marguerite im »Faust« von Gounod debütierte. Seitdem feierte sie an diesem traditionsreichen Opernhaus wie an allen großen Bühnen der Welt ihre Triumphe. In der unerschöpflichen Vielseitigkeit ihres Rollenrepertoires wie in der souveränen Beherrschung der Gesangstechnik, verbunden mit einer ungewöhnli chen Dramatik des Vortrages, erwies sie sich als wirkliche Nachfolgerin der großen Maria Callas. 1967 feierte man sie an der Metropolitan Oper als Traviata; Gastspiele an der Covent Garden Oper London (1972 als Traviata, seit 1975 regelmäßig dort aufgetreten), an der Grand Opéra Paris, am Teatro Colón von Buenos Aires, an der Oper von Rio de Janeiro, am Teatro Liceo von Barcelona und am Teatro San Carlos von Lissabon brachten ihr glänzende Erfolge ein. Sie gastierte weiter seit 1969 regelmäßig an der Mailänder Scala und an den führenden Operntheatern Italiens, an der Staatsoper von Wien, seit 1971 auch an der Staatsoper von Hamburg, an der Oper von Mexico City, in San Francisco und Chicago, wo sie 1970 als Traviata debütierte, und wo man sie 1973 in der Titelpartie der Oper »Maria Stuarda« von Donizetti erlebte, dazu am Bolschoj Theater Moskau, in Zürich, Genf und Budapest. Ihre viel bewunderten Kreationen an der Scala waren vor allem die Norma, die Tosca und die Titelheldinnen in den Donizetti- Opern »Lucrezia Borgia« und »Maria Stuarda«. Sie erwarb sich große Verdienste um die Wiederbelebung der gesangstechnisch schwierigen, vergessenen Belcanto-Opern von Bellini, Rossini, Donizetti und einiger Verdi-Opern. 1974 große Erfolge bei den Festspielen von Orange als Norma, 1979 an der Metropolitan Oper in der Titelrolle von Cileas »Adriana Le couvreur«. Sie sang sogar Wagner-Partien wie die Sieglinde in der »Walküre«. 1983 war sie beim Festival von Perugia die Hypermestra in »Les Danaïdes« von A. Salieri, 1986 bei den Festspielen von Verona die Maddalena in »Andrea Chénier« von Giordano, 1986 in Rom die Titelfigur in »Agnese di Hohenstaufen« von Spontini. 1987 hörte man sie in Pesaro in »Ermione« von Rossini, ebenfalls 1987 in Barcelona als Saffo in der klassischen Oper gleichen Namens von G. Pacini. 1988 gastierte sie an der Wiener Staatsoper wie 1992 an der Covent Garden Oper London als Mme Cortese in der wieder neu entdeckten Rossini-Oper »Il Viaggio a Reims«. 1990 sang sie in Barcelona in »La Fiamma« von O. Respighi, 1991 in einer speziell für sie eingerichteten Inszenierung der Richard Strauss-Oper »Salome« die Titelrolle, die sie bereits 1959 an der Wiener Staatsoper vorgetragen hatte. 1992 hörte man sie bei den spektakulären Eröffnungskonzerten der Weltausstellung von Sevilla und der Olympiade in Barcelona. Auch als Lieder- und Oratoriensängerin hatte sie eine glanzvolle Karriere. So gab sie u.a. 1987 einen Liederabend bei den Festspielen von Salzburg. 1994 sang sie im Vatikan in Rom in einem Konzert vor Papst Johannes Paul II. Die Leuchtkraft ihrer Stimme, die hohe Musikalität der Stimmführung und eine souveräne Beherrschung der Gesangstechnik kennzeichneten jede ihrer Inter pretationen. Dabei ist die Vielseitigkeit ihres künstlerischen Gestaltungsvermögens immer wieder bewundert worden. – Verheiratet mit dem spanischen Tenor Bernabé Martí (* 1934), auch ihre Tochter Montserrat Martí trat als Sängerin (u.a. 1995-96 in Konzerten zusammen mit ihrer Mutter) auf.

 

Lit: R. Pullen & St. Taylor: »Montserrat Caballé. Casta Diva« (1994); G. Farret: »Montserrat Caballé« (Paris, 1980). Zahlreiche Aufnahmen auf den Marken Vergana (spanische Zarzuelas), RCA (integrale Opern »Lucrezia Borgia«, »Norma«, »La Traviata«, Titelheldin in »Salome«, »Bajazzo«, »Ein Deutsches Requiem« von Brahms), HMV-Electrola (»Giovanna d’Arco« von Verdi, »Don Carlos«, »Manon Lescaut« von Puccini, »Wilhelm Tell« von Rossini, »Cavalleria rusticana«) CBS (»Gemma di Vergy« von Donizetti, »Aroldo« von Verdi), Philips (»I Masnadieri« von Verdi), Decca (»Mefistofele« von Boito, »Andrea Chénier« von Giordano, Adalgisa in »Norma« mit Joan Sutherland in der Titelpartie), Alhambra (»Madame Butterfly« zusammen mit ihrem Gatten B. Martí), Harmonia mundi (»Caterina Cornaro« von Donizetti). Viele Mitschnitte von Opern u.a. auf Memories (»Agnese di Hohenstaufen«), auf Foyer (»La Traviata«, »Armida« von Dvořák, eine frühe Aufnahme aus den sechziger Jahren) und auf HRE (»L’Africaine« von Meyerbeer). Die Künstlerin ist so reichhaltig auf Schallplatten vertreten, daß eine auch nur annähernde vollständige Übersicht nicht möglich ist.

 

[Nachtrag] Caballé, Montserrat; 1958 sang sie am Stadttheater von Basel in der Uraufführung der Oper »Tilman Riemenschneider« von Kasimir von Paszthory. In Basel sang sie in drei Jahren eine Vielzahl von Partien, darunter die Pamina in der »Zauberflöte«, die Aida, die Tosca, die Martha in »Tiefland« von d’Albert, die Arabella von R. Strauss, die Chrysothemis in »Elektra« und die Salome, ebenfalls von R. Strauss. In Bremen fügte sie die Traviata, die Tatjana im »Eugen Onegin«, die Titelrollen in den Opern »Armida« und »Rusalka« von Dvořák hinzu. 1960 trat sie erstmals an der Mailänder Scala als Blumenmädchen im »Parsifal« auf. 1998 sang sie in Barcelona die Titelrolle in Massenets »La Vierge«. – Lit: F.G. Barker: Montserrat Caballé (in »Opera«, 1975). [Lexikon: Caballé, Montserrat. Großes Sängerlexikon, S. 3481 (vgl. Sängerlex. Bd. 1, S. 520; Sängerlex. Bd. 6, S. 265) (c) Verlag K.G. Saur]

 

Liedgesang als Sprachpflege

 

Mit Liederaufnahmen von Rudolf Schock überrascht das schweizerische Label Relief, das die Erinnerung an diesen Tenor mit Hingabe pflegt (CD 3010). Es handelt sich um die Übernahme von vier EMI/Electrola-Platten und nicht um Mitschnitte von einschlägigen Veranstaltungen. Sie waren im 25-Zentimeter-Format erschienen und zuletzt – wenn überhaupt – nur noch unter Mühen antiquarisch aufzutreiben. Zu den Vinyl-Liederabenden, die als Folgen eins und zwei deklariert gewesen sind, kommen als Einzelausgaben im gleichen Durchmesser noch die Dichterliebe von Robert Schumann sowie acht Orchesterlieder von Richard Strauss hinzu. Relief hat also zugelangt. Genauso wie auf den Platten hätten die Liederabende aber auch im Konzertsaal stattfinden können. Schock pflegte dieses Genre. In der Fülle seiner Aufnahmen von Opern, Operetten und allem, was unter die so genannte leichte Muse fällt, rückte seine Begabung auf diesem Gebiet etwas in den Hintergrund.

Relief ist darum bemüht, dem ganzheitlichen, dem wahren Schock Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Im Booklet schreibt Herausgeber Rico Leitner: „In öffentlichen Liederabenden hatte Rudolf Schock am Schluss gerne zwei bis drei Opernarien vorgetragen – für die Schallplatte musste dies allerdings unterbleiben.“ Eigentlich ist das schade. Warum? Nach meinem Eindruck singt er Lieder wie Arien. Zumindest bringt er in seine Vortragsweise Elemente der Oper ein. Es liegt ihm offenkundig daran, Ereignisse, Empfindungen oder Impressionen stets vom Inhalt her zu deuten. Seine Hören sollen verstehen, was sich zuträgt, was die Komponisten und ihre Dichter mitteilen wollen. Das spürt er mit seinem sicheren Bühneninstinkt auf und gibt es weiter. Das machte ihn so einzigartig, das war sein Erfolg auch bei jenen Menschen, die sich nicht in eine Wagner-Aufführung getraut hätten.

Liederabend zweite Folge: Eine der 25-Zentimeter-Electrola-Platten mit Rudolf Schock und Adolf Stauch am Klavier von 1959 in Stereo bei Schocks Stammfirma Elrectrola.

Wer sich wachen Ohres durch das Album hört, dem fällt auf, dass jedes Wort zu verstehen ist – auch „das Grillchen“, das sich auf „Anakreons Grab“ von Hugo Wolf „ergötz“, ist nicht zu überhören. Insofern wäre es gar nicht nötig gewesen, im Booklet alle Texte mitzuliefern. Bei Schock wird aus Liedgesang immer auch Sprachpflege. Er hat hörbar Spaß und Freude an seiner Muttersprache. Das Angebot ist üppig. Zu Schumann und Strauss kommen Hugo Wolf, Franz Schubert, Johannes Brahms und Wolfgang Amadeus Mozart. Meist sind es die bekannten Titel. Die Produktionsfirma Electrola setzte auf Bewährtes, wollte ein breit aufgestelltes Publikum erreichen. Strauss erfährt durch die Orchesterlieder, die bis heute immer gut gehen, besonderes Gewicht. Nicht alle Instrumentierungen hat der Komponist selbst vorgenommen. Was in Absprache mit dem Verlag von fremder Hand erarbeitet wurde, hat der praktische Profi Strauss akzeptiert und sogar in eigenen Konzerten dirigiert. Nur einmal – nämlich bei der bereits von Robert Heger instrumentierten „Zueignung“ – hat er für die verehrte Sopranistin Viorica Ursuleac eine eigene Orchesterfassung erarbeitet. Auf der CD findet sich die geläufige Heger-Fassung, der auch „Traum durch die Dämmerung“, „Heimliche Aufforderung“ und „Ich trage meine Minne“ mit Orchesterstimmen versah. Im Falle des „Ständchen“ besorgte dies der Dirigent Felix Mottl, der vor allem durch seine Wagner-Interpretationen Berühmtheit erlangte. Vom Komponist selbst stammen „Freundliche Vision“, „Morgen“ und „Allerseelen“. Auf diese Zuordnungen, die auf der Rückseite der Schallplatte noch zu finden sind, verzichtet Relief. Das ist zu bemängeln.

Was den einen gefällt an den Einspielungen des neuen Albums, finden andere vielleicht zu schlicht, zu einfach und zu wenig hintergründig gesungen. Bei Schock bekommt das Publikum eben Schock und nicht Munteanu oder Patzak. Ein nicht näher bezeichnetes Großes Opernorchester – in Vinyl ist lediglich von Orchester die Rede – leitet bei den Strauss-Liedern Wilhelm Schüchter. Die Klavierlieder begleitet von Adolf Stauch. Aufgenommen wurden die Strauss-Titel (Ende 1957) wie auch die beiden Liederabende (1959) in Stereo, während die Dichterliebe (Anfang 1957) noch in Mono produziert wurde. Rüdiger Winter