Archiv für den Monat: Oktober 2018

Georg Hann

 

Georg Hann ist ein österreichischer Bass, der am 30. Januar 1897 in Wien geboren wurde und am 10. Dezember 1950 in München starb. Seine Tieflage und sein statuarischer Interpretationsansatz lassen vergessen, dass er nur dreiundfünfzig Jahre alt wurde. Stimmlich wirkte er stets viel älter. Hann war Teilnehmer des Ersten Weltkriegs. Nach dessen Ende begann er seine Ausbildung an der Wiener Musikakademie. 1927 folgte er einem Ruf an die Staatsoper nach München, der er bis zu seinem Tod verbunden blieb. Dort galt er als Institution und wurde vom Publikum heiß und innig geliebt. Gastspiele führten ihn in die großen europäischen Musikzentren. Als Theaterdirektor La Roche wirkte Hann 1942 bei der Uraufführung des Konversationsstückes für Musik Capriccio von Richard Strauss in München mit. Davon haben sich Auszüge erhalten, die zuerst auf BASF-Platten erschienen waren.

In seinem Verzeichnis aller Operngesamtaufnahmen – als CD-Rom bei Zeno.org erschienen (ISBN 978-3-89853-620-2) – listet Andreas Ommer fast vierzig verschiedene Produktionen auf. Sie belegen die Vielseitigkeit des Sängers, der in deutschen Opern genauso unterwegs war wie in italienischen oder französischen Werken. Legendär sind sein Sir Falstaff in Nicolais Lustigen Weibern von Windsor, der Daland im Fliegenden Holländer oder der Mephisto in Gounods Faust, zur Zeit der Einspielung 1943 in Berlin noch unter dem Titel Margarethe. Der Ochs im Rosenkavalier kam komplett nicht mehr zustande, obwohl ihn der Strauss-Dirigent Clemens Krauss dafür favorisierte. Stimmlich hätte ihm die Rolle durchaus gelegen. Hann soll sich dem Vernehmen nach aber mit dem Studium schwer getan haben. In der Studio-Aufnahme unter Krauss sang er 1942 wie auch 1949 in Salzburg den Faninal. In den 1940er Jahren wurden beim Rundfunk zahllose Arien und Szenen aus Opern sowie Lieder eingespielt, auf denen der Ruhm Georg Hanns beruhte. Auch Ausflügen in die Operette verschloss er sich nicht. Im Zigeunerbaron von Johann Strauß hat Hann als reicher Schweinezüchter Zsupán Gelegenheit, sein komödiantisches Talent auszuspielen. Diese Produktion, die 1949 noch beim NWDR mit Sena Jurinac als Saffi und Peter Anders als Sándor Bárinkay entstand, wird von Franz Marszalek geleitet und ist beim schweizerischen Label Relief (CR 2003) herausgekommenen. R.W.

Auf den Spuren Claudels & Rodins

 

Ein anspruchsvolles Programm hat JoyceDiDonato für ihren Liederabend am 21. Dezember 2017 des vergangenen Jahres in der Londoner Wigmore Hall gewählt, den die Stammfirma der Sängerin, Erato, jetzt auf CD herausgebracht hat (0190295642198). Into the Fire“ ist ihr Titel, der einem Liederzyklus von Jake Heggie entnommen ist, welchen die Solistin am Ende des Programms vorstellt. Für sie und das Alexander String Quartet hat der amerikanische Komponist das Werk geschrieben und sie haben es 2012 in San Francisco auch uraufgeführt. Die genaue Bezeichnung des Zyklus mit seinen acht Teilen ist „Camille Claudel: Into the Fire“. Im Mittelpunkt stehen die französische Bildhauerin und ihre Beziehung zu Auguste Rodin.

Am Beginn steht ein zunächst introvertiertes, sich dann steigerndes Vorspiel nur für das Streichquartett. Die folgenden, zumeist meditativen Lieder spiegeln Claudels bewegtes Leben wider – die Liebe zu Rodin, dem gleich der erste Titel gewidmet ist, die Trennung von ihm und die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt, in der sie bis zu ihrem Tode 1943 blieb. Im Charakter fallen „La Valse“ durch den erregten Duktus und  „Shakuntala“, was Bezug nimmt auf Claudels Marmorskulptur im Pariser Musée Rodin, durch den virtuosen Anspruch an die Sängerin und das Ensemble heraus. Ergreifend gestaltet DiDonato das nächste Lied, „La Petite Chatelaine“, das von einem verlorenen Kind erzählt und Claudels Gefühle nach einer Abtreibung aufgreift. An die Minimal Music von Reich und Glass erinnert die nervöse Begleitung der Stimme bei „The Gossips“, das Claudels zunehmend verwirrten Geisteszustand beschreibt. Der Epilog („Jessie Lipscomb visits Camille Caudel, Montdevergues Asylum, 1929“) bezieht sich auf den Besuch jener Künstlerfreundin in der Anstalt, mit der sie sich früher ein Atelier geteilt hatte. Heggie schildert sie ganz bei sich, klar,  aufgeräumt, heiter, was ihr tragisches Schicksal umso deutlicher macht. Joyce DiDonato kann hier noch einmal ihre große, ergreifende Gestaltungskunst einbringen.

Begonnen hatte der Abend mit einer Auswahl von Strauss-Liedern, für die Begleitung des Brentano String Quartet arrangiert von Misha Amory und Mark Steinberg. Die amerikanische Mezzosopranistin hatte schon im letzten Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker Lieder dieses Komponisten gesungen, allerdings komplett andere Titel als in London. Wieder wird deutlich, dass sie zu seiner Musik eine starke Affinität besitzt, sich in deren Stimmung, Melos und Struktur perfekt einfühlen kann. Eine exemplarische Diktion verleiht ihrer Interpretation noch ein zusätzliches Gütesiegel.

Aus op. 21 erklingen drei Stücke – als Auftakt das träumerisch-innig vorgetragene „Du meines Herzens Krönelein“, gefolgt vom munteren„All mein’ Gedanken“ und später dem schmerzlichen „Ach Lieb, ich muß nun scheiden“. Ergänzt wird die Auswahl durch „Die Nacht“, op. 10/3 und „Traum durch die Dämmerung“, op. 29/1 – beide von entrücktem Ausdruck und mit fein gesponnenen Linien.

Danach sorgt das begleitende Quartett für einen instrumentalen Beitrag – das „Molto adagio“ aus einem Streichquartett des belgischen Tonsetzers Guillaume Lekeu, der von 1870 bis 1894 lebte. Das Werk des 17jährigen ist ein schwermütiges Stück voller Todessehnsucht, was sich auch dem vorangestellten Zitat aus dem „Matthäus-Evangelium“ („Meine Seele ist betrübt“) schließen lässt. Es ist eine stimmige Überleitung zu den folgenden „Trois chansons de Bilitis“ von Claude Debussy, bei denen die Interpretin auch ihre Liebe zum französischen Repertoire beweisen kann. Träumerische Gespinste und delikateste Tongebung machen „La Flute de Pan“, „La Chevelure“ und „Le Tombeau des Naïdes“ zu Preziosen. Und zu solchen darf man auch die beiden Zugaben rechnen – zuerst noch einmal Strauss mit „Morgen!“, op.27/4 in seiner träumerischen Stimmung und danach, dem Konzerttermin kurz vor Weihnachten geschuldet, Grubers „Silent Night“, ganz zurückgenommen und in inniger Verhaltenheit. Das sonst so zurückhaltende Londoner Publikum überschüttete die Künstler mit lautstarken Ovationen. Bernd Hoppe

Herta Talmar

 

Sonntags, wenn nach dem Essen sich die Familie zum Mittagsschlaf niederlegte, schlich ich mich an mein neues Radio und hörte – Norddeutsche werden schmunzeln – die Bremer Sendung „Herr Sanders öffnet seinen Schallplattenschrank“. Ein Cornocupium an Melodien ergoss sich dann, meistens der leichten Muse. Ich lernte mein Operetten- (und auch Opern-)Handwerk am Loewe Opta Gerät, das mit dem Stoffbezug und dem grünen Auge in der Mitte. Herta Talmar war eine der wunderbaren Stimmen die dort in Potpourris und Querschnitten erklang, Maria Mucke eine andere, Peter Alexander, Willy Hofmann, Rita Bartos, Franz Fehringer und was die Rundfunanstalten der Zeit (namentlich aus Bremen, Hamburg und Köln) mit und ohne Franz Marszalek aufgenommen hatten. Nostalgie pur, wenn ich daran denke. Um so glücklicher bin ich, dass Wolfgang Denker meine Erinnerungen teilt und einen Artikel für unsere Serie „Wer war doch noch…“ zusammengestellt hat. Ah, memories G. H.

 

Herta Talmar mit Sandor Konya bei Radio-Aufnahmen/ Foto Denker

Sie war in den fünfziger und sechziger Jahren die Operettendiva schlechthin. Es dürfte kaum einen westdeutschen Rundfunkhörer der damaligen Zeit geben, der nicht die Stimme von Herta Talmar kannte. Herta Talmar wurde am 4. Juli 1920 in Salzburg geboren und begeisterte sich schon als kleines Kind für Musik. Bereits im Alter von elf Jahren stand sie (als kleine Prinzessin in der Fall-Operette „Die Kaiserin“) auf der Bühne des Landestheaters Salzburg. Die Eltern ermöglichten ihr eine vierjährige Ausbildung am Salzburger Mozarteum. Es folgten zwei Jahre Schauspielunterricht am Reinhardt-Seminar sowie mehrere Jahre an der Wiener Staatsakademie. Mit ihrer Heirat schienen die Karriereträume zunächst beendet. Sie synchronisierte nur gelegentlich in den Wiener Filmateliers. Doch dann zog es sie doch zur Bühne und sie trat in einer Wiener Revue auf. Nach einem Jahresvertrag in Baden-Baden holte sie das Salzburger Landestheater, wo sie zunächst 1952 gastierte und dann bis 1957 als festes Ensemblemitglied blieb. Dort war die Operette ihre Domäne: Sie sang in „Die goldene Meisterin“ (E. Eysler), „Abschiedswalzer“ (L. Schmidseder), „Marietta“ (W. Kollo), „Der letzte Walzer“ (O. Straus), „Der Sohn des Mikado“ (F.Reinl), war aber auch als Anna Elisa in „Paganini“ und als Partnerin von Johannes Heesters in der „Lustigen Witwe“ (1956) zu erleben.

Herta Talmar/ Foto privat

Ihre eigentliche Karriere hat Herta Talmar aber im Rundfunk gemacht. Der Dirigent Franz Marszalek holte sie an den Westdeutschen Rundfunk für seine vielen, vielen Operettenproduktionen, die bis heute der Maßstab in Sachen Operette geblieben sind. Parallel zu den Rundfunkaufnahmen entstanden auch unzählige Querschnitte für die Schallplatte, die damals allesamt auf Polydor erschienen sind. Marszalek, der größte Operettendirigent des Rundfunks, hatte für seine Aufnahmen ein einzigartiges Sängerensemble zur Verfügung. Neben Herta Talmar gehörten u.a. Anny Schlemm, Rita Bartos, Peter Anders, Franz Fehringer, Sándor Kónya, Fritz Wunderlich, Willy Hofmann und Peter Alexander dazu. Auch beim Bayrischen Rundfunk hat sie einige Aufnahmen gemacht, darunter „Das kleine Café“ von Robert Stolz (mit Peter Alexander).

In allen Aufnahmen wird deutlich: Herta Talmar hatte mit ihrem erfrischenden, nie zum Sentimentalen neigenden Gesang das „gewisse Etwas“ für die Operette. Sie konnte die richtige Operettenatmosphäre mühelos herbeizaubern und hatte immer etwas von einem feschen, forschen Wiener Mädel. Die Tränendrüse bemühte sie nie. Auch die Dialoge, die sie in den Gesamtaufnahmen als gelernte Schauspielerin selber sprach, zeichneten sich durch Charme und Natürlichkeit aus. Mit ihr machte Operette einfach Spaß.

Mitte der sechziger Jahre beendete sie ihre Gesangslaufbahn, trat aber u.a. noch 1968 als Schauspielerin am Münchner Volkstheater auf. Zuletzt lebte Herta Talmar in Salzburg, wo sie am 24. Juni 2010 wenige Tage vor ihrem 90. Geburtstag starb.

Vor allem beim Hamburger Archiv für Gesangskunst sind viele der Rundfunkaufnahmen, darunter auch viele ausgefallene Werke, in Ausschnitten oder komplett erschienen, wobei es oft die alten Polydor-Querschnitte als Bonus gibt. Ebenso findet man hier viele Einzelaufnahmen und Melodiefolgen sowie eine Aufnahme von „My Fair Lady“ unter Kurt Edelhagen (mit Peter Alexander und Sándor Kónya). Nachstehend sind die beim Hamburger Archiv für Gesangskunst erschienen Gesamtaufnahmen des WDR unter Franz Marszalek aufgelistet:

Benes: Auf der grünen Wiese (mit Franz Fehringer, Rita Bartos)/ Dostal: Die ungarische Hochzeit (mit Franz Fehringer, Anny Schlemm)/ Fall: Die Dollarprinzessin (mit Hernert Ernst Groh, Rita Bartos)/ Fall: Der fidele Bauer (mit Herbert Ernst Groh, Willy Hofmann)/ Fall: Die geschiedene Frau (mit Reinhold Bartel, Rita Bartos)/ Goetze: Adrienne (mit Franz Fehringer, Lore Lorentz)/ Jarno: Die Försterchristel (mit Franz Fehringer, Peter Alexander)/ Jessel: Schwarzwaldmädel (mit Franz Fehringer, Antonia Fahberg)/ Kalman: Das Hollandweibchen (mit Herbert Ernst Groh, Willy Hofmann)/ Künneke: Der Vetter aus Dingsda (mit Franz Fehringer, Brigitte Mira)/ Künneke: Wenn Liebe erwacht (mit Franz Fehringer, Renate Holm)/ Lehar: Der Graf von Luxemburg (mit Maurice Bsancon, Benno Kusche)/ Lehar: Paganini (mit Sándor Kónya, Rita Bartos)/ Millöcker: Gasparone (mit Josef Metternich, Anny Schlemm)/ Stolz: Himmelblaue Träume (mit Peter Alexander, Maria Mucke)/ Straus: Ein Walzertraum (mit Herbert Ernst Groh, Peter Alexander)/ Strauß: Jabuka (mit Franz Fehringer, Anny Schlemm).  Alle Aufnahmen sind in sehr guter Klangqualität und erfreuen mit liebevoller Ausstattung.  Wolfgang Denker

Unglaublich vollständig

 

Der 100. Todestag von Claude Debussy ist Anlass genug für die großen Labels, gewaltige Boxen mit seinem Gesamtwerk auf den Markt zu werfen. Trotz der Deutschen Grammophon Gesellschaft, welche mit 22 CDs und 2 DVDs in den Complete Works aufzuwarten weiß, gebührt die Krone in diesem Unterfangen Warner (0190295736750). Sage und schreibe 33 CDs umfasst die elegante Box The Complete Works und ist damit bereits auf den ersten Blick noch ambitionierter als das Unterfangen der DG. Warner kann hierfür auf den sehr umfangreichen eigenen Katalog, also EMI, Erato und Virgin, zurückgreifen und bedient sich bei Raritäten zuweilen auch anderer, kleinerer  Labels. Hier ist wirklich alles enthalten, angefangen bei den frühen Liedern über diverse Transkriptionen anderer Komponisten bis hin zu Fragmenten unvollendeter Werke, die sonst kaum je eingespielt wurden. Als Bonus sind auf der letzten CD zudem alle eigenen Aufnahmen des Komponisten selbst enthalten.

Graphisch ausgestattet ist die Edition mit dem wohl berühmtesten Werk des japanischen Malers Katsushika Hokusai, dem Farbholzschnitt Unter der Welle im Meer vor Kanagawa. Debussy, der den Künstler sehr schätzte, wählte es selbst als Titelbild für eine Ausgabe von La Mer. 

Die Box wird geziert vom wohl berühmtesten Werk des japanischen Malers Katsushika Hokusai, dem Farbholzschnitt Unter der Welle im Meer vor Kanagawa aus der Serie 36 Ansichten des Berges Fuji. Dies ist seit Anbeginn gleichsam untrennbar verbunden mit Debussys wohl bekanntestem Orchesterwerk La Mer. Die 33 CDs befinden sich sodann in optisch ebenfalls sehr ansprechend gestalteten Hüllen, die mit Höhepunkten der japanischen Ukiyo-e-Kunst zum echten Blickfang werden. Zu den vertretenen Künstlern zählen neben Hokusai Utagawa Hiroshige, Eijiro Kobayashi, Kawase Hasui, Jakuchu, Tsurana Morizumi, Tsukioka Yoshitoshi und Yoshitoshi Taiso. Hier kann diese Kassette wirklich punkten.

Die Auswahl der Aufnahmen umfasst (ausgenommen diejenigen Debussys selbst) einen Zeitraum von gut 60 Jahren. Nicht immer konnte auf die Referenzeinspielungen zurückgegriffen werden, sei es aus Gründen der Zugehörigkeit zu einem anderen Label, sei es aus zumindest hinterfragbarer Auswahl aus dem eigenen Katalog. Trotzdem ist die Ausbeute hoch. So sind beispielsweise La Mer und die Nocturnes in der mittlerweile zum Klassiker gewordenen Einspielung von Carlo Maria Giulini mit dem Philharmonia Orchestra enthalten. Giulini beschäftigte sich eher am Rande mit dem französischen Repertoire, doch La Mer dirigierte er häufig (es gibt weitere Aufnahmen davon u. a. mit den Berliner Philharmonikern, dem Concertgebouw-Orchester und dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester). Bei ihm denkt man an die mediterrane See. Freilich ist die Zeit seither nicht stehen geblieben, so dass es nicht schwer fiele, weitere exzellente neuere Interpretationen zu benennen.

Der Komponist Claude Debussy (22. August 1862 in Saint-Germain-en-Laye geboren und am 25. März 1918 in Paris gestorben); hier auf einem Foto von Félix Nadar, ca. 1908 (Wikipedia).

Trotz des gewaltigen Umfangs der Box beklagt der Kenner doch hie und da das Fehlen wichtiger Darbietungen, etwa Karajans maßstäbliche EMI-Einspielung von Pelléas et Mélisande. Die 1978 erschienene Produktion aus Berlin, hochkarätig besetzt mit Richard Stilwell, Frederica von Stade, José van Dam und Ruggero Raimondi, darf auch nach vier Jahrzehnten einen Referenzstatus für sich beanspruchen, traf Karajan Debussys Tonsprache doch vorzüglich. Wieso man sich in der Box für die weit weniger geläufige Erato-Einspielung von Armin Jordan aus Monte-Carlo entschied, die auch künstlerisch nicht dasselbe Niveau vorzuweisen hat, bleibt ein Rätsel. Sie entstand fast zeitgleich, 1979, und hat die ungleich weniger bekanntere Besetzung (Eric Tappy, Rachal Yakar, Philippe Huttenlocher und François Loup). Diese kleineren Einschränkungen werden indes an anderer Stelle wieder wettgemacht.

So ist tatsächlich die einzige erhältliche, aber seit langem vergriffene Aufnahme der unvollendeten, hier aber komplettierten Oper Rodrigue et Chimène enthalten (mit Chor und Orchester der Opéra de Lyon unter der Stabführung von Kent Nagano; die Sänger/innen sind neben anderen Donna Brown, Laurence Dale, José van Dam, Jules Bastin und Vincent Le Texier). Im Mittelpunkt steht der berühmte El Cid alias Rodrigo Díaz de Vivar (in der Oper Rodrigue); die Handlung ist somit im Spanien des 11. Jahrhunderts angesiedelt. Die Liebe der beiden Titelfiguren steht unter keinem guten Stern, verwundet Rodrigue doch Chimènes Vater Don Gomez tödlich und ist es ihr infolge dessen aufgrund der Familienehre unmöglich, mit ihm glücklich zu werden.

Das kuriose und selten gespielte Mysterium in fünf Akten Le Martyre de Saint Sébastien liegt sogar zweifach – oder vielleicht besser: anderthalbfach vor: einmal komplett inklusive der gesprochenen Dialoge in der berühmten Mono-Einspielung des Orchestre National de la Radiodiffusion Française unter André Cluytens aus den frühen 1950er Jahren (u. a. mit Rita Gorr, Solange Michel, Jacques Eyser und Véra Korène); einmal als klanglich zu bevorzugende sinfonische Fragmente aus dem Werk mit den Rotterdamer Philharmonikern unter James Conlon von 1985.

Die Reihe der wenig bekannten Werke, die hier beinhaltet sind, ließe sich fast endlos fortsetzen. Die Trois Ballades de François Villon in der Orchesterfassung (mit dem Bariton François Le Roux unter John Nelson) etwa oder die Kantaten  L’Enfant prodigue und Le Gladiateur (beide dirigiert von Hervé Niquet). Beigegeben ist sogar die 1907 revidierte Fassung des Enfant prodigue (in der ganz neuen und ausgezeichneten Einspielung von Mikko Franck).

Die Warner Debussy Edition „The complete Works“: Die 33 CDs stecken in optisch sehr ansprechend gestalteten Hüllen, die mit Höhepunkten der japanischen Ukiyo-e-Kunst zum Blickfang werden.

Das Prélude à l’après-midi d’un faune – neben La Mer wohl landläufig das berühmteste Orchesterwerk von Debussy – ist nicht nur in der Orchesterversion enthalten (im Klassiker unter Jean Martinon), sondern auch in zwei Klaviertranskriptionen, eine für vier Hände (von Ravel) und eine für zwei Klaviere (von Debussy selbst). Der anerkannte Debussy-Spezialist Martinon dirigiert auch u. a. La Boîte à joujoux, Printemps und Le Roi Lear.

Wie tief Warner ins eigene Archiv geschaut hat, beweist die Einspielung von Nocturne et Scherzo für Cello und Klavier mit Henrik Brendstrup und Per Salo, die bisher nur in Dänemark erschienen war. Das Streichquartett g-Moll – Debussys einziger Beitrag zu dieser Gattung – wird von Quatuor Ébène überzeugend dargeboten. Die Sonaten für Cello (Maurice Gendron), Violine (Yehudi Menuhin) sowie Flöte, Viola und Harfe (Michel Debost, Yehudi Menuhin, Lily Laskine) schließlich sind in anständigen Interpretationen inkludiert (jeweils mit Jacques Fevrier am Klavier). André Cluytens steuert schließlich Debussys letztes Orchesterwerk Jeux mit dem berühmten Pariser Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire in einer hinreißenden Darbietung bei.

Hinsichtlich der Klavierwerke kann die Warner-Box abermals punkten. Die Pianistinnen und Pianisten sind über jeden Zweifel erhaben: Youri Egorov (Préludes und Estampes), Samson François (u. a. Children’s Corner und Pour le piano), Aldo Ciccollini (u. a. Le Boîte à joujoux, 6 Épigraphes antiques und Tarantelle styrienne), Monique Haas (D’un cahier d’esquisses und Masques) und Pierre-Laurent Aimard (Images und 12 Études) bürgen für Qualität. Bei den Liedern konnte auf den hochkarätigen Gérard Souzay zurückgegriffen werden, der hinsichtlich der mélodies bis heute Maßstäbe gesetzt hat und stets idiomatisch den richtigen Tonfall trifft (3 Mélodies de Verlaine, 3 Chansons de France, 3 Ballades de François Villon, Fêtes galantes und Le Promenoir des deux amants). Insgesamt also eine trotz kleinerer Einschränkungen eine ungemein erfreuliche und zufriedenstellende Kollektion, welche das Gesamtwerk Debussys noch dazu gefällig und edel aufbereitet präsentiert. Daniel Hauser

 

Ida Rubinstein 1911 als Sebastièn in der Uraufführung. Foto: Wikipedia

Rüdiger Winter zu Le Martyre de Saint Sébastien: Das Bild rechts zeigt den Heiligen Sebastian/ Foto Winter in der Darstellung durch den italienischen Maler Bronzino, einem Hauptvertreter des Manierismus. Es gehört zum Bestand der Sammlung Thyssen-Bornemisza in Madrid. Debussy hat das Schicksal Sebastians, zum Gegenstand seiner Mysteriums in fünf Akten Le Martyre de Saint Sébastien gemacht.

Seine Jugend verbrachte Sebastian in Mailand. Er stieg zum Offizier der Leibwache von Kaiser Diokletian auf. Der Überlieferung nach soll sich Sebastian öffentlich zum Christentum bekannt und Not leidende Christen unterstützt haben. Dafür verurteilte ihn der Kaiser zum Tode. Er überlebte die Hinrichtung durch Bogenschützen und wurde von der Heiligen Irene, die ihn eigentlich für das Begräbnis herrichten wollte, gesund gepflegt. Sebastian ließ von seinem Glauben nicht ab und vertrat ihn nach seiner Genesung abermals öffentlich. Nun ordnet Diokletian an, ihn mit Keulen zu erschlagen. Glaubensbrüder retteten seinen Leichnam aus einem Abflussgraben am Tiber in Rom und setzten ihn in den Katakomben bei. Über seinem Grab wurde schon im 4. Jahrhundert die Kirche San Sebastiano fuori le mura errichtet.

In der Debussy-Edition taucht das Werk gleich zweifach auf, einmal mit den gesprochenen Dialogen in der Mono-Aufnahme unter André Cluytens, zum anderen in Form von sinfonischen Fragmenten mit den Rotterdamer Philharmonikern unter James Conlon von 1985. In seiner originalen Form dauert das Mysterium fünf Stunden. Nur eine gute Stunde davon ist musikalisch gehalten.

Die Uraufführung 1911 in Paris geriet zum Skandal, weil der Sebastièn von der sehr leichtbekleideten und aus Russland stammenden Jüdin Ida Rubinstein dargestellt wurde. Sie war damals 26 Jahre alt und galt als eine der exzentrischsten Künstlerinnen ihrer Zeit. R. W.