Archiv für den Monat: August 2013

Schwungvolles Jugendwerk

 

Nach einigen Seufzern über die Besetzungspolitik der Opera Rara in jüngerer Zeit freut sich der Rossini-Fan über den neuen Aureliano in Palmira (wenngleich auch dieser wieder mal eine der üblichen Doubletten bereits bestehender weiterer Aufnahmen des Repertoires darstellt). Kenneth Tarver in der Titelrolle singt mit rauchig-interessantem Timbre und der nötigen geläufigen Gurgel, Catriona Smith jubelt sich durch die Zenobia, Silvia Tro Santa Fé brustet sich durch die Partie des Arsace, und die übrigen sind unter Maurizio Beninis  erfrischend italienischer Leitung (Danke, Opera Rara!) ebenso kompetent wie stimmungsvoll. Das dicke Booklet erfüllt die üblichen hohen Standards der Firma, die wieder einmal ihr bezauberndes Bonbonkästchen vorlegt und ihrem guten Ausstattungsruf Ehre macht (ORC 46).
Geerd Heinsen

 

Rossini: Aureliano in Palmira. (3 CD) Mit: Kenneth Tarver (Aureliano), Catriona Smith (Zenobia), Silvia Tro Santafé (Arsace), Ezgi Kutlu (Publia), Andrew Foster-Williams (High Priest of Isis), Vuyani Mlinde (Licinio), Julian Alexander Smith (Oraspe). London Philharmonic Orchestra, Dirigent Maurizio Benini. (Opera Rara 0792938004624)

Aus der Revolutionszeit

.

Freude bei Freunden der französischen Romantik – der innovative Palazetto Bru Zane hat eine eigene Firma gegründet (bislang erschienen seine Aufnahmen wie zuletzt Catels Sémiramis bei Glossa wegen Hervé Niquet) und legt nun die ersten beiden wunderbaren Früchte der Bemühungen vor – wer hätte (außer ein paar Spezialisten) schon von Rodolphe Kreutzer  gehört?
Sein Mort d´Abel von 1810/1825 unter Guy Van Waas ist mit einer kompetenten Crew in Liège 2010 aufgenommen worden und liegt nun als dickes Buch mit 2 CDs vor. Leider kein deutscher Text, was ich den Beteiligten übelnehme, stellt doch Deutschland auf dem Markt neben Frankreich den wichtigsten Raum vor. Dennoch – ein wirkliches Ereignis. Das gilt auch für die erste offizielle französische Aufnahme des Amadis de Gaulle von Johann Christian Bach (1779), aufgenommen unter Didier Talpain in Prag – auch hier wirklich gute francophone Sänger und ein luxuröses Buch dazu mit zahlreichen Aufsätzen zum Thema – was leben wir in guten Zeiten.

.

Und bei Glossa ist eine weitere Perle des erregenden französischen Repertoires der Revolutionszeit erschienen: Catels Oper Sémiramis unter der Gallionsfigur Henri Niquét, der jüngst in Nürnberg beim Gluck-Festival Vogels Toison d´Or aufführte (das ebenfalls bei Glossa erschien). Die spannungsvolle Musik der Übergangszeit zur Klassik ist von immensem Drive, von atemlosen Schüben der Emotionen, und die bekannte Geschichte der Königin Semiramis in Liebe zu ihrem eigenen Sohn (wie man sie ja auch von Rossini kennt) erfährt bei Catel eine packende Umsetzung. Gesungen wird mit Maria-Riccarda Wesseling, Gabrielle Philiponet, Mathias Vidal, Andrew Foster-Williams und Nicolas Maire weitgehend ebenso, zumal Niquét am Pult seines Choeur et Orchestre du Concert Spirituel in der Aufnahme aus Montpellier 2011 für flotte Tempi sorgt – außerordentlich habenswert (GCD 921025)/ Abb. Kreutzer von Riedel/ Wikipedia). G. H.

Karel Mirys Oper „Charles Quint“

.

Hat je irgendwer von Karel/Charles Miry gehört? Das Online-Label 401dutchoperas hat das Konzert aus Gent vom April 2012 (Lyrica Gent unter Geert Soenen mit sehr kompetenten Solisten) mitgeschnitten und im Online-Download zum niedrigen Preis angeboten (s. unten). Es hat damit einen wirklich absolut unbekannten Komponisten zur Diskussion gestellt, der an Auber erinnert, die Grand Opéra Gounods anklingen lässt und wie ein Seismograph die (französischen) Opern der Zeit anzeigt. Der flämische Anteil Belgiens reklamiert ihn natürlich für sich, aber dennoch ist der in Gent am 14.8.1823 geborene und am 3.10.1889 eben hier gestorbene französisch (i.e. in Paris) ausgebildet worden, wenngleich der überwiegende Teil seiner Kompositionen vor allem im heiteren Sujet seiner eigenen Sprache verpflichtet ist. Die Auflistung bei Wikipedia ist in sofern kompliziert, als sie – ganz opportunistisch – die Titel nur in flämisch wiedergibt,

Karl V. mit seiner flämischen geliebten Johanna van der Ghest und ihrer gemeinsamen Tochter Johanna/Gemälde von Canéel/Museum Gent

Karl V. mit seiner flämischen geliebten Johanna van der Ghest und ihrer gemeinsamen Tochter Johanna/Gemälde von Canéel/Museum Gent

Charles V ist dennoch defintiv eine französischsprachige Oper ganz in der französischen Tradition. Der Sprachen- und Kulturstreit Belgiens wirft auch hier seinen Schatten auf die Dokumentation. Charles V war König von Frankreich (1500-1558), und die Handlung der von Miry vertonten Oper dreht sich um den Aufstand von 1537, als die Bevölkerung von Gent (das heutige Belgien gehörte in großen Teilen zuFrankreich) gegen die Fremdherrschaft durch die Franzosen aufstand und ihm den Tribut für seinen Krieg verweigerte, da ohnehin schon Hungersnöte im Lande herrschten. Charles unterdrückte den Aufstand und ließ die Aufständigen hinrichten. Der Librettist und Onkel Mirys, van Peene, führt eine fiktive Figur, den Tapisseriehändler van Gehst, ein, und der Konflikt zentriert um Charles’ Liebe zu Johanna van Gehst, dessen Tochter, die zudem – historisch belegt als Johanna van Gheynst – 1521 eine uneheliche Tochter mit Charles hatte.

.

Es ist bezeichnend für einen nationalbewussten Flamen jener Zeit, ein Sujet zu wählen, das mit der wechselvollen Geschichte Belgiens zu tun hat, mit der Unterdrückung durch die Franzosen, später durch die Spanier – eben ein Land, das auch heute wegen der sprachlichen Zweigeteiltheit nicht zur Ruhe kommt. Insofern war die Aufführung in Gent 2011 auch ein politisches Signal. Aber einem Komponisten jener Zeit, zumal aus dem brabantisch/ flämischen Raum, blieb nur Paris als Ausbildungsstätte.

Nach ersten Unterweisungen in Gent selbst, dann in Brüssel am Königlichen Konservatorium ging der junge Miry mit einem Stipendium der Stadt nach Paris an das Conservatoire und kam um 1840 zurück in seine Heimatstadt. Er revanchierte sich für deren Großzügigkeit mit seiner „Gent Symphonie“ und bekam einen Posten als zweiter Dirigent an der Oper. Sein erstes Bühnenwerk ebendort entstand auf Anraten seines Onkels und späteren Librettisten Hippolyte van Peene (Eeen man te trouwen, 1845) in regionalem Dialekt, durchaus bedeutend in Hinsicht auf die nationale Unruhe im Flandern. Bis zum Charles V folgten weitere Werke in Flämisch, durchaus diese Stimmung unterstützend, so dass später Mirys ungeheuer populäres Lied Der flämische Löwe 1871 die Wahl zur Nationalhymne gewann. In der Folge dieser Popularität schrieb Miry 1856 seine Oper La Belgique ou la Règne de vingt ans wieder auf das Libretto von van Peene zum 25.Jubiläum der Regentschaft König Leopolds. 1864 folgte nun Charles V und war ein absoluter Erfolg. Miry war als nationaler Komponist etabliert. 1871 wurde das Genter Konservatorium zum Königlichen erhoben und Miry zum Direktor bestellt, ebenfalls in diesem Jahr übernimmt er auch die Position des Nationalen Inspektor der Musikinstitute und macht sich unschätzbare Verdienste um die Förderung der musikalischen Erziehung in Belgien.

.

Im Ganzen muss ihm eine große Bedeutung für das Musikleben Belgiens in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts zugesprochen werden, seine Vertonungen von flämischen Texten machte ihn zum Leuchtturm flämischer Musikkultur, und seine Nationalhymne lässt ihn bis heute unvergessen sein.
In musikalischer Hinsicht sieht das vielleicht ein wenig differenzierter aus. Natürlich borgte Miry heftig von den französischen und italienischen Vorläufern und Zeitgenossen. Und ich selber finde Charles V in dieser Hinsicht keine wirklich genuine Oper, sondern eben ein Konglomerat und Seismograph der herrschenden Strömungen, zudem auch im Duktus nicht sonderlich individuell. Dennoch – er war der erste belgische Komponist, der flämische Libretti in Musik setze, der folkloristische Elemente in seine Opern integrierte, der versuchte, eine nationale (in diesem Sinne eben flämische) Musiksprache zu finden. Darin war er ein wirklicher Pionier und Vorläufer Peter Benoits, der deutlicher für die Flamen sprach. In Mirys Fall scheint es, als ob dieser weniger nationalistische als vielmehr literarische Inspiration aus den flämischen Texten bezogen hat. Er war kein Anti-Franzose, wandte sich niemals gegen die französische Sprache und Kultur und schrieb ein beträchtliches Quantum seiner Werke in eben dieser Sprache, namentlich die opéras comiques.

.

Im Konzert: Vincent Bertrand, Amaryllis Gregoire und Dirigent Geert Soenen/401dutchoperas.nl

Im Konzert: Vincent Bertrand, Amaryllis Gregoire und Dirigent Geert Soenen/401dutchoperas.nl

Miry war ein Multitalent, wie René Seeghers/Jan Neckers in ihrem Aufsatz in der Beilage zum Charles V betonen, ein Komponist einer Fülle von verschiedenen Genres, von der Operette über die Oper bis zu Liedern, Kantaten, Kirchenmusik, Orchester- und Kammermusikstücken, Kinderliedern – was ihm wegen seines Engagements für die Jugend- Musikerziehung besonders am Herzen lag. Und so ist es kein Wunder, dass sich diese Junge Firma 401dutchoperas, unter der Ägide der beiden genannten Musikwissenschaftlern und Autoren der Förderung der belgischen Opern- und Gesangsszene verpflichtet fühlt, eben diese Oper von Karel Miry (eigentlich als Charles Léopold Miry getauft) herausgebracht hat. Es lohnt sich unbedingt, die Website aufzurufen (401dutchoperas.nl), denn neben der erwähnten Oper (die gegen wenig Geld zum downloaden dort steht und auch eine DVD mit Ausschnitten aus dem Genter Konzert bietet) gibt es weitere und vor allem einen ganz fabelhaften Katalog historischer belgischer Sänger, auch diese zu erwerben. Es fehlt hier der Platz, darauf einzugehen, aber für mich war die Begegnung mit diesem Blick auf flämische Musik und Kultur eine enorme Wissenserweiterung – man weiß einfach außerhalb Belgiens zu wenig über diesen kulturellen Aspekt mitten in Europa, wobei ein Blick aus unserem föderativ gut funktionierenden eigenen Land auch Verwunderung ob der Verhärtung im Nachbarland aufkommen lässt, aber wir haben als Deutsche auch nicht dessen Geschichte. Geerd Heinsen

.

.
(Charles V, Grand Opéra in 3 Akten von Charles Léopold Miry auf das Libretto von Hippolyte van Peene, UA Grand Théâtre von Gent 1857, Konzertmitschnitt Gent 2012 mit Amaryllis Gregoire, Denzil Delaere, Vincent
Bertrand, Laurent Kuba und Florence Huchet, Opera-Belcantokoor Liane Soudan, Mannenkoor „De Oudenaardse Zangvereningen“, Symfonisch Jeugorkest Oost-Vlaanderen, Leitung Geert Soenen, download bei 401dutchoperas.com)

.

.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Gott! Welch Dunkel hier!

 

„Gott! Welch Dunkel hier“. Die ersten Worte der Florestan-Arie aus Beethovens Fidelio sind einer großen Dokumentation über den  Neubeginn der Dresdener Semperoper nach dem Ende des Zweiten Krieges vorangestellt – erschienen bei Profil / Hänssler (PH 10007). Treffender kann ein Motto nicht sein. In einer einzigen Nacht war die die als Elbflorenz besungene Stadt, wo Rienzi, Rosenkavalier und Elektra uraufgeführt wurden, in Schutt und Asche gesunken. Unter den Trümmern lagen mindestens 25 000 Tote. Das derart gemeuchelte Dresden hat sich seinem Schicksal nicht klagend ergeben. Es stieg noch Rauch aus den Trümmern als wieder Musik erklang.

Die aus drei CDs und einer DVD bestehende Dokumentation, an der die DEFA-Stiftung, das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA) und der MDR beteiligt sind, zeichnet die Stunde null des Dresdener Opernleben genau nach. Mit 240 Seiten hat das elegant gestaltete Textheft Buchformat. Es umfasst Zeitzeugenberichte, Analysen, biografische Details, seltene Fotos, Faksimiles, Bühnenbilder – alles in gestochener Qualität. Auf der DVD ist sogar das Innere der Semperoper vor der Zerstörung im Film zu sehen, es kommen Joseph Keilberth, Christel Goltz und Lisa Otto zu Wort.

Aldenhoff als Florestan

Bernd Aldenhoff als Florestan

So authentisch sind auch die musikalischen Aufnahmen. Es handelt sich ohne Ausnahme um Produktionen bzw. Mitschnitte des Mitteldeutschen Rundfunks aus Dresden und Leipzig, die heute im DRA aufbewahrt werden. Bis auf dem Schlussgesang der Salome mit der Golz aus der berühmten Dresdener Gesamteinspielung dürfte das Gros bislang noch nicht an die Öffentlichkeit gelangt sein. Verdi, der an der Semperoper sehr gepflegt wurde, nimmt breiten Raum ein. Neben Salome ist Christel Goltz die Elisabeth im Don Carlos, Aida, die Leonore in der Macht des Schicksals und Amelia im Maskenball. Gottlob Frick tritt als Procida (Sizilianische Vesper) und als Sarastro auf. Mit seinem hellen Heldentenor ist Bernd Aldenhoff ebenfalls gleich mehrfach präsent – als Othello, Richard/Maskenball und als Radames. Er passt vorzüglich zur Goltz. Kurt Böhme fehlt eben so wenig wie Arno Schellenberg oder Hans Hopf. Eine der großen Hoffnungen der Opernbühne, der Bassbariton Werner Faulhaber, gibt Mozarts Figaro und den Heiratsvermittler Kezal. Keine dreißig Jahre alt, sollte er – kaum, dass die Aufnahmen im Kasten waren – wenig später bei einer Bergwanderung tödlich verunglücken. Tragik umweht auch die Aufnahmen mit der liebenswürdigen, früh verstorbenen Elfriede Trötschel, die als Susanna, Pamina, Mimi und Butterfly ihrem Ruhm gebührend oft zu hören ist. Nicht unerwähnt soll Dora Zschille bleiben, die im Nachkriegsdresden über viele Jahre hinweg das hochdramatische Fach vertrat. Nach ihr ist dort sogar eine Straße benannt. Sie singt die als Gebet bekannt gewordene Arie der Tosca „Nur der Schönheit weiht‘ ich mein Leben“.

Wer immer sich für Oper interessiert, dem sei diese Dokumentation aus dem Hause Günter Hänssler wärmstens empfohlen. Nicht nur wegen der seltenen historischen Aufnahmen in gutem Klang. Nicht nur wegen der schönen Fotos. Die Box, die ohne die Sachkunde und Leidenschaft ihres Herausgebers Steffen Lieberwirth vom MDR und seiner Helfer nicht denkbar ist, weist auf ganz neue Möglichkeiten für den Musikmarkt. Ein Rundfunkarchiv wird geöffnet, seine Schätze gelangen auf ganz legalem Wege dorthin, wo sie hingehören – an die Ohren einer interessierten Öffentlichkeit. Das ist auch Werbung für alle beteiligten Seiten, denn neben den schon eingangs genannten Partnern haben die Semperoper selbst, der NDR Kultur, der Deutschlandfunk, die Sächsische Landesbibliothek sowie die Staats- und Universitätsbibliothek Dresden das Ihre beigesteuert.

Fidelio Dresden

Noch ein Foto aus dem Textheft: Christel Goltz, Gottlob Frick und Elfride Trötschel (von links) in „Fidelio

Die Fortsetzung folgte prompt –  Vol. 2 der Hänssler-Semperoper-Edition (PH10033). Sie ist der Festaufführung von Beethovens „Fidelio“ anlässlich der Eröffnung des Großen Hauses der Staatstheater Dresden am 22. September 1948 gewidmet. Das einstige Schauspielhaus sollte bis zur Einweihung der wiederaufgebauten Semperoper 1985 Spielstätte für Opernaufführungen in der zerstörten Stadt sein. Der Mitschnitt der Aufführung hat sich nicht in Gänze erhalten. Er teilt damit das Schicksal einer späteren Rundfunkproduktion des Werkes in der DDR mit Hanne-Lore Kuhse  in der Titelrolle, von der wenigsten alle Szenen der Leonore noch vorhanden sind. Das ist bei dem frühen Mitschnitt leider nicht so. Die große Arie der Leonore – die Partie wurde von Christel Goltz gesungen – fehlt ebenso wie die Arie der Marzelline (Elfride Trötschel), deren Duett mit Jaquino (Erich Zimmermann), die Arie des Rocco (Gottlob Frick)  und der Gefangenenchor. Ohne Dialoge passt die Musik auf eine CD. Es muss eine packende Aufführung unter Leitung von Keilberth gewesen sein. Alle Mitwirkenden – zu nennen sind noch Aldenhoff als Florestan, Josef Herrmann als Pizarro und Heinrich Planzl als Fernando – sind sich der Bedeutung des großen Augenblicks bewusst. Mit solcher Hingabe dürfte diese Oper selten aufgeführt worden sein. Umso beklagenswerter ist es, dass nicht alles überliefert ist.

Die Entscheidung der Herausgeber, darunter wieder das Deutsche Rundfunkarchiv, der MDR, der NDR und die DEFA für den Torso ist dennoch richtig. Er genügt, um das kulturelle Ereignis in seiner historischen Bedeutung angemessen darzustellen, zumal es – wie vom Label bereits mehrfach praktiziert – eine ergänzende DVD gibt mit Berichten über die Aufführung, Erinnerungen von Zeitgenossen wie der Sängerin Lisa Otto, die seinerzeit in Dresden wirkte. Auch Project director Steffen Lieberwirth kommt zu Wort. Er erzählt die spannende Geschichte der Ouvertüre, die zunächst dem Archivmaterial nicht zugeordnet werden konnte, schließlich aber doch zweifelsfrei identifiziert wurde. Die Handschrift von Lieberwirth ist auch dieser Ausgabe anzumerken.

Rüdiger Winter

 

 

 

 

 

Donizettis „Duca d´Alba“/ II

 

Eine spannende Vorgeschichte hat die neue Aufnahme des Donizettianischen Duca d´Alba, der jüngst an der Vlaamse Opera erstmals im originalen Französisch (ergänzt/neukomponiert von Battistelli) aufgeführt wurde. Eigentlich war der für das Radio- Festival Montpellier 2007 geplant, aber die Edition wurde nicht fertig, und da schwenkte man kurzentschlossen auf die bekanntere italienische Version von Salvi um, wie sie bereits Maria Vitale bei der RAI 1951 gesungen hatte. Enrique Mazzola (Foto/RFM) leitet seine Kräfte im Duca d´Alba mit avec, kraftvoll und zupackend, wenngleich mit Inva Mula eher eine kleine Stimme für die Amelia bereitsteht. Auch Arturo Chácon-Cruz ist nicht wirklich ein Belcanto-Tenor, schiebt aber doch einen guten Job. Francesco Ellero d´Artegna macht aus der Procida-Partie des Sandoval (fast das gleiche Libretto wie Verdis Vêpres Siciliennes) düsteres Dräuen, und Franck Ferrari ist ein edler, sonorer Graf von Alba und verzweifelter Vater. Es ist schön, endlich eine neue Stereo-Aufnahme dieser Oper zu haben, wenngleich „nur“ in der weniger Donizetti-authentischen Version (Accord 480 0845), während man auf die originale französische weiter warten, und gute Kenntnisse in eben dieser Sprache für die beigelegte und sehr lässliche beigelegte DVD zu Werk und Aufführung haben muss.

G. H. 

Heimliches aus der DOB

 

Die Deutsche Oper öffnet weiter ihre Schränke, Hurra! Nach Don CarlosDon Giovanni und Fidelio kommt nun die Heimliche Ehe Cimarosas in der 1967 gesungenen Popelka-Version. Die Aufführung hat sich gut gehalten – das heutige Auge freut sich an Filippo Sanjusts genialer Szenerie, und Gustav Rudolf Sellners Regie ist noch immer schräg-lustig und erfrischend. Und was für eine Besetzung! Josef Greindl macht aus seinen unitaliensichen Tönen gar keinen Hehl und erschüttert als eitler Papa Geronimo das Zwerchfell, Barry MacDaniel (neben Erika Köth) ist sein wunderbar gesungenes und dazu hochattraktives Selbst, Donald Grobe sein Tenor-Partner wie in hunderten anderer Aufführungen. Lisa Otto zischt resch über die Bühne, und Patricia Johnson als männergeile Tante Fidalma erfüllt alle meine Erinnerungen an sie, was für eine Komödiantin (und bis heute für mich unübertroffene Marcellina!). Lorin Maazel dirigiert wie der Teufel diese in die Beine und die Tränen gehende Aufnahme, die nur in der gewissen schwarz-weißen Gräue ihr Alter nicht verleugnet. Aber welcher Spaß (Arthaus 101 625)!

G. H.

Alles ist Original

Der Dirigent Karl Richter scheint auf dem DVD-Musikmarkt eine tüchtige Lobby zu haben. Und das ist gut so – weil verdient. Nachdem bei Deutsche Grammophon die von ihm geleiteten großen Bach-Oratorien, die Brandenburgischen Konzerte und eine lebensbeschreibende Dokumentation zu haben sind, widmet sich das Label Conventus Musicus akribisch der wichtigsten Schaffensperiode des Dirigenten: Karl Richter in München 1951-1981. Einmal stehen sein Bach-Chor und sein Bach-Orchester im Mittelpunkt (CM 2131), der zweite Titel der kleinen Reihe widmet sich auf zwei DVDs in aller Ausführlichkeit den Solisten, Konzerten und Tourneen (CM 2130). In beiden Fällen ist Johannes Martin der Autor, dem das private Richter-Archiv offen stand. Entsprechend üppig ist die Ernte, die eingefahren wird. Überwältigend die Fülle der Live-Mitschnitte, die in breiten Passagen zitiert werden. Dazwischen erscheinen auf dem Bildschirm ganz seltene Fotos und private Filme, die den nach außen ehr verschlossen wirkenden Dirigenten ungemein locker und gelöst vorstellen. Es kommen Musiker und Sänger (darunter Antonia Fahberg, Hertta Töpper oder Ernst Haefliger) zu Wort, mit denen Richter oft und gern gearbeitet hat – und die allesamt etwas zu sagen haben.

Bei dieser Dokumentation kommen die Macher ganz ohne das heute üblich gewordene Beiwerk und ohne jeden Schnickschnack aus. Nichts wird nachgestellt. Alles ist Original. Hin und wieder fühlte ich mich an eine Diashow erinnert, die jedermann am heimischen PC selbst herstellen kann. Das scheint mir in der Absicht des Herausgebers zu liegen, der sich von filmischer Meterware deutlich absetzen will. Professionalität entsteht durch die Exklusivität des Materials und seiner Ordnung und nicht so sehr durch filmische Raffinesse, bei der der Inhalte schnell zur Nebensache wird. Aber die Zuschauer sollten schon wissen, wer die Fahrberg oder Haefliger sind, um diese DVDs genießen und würdigen zu können.

Rüdiger Winter

Flagstad-Hommage

 

Wie altes Gold leuchtet die Stimme der Kirsten Flagstad auf den späten Aufnahmen der Deccadie nun noch einmal und durch die Norwegischen Hymnen (in einer Radioaufnahme von 1960) ergänzt in einer bedeutenden Box (The Kirsten Flagstad Edition – The Decca Recordings) wiederaufgelegt worden sind. Nach der Indiskretion von Elisabeth Schwarzkopf (die ihr die hohen Cs im Furtwängler-Tristan sang und dann darüber plauderte) und einigen Querelen mit der EMI wechselte die tief verletzte Flagstad zur Decca, für die sie Soundzauberer John Culshaw gewann und für seinen Solti-Ring erwärmen konnte. Bedingung der Flagstad für diesen Wechsel war die Veröffentlichung der in Oslo in der Universität 1956 aufgenommenen Götterdämmerung, was Culshaw zähneknirschend in Kauf nahm, plante er doch einen eigenen Ring. Diese legendäre und lange verschwundene Aufnahme der (fast kompletten) Götterdämmerung unter Olvin Fjelstad mit der Flagstad (das herrliche Foto zeigt sie bei der Aufnahme/Flagstad Museum Hama mit Dank) als Brünnhilde, ihrer Schwester Karen Marie Flagstad, der ganz jungen Ingrid Bjoner und Set Svanholm ist zeitgleich nun bei Naxos (8.112066-69) genial überspielt herausgekommen, die Flagstad im Vollbesitz ihre gestalterischen Kräfte.

Aber es ist die Decca-Box (0028947839309), die auf 11 CDs mit ihren Schätzen die pastose,

Aufnahme zur Götterdämmerung in Oslo

Aufnahme zur Götterdämmerung in Oslo

majestätische und herrlich fließende Stimme wie dunkles Gold aufleuchten lässt – die unübertroffenen, tränenrührenden Grieg- und Sibeliuslieder, Mahlers Lieder, die Wesendoncklieder unter Knappertsbusch, die Wagner-Opern-Ausschnitte, die Vier ernsten Gesänge und Flagstads Würde in den Liedern von Schumann, Wolf oder Strauss, die ganz wunderbaren Geistlichen Arien und Lieder (einschließlich Bortniansky!). Bach und Händel, dazu hinzugekauft Norwegische Hymnen – welche Größe, welch uneitles Pathos. Ich bin mit diesen Aufnahmen aufgewachsen – diese und EMIs Dido und vielleicht auch Deccas Alceste zeigen die Flagstad als das, was sie vielleicht am ehesten war – eine Künstlerin des großen Herzens eher als eine Opernsängerin, wenngleich ich ihre Isolde nicht missen möchte. Was für eine Frau, was für eine Stimme!

Geerd Heinsen

Die ersten Töne vom Grünen Hügel

 

Auf zwölf CDs wird die Besetzung der Werke Richard Wagners auf dem Grünen Hügel bis zum Ende des nachhaltigen Wirkens seiner Witwe Cosima so vollständig wie nur möglich rekonstruiert. Im Zentrum stehen die legendären Aufnahmen der Gramophone and Typewriter Company (G&T), die 1904 in einem Bayreuther Hotel mit dem Ziel entstanden sind, Festspielsänger authentisch zu verewigen. Liegen von einem der Sänger oder einer der Sängerin keine Aufnahmen von in Bayreuth dargestellten Rollen im genannten Zeitraum vor, wird auf spätere Einspielungen beziehungsweise andere Titel, die nicht selten auch weit nach 1906 aufgenommen wurden, zurückgegriffen. Im Idealfalle aber – und das ist zum Glück ziemlich häufig der Fall – hören wir das, was Bayreuthbesucher schon um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vernommen haben.

Johanna Gadski

Johanna Gadski

Das sehr umfangreiche und akribisch angelegte Beiheft – jetzt wesentlich professioneller gedruckt als bei der ersten Auflage – stellt dieses komplizierte Netzwerk einer wissenschaftlichen Arbeit gleich übersichtlich und gut nachvollziehbar dar. Um nur ein Beispiel zu nennen: Leopold Demuth hat den Hans Sachs in Bayreuth gesungen und ist mit dieser Rolle auch dokumentiert, wenngleich der Auftritt 1899 stattfand, die Platte aber erst im Mai 1909 – also drei Jahre nachdem Cosima die Festspielleitung an ihren Sohn Siegfried abgegeben hatte. Ein Blick  genügt, und wir wissen bestens Bescheid und müssen uns fortan nicht mehr durch einen Berg von Bayreuthliteratur, die sich nicht selten als unzuverlässig erweist, arbeiten. Für sich genommen, ist dies schon eine außerordentlich bedeutsame Leistung, die wir dem Herausgeber der Edition Michael Seil zu verdanken haben. Wer ist dieser Mann? Ein Lehrer für Erdkunde aus der Gegend um Heilbronn mit solider musikalischer Grundausbildung, der nebenbei auch noch singt – also „einer vom Fach“, wie er selbst sagt. Das ist ehr untertrieben, denn wir dürfen Seil getrost den Mann vom Fach nennen, wenn es um Wagner aus der Pionierzeit der Schallplatte geht. Die Edition beschäftigte ihn 14 Jahre lang. Das heißt: Er war erst 18, als er damit begann, alte Schellackplatten zusammenzutragen und in ein ordnendes Prinzip zu stellen. Inzwischen füllen diese Platten – wie er es launig ausdrückt – ein „halbes Haus“. Weltweite Kontakte wurden geknüpft, um Lücken zu schließen. Sammler öffneten bereitwillig ihre Archive. Ohne deren Hilfe wäre nicht möglich gewesen, was wir heute in Form dieser Sammlung in Händen halten. Seil weiß diese Unterstützung sehr zu schätzen. Das eigentliche Wunder aber – um im Wort des Anfangs zu bleiben – ist die akustische Qualität der mehr als 300 einzelnen Dokumente von 93 Sängern und vier Dirigenten. Dafür ist Christian Zwarg zuständig, der wie Seil musikalisch ausgebildet ist.

Erik Schmedes

Erik Schmedes

Die Arbeit beginnt damit, dass eine möglichst gut erhaltene Schelllackplatte des jeweiligen Stücks vorliegen oder erst aufgetrieben werden muss, die dann mit der Partitur abgeglichen wird. Ist dieses nicht eben geringe Problem gelöst, braucht es die richtige Abtastnadel – auch eine Wissenschaft für sich. Denn Nadel ist nicht gleich Nadel. Schier unübersehbar ist die Anzahl der Produkte. Die Platte muss schließlich genau zentriert, die richtige Umdrehungszahl – hier gibt es erhebliche Abweichungen – gefunden werden. Das braucht seine Zeit. Berücksichtigt werden wollen die akustischen Bedingungen in den einzelnen Aufnahmestudios. An Hand einer Spektralanalyse werden störende Nebengeräusche herausgefiltert und behutsam entfernt. Mit einer von Zwarg entwickelten Software lassen sich schließlich die bei der Einspielung entstandenen Verzerrungen zurückrechnen. Eine größtmögliche Annäherung an das Original scheint nunmehr gegeben. Besser geht es wohl nicht. Die Altvorderen rücken näher an uns heran. Wir hören sie neu und müssen Eindrücke, die wir aus anderen Sammlungen gewonnen haben, vergessen. Auch wenn das Knistern verschwunden ist, die historische Distanz wird nicht aufgehoben – soll sie bitte schön auch nicht. Sie wird plausibel und zwar in dem Sinne, dass wir uns wesentlich besser vorstellen können, wie damals gesungen wurde. Wichtiger ist allerdings die Frage, warum damals so und nicht anderes gesungen wurde. Auch dafür finden sich in der Edition genügend Beispiele. Richard Wagner zumal hat mit seinen Werken, die sich schon der Genrebezeichnung nach (Handlung, Bühnenfestspiel, Bühnenweihfestspiel etc.) vom Opernschaffen seiner Zeit deutlich abhoben, eine Revolution losgetreten. Was heute oft vergessen wird: Diese Werke sollten und mussten auch anderes dargeboten werden, und sie mussten vor allem deutlich vorgetragen werden, damit sich dem ungeübten Ohr die ganze Tiefe des symbollastigen Inhalts erschloss.

Wort und Ton fanden zu gesteigerter Gleichberechtigung, die es so niemals zuvor gegeben hatte. Deutlichkeit ging über alles. Wir kennen die Zitate.

Ein ganz anderer Gesangsstil musste her. Diese Herausforderung war von Sängern, die nur der Virtuosität verpflichtet und dem Theaterschlendrian des 19. Jahrhunderts verfallen waren, nicht zu leisten. Nur so erklärt sich der Plan für eine Stilbildungsschule, der aber auch deshalb scheitern musste, weil an die Stelle des kühnen Ansatzpunktes alsbald der ignorante Alleinvertretungsanspruch der orthodoxen Bayreuther Ideologen trat. Kurz um: Die Edition vermittelt, wie sich Sängerinnen und Sänger unter den Augen und Ohren der allmächtigen Wagner-Witwe und ihres Adlatus’ Julius Kniese in neuen Ausdrucksform versuchten. Das macht großen Eindruck, wenngleich etliche Versuche übertrieben scheinen und sich zu Recht den schon damals verbreiteten spöttischen Vorwurf der Konsonantenspuckerei verdienen. Wie dem auch sei: Die Sänger der Cosima-Ära haben Grenzen durchstoßen und den Weg zu neuen Ufern des Musiktheaters gewiesen. Die Edition von Zwarg und Seil, die nunmehr beim Label

Ernestine Schumann-Heink

Ernestine Schumann-Heink

Panclassics (PC 10288) neu herausgekommen ist, bleibt uns dafür keinen Beweis schuldig.Und das sind die Sänger: Georg Anthes, Josephine von Artner, Hermann Bachmann, Anna Bahr-Mildenburg, Alfred von Bary, Paul Bender, Rudolf Berger, Theodor Bertram, Willi Birrenkoven, Sophie Bischoff-David, Robert Blass, Emil Borgmann, Marianne Brandt, Ellen Brandt-Forster, Carl Braun, Hans Breuer, Otto Briesemeister, Alois Burgstaller, Peter Cornelius, Lorenz Corvinus, Max Davison, Leopold Demuth, Emmy Destinn, Marie Dietrich, Andreas Dippel, Ernest van Dyck, Emilie Feuge-Gleiss, Katharina Fleischer-Edel, Gertrude Foerstel, Moritz Frauscher, Olive Fremstad, Fritz Friedrichs, Johanna Gadski, Emil Gerhäuser, Carl Gillmeister, Pelagie Greef-Andriessen, Wilhelm Grüning, Ellen Gulbranson, Alois Hadwiger, Frieda Hempel, Agnes Herrmann, Emilie Herzog, Allan C. Hinckley, Luise Höfer, Adolf von Hübbenet, Giuseppe Kaschmann, Hans Keller, Beatrix Kernic, Hermine Kittel, Paul Knüpfer, Marie Knüpfer-Egli, Ernst Kraus, Felix von Kraus, Adrienne von Kraus-Osborne, Frieda Langendorff, Martha Leffler-Burckhard, Lilli Lehmann, Carl Lejdström, Max Lohfing, Dezsö Matray, Richard Mayr, Willy Merkel, Ottilie Metzger, Lillian Nordica, Alois Pennarini, Franz-Josef Petter, Olga Pewny, Thila Plaichinger, Leon Rains, Luise Reuss-Belce, Anton van Rooy, Cäcilie Rüsche-Endorf, Alma Saccur, Ida Salden, Karl Scheidemantel, Robert vom Scheidt, Erik Schmedes, Hermann Schramm, Hans Schütz, Ernestine Schumann-Heink, Katharina Senger-Bettaque, Anton Sistermans, Walter Soomer, Mihaly Takats, Milka Ternina, Josef Tyssen, Fanchette Verhunk, Ernst Wachter, Edyth Walker, Clarence Whitehill, Hermann Winkelmann, Erik Wirl, Konrad von Zawilowski.
Rüdiger Winter

In Wahrheit unvergleichlich

 

„Wir werden seinesgleichen nimmer hören und sehen“ – mit dieser starken Aussage schließt der deutsche Musik- und Theaterwissenschaftler Jens Malte Fischer in seinem kenntnisreichen Buch Große Stimmen (Metzler-Verlag 1993) sein Kapitel über George London. „Überlebensgroß, überragend“ – heißt es dort –, „London konnte keine kleinen Rollen, keine kleinen Menschen darstellen, ‚bigger than life‘, das war die ihm angemessene Konfektionsgröße, er war das Idealbild des Heldenbaritons…” Und Fischer resümiert nach differenzierter Schilderung von Leben und Karriere des Sängers: „Es ist, glaube ich, keine nachträgliche Verklärung, wenn ich behaupte, dass London unter den Sängern der Nachkriegszeit eine Ausnahmeerscheinung von einem Maß war, wie es heute verloren gegangen zu sein scheint. Ich sehe im Heldenbaritonfach beeindruckende Stimmen, aber ich sehe keinen Boris, Wotan, Holländer, Giovanni, Golaud von dieser geradezu antiken Größe…“ Jens Malte Fischers Urteil ist umso bemerkenswerter, als er den Sänger nur relativ spät und lediglich in drei seiner Partien – als Don Giovanni, Amonasro und Amfortas – selbst auf der Bühne erlebt hat und Londons andere bedeutende Leistungen nur von einigen Schallplatten kannte, die kurz nach Londons Tod greifbar waren.

In der Zwischenzeit ist eine Vielzahl von Ton-Dokumenten neu und wieder veröffentlicht worden, vor allem zahlreiche Livemitschnitte, die George Londons unverwechselbare Ausstrahlung als dramatischer Sänger festhalten – und wohl auch die Wirkung erklären, die von seinem Gesang, seiner Persönlichkeit bis heute bausgeht. Opernliebhaber in aller Welt, die London nicht mehr selbst auf der Bühne erlebt haben, sammeln nicht nur seine Aufnahmen, sie tauschen in Internet-Foren ihre Eindrücke, vergleichen und werten in einer Weise, die nicht selten von jener persönlichen Betroffenheit zeugt, zu der Jens Malte Fischer sich bekennt: „Ich geniere mich auch nicht zuzugeben, dass Londons Stimme auch heute noch, 30 Jahre nachdem ich sie zum letzten Mal gehört habe, die oft belächelte Gänsehaut erzeugen kann, eine Wirkung, die sich nur schwer begründen und beschreiben lässt.“

Die Stimme war aber sicherlich nur ein Teil der ungewöhnlichen Wirkung des Sängers, nach dessen Debüt an der Metropolitan Opera in Verdis Aida der legendäre New Yorker Kritiker Virgil Thomson schon den 31-jährigen London als einen der größten singenden Darsteller bezeichnet hatte, an den irgendjemand von uns sich erinnern kann. London war eine in jeder Weise ungewöhnliche Erscheinung. Groß und schlank, agil und zugleich sehr diszipliniert in seinen Bewegungen, besaß er eine enorme Ausstrahlung, die ihm Wirkung und Erfolg sicherten, wo immer er auftrat. Dabei steckten hinter der scheinbaren Leichtigkeit, der sieghaften Attitüde seines Auftretens nicht nur eiserne Disziplin und ein ausgeprägtes künstlerisches Bewusstsein, sondern auch Ernst und Verantwortungsgefühl.

Er, dem scheinbar alles so leicht fiel, nahm nichts leicht – weder seine Arbeit noch die Menschen

London als Boris Godunow (Arthaus/George-London-Foundation)

London als Boris Godunow (Arthaus/George-London-Foundation)

, mit denen er arbeitete und für die er arbeitete. Er war ein Perfektionist nicht nur, was das Singen betraf. Die Beherrschung der Sprachen, in denen er sang – englisch, französisch, italienisch, deutsch und russisch – war ihm selbstverständliche Grundlage der Artikulation, sportliches Training als Basis gestischen Ausdrucks gehörte ebenso zu seinem Arbeitsprogramm wie gründliches Wissen um den geistigen, kulturellen und stilistischen Hintergrund der Werke. Auch Leben und Karriere George Londons dürfen als ungewöhnlich bezeichnet werden. Als Sohn russisch-jüdischer Emigranten in Montreal geboren, wuchs George London in äußerst bescheidenen Verhältnissen auf. Zwar hatte ihn Oper schon früh fasziniert, doch erst nachdem Stimmbruch entdeckte er seine Stimme und die Freude am Singen. In Los Angeles begann er Gesang zu studieren und wurde Mitglied des von dem aus Deutschland emigrierten Hugo Strelitzer gegründeten „Opera Workshop“. Ersten Auftritten im Opernchor von Los Angeles folgten kleine Rollen in San Francisco und im Rahmen eines Tourneeunternehmens.

Ein Vertrag mit der New Yorker Agentur Columbia Artists brachte dem 27-jährigen erste Engagements im Konzertsaal – unter anderem sang London 1946 in New York die Uraufführung von Paul Hindemiths Requiem – und ab 1947 tourte er mit der Sopranistin Francis Yeend und demTenor Mario Lanza als „Bel Canto Trio“ quer durch Amerika. London aber wollte zur Bühne. Da es damals jedoch in den USA kaum Möglichkeiten gab, eine Opernkarriere zu beginnen, entschloss er sich, nach Europa zu gehen. In Brüssel, wo die Wiener Staatsoper ein vielbejubeltes Gastspiel gab, sang er im Juni 1949 Karl Böhm und dem Ensemble vor und wurde sogleich engagiert. Anfang September debütierte George London in Wien als Amonasro in Verdis Aida und avancierte schnell zum Liebling des Wiener Publikums. Obwohl er nie zuvor auf einer großen Bühne gestanden hatte, sang der 29-jährige innerhalb weniger Wochen zentrale Partien seines Faches in Carmen, Fürst Igor, Hoffmanns Erzählungen, den Mephisto in Gounods Faust, vor allem auch zum ersten Mal die Titelrolle in Mussorgskis Boris Godunow. Alle diese Partien sang Londo inmitten deutschsprachiger Aufführungen in der Originalsprache und auch das sicherte dem jungen Sänger eine Art Ausnahmestellung im Ensemble der Wiener Oper, das für etliche Jahre seine künstlerische Heimat werden sollte. Die Titelrollen in Eugen Onegin und Don Giovanni, Almaviva in Die Hochzeit des Figaro, Scarpia in Tosca und immer wieder Boris Godunow waren die herausragenden Leistungen Londons im Ensemble der Wiener Staatsoper.

Wie kein anderer Sänger seiner Generation verkörperte George London einen neuen Sängertyp und es ist kein Wunder, dass Wieland Wagner, auf der Suche nach neuen Sängern für den Wiederanfang in Bayreuth, auf den Amerikaner aufmerksam wurde. Im September 1950 sang London in Bayreuth vor – Wotans „Abschied“ unter anderem – und Wieland Wagner wollte ihn spontan für die Rolle des Göttervaters im ersten „Neu“-Bayreuther Ring. Allein London fühlte sich dieser Aufgabe noch nicht gewachsen. Dafür wurde sein Amfortas in der Bayreuther Eröffnungspremiere von 1951 für ein Dutzend Jahre zum Maß dieser Partie. Es folgten die Titelrolle im Fliegenden Holländer ab 1956, später auch der Wolfram in Tannhäuser und endlich – allerdings nicht in Bayreuth, sondern mit Wieland Wagner und Wolfgang Sawallisch in Köln – der Wotan. Die geplante Übernahme dieser Rollengestaltung in das Bayreuther Ring– Ensemble kam nicht mehr zustande. Etliche Studioaufnahmen unter Hans Knappertsbusch, Georg Solti oder Erich Leinsdorf sowie Livemitschnitte aus Köln und New York machen aber deutlich, was Wieland Wagner an Londons Wotan fasziniert haben mag: die dunkle, mächtig strömende Stimme, vor allem aber der Ernst und das völlig unsentimentale Pathos der Diktion stellen diesen Wotan den größten Wagner-Sängern an die Seite. George Londons internationale Karriere, zu der neben seiner Tätigkeit an der Wiener Staatsoper und in Bayreuth vor allem die New Yorker Metropolitan Opera, aber auch Gastspiele an allen großen Opernhäusern und umfangreiche Konzerttourneen gehörten, fand infolge einer Stimmbandlähmung in den Sechzigerjahren ein allzu frühes Ende. London begann als Regisseur, als Künstlerischer Leiter des Kennedy Center of Performing Arts, des neu gegründeten National Opera Institute und später der Oper in Washington sowie als Lehrer und Mentor junger Sänger ein zweites, nicht weniger erfülltes Leben. Auch diesem aber war keine lange Dauer vergönnt. Während einer Europa-Reise erlitt London 1977 in München einen Herzstillstand, von dessen Folgen er sich nicht mehr erholt hat. Nach langjährigem, tragischem Siechtum ist der Sänger 1985 in New York gestorben.

Sein Wirken aber lebt im Gedächtnis zahlloser Opernfreunde und seiner Schüler, nicht zuletzt in der von ihm ins Leben gerufenen Stipendienstiftung weiter. Als Präsidentin der „George London Foundation for Singers“ setzt sich Nora London unermüdlich für die Förderung junger Sänger ein. Viele, die heute zu den führenden Sängern der Opernbühne gehören, haben als Preisträger und Stipendiaten der George London Foundation ihre Karriere begonnen.

 

Bilddokumente und ein Portrait

London als Don Giovanni (Arthaus/George-London-Foundation)

London als Don Giovanni (Arthaus/George-London-Foundation)

Nora London hat 1987 und 2005 in New York zwei Bücher veröffentlicht, in denen sie in berührender Weise Leben, Erfolg und tragisches Schicksal George Londons darstellt. Im Zusammenhang mit der deutschsprachigen Ausgabe ihres zweiten Buches („Von Göttern und Dämonen“, Löcker-Verlag Wien 2009) ist der Plan entstanden, neben den vielen Tonaufnahmen auch die erhaltenen audiovisuellen Dokumente George Londons einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Arthaus Musik hat diesen Vorschlag aufgegriffen und gemeinsam mit dem Westdeutschen Rundfunk und der George London Foundation die vorliegende Dokumentation produziert. Das von der George London Foundation gesammelte Filmmaterial stammt überwiegend aus den Pionierzeiten des Fernsehens, In denen Musikprogramme noch nicht den Stellenwert hatten, an den wir uns inzwischen gewöhnt haben. Von großen amerikanischen Firmen gesponserte Showprogramme mit Stars der Metropolitan Opera enthielten vor allem Populäres – neben Nummern aus Musicals auch die eine oder andere Opernszene; Aufzeichnungen kompletter Opern gab es vor 1960 auch in Europa so gut wie nicht. Immerhin verdanken wir einer solchen TV-Show vom 26. November 1956 ein unvergleichliches Filmdokument: Maria Callas als Tosca und George London als Scarpia in einem Ausschnitt aus dem zweiten Akt der Puccini-Oper, die an der Met kein Geringerer als Dimitri Mitropoulos dirigiert hat. Londons Gestaltung des Scarpia ist übrigens die einzige Rolle, die in einer kompletten Aufzeichnung erhalten geblieben ist: mit Renata Tebaldi in einer Aufführung der Staatsoper Stuttgart vom Juni 1961, die vom Süddeutschen Rundfunk aufgezeichnet und in den USA schon vor einigen Jahren auf DVD veröffentlicht worden ist. Aus deutschen Fernseharchiv enstammen auch Aufnahmen aus den Sechzigerjahren: Das Bayerische Fernsehen lud George London 1964 zu einem Konzerttermin ein – auf dem Programm standen Lieder von Jacques Ibert und Modest Mussorgski; im Auftrag des WDR entstand im Jahr darauf ein Filmportrait mit Ausschnitten aus Opern und Musicals sowie zwei Spirituals.

Diese Filmdokumente, von denen die meisten auf der vorliegenden DVD erstmals veröffentlicht werden, ergänzen trotz ihrer zum Teil historischen Bildqualität auf besondere Weise den Eindruck der charismatischen Persönlichkeit George Londons. Sie bilden auch die Basis für das von Marita Stocker mit großer Einfühlung gestaltete Filmportrait, das viel aussagt über die Wirkung des Sängers auch auf eine Generation, die den Sänger nicht mehr erlebt hat. Doch natürlich kommen in dem Portrait auch Zeitzeugen zu Wort. Neben Nora London die Sopranistin Hilde Zadek, die Londons Anfänge in Wien mit erlebt hat und als Aida, Donna Anna oder Tosca häufig mit ihm auf der Bühne stand; der Wiener Tenor Waldemar Kmentt, dem vor allem Londons Gestaltung des Boris Godunow im Gedächtnis blieb; oder der Doyen des Wiener Burgtheaters Michael Heitau, für den Londons Don Giovanni zum prägenden Opernerlebnis geworden ist, die „Erfüllung einer zentralen Partie“, die sich nie wiederholt hat. Auch prominente Sänger der nachfolgenden Generation – die Sopranistinnen Catherine Malfitano und Deborah Polaski oder der Tenor Neil Shicoff – geben Zeugnis von der Bedeutung, die ihre Begegnung mit George London für ihre künstlerische Entwicklung gehabt hat: Begegnung mit einem Künstler, der wie der Schauspieler Heltau es formuliert hat, „in Wahrheit unvergleichlich war“.

 

Gottfried Kraus

 

(Liebenswürdigerweise hat uns Professor Gottfried Kraus den vorstehenden Text aus der Beilage zur Arthaus DVD/101 473 zum Nachdruck überlassen – er ist übrigens auch als Zeitzeuge auf der DVD zu erleben und macht aus seiner Verehrung des großen Bass-Baritons keinen Hehl.)

Keiner wie er

 

Für dieses Buch musste der Berliner Musikschriftsteller Einhard Luther nicht in die Archive steigen, Zeitzeugen befragen und alle möglichen anderen Quellen anzapfen. Er schöpft aus seiner ganz persönlichen Erinnerung, seinen  Aufzeichnungen, seinem fotographischen Gedächtnis – kurz, aus dem unversiegbaren Funds seiner langjährigen Freundschaft mit dem Heldentenor Max Lorenz. Der steht im Mittelpunkt des Buches „Keiner wie er“. Der Verdacht, allzu große Nähe zur historischen Person, deren Leben und Wirken eine Biographie zum Gegenstand hat, birgt die Gefahr von Verblendung mit sich, kommt bei Luther gar nicht erst auf. Er wollte ein sehr persönliches Buch über Lorenz schreiben, das nicht nur den Künstler sondern auch den Menschen gebührend heraus stellt. Das ist vorzüglich gelungen. Zunächst lässt der Autor immer die gesicherten Fakten sprechen, die er dann mit viel Fleisch versieht und auch anekdotisch ausschmücken versteht. Zustande gekommen ist ein Buch, das aus dem Vollen schöpft, vor prallem Leben und Sinnlichkeit nur so strotzt.

Luther arbeitet sehr deutlich heraus, dass Lorenz seinen künstlerischen Weg mit einer Entschlossenheit und Unnachgiebigkeit ging wie sie nur den wirklich großen Talenten gegeben ist, weil die Entschlossenheit Teil des Talents ist.

Lorenz hat in dunkler Zeit Aufrichtigkeit und Zivilcourage gezeigt, fest zu seiner jüdischen Frau gehalten und sich wegen seiner Homosexualität nicht erpressen lassen.

Dass er im Dritten Reich dennoch die unangefochtene Nummer Eins in seinem Fach war, ist – und daran besteht nicht der geringste Zweifel – einzig seiner Leistung als Sänger geschuldet. Wagner-Aufführungen wären ohne ihn völlig unmöglich gewesen, so sehr verkörperte er stimmlich wie darstellerisch die tragischen Helden des Bayreuther Meisters. Keiner wie er!

In dem Buch wird das sehr ausführlich und genau geschildert, mit teilweise sehr seltenen Fotos auch üppig illustriert. Mir ist Max Lorenz, dessen Schallplatten einst den Grundstock für die eigenen Sammlung legten, durch die Lektüre noch näher gekommen, und ich habe alle seine Aufnahmen, die allerdings nur einen Abglanz seiner tatsächlichen Wirkung darstellen dürften, wieder gehört. Luther hat mir für manches Detail, manche Rolle, die auf Tonträgern erhalten ist, neue Einsichten beschert. Das geschieht bei ihm nicht akademisch und mit dem besserwisserisch erhobenen Zeigefinger.

Dieser Autor hat eine Lust am Erzählen, kommt wie jeder gute Erzähler vom Hundertsten ins Tausendste.

Einem durchaus ersten Unterfangen wie es die Biographie über einen Heldentenor darstellt, werden auch sehr vergnügliche Seiten abgewonnen. Das machte für mich das Buch so gut lesbar – und am Ende war ich traurig, als ich es durch hatte. Es hätte noch viel länger und umfangreicher sein können. Dennoch hatte ich nicht das Gefühl, dass nicht alles gesagt ist. Einhard Luther entlässt seine Leser in die Neugierde, sich mit neu gefundenen Einsichten dem Sänger wieder stärker zuzuwenden, die Platten und CDs hervorzuholen und das für sich selbst nachzuspüren, was man eben gelesen hat. Andere, die Lorenz weniger gut kennen, werden hoffentlich ermutigt, sich mit einem der letzten Heldentenöre, wenn nicht dem letzten, zu befassen. Der Autor setzt spezielles Insiderwissen nicht zwangsläufig voraus.

Die CD von Preiser

Die passende CD von Preiser

Keiner wie er!  Wie die Überschriften der einzelnen Kapitel, ist auch der Titel des Buches dem Werk Richard Wagners entlehnt. Die jeweiligen Zitate sind durch Faksimiles aus den Klavierauszügen belegt. „Keiner wie er so hold zu werben weiß!“ Mit diesen Worten reagiert der Chor auf der Festwiese der „Meistersinger“ beglückt auf Stolzings Preislied. Genau darauf bezieht sich der Buchtitel. „Keiner wie er“ kommt im Werk Wagners aber noch an einer anderen Stelle vor, nämlich im Schlussgesang der Brünnhilde, als sie Siegfrieds Treulosigkeit beklagt: „Die treueste Liebe trog keiner wie er!“ Zufall? Gewiss. Doch bei Einhard Luther, der die Operndichtungen Wagners bekanntlich nur so aus dem Ärmel schüttelt, kann man sich da nie ganz sicher sein. Das Buch erschien bei Pro Business GmbH, 191 Seiten, ISBN 978-3-86805-409-5. Passend dazu hat das Label Preiser eine CD mit gleichem Titel herausgebracht, auf der Lorenz in seltenen Live-Aufnahmen zu hören ist.

Rüdiger Winter

„Le Vaisseau fantôme“ von Dietsch II

.

Über die Hintergründe zur Oper von Pierre-Louis Dietschs Oper Le Vaisseau fantôme führten ist hier an derer Stelle bereits berichtet worden – die Herren Dratwicki und Roesler taten dies im Programmheft zur konzertanten deutschen Erstaufführung im Juni im Konzerthaus, und ihre Texte finden sich bei der Vergessenen Oper. Bereits im Vorfeld gab es zwei Aufführungen des Werkes in Versailles und Wien durch Marc Minkowski, der ebendort den Dietsch und die Urfassung des Fliegenden Holländers von 1841 auch für naive einspielte, konzertant mitgeschnitten.

Louis Dietsch – Stich von Vahjer/Gallica

Und nach dem packenden Abend in Berlin muss ich sagen, dass es ein Jammer ist, dass eben dieser Abend nicht für eine CD gewählt wurde – die Solisten in Berlin waren einfach alle besser und zufriedenstellender. Da beginnt mit Enrique Mazzolas  stürmischer,. werkgerechterer Leitung und vor allem mit dem wirklich fabelhaften Orchester der Deutschen Oper, eben ein hochrangiges Opernorchester und kein Mehrzweckkörper wie Minkowskis Musiciens du Louvre Grenoble, und auch der dortige Chor aus Lettland war dem schlagkräftigen, sonoren Chor der Deutschen Oper Berlin weit unterlegen. Mazzola holte einfach alles aus der Musik heraus, die dann plötzlich nicht epigonal und billig klang. Man hörte gewiss viel Donizetti (Lucie de lammermoor und andere Werke hatten gerade in Paris Karriere gemacht), man hörte auch Barockes von Lully, aber man hörte eben auch Verdi, man hörte Rigoletto, Traviata und ganz sicher vieles aus dem Umkreis, dazu Boieldieus Dame blanche merhfach – ein bunter Reigen von Bekanntem in einem Strauss des Eigenen. Namentlich auch die zahlreichen Chöre ließen auf Dietschs Kirchentätigkeit rückschließen.

.

Zu Dietsch/“Vaisseau“/Laura Aiken/Machreich Artists Management

Die stimmliche Besetzung ließ keine Wünsche offen – so stringent hab ich außer beim Attila darauf selten eine Oper gehört. Vor allem die zentrale Partie der Minna (später Senta) war im Gegensatz zu Minkowski exakt mit einem durchsetzungsfreudigen und hellem Sopran besetz. Die originale Laure Cinti-Damore war ein solche heller Sopran gewesen und sang die Marguérite in den Huguenots, kein mulschiger, dunkler und sehr unidiomatischer wie der von Sally Mathews in Wien und Versailles und leider auf der CD. Laura Aikin machte als Minna (später Senta) ihre Sache toll, ich hätte nicht gedacht, dass sie soviel power aufbieten kann, um die wirklich höllische Soloszene und das Duett im 3. Akt zu meistern. Ich klatschte mir die Hände wund. Der junge Josef Wagner war als Troil (Holländer) ein absoluter Gewinn, wunderbares Material, gutes Technik und eine sonore, herrliche Stimme – das wird was. Yosep Kang überraschte mit hellen, fast heldischen Töne als Erik mit guter Stimmführung, Magnus, Scriften (eingeschobene Charaktere, die nicht bei Wagner vorkommen) waren mit Jean-Francois Borras und Seth Carico bestens vertreten.

Zu Dietsch/“Vaisseau“/Yosep Kang/DOB

Und über Papa Barlow (Daland) freute ich mich besonders, denn ich liebe den eleganten Nicholas Cavallier sehr und erinnere mich an viele Abende mit ihm in Frankreich – ein wirklich guter und zudem idiomatischer Sänger. Aber die anderen (einschlißlich des Chores) brauchten sich sprachlich nicht verstecken – die Diktion war wirklich impeccable. So also erlebte man einen fast rauschhaften Opernabend im Konzert, eine Fülle an musikalischen und musikhistorischen Informationen – das hört man nicht oft. Zum Wagner-Jahr hatte sich die Deutsche Oper (neben dem nicht ganz so urigen Ur-Holländer 1841) wirklich was gegönnt, bravo! Geerd Heinsen

.

Foto oben: „Vaisseau fantôme“, par Charles Temple Dix (vers 1860)/ Wikipedia; eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Geerd Heinsen

 

Operalounge.de-Gründer Geerd Heinsen (Jahrgang 1945) kommt aus einem musikalischen und musikausübenden Elternhaus, lernte Klavier spielen und sang während seiner Studentenzeit in zahlreichen Chören. Er ist promovierter Literaturwissenschaftler (Amerikanistik, Musik- und Theaterwissenschaft in Berlin, Wien, London und New York). Nach verschiedenen Tätigkeiten als Fashion-Model, Begleiter, Künstleragent, Sprachlehrer, Reiseführer, Schallplattenverkäufer, Übersetzer, Journalist für in- und ausländische Musikzeitschriften u. a. war er ab 1983 zwanzig Jahre lang Chefredakteur der in Berlin verlegten Publikation orpheus (nicht zu verwechseln mit der neuen Veröffentlichung gleichen Namens) und blieb auch nach seinem Ausscheiden dieser Musikzeitschrift als freier Redakteur und als Miteigentümer bis zu deren Ende 2012 verbunden, wenngleich er in dieser Zeit auch für andere Publikationen und als Juror arbeitete. Seine besondere musikalische Leidenschaft gilt (neben dem Musiktheater der Romantik) der Oper um die französische Revolutionszeit herum und der französischen Oper allgemein, natürlich aber auch Rossini, dem Belcanto und so gut wie allem Unbekannten. Daher ist die von ihm erdachte Rubrik Die vergessene Oper sein besonderer Tummelplatz.

Verdis „Don Carlos“

.

Don Carlos als Sujet für eine Oper war Verdi bereits 1850 zum ersten Mal vom Direktorium der Pariser Oper  vorgeschlagen worden und zwar im Lauf jener Verhandlungen, die schließlich zu Les Vêpres siciliennes führten. Schiller lag – ebenso wie Shakespeare – Verdi sehr am Herzen; er hielt das Stück für ein „großartiges Drama, dem es aber vielleicht doch an Theaterwirkung fehlt“. 1864, als man ernsthaft wegen einer französischen Fassung von La Forza del Destino  und einer weiteren neuen Oper zu verhandeln begann, teilte Verdi dem Direktorium der Oper brüsk mit: „Wenn ich eines Tages für die Opéra etwas komponieren sollte, dann nur auf der Basis einer Textvorlage, die mich vollkommen zufriedenstellt und die, vor allem, einen starken Eindruck auf  mich macht“.  Mit Don Carlos hatte er ein Sujet gefunden, das seinen Wünschen entsprach.  Die Librettisten Joseph  Pierre Mory und Camille du Locle ergänzten das Stück Schillers mit einer Einleitungsszene in Fontainebleau und der Erscheinung Karls V. am Ende der Oper, was Verdi billigte. Er selbst schlug

Frontespièce zum Klavierauszug

Verdis „Don Carlos“/ zum Klavierauszug/Wiki

vor, es sollten wie bei Schiller eine Szene zwischen Philipp und dem Großinquisitor geben, der „blind und sehr alt“ sein müsse, sowie ein Duett zwischen Philipp und Posa. Ferner fügte man – bei Schiller ist das nur angedeutet – eine Autodafé-Szene ein, an der die Zensur heftig Anstoß nahm: Wie konnte ein christlicher Herrscher umgeben von Mönchen und Henkersknechten ausrufen „Maintenant á la fête!“, seine Gemahlin zur Tribüne geleiten und ungerührt die Qualen seiner Untertanen mitansehen?

Historischer Kostümentwurf für den Don Carlos von Schiller, hier sieht man den Titelhelden.

Verdis „Don Carlos“/Der Tenor Morère als der Don Carlos der Uraufführung

Im Hinblick auf die zahlreichen Änderungen des Schillerschen Dramas verwundert es, dass Verdi ausgerechnet jenen Eingriff  billigte, der das Textgefüge ganz wesentlich beeinträchtigte: die  Erscheinung Karls V. am Ende der Oper. Bei Schiller dient die Legende von der Erscheinung Karls V. als Vorwand, die Königin als Mönch verkleidet um Mitternacht aufzusuchen. Bei seinem Anblick fliehen die Wachen entsetzt. Das Stück endet auch bei Schiller tragisch: Der König liefert seinen Sohn dem Großinquisitor mit den Worten aus: „Kardinal ich habe das Meinige getan. Tun Sie das Ihrige.“

Mitte März 1866 lag Verdi das vollständige Libretto vor. Er war damit einverstanden und kehrte sofort nach Sant‘ Agata zurück. Die Komposition ging ihm erstaunlich leicht von der Hand. Bereits im März entstand der 1. Akt, im April kam er allerdings wegen ständiger Halsbeschwerden kaum voran, im Mai war der 2. Akt vollendet und im Juni lag der 3. Akt vor. Am 23. Juli traf Verdi mit drei Akten für die Kopisten in Paris ein; der 4. Akt war fast abgeschlossen. Den 5. Akt komponierte Verdi in Cauterets, einem Heilbad in den Pyrenäen. Am 10. Dezember war die Instrumentierung mit Ausnahme der Balletteinlage vollendet.

Marie sasse, die erste Elisabeth

Marie Sasse, die erste Elisabeth/BNF

Die erste von insgesamt 133 (!) Proben fand am 11. August 1866 statt, die erste Chorprobe am 20. August und die ersten Orchesterprobe am 12. Januar 1867.  Die Hauptproben begannen am 24. Februar, in deren Verlauf eine Reihe von Strichen erzwungen wurde, die Verdi niemals sich und der Opéra verzeihen konnte. Die erste Hauptprobe dauerte drei Stunden und siebenundvierzig Minuten ohne Pause – siebzehn Minuten länger als Meyerbeer Africaine. Mit den vorgesehenen Pausen hätte die Gesamtdauer fünf Stunden und dreizehn Minuten betragen. Auf der Probe am 9. März (zwei Tage vor der Premiere) wurde die Spieldauer um neunzehn Minuten gekürzt. Da die Dauer einer Aufführung an der Opéra vorgeschrieben war (angeblich auch, um den Besuchern die Rückkehr per Vorortzüge zu ermöglichen), wurden nach der Premiere am 11. März erneute Kürzungen gefordert, nach der zweiten Aufführung am 13. März weitere Striche. Dem beklagenswerten Verdi mag jeder Protest zwecklos erschienen sein, da selbst Meyerbeer sich den strengen Regeln der Direktion hatte unterwerfen müssen. Dazu auch ein Auszug aus einem Artikel des Korrespondenten der Mailänder Gazetta Musicale: „Alle diese Bedenken oder eher Abhängigkeiten, wenn nicht sklavische Zwänge, haben den Komponisten veranlasst, ja geradezu gezwungen die Dauer der Musik um eine Viertelstunde zu kürzen. Die größten Mühen bereitete es herauszufinden, wo man Striche anbringen konnte. Alles war auf theatralische Wirkung und die Erfordernisse des Musikdramas berechnet. Ein Duett zwischen Mme. Sasse und Mme. Gueymard (. ..) war bereits geopfert worden. Was sollte man nun herausschneiden außer einen Takt hier, einige dort. Genau das ist aber die undankbare Aufgabe vor der Verdi in dem Augenblick, da ich schreibe steht. Eine traurige Notwendigkeit, die Einheit des Werkes so kindischen Überlegungen zu opfern! ( …)“

.

.

Don Carlos Szene Paris 1867

Verdi: „Don Carlos“/Szene Paris 1867/Wikipedia


Sieben Fassungen für Don Carlo/s: Hier nun ein kurzer Überblick über die sieben unter Verdis Aufsicht entstandenen Fassungen:

1. Die vollständige 1866 geprobte und im Handlungsabriss enthaltene Fassung.

2. Die Fassung der Hauptprobe vom 24. Februar 1867.

3. Die Fassung der Premiere am 11. März 1867. Darin enthalten das „Lacrymosa“ (i.e. ein Solo Philipps im vierten Akt, das sich später im „Requiem“ wiederfindet); natürlich auch das ganze Ballett nach dem Autodafé, „La Peregrina“ –  ein der Tradition der Opéra verpflichtetes, aber für das Drama ungemein notwendiges Handlungsballett, das eine Huldigung auf Elisabeth darstellt, nach der sich die Königin zurückzieht und ihr Kostüm/Mantel mit Kapuze der Eboli überlässt, die im Mantel dann den Brief von Carlos an Elisabeth findet (den dieser Thibault zugesteckt hatte). In der Erstaufführung gab es auch den Holzfällerchor und Szene mit Elisabeth vor dem Auftritt Carlos´ im 1. Bild, das erweiterte Duett Posa-Carlos in der San-Just-Szene, das Duett Philipp-Posa im 2. Akt, das Duettino Elisabeth-Eboli im 4. Akt und viele weitere Details darunter die Tatsache, dass es Graf Lerma/Tenor ist, der Eboli vor deren großer Arie das Verdikt der Königin für Exil oder Kloster überbringt. Eboli tritt auch noch einmal in der vorletzten Szene auf, heizt den Volksaufstand an und hilft Carlos zu fliehen.

4. Die Fassung der zweiten Vorstellung am 13.März 1867. In dieser Fassung endet  der 4. Akt unmittelbar nach Posas Tod.

Der italienische Librettist Antonio Ghislanzoni.

Verdis „Don Carlo“/der italienische Librettist Antonio Ghislanzoni.

5. Die italienische Fassung(en) (in der Übersetzung von A. de Lauzieres und später in Zusatzteilen von 1872 von A. Ghislanzoni) in Neapel. Bis auf zwei Ausnahmen ist diese Fassung identisch mit Fassung 4.

6.Die überarbeitete vieraktige Fassung von 1882/83(Mailand).Verdi strich mehr als die Hälfte der ursprünglichen Oper, und zwar: 1. Akt, das Duett Don Carlo-Rodrigo und das Duett Filippo-Rodrigo des 2. Akts, die erste Szene des 3. Akts mit dem anschließenden Ballett, einen großen Teil der Szene Filippo-Elisabetta des 4. Akts mit dem folgenden Quartett, einen Teil der anschließenden Szene Elisabetta- Eboli  (Duett vor allem), das Finale nach dem Tod Posas (von Ebolis Auftritt ganz zu schweigen) und schließlich des 5. Akts, den Schluß ab dem Duett Elisabetta-Carlo. Stattdessen wurden sieben neue Passagen eingefügt, die insgesamt 268 handgeschriebene Seiten ergeben.

7. Die fünfaktige Fassung ohne Balletteinlage von (1886 Modena). Mit dieser Fassung erreichte Verdi offenbar sein Ziel, die Fontainebleau-Szene wiederaufzunehmen, die er mit Fassung 6 verband. Aber: Verdis ursprüngliche Fassung des Don Carlos erreicht eine Einheit von künstlerischer Form und Absicht, die den späteren  Bearbeitungen fehlt.

Der deutsche Dichter Friedrich Schiller.

Verdis „Don Carlos“/der deutsche Dichter Friedrich Schiller.

Seine Auffassung, die später vieraktige Fassung sei präziser, mag durchaus zutreffen; dennoch bleibt der Einwand, dass die dramatische Handlung durch die Kürzungen unklarer, undurchsichtiger erscheint und dem Publikum die Glaubenslast auferlegt. Ohne die einleitende Szene des 1. Akts könnte man verwundert fragen, was denn Carlos eigentlich in Frankreich sucht und warum Elisabeth ein so wichtiges politisches Pfand ist. Und der Auftritt der verarmten Holzfäller bekräftigt Elisabeths Entschluß, sichmit der Heirat mit Philipp (!)für den Frieden zu opfern, nachdem sie ihre Mildtätigkeit in Form des Geschenkes ihrer goldenen Kette an eine arme Alte(„Ma mère,voici ma chaine d’or“) geziegt hat.  Die tiefe Übereinstimmung zwischen Philipp und Posa wird unverständlich, wenn deren Duett im zweiten Teil des 2. Akts entfällt. Wird die erste Szene des zweiten Teils von Akt 3 (mit Ballett) gestrichen, fällt es schwer zu glauben, Carlos verwechsle Elisabeth mit Eboli (im Original tauschen sie ja nicht nur die Masken, sondern auch die Kapuzenmäntel). Die Beziehung Philipp-Posa undPhilipps Unmut gegen die Kirche werden unklar, wenn das Duett zwischen Carlos und seinem Vater (und dessen anrührende  Passage, das sogenannte“ Lacrymosa“, entdeckt von Ursula Günther vor erst rund 25 Jahren) nach der Ermordung Posas entfällt. Streicht man die zweite Szene des 4. Aktes, haben die Worte der Eboli (am Ende von „O dôn fatal“/“Un jour reste“/“Je le sauverais!“) keinen Sinn. Der Schluss der Oper, der zwar schwächer ist als in Schillers Original, wird immerhin durch den Chor, der die Worte der Verdammung singenden Mitglieder der Inquisition, aufgewertet und ist eine eindrucksvolle Bestätigung der ungebrochenen Vormacht der Kirche, die Verdi aus vielen persönlichen Gründen verachtete. Hier wird eine ganz andere Wirkung erzielt als in dem uns vertrauten (?) Drama Schillers. In dem Maße, in dem die praktischen Erwägungen die Verwirklichung von Verdis grandioser Vision berührten, wirken sie sich auch auf den geistigen Rahmen und die Gefühlswelt des Werkes aus.

Die Wiederaufnahme der originalen Passagen trägt wesentlich dazu bei, die ursprünglichen Intentionen Verdis zu erfüllen. Und damit stellt sich Don Carlos als eine erz-französische Oper heraus, die in vieler Hinsicht dem Vorläufer Meyerbeer verpflichtet ist.

Don Carlos bleibt Verdis ehrgeizigstes Werk, in dem sich sein theatralisches Gespür für die Darstellung von Menschen in Grenzsituationen mit dem Prunk der Grand-Opéra verbindet. In Don Carlos findet Verdis Lebens-Pessimismus wie auch seine Überzeugung, das Individuum müsse unermüdlich für das kämpfen, was ihm wichtig erschiene, ihren vollkommensten Ausdruck.

.

Zeitungs-Illustration des „DonCarlos“ von Verdi, unten Mitte das Ballett „La Pellegrina“, 1867/ BNF Gallica

Verbreitung: Die Oper wurde am 11. März 1867 an der Pariser Opéra (damals das Théâtre Imperial de l´Opéra) aufgeführt, in den Hauptrollen sangen Marie Sasse/Elisabeth, Jean Morère/Carlos, Pauline Gueymard-Lauters/Eboli, Louis-Henri Obin/Philippe. Die sehr unterschiedliche Lage der Eboli (Schleierlied und „Dôn fatal“) erklärt sich aus der ursprünglichen Besetzung der Partie mit der Sopranistin Bloch, die dann im Laufe der Proben durch die Mezzo-Sopranistin Gueymard ersetzt wurde. Das Werk hielt sich bis 1937 im Repertoire der Opéra, der Zustand des Notenmaterials lässt allerdings ein originales Weiterleben stark bezweifeln, und beim  französischen Rundfunk wie auch in der Provinz gab man gerne (und perverserweise) die italienische Vieraktfassung in dem zurückübersetzen französischen Text.

In den italienischen Fassungen, namentlich der Vierakt-Kurzfassung, verbreitete sich das Werk schnell, vor allem auch in den nationalsprachigen Übersetzungen. Nach einer folgenlosen Präsentation 1961 beim RTF Paris (immerhin Vanzo) gab es Wiederbegegnungen in der Salle Garnier 1963 (Chauvet, Sarrocca) und in dichter Folge Aufführungen von 1964 bis 1975, wobei die Versionen kaum zu klären sind und defintitiv nicht die originale 5-Aktfassung gegeben wurde. Geerd Heinsen 2014

.

.

trembleyKleiner Bildungs-Zusatz zum Don Carlos aus London 1968 – unser Foto zeigt die Elisabeth/Edith Thremblay, eine bemerkenswerte Stimme, die mit gleicher Jugendlichkeit und Frische auch in Leoncavallos Bohème mit AlainVanzo (bei Plein vent) gesungen hat und die in Belgien eine kurze Karriere machte. lhre Spur verliert sich im heimischen Kanada. Sie wurde am 11. April 1947 in Quebec geboren (unter dem Namen Marie Edith Louise Ginette), studierte ebendort, nahm siegreich an zahlreichen Wettbewerben teil, auch in Frankreich. 1972- 74 sang sie in Liège und gab dort das lyrische Repertoire von Mimì bis Giulietta, auch Desdemona, Sie nahm bei der Firma Alpha die Arie aus der Forza und aus der Cavalleria auf. Gelobt wurde sie auch für ihre Butterfly, die sie bei der BBC sang. Sie war die Verdische Elisabeth in Boston bei ihrem US-Debüt 1973. Bei Radio France gab sie auch Menottis „The old maid and the thief“. 1975 hörte man sie noch einmal im Verdi-Requiem in  der Albert-Hall London, und sie sang die  Zweite Priorin in den Carmelites in Tourcoing. 1976 kehrte sie nach Quebec zurück, wo sie gelegentlich in Konzerten des Rundfunkunks zu hören war, so 1985 mit der Nationalhymne anlässlich der Quebec City Hockey Games. (Dank an Rudi van der Bulck für die Foto-Hilfe) G. H.

.

.

(Zum Weiterlesen sei hier die Sondernummer der Pariser Musikzeitschrift Avant-Scene sowie der sehr informative Artikel von Melville Jahn in der Beilage zur LP-Ausgabe bei Voce, der später bei Opera Rara offiziell herausgekommenen BBC-Aufnahme von 1973 zu erwähnen. /G. H.)

.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Beieinander, was zusammen gehört

 

Es ist die Zeit der Boxen. Die Labels ordnen ihre Archive. Das hat den Vorteil, dass endlich beieinander ist, was auch zusammen gehört. Kunden müssen sich aber auch entschließen, in ihren Beständen einzelne Platten oder CDs auszurangieren, die sich nun gesammelt in einer Box wiederfinden. Nicht immer klingt das Neue besser als das Alte. In diesem Falle ist die Neuerscheinung ein großer Gewinn: Sir Adrian Boult: From Bach to Wagner (50999 6 356572 0). EMI gönnt sich elf CDs auf einen Streich. Schon äußerlich lässt der hübsche Kasten keinen Zweifel: Hier ist ein Gentleman am Pult, ein Aristokrat. Wenn auf einen der Sir passt, dann auf diesen.

Das Foto, das auf allen CD-Hüllen wiederkehrt, strahlt große Würde und Gelassenheit aus, aber es ist auch eine leicht skeptische Heiterkeit in diesem Blick, eine Neigung zu Humor und Lebensfreude. Der Hörer ist versucht, davon etwas aus den Interpretationen der einzelnen Stücke herauszuhören. Und er wird fündig. Bei Mozart (Haffner- und Jupiter- Sinfonie), Suppé (Dichter und Bauer-Ouvertüre), Strauß (Radetzky-Marsch) allemal. Sir Adrian ist immer leicht, schwebend, er findet viel Licht in den Partituren. Seine Musik duftet sogar. Es hat etwas Beglückendes, ihm zuzuhören. Die Box ist außerordentlich vielseitig, von Bach bis Wagner wörtlich gemeint. Den Auftakt bilden die Brandenburgischen Konzerte, es gibt viel Beethoven, darunter eine hinreißende „Pastorale“, Schubert (Große C-Dur-Sinfonie), reichlich Brahms (alle vier Sinfonien, die Haydn-Variationen, die beiden Serenaden, Konzert-Ouvertüren sowie die „Alt-Rhapsodie“ mit Janet Baker, die „Italienische Serenade“ von Wolf und viel orchestralen Wagner von der Faust-Ouvertüre bis hin zu Parsifal und oben drauf das delikate Siegfried-Idyll wie es nur selten zu hören ist. Diese Box kann nur wärmstens empfohlen werden. Eine Box für die berühmte einsame Insel!

36 (!) CDs voller Wagner-Musik bei Decca.

36 (!) CDs voller Wagner-Musik bei Decca.

Die Decca feiert ihren einstigen Pultstar Sir Georg Solti, der 2012 hundert Jahre alt geworden wäre. Eine Box fasst die Aufnahmen der Opern von Richard Wagner zusammen (4783707). Was die Ausstattung anbetrifft, bleibt diese Wiederauflage hinter den originalen Ausgaben weit zurück. Die Libretti finden sich auf einer CD-ROM, das beiliegende Heft ist knapp gehalten, wenigstens aber mit einigen schönen Fotos versehen. Wer sich zur Anschaffung entschließt, wird sich einige Doubletten ins Haus holen. Neuigkeiten kann diese Box nämlich nicht bieten – wie denn auch? Solti und Wagner ist ein wichtiges Kapitel in der Geschichte der Schallplatte. Es wird deutlicher in dieser Ballung der einzelnen Titel mit dem legendären Ring des Nibelungen im Zentrum. Gemessen an der Vielzahl der folgenden Studioeinspielungen ist er nie übertroffen worden. Künstlerisch nicht, aufnahmetechnisch auch nicht.

Und Solti selbst vermochte sich nach meiner Überzeugung in keiner anderen Oper noch steigern. Er hatte mit diesem Ring seinen Zenit erreicht.

Hier lodern die Flammen, hier rauscht es auf, hier entsteht dieser Kosmos Wagner – das Bühnenfestspiel, das sich in seinen Dimensionen und in seiner Aussage von allem abheben will, was es bis dahin gab auf der Opernbühne. Dieser Dirigent konnte bei der Besetzung aller Rollen in die Vollen greifen: Birgit Nilsson, Kirsten Flagstad, Regine Crespin, Joan Sutherland, Christa Ludwig, Wolfgang Windgassen, James King, George London Hans Hotter, Gottlob Frick Dietrich Fischer-Dieskau, Gustav Neidlinger. Alle, einschließlich Produzent John Culshaw, sind davon besessen, ein Ausnahmewerk für die Ewigkeit auf Tonträger zu bannen.

Spätere Einspielungen wie der Lohengrin mit Placido Domingo und Jessye Norman haben diesen Pioniergeist verloren. Sie sind zu sehr auf aktuelles Staraufkommen abgestellt. Die Aufnahme ist nicht mehr aus einem Guss, sie zerfällt in ihre Einzelteile. Hingegen schließen Tannhäuser mit René Kollo, Helga Dernesch und Christa Ludwig sowie Parsifal ebenfalls mit Kollo und der Ludwig sowie dem grandiosen Gottlob Frick als Gurnemanz an die große Zeit an. Für Tannhäuser spricht auch der Rückgriff auf die Pariser Fassung, in der sich die Ludwig als Venus hochdramatisch voll entfalten kann. Wunderbar!

Dem Fliegenden Holländer mit Janis Martin und Norman Bailey habe ich neue spannende Eindrücke abgewinnen können, in Teilen auch den Meistersingern.

Tristan und Isolde ,1960 im berühmten Wiener Sofiensaal aufgenommen wie die meisten anderen Werke auch, gehört damit zu den frühen Solti-Aufnahmen. Leider ist der Tristan mit Fritz Uhl nicht optimal besetzt, er kann der Nilsson, die damals auf der Höhe ihres Könnens war, nicht das Wasser reichen. Ernst Kozub, von dessen Talent sich Solti so viel versprochen hatte und den er auch gern als Siegfried gehabt hätte, ist in diesem erwartungsvollen Sinne als eindrucksvoller Melot zu hören. Schade, dass aus diesen großen Plänen nichts geworden ist. Eine Frage bleibt nach der erneuten und willkommenen Beschäftigung mit Georg Solti: Warum ist es nicht zu einer Einspielung des kompletten Rienzi gekommen? Dieser Dirigent wäre der Richtige dafür gewesen. Er hatte diesen starken Sinn für Größe in der Musik, für den dramatischen Effekt. Ein Jammer, dass es nicht dazu kam.

Rüdiger Winter