Archiv für den Monat: August 2018

Schwanengesänge und Kriegserlebnisse

 

Bei der von George Butterworth vertonten sechs Gedichten, die A.E. Housman in seiner 1896 herausgegebenen Sammlung A Shropshire Lad veröffentlichte, rückt Ian Bostridge ganz nahe an uns heran als wolle er uns die von Wehmut und Todesnähe gezeichneten Bilder aus dem englischen Landleben ins Ohr flüstern („Und jetzt, da ich siebzig bin, werde ich nie wieder zwanzig sein“/“Now, of my threescore years and ten, twenty will not come again“). Diese zarten, feinsinnigen Lieder aus den Jahren 1911 und 1912 eröffnen sein Programm Requiem. The Pity of War, mit dem er an das Ende des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren erinnert. Mit ernsten Gesichtern und heruntergezogenen Mundwinkeln stehen Bostridge und Antonio Pappano wie zwei zu Statuen Erstarrte vor einer grauen Betonwand (Warner Classics 0190295661564).

Eine Aufführung von Brittens War Requiem und die in Wilfred Owens darin verarbeiten Schützengraben-Erfahrung regte Ian Bostridge zu diesem Programm über den Ersten Weltkrieg an. „Ich dachte an einige Kunstlieder, die ich bereits gesungen habe, und daran, in welcher Weise sie sich direkt oder indirekt auf den Ersten Weltkrieg beziehen“ schreibt der Tenor in seiner Einleitung, die im üppig gestalteten Büchlein ebenso wie sämtliche Liedtexte (englisch, deutsch, französisch) in eine reiche Fotosammlung eingebettet ist. Butterworth starb 1916 in der Schlacht an der Somme. Im Jahr zuvor war Rudi Stephan an der Front in Galizien gefallen. Seine 1913/14 entstandenen sechs Lieder Ich will dir singen ein Hohelied auf Gedichte der Dresdner Offizierstochter Gertrud von Schlieben, die unter dem Pseudonym Gerda von Robertus veröffentlichte, sind erotische, sinnliche Miniaturen, denen es bei Bostridge an sprachlicher Distinktion fehlt. Scharf akzentuiert singt er dagegen Kurt Weills Four Walt Whitman Songs, die sich auf den Amerikanischen Bürgerkrieg beziehen. In „O Captain, my Captain“ steigert Bostridge Weills Songstil zu einer aufrüttelnden, wie mit zwei Stimmen vorgetragenen Anklage („Exult O shores, and ring O bells“), in der die Konsonanten wie gehämmert stehen oder schier ausgespuckt werden. Auf vertrautem Terrain wandeln Bostridge und Antonio Pappano, deren musikalische Partnerschaft sich hier feiern kann, bei drei Wunderhorn-Liedern Mahlers, wo sich Inhalt, Ausdruck und vokale Schwelgerei in den langen Phrasen ergänzen.

 

Eine Begegnung hat der inzwischen für seine Tätigkeiten vielfach ausgezeichnete Konzert- und Opernsänger und Gesangsprofessor Christian Immler nie vergessen. Als 14jähriger durfte der junge Christian 1984 Leonard Bernstein im Großen Festspielhaus das Solo aus Mahlers Vierter vorsingen. Ein hübsches Foto aus dem Familienalbum, abgedruckt im Beiheft der 2016 und 2017 im Studio 2 des Bayerischen Rundfunks aufgenommenen Swan Songs (Avi-music 8553402), ist mehr als eine Erinnerung, schlägt es doch irgendwie den Bogen zu letzten der vier Liedgruppen, Bernseins Arias and Barcarolles. „Was bleibt?“ fragt Immler, „und inwiefern sind sich der Komponisten zum Zeitpunkt der Komposition der Dringlichkeit dieser Frage bewusst? Dies scheinen mir die zentralen Themen eines sogenannten Schwanengesangs zu sein.“ Immler gelingt sein Einleitungstext so eloquent und überzeugend, dass es eines zusätzlichen Textes gar nicht mehr bedurft hätte und man stattdessen lieber die Texte – zumindest im Fall der größtenteils von Bernstein stammenden Ehe-Szenen zu den acht Abschnitten der Arias and Barcarolles – gelesen hätte. Die Sechs Heine-Vertonungen aus Schuberts Schwanengesang zeigen Immler als versierten Konzertsänger, der sich mit dunkelschlankem Bariton um Textdeutlichkeit und Ausdruck bemüht und die Lieder mit düster gruftiger Atmosphäre versieht. In Vier ernste Gesänge op. 121 von Johannes Brahms geht es Immler mehr um schöne Linien zu dem von Christoph Berner fast sinfonisch entworfenen Klavierpart. In „Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh“ klingen manche Zeilen in ihrer weichen und eindringlichen Wort-Ton-Behandlung wie von Hermann Prey, mit dem Nachteil einer dann plötzlich ins larmoyant leiernde umschlagenden Haltung. Den drei Barber-Lieder op. 45 von 1972 merkt man Immlers tiefe Vertrautheit an, sie „haben mich schon seit meiner Studienzeit wegen ihrer Vielschichtigkeit, textlichen Finesse und melancholisch-morbiden Schönheit angesprochen“. Die Freude und Lust in der Umsetzung der u.a. von Keller und Heym stammenden Texte ist Immlers Interpretation der einst für Fischer-Dieskau geschriebenen Lieder stets anzumerken. Etwas hölzern agieren Immler und die Mezzosopranistin Anna Stéphany – begleitet von den Pianisten Danny Driver (der auch bei den Barber-Songs am Flügel saß) und Silvia Fraser – in den Arias and Barcarolles, mit deren Titel Bernstein einen Ausspruch von Präsident Eisenhower aufgreift, der ihm offenbar so drollig erschien, dass er sich bei diesem zwei Jahre vor seinem Tod komponierten Szenen für zwei Solostimmen und Klavierduo noch daran erinnerte. Nachdem Bernstein 1960 im Weißen Haus Mozart und Gershwin gespielt hatte, meinte der Präsident, er möge Musik mit einem Thema, nicht all diese Arien und Barcarolen.

Die acht Szenen, die am Beispiel eines Paares Aspekte der Liebe umkreisen, funkeln und sprühen, mischen Modernes und Spätromantisches, Scat-Singing und Volkslied, Klezmer und Blues; es beginnt mit einem innigen „I love you“ und endet mit dem gemeinsamen Summen im fast dreiminütigen „Postlude“. Die Ironie, der Witz, aber auch die sentimentalen Passagen und die walzende Melancholie, die beispielsweise Frederica von Stade und Thomas Hampson in der von Michael Tilson Thomas dirigierten Orchesterversion auf der alten DG-Aufnahme vermitteln, darf man bei Christian Immler und Anna  Stéphany nicht erwarten.

 

Während Weill im amerikanischen Exil am Broadway an seine europäische Karriere anknüpfte, setzte der zwei Jahre ältere Hanns Eisler auf Hollywood. Nicht ohne Erfolg. Capriccio legt jetzt eine Einspielung seltener Filmmusiken Eislers vor (C5289), die ein wenig wirkt, als sei sie für ein Seminar an der Filmhochschule gemacht, da sie auch einen 14-Sekunden Schnipsel enthält. Er stammt aus der Musik zum Fritz Langs Anti-Nazi-Film Hangmen Also Die/ Auch Henker müssen sterben, die Eisler eine Oscar-Nominierung einbrachte und an dessen Drehbuch auch Brecht beteiligt war. Die Titelmusik ist großes Kino, also spätromantisch und leidenschaftlich. Obwohl der Schönberg-Schüler in The 400 Million oder in der alternativen Musik zu John Fords The Grapes of Wrath/Früchte des Zorns zwölftönig gefasste Passagen einbaute, bleibt er vor allem ein wirkungsstarker Pragmatiker, der sich an die Gepflogenheiten der typische Kinomusik hielt und diese durch dissonante Klänge nur sanft ankratzte, wie diese ausgesprochen informative Einspielung des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin unter Johannes Kalitzke beweist, die darüber hinaus noch frühere Zwölftonwerke Eislers bereithält.   Rolf Fath

THEATRAL PASSIONIERT

 

Das legendäre erste deutschsprachige Opernhaus öffnete 1678, die Oper am Gänsemarkt erreichte ihren Höhepunkt zu Beginn des 18. Jahrhunderts und schloss ihre Pforten nach 50 Jahren. Georg Philipp Telemann wurde 1721 Musikdirektor der Stadt Hamburg (ein Posten, den er 46 Jahre lang inne hatte), Kantor des Johanneums und leitete auch die Gänsemarktoper während der letzten 16 Jahre. Zu seinen Aufgaben gehörte das Komponieren von Kirchenmusik, ein großer Teil von Telemanns Werkverzeichnis besteht aus Kantaten sowie Passionen, Oratorien und Psalmvertonungen. 1722 wurde Telemanns erfolgreichste Passion erstmals aufgeführt: Seliges Erwägen des bittern Leidens und Sterbens Jesu Christi hat keinen erzählenden Evangelisten, sondern evoziert Etappen der Leidensgeschichte als Abfolge von neun Andachten, beginnend mit dem Abendmahl, Petrus Vermessenheit, dem betenden, dann verklagten und verspottetem Jesus, Petrus‘ Buße und dem blutenden, gekreuzigten, sterbenden und ins Grab gelegten Erlöser. Telemann kam aus einer Pastorenfamilie, seine anschauliche Passion entspricht der damaligen Gepflogenheit der persönlichen, kontemplativ Begegnung der pietistischen Lutheraner mit Christus, die mit expressiven Mitteln in den anschaulichen Passagen vertont wurden, die auch in Opern der Zeit gut aufgehoben wäre, z.B. Petrus‘ Qual „Foltern, Pech, vermischte Flammen“, die Szene am Ölberg oder auch in den Prophezeiungen. Wer Bachs Passionen im Ohr hat, kann hier auch durch die Opernhaftigkeit mancher Arien einen neuen Zugang finden. Die Partitur ist abwechslungs- und facettenreich und farbig im Klang. Neben Streicher und Generalbaß hört man Flöten, Oboen, Schalmeien, Fagotte und Hörner. Das renommierte und stets hörenswerte Freiburger Barockorchester spielte diese Passion mit 26 Musikern lebendig und spannend, Gottfried von der Goltz leitet die Aufführung an der ersten Geige. Sechs Arien und sechs Rezitative sind für Jesus komponiert, die Bariton Peter Harvey eindrücklich und stimmschön singt. Als Petrus ist Tenor Michael Feyfar zu hören, der seine Rolle musikalisch zerknirscht und gequält, quasi bühnenhaft plastisch interpretiert. Bariton Henk Neven ist als Caiphas nur einmal gefordert, seine einzige Arie ist voller Zorn. Es gibt verschiedene allegorische Figuren (Andacht, Glaube, Zion), die von Sopranistin Anna Lucia Richter und Tenor Colin Balzer engagiert gesungen werden. Es handelt sich um eine Live-Aufnahme des NDR vom Telemann-Festival Hamburg am 1. Dezember 2017, die Klangqualität ist gut, das Orchester kommt schön zur Geltung, sehr vieles gelingt. Der Chor besteht aus vier Sängern, neben Feyfar und Neven singen Hanna Zumsande und Julienne Mbodjè die elf Choräle. Das Quartett erweist sich dabei an manchen Stellen als inhomogen, die Stimmen harmonieren nicht, allerdings kann dies durch die Live-Aufnahmetechnik verursacht sein. Ein Chor hätte hier aufeinander eingeübter und eingespielter wirken können (2 CDs  Aparte, AP175).

Mit Reinhard Keiser verknüpft man die Blütezeit der Gänsemarktoper. Er kam 1697 nach Hamburg und komponierte zahlreiche Opern. Nach auswärtigem Engagement kehrte er 1728 nach Hamburg zurück, wo er Kantor am Hamburgischen Dom wurde. Seine Markus-Passion (eine von vielen) ist in zwei leicht unterschiedlichen Stimmabschriften erhalten, wann Keiser dieses Werk komponierte und aufführte, scheint nicht sicher datierbar. Johann Sebastian Bach soll sie während seiner Leipziger Kantorentätigkeit aufgeführt haben. Im Aufbau gilt Keisers Passionswerk als Vorbild für Bachs große Oratorien, bspw. gibt es Turbachöre und einen Evangelisten als Erzähler. Die vorliegende Einspielung entstand auf historischen Instrumenten im Mai 1993 und wird nun nach 25 Jahren wieder neu aufgelegt. Dirigent Christian Brembeck leitet das Ensemble Parthenia baroque vom Cembalo. In der Summe 10 Musiker, sechs Streicher, zwei Oboisten sowie Orgel und Cembalo, doch die schlichte Besetzung täuscht, Keisers Oratorium wirkt komplex und abwechslungsreich und steht zwischen Telemann und Bach. Bernhard Hirtreiter als Evangelist verleiht den Erzählungen Spannung, als Jesus singt Bassist Hartmut Elbert profund,  Jochen Elbert übernimmt eindrücklich die Rollen des Petrus und des Pilatus, Melinda Paulsen singt den Judas, Hohepriester und Hauptmann mit schönem Timbre, die Sopran-Arien teilen sich Tanja d’Althann und Petra Geitner. Fünf der sechs Solisten übernehmen auch mit drei weiteren Sängern als Parthenia vocal die Chorgesänge als Doppelquartett. Auch diese Passion ist eine wichtige Ergänzung zu den Bach-Werken (Christophorus CHR 7742). Marcus Budwitius

Musikalisch attraktiv

 

Mehr Glück in modernen Zeiten als ihre nur wenig ältere, ebenfalls in Paris uraufgeführte Schwester Lucie hat La Favorite Léonor und das sogar auf italienischen Bühnen, wobei man allerdings bedenken muss, dass die Produktion von Donizettis Oper nicht nur beim diesjährigen Maggio Musicale Fiorentino, sondern auch in Madrid und in Barcelona aufgeführt wurde.

Die konventionelle Inszenierung, in der eigentlich nur der Intrigant Don Gaspar (von Manuel Amati mit scharfem Charaktertenor in die Nähe eines sich windenden Spoletta gebracht) sich um eine prägnante Darstellung bemüht, alle anderen sich eher in einer halbkonzertanten Aufführung zu ergehen scheinen, wird von Ariel Garcia-Valdés verantwortet, das sparsame Bühnenbild von Jean-Pierre Vergier, der auch die Kostüme mit viel Glitzer (selbst die Kutten sind aus Lurex-Material) geschaffen hat. Ein schwarzes Ungetüm ist mal Steilküste, mal Klosterpforte, mal Turm im königlichen Palast, die Damen des Chors oder zumindest ihre hochgetürmten Perücken scheinen allesamt aus Afrika zu stammen, die Herren tragen Teesiebartiges auf den Häuptern. Alles in allem wirkt die Optik recht provinziell.

Sehr viel besser ist es um die musikalische Aufführung bestellt, denn Fabio Luisi entlockt dem Orchester eine breite Palette vom zarten Antippen der Themen bis zum wirkungsmächtigen Aufbauen besonders des Finales vom 3. Akt. Die Sinfonia lässt viel Italianità hören trotz der französischen Version, und als Sängerbegleiter stellt der inzwischen auch ergraute Dirigent seine von ihm bekannten Qualitäten unter Beweis.

Eher wie ein eleganter Weltgeistlicher als ein strenger Glaubenskämpfer wirkt der Balthazar von Ugo Guagliardo, der allerdings eher optisch als vokal Bewunderung erzeugt. Sein Bass ist eher dunkelgrau als schwarz,  in der Tiefe hohl, und ein beeindruckender Fluch ist einfach zu wenig für die Partie. Publikumsliebling ist, wie der Schlussapplaus beweist, der Bariton Mattia Olivieri mit angenehmer Erscheinung, warm und ebenmäßig gefärbter Stimme von schönem Ebenmaß. Gegenüber diesen beiden attraktiven Herren wirkt Celso Albelo als Fernand noch rundlicher, ländlicher und unbedarfter als bereits für sich genommen, aber er entschädigt mit einer stilsicher geführten, hellen, in Mittellage wie strahlender Höhe gleich präsenter Tenorstimme, die das berühmte „Ange si pur“ nicht weinerlich, sondern wunderschön melancholisch singt.

Einen frischen, jungen Sopran steuert Francesca Longari, die den „doux zéphyr“ anmutig wehen lässt, als Ines bei. Veronica Simeoni ist eine attraktive Léonor. Der Mezzo ist bereits in den großen Verdi-Partien zu Hause, sie weiß aber hier die Stimme schlank zu halten, bleibt auch in den Höhen reich an Mezzofarben und singt „O mon Fernand!“ mit sanftem Wohllaut. Ihr Ende verklärt sie mit visionärem Klang.

Insgesamt rettet sich die optisch eher ärmlich wirkende Produktion durch die guten Leistungen im akustischen Bereich (Dynamic 57822). Ingrid Wanja

Inge Borkh

 

Die wunderbare, einmalige, spannende, erfrischende, unvergessliche Inge Borkh starb am Sonntag, dem 26. August 2018, in ihrem Stuttgarter Augustinum-Heim im Alter von 97 Jahren, bis zum Schluss äußerst fit, klar im Kopf, forsch im Witz und unendlich menschlich. Wir haben sie gekannt und erlebt und denken an sie voller Bewegung. Thomas Voigt hat sie, wie kaum ein anderer der jüngeren Generation, noch besser gekannt und über die Jahre begleitet, ein Buch mit ihr herausgegeben, das wie das mit Martha Mödl viele Einsichten in die Leben dieser großen Frauen bringt und sich außerordentlich lohnt zu lesen. Aus Anlass des Todes der großen Singdarstellerin Inge Borkh wiederholen wir ein spannendes Gespräch von Thomas Voigt mit ihr von 2016 und danken Thomas ebenso wie der wunderbaren Verstorbenen (im Nachhinein). Danke an beide! G. H.

 

„Endlich habe ich eine Tragödin gesehen. Seit all der Zeit, in der ich jeden Abend ins Theater gehe und all die großen Schauspieler gesehen habe, glaubte ich eine solche Erschütterung nicht mehr empfinden zu können. Sie ist eine Deutsche, sie heißt Inge Borkh und stellt Elektra dar – leuchtende, pathetische, entfesselte Darstellerin, eine alle Maße sprengende, unvergleichliche Erscheinung, im eigenen Drama lebend, Herz und Körper von allen Höllenhunden zerrissen. Überschwang und Höchstmaß sind ihr Normalzustand.“ Mit diesen fast poetischen Worten beginnt eine Hymne im französischen Figaro vom 24. Ma11960.

Inge Borkh: Kabarett-Zeit ca. 1976/ Foto Borkh

Inge Borkh: Kabarett-Zeit ca. 1976/ ATV

Wer Inge Borkh nie auf der Bühne gesehen hat, wird solche Begeisterung auch anhand von Platten und Fotos nachvollziehen können. Sie gilt als Prototyp der „singenden Schauspielerin“, eine modern­expressionistische Heroine, wie geschaffen für die Darstellung extremer Charaktere, darum eine „Charakterdarstellerin“ in des Wortes bester Bedeutung – eben keine ehrgeizig-sportive Sopranistin, die mit aller Gewalt schwere Partien singen wollte und gesangliche Schwächen mit besonders intensivem Spiel kaschieren musste. Vielmehr hatte Inge Borkh die stimmlichen und technischen Voraussetzungen, um sich in Partien wie Salome und Elektra restlos ausleben zu können.

„Ich hab‘ mich nie für etwas geschont – nicht für einen Schlussgesang, nicht für die nächste Vorstellung. Aber natürlich gehört Kontrolle dazu. Man muss das Handwerk so gut beherrschen, dass man es in der Ekstase vergessen kann. Man hat oft gesagt, dass ich eine Vorreiterin auf dem Gebiet des Regietheaters bin. Natürlich bin ich dafür, dass die Darstellung glaubhaft ist, echt ist, gelebt ist. Aber so, wie es jetzt ist, wollte ich es eigentlich nicht haben. Ich finde, Theater muss immer etwas  mit Schönheit, mit Ästhetik, mit Überhöhung zu tun haben. Wir wissen, dass das Leben schwer ist, dass es schreckliche Sachen gibt, und das Theater soll das sicher nicht ignorieren oder beschönigen. Nur: In der Oper ist schon durch die Musik eine höhere Ausdruckssphäre gegeben, und darum sollte man nicht immer den Alltag vorsetzen und Hässlichkeiten zeigen. Ich mag kein mieses Milieu auf der Opernbühne.“ Dennoch geht sie heute,  wann  irgend möglich, ins Theater und ins Kino. Weil sie „furchtbar neugierig ist und hofft, etwas Besonderes zu entdecken.

Inge Borkh: Elektra in Berlin 1955/ Städtische Oper/ Foto Borkh

Inge Borkh: Elektra in Berlin 1955/ Städtische Oper/ Foto ATV

Für viele ist Inge Borkh die Elektra aller Zeiten. Diese Rolle hat sie, wie auch die Salome, an die 300 mal in aller Welt gesungen. Umso erstaunlicher, dass  sie in ihren 33 Bühnenjahren ein weit gespanntes Repertoire beherrschte, dass sie viele Vorstellungen als FidelioLeonore, Lady Macbeth, Tosca und Turandot gab. Sie sang oft und gern Zeitgenössisches (u. a. die Antigonae von Orff, Irische Legende von Egk, Gloriana von Britten und Alcestiade von Luise Talma). Sie war Medea und Mona Lisa in Berlin, Eglantine beim Maggio Musicale in Florenz, Silvana in Respighis Fiamma,  Katarina Ismailova an der Scala, Sieglinde in Bayreuth, Ägyptische Helena in München, Senta in Wien, Färbersfrau in München und London, Jocaste in den USA (mit Bernstein  am Pult).

Inge Borkh: Medea in Berlin 1958 mit Vittorio Gui/ Städtische Oper/ Foto Borkh

Inge Borkh: Medea in Berlin 1958 mit Vittorio Gui/ Städtische Oper/ Foto ATV

Als die Misserfolge ihres Lebens bezeichnet sie Carmen („Ich bin nicht der Typ.“) und Rezia im Oberon. Zahlreiche Angebote für die Marschallin lehnte sie ab („So wie die könnte ich nie handeln!“), ebenso hochdramatische Wagnerrollen.Wieland Wagner wollte mich als Isolde, und ich hatte schon den Probenplan für Ortrud und  Kundry, aber ich bin dann zu der Überzeugung gekommen, dass ich es nicht kann. Ich kam stimmlich von oben, war geschult als Koloratursängerin und hatte eine leichte Höhe, und ich hab‘ immer in der Mittellage sehr schlank gesungen, habe auch Salome und Elektra schlank gesungen. Diese breite Mittellage, die  man für eine Brünnhilde unbedingt braucht, die hat mir gefehlt. Eigentlich war ich keine Hochdramatische. Das hat man aus mir gemacht. Man hat mich vorwiegend vorn Schauspielerischen her, als Typ eingesetzt. Sonst wäre ich sicher einen mehr lyrischen Weg gegangen. Als Anfängerin hat man ja früher alles gesungen – mittags die Försterchristl, abends die Aida. Ich hab‘ in meinen ersten Jahren ‚Figaro‘-Gräfin, Donna Anna, Pamina, Margarethe und den Komponisten gesungen, auch viel Operette, mit großem Genuss. Später hätte ich gern mal neben der Elektra die Rosalinde gesungen, aber das hat sich leider nie ergeben.“

 

Inge Borkh: "Der Konsul" 1951 in Berlin/ Städtische Oper/ Foto Borkh

Inge Borkh: „Der Konsul“ 1951 in Berlin/ Städtische Oper/ Foto ATV

Ingeborg Simon, Tochter einer Wiener Sängerin und eines Schweizer Diplomaten, kam am 26. Mai in Mannheim zur Welt, und zwar im Jahre 1921 – und nicht 1917, wie überall behauptet wird, wohl deshalb, weil Inge Borkh schon 1937 als Schauspiel-Elevin in Linz begann. Doch wie die Künstlerin versichert, war sie damals wirklich erst 16 Jahre. Dass sie Opernsängerin werden sollte, war schon vor ihrer Geburt beschlossene Sache. Die Großmutter war Sängerin, die Mutter war Sängerin, Opernsoubrette in Mannheim („Während der Schwangerschaft hat sie unentwegt gesungen.“), aber die Tochter mochte partout nicht den gleichen Weg gehen. Obwohl sie eine enorme Naturstimme hatte, im Wald die Königin der Nacht trällerte und später auch im Augustiner-Chor sang. Ingeborg wollte tanzen und schauspielern. Nach wenigen Schuljahren in Wien ging sie zum Max-Reinhardt-Seminar, machte nebenbei eine Artistenprüfung beim Ronacher („mit so Wiener G’stanzeln und Tanz“) und studierte die großen Heroinen für’s Vorsprechen.

Inge Borkh mit Ehemann und Bariton Alexander Welitsch 1953/ Foto Borkh

Inge Borkh mit Ehemann und Bariton Alexander Welitsch 1953/ Foto ATV

Zwar begann die Schauspiel-Karriere verheißungsvoll mit jenem Engagement in Linz, doch nach einem weiteren Jahr in Basel war sie schon zu Ende. „Josef Kahlbeck, er war zu der Zeit Regisseur in Basel, ist zu meinem Vater gegangen und hat gesagt: Es ist besser, sie lässt die Schauspielerei sein und geht in eine Kochschule. Das wurde dann auch gemacht. Bis dann frühere Kollegen mich drängten, dass ich meine Stimme ausbilden lassen soll. Und so schickte mich mein Vater zu Vittorio Muratti nach Mailand.“

Anderthalb Jahre später debütierte die 19jährige als Opernsängerin: Agathe in Luzern. Mit 25/26 Jahren sang sie schon Salome und Elektra. Bei ihrer ersten Salome, 1947 in Bern, war Richard Strauss anwesend. „Ich weiß noch, als Jochanaan hinabstieg in die Zisterne, bei diesem aufregenden Zwischenspiel im Orchester, da hab‘ ich mich wund gespielt, derart, dass Strauss zum Regisseur gegangen ist und gesagt hat: Die soll nicht so viel machen, ich hab das doch alles schon komponiert!“  Doch schrieb Strauss am nächsten Tag: „Hörte in Bern eine hervorragende neue Salome: Frl. Inge Borkh.“

Inge Borkh/ Künstlerpostkarte/ Foto Fayer Wien

Inge Borkh/ Künstlerpostkarte/ Foto Fayer Wien/ operanostalgia/be (Ruudi van der Bulck)

Während der Kriegs- und Nachkriegsjahre sang Inge Borkh vorwiegend in der Schweiz. 1951 verkörperte sie in Basel Magda Sorel in der deutschsprachigen Erstaufführung von Menottis Konsul, und wie zwei Aufnahmen des dramatischen Monologs und zahlreiche Fotos zeigen, hat sie diese Rolle nicht gespielt, sondern gelebt. Spätestens nach den Aufführungen des Konsul in Berlin und München war die Singschauspielerin Inge Borkh in aller Munde. Damit begann ihre Weltkarriere: 1953 San Francisco, 1955 Salzburg und Wien, 1958 Metropolitan, 1959 Covent Garden und Scala. Bis zu ihrem Bühnenabschied im Jahr 1973 sang Inge Borkh „überall und fast  zu viel. Ich konnte nicht ’nein‘ sagen, aber das hat mir Gott sei Dank nicht geschadet.“

 

Wer die Künstlerin in der „da capo“-Sendung von August Everding gesehen hat, wird sich vorstellen können, dass sich die diese kerngesunde, energiegeladene Frau nicht so leicht aus der Bahn werfen ließ‘. Als wir vor unserem Interview zügigen Schrittes quer durch den 1. Wiener Bezirk marschierten, wirkte sie auf mich wie eine elegante Sportlerin. Der ungeheure Optimismus, den sie ausstrahlt, kommt sicher auch daher, dass sie seit vielen Jahren ein glückliches Privatleben hat. Ihren Ehemann, den Bariton Alexander Welitsch, lernte sie 1951 in Paris kennen, als die Städtische Oper Berlin mit Salome gastierte. In den folgenden Jahren trat das Ehepaar Borkh/Welitsch häufig zusammen auf; in den USA gaben sie sog. „Joint­ Performances“, darunter auch Liederabende; auf der Bühne begegneten sie sich als Salome und Jochanaan, als Elektra und Orest, als Tosca und Scarpia, Aida und Amonasro, für eine Produktion in San Francisco auch als Elsa und Telramund.

Inge Borkh: Elektra in Wien 1957/ Foto Fayer/ Borkh

Inge Borkh: Elektra in Wien 1957/ Foto Fayer/ ATV

Diverse Rundfunk-Aufnahmen des Ehepaars sind auf einen LP-Doppelalbum der Melodram erschienen (mit wunderbaren Fotos); ein weiteres Album enthält die gesamte Partie der Sieglinde (Bayreuth 1952, Varnay/Vinay/Keilberth) und Sentas Ballade. Im Gegensatz zu einigen Sängern, die jene angeblich „halblegalen“ Veröffentlichungen missbilligen, weiß Inge Borkh die Initiative der Live-­Firmen sehr zu schätzen. „Natürlich darf man bei Mitschnitten keine Perfektion erwarten. Wenn man mit vollem Einsatz singt, ist es ganz klar, dass am Abend manches danebengeht. Überhaupt hat das schöne, makellose Singen bei mir nie im Vordergrund gestanden – und ich wünschte, das würde heute wieder so sein. Denn ich glaube, je mehr Wert auf Perfektion gelegt wird, desto weniger bleibt von der Wahrhaftigkeit des Ausdrucks.“

Diese Wahrhaftigkeit hört man in jedem Takt der hochexpressiven Elektra-Aufführungen unter Mitropoulos (Salzburg 1957 und Carnegie Hall 1958). Auf ganz andere Weise spannend ist die Böhm-Aufnahme der DG, eine auch heute noch sehr moderne, nahezu kammermusikalisch  durchsichtige  Wiedergabe, fast getreu der launigen Bemerkung von Strauss, dass Elektra „wie Elfenmusik“ klingen solle. In Sammlerkreisen kursieren noch weitere Mitschnitte: Met 1961 mit Madeira, Rysanek, Uhde/Rosenstock und Rom 1965 mit Mödl, Ericsdotter, Symonette/Dorati. In keiner Aufnahme hat Elektra dasselbe Gesicht, und doch ist Inge Borkh jedesmal die Inkarnation der Figur. Ihre Aufnahme mit Fritz Reiner, Szenen einer konzertanten Elektra in Chicago und Salomes Schlussgesang, hat die amerikanische RCA auch auf CD umgeschnitten – eine berauschende Sinfonie mit Gesangsstimmen, klanglich für damalige Zeiten ungeheuer opulent und auch heute noch ein Härtetest für Lautsprecherboxen.

Inge Borkh und Giulietta Simionato bei der San Francisco Gala für Kurt Adler/ Foto Borkh

Inge Borkh und Giulietta Simionato bei der San Francisco Gala für Kurt Adler/ Foto ATV

Erfreulicherweise wurde Inge Borkh von der Decca auch im italienischen Fach dokumentiert, nicht nur mit einem Recital (Macbeth, Ballo, Forza, Andrea Chénier, Adriana), sondern auch in einer Gesamtaufnahme von Turandot mit Tebaldi und del Monaco. „Eigentlich hat diese Rolle, dieses Laut-und-hoch-Singen meine Stimme überfordert“, sagt sie. Wenn bloß die vielen überforderten Turandots der letzten 20 Jahre so geklungen hätten, kann man da nur erwidern.

Außer dem Mitschnitt der Frau ohne Schatten (Eröffnungsvorstellung des Nationaltheaters München 1963) gibt es noch einige Aufnahmen mit Inge Borkh bei der Deutschen Grammophon, darunter die Gurre-Lieder, Orffs Antigonae und Querschnitte von Ein Maskenball und Tiefland. Zu den Raritäten der Borkh-­Diskographie gehören der Salzburger Mitschnitt von Glucks Iphigenie in Aulis (mit Ludwig, Berry/Böhm; Melodram u. a.) und die 9. Sinfonie im Beethoven-Zyklus unter Rene Leibowitz, längst eine Kult-Aufnahme (bei verschiedenen Firmen, eigentlich eine Sonderausgabe für Reader´s Digest).

Borkh Cover Orfeo CDUnd dann ist da noch ihre letzte Platte: „Inge Borkh singt ihre Memoiren“, ein Dokument ihres vielbeachteten Comebacks als Schauspielerin und Chansonette. „Nie ist über mich so viel geschrieben worden wie zu der Zeit, als ich Chansons gesungen habe. Es gab zwei Parteien. Die einen  sagten: Jetzt versucht  sie durch  die Hintertür wieder auf die Bühne zu kommen. Die anderen fanden’s  großartig.“ Angefangen hatte es mit einem  Brecht-Abend. Boy Gobert hörte sie, engagierte sie nach dem Tod der Flickenschildt für die Rolle der Volumnia im Coriolan am Hamburger Thalia-Theater. „Als er nach Berlin ging, wollte er mich mitnehmen, und so stand ich plötzlich vor der Frage, ob ich diese neue Tür öffnen soll. Ich habe das intensiv mit meinem Mann besprochen, und wir haben dann beschlossen, dass ich es nicht tun sollte. Denn letztlich war ich doch Opernsängerin und nicht mehr  Schauspielerin.“

Inge Borkh: Hörbuch/ Inge Borkh: Ein Theaterkind

Inge Borkh: Hörbuch/ Inge Borkh: Ein Theaterkind

Es war kein schmerzlicher Abschied, und die Begeisterung für das Theater ist geblieben; wann irgend möglich, besucht Inge Borkh eine Vorstellung, als Jurorin reist sie heute noch durch die Welt.„Es ist herrlich, dass ich so früh habe aufhören können, dass  ich ein zweites Leben leben darf. Ich bin gern unter Menschen, höre mir an, wie sie mit ihrem Leben fertig werden. Ich habe mich viel mit Religionsphilosophie befasst, vor allem mit Teilhard de Chardin. Heute lese ich am liebsten Biographien.“

Und schreibt Inge Borkh irgendwann ihre Memoiren? „Ich weiß nicht. Ich habe mal auf Band gesprochen, was mir wesentlich erscheint. Aber das aufzuschreiben, eine Fleißaufgabe, und dazu bin ich noch zu unruhig.“

 

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Borkh Interview BuchMehr als 25 Jahre sind seit diesem Interview vergangen. Inzwischen hat Inge Borkh ihre Memoiren geschrieben (Ich komm vom Theater nicht los), außerdem haben wir diverse gemeinsame Projekte auf den Weg gebracht: ein Interview-Buch (Nicht nur Salome und Elektra), ein Hör-Buch (Theaterkind) und eine Portrait-CD, die u. a. ihre allererste Aufnahme enthält, den Willi-Forst-Song Man hat’s nicht leicht. Inge war 14, als sie diesen Titel in am 15. Mai 1936 Wien aufnahm, eine private Schallplatte, als Geburtstagsgeschenk für ihren Vater. Außerdem enthält die CD ihre einzigen Operetten-Aufnahmen: „Wär es auch nichts als ein Augenblick“ aus Lehárs Eva und Ich schenk mein Herz aus Millöckers Dubarry. Die Platten entstanden 1938 in Zürich und kamen auf Initative des Dirigenten Alexander Krannhals zustande. „Er war ein richtiger Charmeur, den man kaum widerstehen konnte. Er war häufig bei uns im Hause zu Gast und hat meinem Vater vorgeschwärmt, wie gut ich singe. Und wahrscheinlich haben die beiden eines Abends beschlossen, dass ich etwas aufnehmen soll. Was man auf diesen Platten hört, ist in erster Linie mein Imitationstalent. Ich habe meine Mutter wirklich bis ins letzte Detail kopiert. Diese kleinen Schlenker, diese winzigen Richard-Tauber-Schleifen, die hatte ich natürlich von ihr.“  

 

Inge Borkhs 95. Geburtstag in München mit Yvonne Kalman und Thomas Voigt/ Foto Voigt mit Dank

Inge Borkhs 95. Geburtstag in München mit Yvonne Kálmán und Jonas Kaufmann Foto Voigt mit Dank

Dank der Ordnungsliebe ihrer Mutter verfügt Inge Borkh über ein fast lückenloses Archiv mit Fotos, Zeitungs-Ausschnitten und Briefen – was die Arbeit an unserem gemeinsamen Buch ebenso lustvoll wie zeitaufwändig machte. Stunden und Tage verbrachten wir mit Sichten, Sortieren und Auswählen. Seither sind wir befreundet, und wann immer es zeitlich geht, treffen wir uns zu Opern-Aufführungen – zuletzt am 26. Mai in München. Dort feierte Inge ihren 95. Geburtstag mit einer Meistersinger-Aufführung im Nationaltheater. Jonas Kaufmann und Kirill Petrenko, diese Kombination wollte sie sich nicht entgehen lassen, und sie genoss den Abend in vollen Zügen. Thomas Voigt © 2016 

 

Mit großem Dank an Thomas Voigt, der seinen Text von 1990 noch einmal überarbeitete und mit einem aktuellen Nachtrag versehen hat. Wir danken auch für die hier gezeigten Fotos von Inge Borkh, die er uns aus seinem Archiv (soweit nicht anders angegeben) zur Verfügung stellte.Das Foto oben zeigt Inge Borkh 1958 auf dem Publicity-Foto der Metropolitan Opera New York in Salome-Geste/ Louis Melancon/ Met Opera mit Dank. G. H.

Salieris Oper „Les Horaces“

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Nach dem überwältigenden Erfolg von Salieris faszinierender Oper Les Danaides unter Christophe Rousset in Versailles und andernorts 2015 und der ebenso aufregenden CD bei Ediciones Singolares sah man am 15. Oktober 2016 dem Konzert von Antonio Salieries Oper Les Horaces im prunkvollen Theater von Versailles (und danach im Theater an der Wien) mit Spannung entgegen und hat sie nun bei Aparté auf CD in einer wirklich schönen, leider nur zweisprachigen Ausstattung (wieder fehlt der deutsche Text, obwohl die drei deutschsrachigen Länder ja den größten Markt bieten); zudem mit dem französisch-englischen Libretto (2 CD APE 185).

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Salieri: „Les Horaces“ bei Aparté

Der Stoff von Corneille ist ja mehrfach vertont worden, nicht zuletzt von Cimarosa als Gli Orazi e i Curiazi, und zeichnet sich durch einen etwas unübersichtlichen Plot aus – die falschen Liebhaber in der falschen Familie, möchte man zusammenfassen. Rom und seine Gründungszeit. Römer und Albaner (die originalen aus den umliegenden Bergen bei Alba Longa lange nach Eneas´Ankunft). All dies nun von Salieri. Bemerkenswert ist die Abwesenheit des Palazetto Bru Zane Logos, das sich sonst auf den meisten Veröffentlichungen dieses Umkreises findet…In diesem Fall fand die konzertante Aufführung und Einspielung vom 15. Oktober 2016  und die nachfolgende Einspielung im Saal der kleinen Opera von Versailles unter der schirmenden Hand von  Benoit Dratwicki statt, der Chef des Centre de musique baroque de VersaillesMusikwissenschaftler von Rang und eminenter Kenner eben dieser prä- und post-revolutionären Zeit. Auf sein Konto gehen auch die Wiederbelebungen der Danaides und mancher anderen Werke aus dieser spannenden Epoche der politischen und nachfolgend musikalischen Umbrüche.

Zu Salieri – Demarais: „Horace tue sa soeur Camille“/ Louvre/ Wikipedia

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Les Horaces ist eine Tragédie lyrique in drei Akten und zwei Intermèdes von Antonio Salieri auf einen Text von Nicolas-François Guillard nach Horace von Pierre Corneille. Die Uraufführung fand am 2. November in Fontainebleau oder am 2. Dezember 1786 im Hoftheater von Versailles statt. Die öffentliche Uraufführung erfolgte am 7. Dezember 1786 in der Pariser Oper. Die Premiere der Oper geriet zum Fiasko, die Aufführung schloss laut Salieris erstem Biographen Ignaz Franz von Mosel „nicht nur ohne Beifall, sondern mit unzweideutigen Zeichen des Missfallens.“ Neben einigen Missgeschicken während der Aufführung müssen vor allem das Sujet und das Textbuch für einen Misserfolg verantwortlich gemacht werden. Salieris Komposition konnte die Unzulänglichkeiten des Librettos trotz vieler gelungener Stellen nicht ausgleichen. Das Werk kreist zu sehr um den Konflikt zwischen Liebe und Staatspflicht, die Personen sind zu eindimensional gezeichnet. Die hohen Erwartungen, die man nach dem überwältigenden Erfolg von Salieris erster französischer Oper Les Danaïdes (1784) in den Komponisten gesetzt hatte, sahen zeitgenössische Kritiker nicht erfüllt. Beaumarchais äußerte sich über das Werk Salieri gegenüber: „Ein wirklich schönes Werk, aber ein bisschen zu düster für Paris.“

Der Komponist Antonio Salieri/OBA

Der Bruderkrieg zwischen Horatiern (Römern) und Curatiern (Albanern) zählt zu diesen antiken Geschichten, die fast jeder kennt. Viele kennen auch das Gemälde von David, einige haben das Stück von Corneille gelesen, noch wenigere kennen die Oper von Cimarosa oder die von Mercadante, und niemand, da kann man sicher sein, hat jemals diese Oper von Salieri gehört, weil sie bei ihrer Uraufführung ein Misserfolg war und seitdem nicht mehr aufgeführt wurde. Das Zentrum für barocke Musik in Versailles, das mit viel Prunk sein 30jähriges Bestehen feiert, und die königliche Oper von Versailles seien wieder einmal mit Dank überschüttet, dass sie solche Raritäten aufführen, die mit prächtigen musikalischen Mitteln realisiert wurden. Wobei aber nicht sicher ist, ob das genügt, um ein Werk zu rehabilitieren, dessen vorgetragene Reize eher mager erschienen. Liegt es daran, dass die Emotionen der Danaiden desselben Salieri so überwältigend waren? Oder weil der militärische Auftritt  im Thésée von Gossec zu eindrucksvoll? Oder weil die dramatische Nachdrücklichkeit der Andromaque von Grétry die klassische Tragödie besser zur Geltung bringt? Die Wahrheit ist, dass man in dem Maße mäkeliger wird, als sich die Wiederaufführungen von Werken dieser Periode mehren. Es gibt bereits so viel Wiederaufgeführtes, dass man vergleichen und dann auch werten

Zu Salieri – Davids Gemälde „Les Serment des Horaces“/ Louvre/ Wikipedia

kann.

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Les Horaces langweilen nie wirklich, so martialisch und schwungvoll ist die Musik, extrem spannungsvoll bis in die Zwischenspiele, kriegerischer Bombast, die das Drama wie ein edles Reitpferd vor dem Rennen halten. Guillard war der Librettist großer Erfolge bei Gluck, aber hier bleibt er zu popelig (nur ein Curatier anstatt von dreien, zwei Horatier statt vier, keine Sabina mehr, ein personelles Sparprogramm) und die verbleibenden Personen sind zu eindimensional: der junge Horatier zu beflissen, die Trauer seiner Schwester statt den Tod seines Freundes zu verdammen, der alte Horatier  mehr von seinem Ruhm besessen als von seiner Familie, ein absolut sterotyper Hohepriester und einige kaum definierte  Nebenrollen. Es bleiben nur Curiace, der in einer Arie zwischen Kampf und Liebe schwankt, und Camille, die als einzige wirklich zwischen ihrer Liebe zu Curiace und ihrem Bruder, dem jungen Horatius, zerrissen ist. Salieri gibt ihr sehr schöne Momente, vor allem bei ihrem Eintreten in den Tempel Jupiters, aber ihr wilder Schmerz im letzten Akt lässt Wünsche offen, weil er zu kurz ist.

Man weiß, dass es unangebracht ist, Salieri immer auf Mozart zurückzuführen, aber um die antike Raserei darzustellen, übertrifft Mozarts Elettra mühelos Salieris Camille. Dieses Ende wurde – so die Informationen – extrem zusammengeschustert: Man würde Camille lieber ihrer Freiheit zum Selbstmord berauben, um sie am Schluss während des Schlusstriumphs weinen zu lassen. Der alte Horatier raunt: „Unsere Söhne sind eure Neffen, eure Töchter sind die unsere.“ Man sieht, welches Geschlecht vorgezogen wird. Schade für die Zweideutigkeit des anfänglichen Orakels, das der Heldin vorausgesagt hat, dass sie vor Ende des Tages mit ihrem Geliebten vereint sein werde. „Wenn der Himmel gesprochen hat, ist der Zweifel Gotteslästerung“. In seiner erhellenden Einleitung zur Musik unterstreicht Benoit Dratwicki, dass Salieri nach den Danaiden wusste, was er tatsächlich von einem Orchester und von den französischen Sängern verlangen konnte.

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Zu Salieri – Louis David, (1748-1825) „Le Vieil Horace défendant son fils“/ Louvre/ Wikipedia

Wenn man auch etwas gespalten gegenüber dem Werk sein mag, dessen gewisser Fehlschlag der Uraufführung heute nachvollziebar ist, die Interpreten in Versailles sind wirklich lobenswert. Eugénie Lefebvre gibt  eine hochmütige suivante mit ausgezeichneter Diktion, während Philippe-Nicolas Martinen die für die Handlung gleichermaßen wichtigen wie psychologisch inexistenten Nebenrollen verbindet, ihnen aber eine willkommene Autorität verleiht. Andrew Foster-Williams beeindruckt einmal mehr: als Hoherpriester durch seine Entschlossenheit und die Klarheit seiner Diktion gegenüber dem orchestralen und choralen Tumult, neben dem er kein Problem hat, sich durchzusetzen. Julien Dran ist der junge, mutige Horatius mit erstaunlichen Höhen und schönem Timbre.  Cyrille Dubois als Curatius wird im hohem Register durch die Partitur fast Unmenschliches abverlangt, und sein Curatius – sehr lyrisch gehalten –  bleibt wunderbar gesungen und dargestellt. Was für eine Entdeckung ist doch dieser junge Tenor, der dem Opernfan noch durch seine Rettung der Reine de Chypre jüngst bei den Ediciones Singulares so tapfer in Erinnerung ist. Jean-Sébastien Bou glänzt durch eine gebieterische Darstellung und durch eine bemerkenswerte Sorgfalt in der Aussprache. Im Kreise dieser ausgezeichneten Kollegen kann Judith van Wanroij weitgehend mithalten: Die Stimme ist dunkel, dramatisch und üppig. Sie weiß, was sie singt und macht dies mit bewundernswürdiger Attacke, die Höhen und Tiefen sicher und die Gesangslinie gut geführt. Man  bedauert jedoch, dass man sie nur in den Rezitativen versteht, weil sie dazu neigt, in den Arien die Konsonanten zu vermanschen – und sie wird in der Höhe auch mal recht scharf, was auf eine gewisse Überforderung schließen lässt. Aber man darf nicht vergessen, dass diese unglaublichen Stimmanforderungen bereits die Julia bei Spontini und die Medea bei Cherubini ankündigen, deren letzte Interpreten in Paris wahrscheinlich auch auf jede Textverständlichkeit verzichtet haben (und eine davon sogar vorher Karriere als Tänzerin gemacht hatte).

Zu Salieri – Benoit Dratwicki,der Chef des Centre de musique baroque de Versailles / youtube

Ausgezeichnet zeigt sich der Chœur des Chantres des CMBV in großer Disziplin und von sehr französischer Klarheit. Die Talens lyriques verdienen viel Lob, ebenso die energischen Streicher und die Bläser, die stärker noch als sonst gefordert sind. Christophe Rousset ist stets auf die Präzision dieses komplizierten Mechanismus der Tragödie bedacht, und zum großen Teil ist es ihm zu verdanken, dass diese so theatralische Musik so beeindruckt, die quasi auf jede Melodie verzichtet, um dem Pathos des Themas zu entsprechen. Aber diese Musik bewegt nicht und bleibt kalt – das ist denn doch der entscheidende Eindruck. Stefan Lauter (Foto oben: „Die Liktoren bringen die Leiche des Brutus“/ David/ Louvre/ Wikipedia).

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

ARIEN-HITPARADE

 

Wilhelm Heinse beklagte in seinem 1795 erschienen Roman „Hildegard von Hohenthal“: »Wahrer Jammer und Verlust, daß die größten Neapolitanischen Tonkünstler so frühzeitig starben, Pergolesi, Vinci, Leo, Majo!«. Seit der 2012 erschienenen Einspielung von Artaserse (Virgin Classics) mit fünf Countertenören und ohne Sängerinnen ist Leonardo Vinci (1690-1730) wieder zurück im Bewusstsein der (Barock-)Opernfreunde. Vinci gilt als der erste Meister der neapolitanischen Schule, zu Lebzeiten und posthum erfuhren seine Opern im 18. Jahrhundert Anerkennung und Aufführungen. Laut André Grétry hatte Vinci erkannt, »daß Töne die Regungen eines Herzens malen können, das seine verschiedenen Bewegungen mit denen eines vom Sturm gepeitschten Schiffes identifiziert«. Vinci malte musikalisch heroische Bilder durch auf Schönheit achtende Deklamation und einem orchestralen Kolorit, der diesem Stil das Beiwort „galant“ verdiente. Didone abbandonata beruht auf Pietro Metastasios beliebtem (und über 60 mal vertontem) Libretto, das zum ersten mal 1724 von Domenico Sarro vertont wurde, Leonardo Vincis Version wurde im Januar 1726 in Rom uraufgeführt. Händel arrangierte Vincis Oper 1737 als Pasticcio für Aufführungen in London. Die Spielzeit 1736/37 mit den Opern Arminio, Giustino und Berenice gilt als sehr schwierig für Händel, im April 1737 hatte er einen Schlaganfall und konnte die Aufführungen der Didone nicht selber dirigieren. Nach vier Vorstellungen verschwand die Bearbeitung für über 275 Jahre im Archiv. Händel transponierte, kürzte und strich Arien und Rezitativ (davon sind in der vorliegenden Aufnahme noch ca. 40 Minuten erhalten), veränderte die Reihenfolge der Gesangsnummern und ergänzte mit Arien von anderen Komponisten (u.a. von Vivaldi und Hasse), um die Oper wirkungsvoller und dramatisch zugespitzter zu gestalten. Händel behielt den ungewöhnlichen, spannenden Schluss bei, es gibt bei Vinci kein lieto fine, das tragische Ende wird in drei Accompagnato-Rezitativen Didos ausgedrückt, die sich ohne Enea in auswegloser Situation aufgibt.

 

Didone abbandonata: The Death of Dido/Jushua Reynolds (1668-1723)/ Wiki

Die Heidelberger Oper führte Händels Überarbeitung, neu editiert durch Gerd Amelung, in der Saison 2015/2016 im Rahmen des „Winter in Schwetzingen“ im dortigen Rokokotheater auf. Musikalisch einstudiert wurde die Oper von Dirigent Wolfgang Katschner, der das Heidelberger Orchester leitete. Später folgten weitere Aufführungen, die Katschner mit seiner Lautten Compagney bspw. anlässlich der Händelfestspiele Halle 2016 musizierte. Die nun vorliegende Einspielung geschah nicht live, sondern erfolgte als Studioaufnahme im November 2016. Die Akustik gelang sehr gut und hat einen frischen, lebendigen Charakter, die 20 Musiker der Lautten Compagney, die neben Streichern und Continuo lediglich je zwei Oboen und zwei Hörner umfasst, spielen mit federnd ausgeglichenem Klang auf der Höhe der Zeit, das Zuhören bereitet stets Freude. Vinci verwendete für seine Didone abbandonata teilweise Musik aus seinen anderen Werken (Ifigenia in Tauride, Astianatte, Siroe) – eine ökonomische Wiederverwertung war üblich, der Affekt es Textes spielte eine untergeordnete Rolle, es ging vielmehr um eingängliche, ungetrübte Musik mit klarer Harmonik, die Fähigkeiten der Sänger stehen im Mittelpunkt. Vincis Didone abbandonata klingt dann auch wie eine Hitparade 25 bemerkenswert schöner und virtuoser Bravourarien – Karthago geht für den heutigen Zuhörer gut gelaunt unter. Es gibt weder Duette noch Ensembles oder Chor, Dido, Enea und Jarba haben jeweils sechs Arien, Selene hat drei, Araspe und Osmida jeweils eine. Die Sänger sollen bei Vinci im besten Licht erscheinen und das gelingt auch dieser schönen Einspielung, bei der alle Sänger eine homogen überzeugende Leistung zeigen. Die amerikanische Sopranistin Robin Johannsen kennt das Berliner Opernpublikum aus den Barockproduktionen mit René Jacobs, ihre Stimme klingt elegant und verführerisch, ein beeindruckend schönes Timbre und präzise Koloraturen. Als Didone beginnt sie mit der keinen Widerspruch duldenden, heroischen Zurückweisung Jarbas in „Son regina e son amante“ – eine Arie, die 1726 vom Publikum begeistert bejubelt wurde, „Ritorna a lusingarmi“ hat Händel aus Vivaldis Griselda übernommen und fügt sich harmonisch ein. Als Enea singt die niederländische Mezzosopranistin Olivia Vermeulen ebenfalls eine heroische Abweisung Jarbas, „Quando soprai“ zeigt ihre Qualitäten, Eneas grandioser Abschied „A trionfar mi chiama“ ist aus Hasses Euristeo. Vermeulen nutzt die Chance, mit flexibler Stimme und leicht wirkender Virtuosität ergänzt sie ideal als trojanischer Held mit Sendungsbewußtsein. In Rom sangen 1726 keine Frauen, sondern Kastraten, die vorliegende Einspielung hat einen Countertenor engagiert. Der Florentiner Antonio Giovanini hat das Timbre und die Diktion, um den drohenden Bösewicht Jarba einen zwielichtigen Charakter zu geben, stimmlich wirkt er teilweise etwas verhalten, „Trà lo splendor del trono“ kann man expressiver gestalten, doch schon bei „Son quel fiume“ legt er nach. Händel gestaltete das Ende neu und fügte im dritten Akt zwei „Arie agitate“ hinzu, Dido erhält eine Arie, die ursprünglich Araspe gehörte. Die letzte Arie der Oper gehört Jarbas, „Cadrà fra poco in cenere“ aus Hasses „Cajo Fabbriccio“ besiegelt Didos Schicksal und zeigt Giovaninis Fähigkeiten. Die kleineren Rollen sind rollendeckend sehr gut besetzt. Julia Böhme gibt Selene eine ausdrucksstarke Statur, „Ch’io resti“ gelingt ihr mit beeindruckender Mischung aus Bangen und Sehnen. Die Mezzosopranistin Polina Artsis (Osmida) und der Tenor Namwon Huh (Araspe) gehörten bereits zum Team der Heidelberger Aufführung und überzeugen mit souveräner Interpretation und schönen Stimmen. Wenn man etwas an dieser bravourösen Einspielung kritisieren wollte, dann dass das Beiheft zu wenig Informationen zu Gerd Amelungs Neuedition von Händels Dirigierpartitur und dessen Bearbeitung enthält. Was Vinci und was Händel entschied, ist nicht ohne weiteres erkennbar (2 CDs, deutsche harmonia mundi, dhm 88985415082). Marcus Budwitius

Wer vieles bringt…

 

Ein gutes Gespür für die Vereinbarkeit seiner Stimme mit einem bestimmten Charakter- bzw. Rollenspektrum beweist Kevin Short mit der Wahl des Méphistophélès – and other bad guys für seine Recital-CD. Machtvolles Material und boshafte Schwärze zeichnen seinen Bass aus, anstelle des eleganten Gounod-Teufels hätte er allerdings besser den schwergewichtigeren Boito-Satan an den Anfang stellen sollen, um erst einmal einen guten ersten Eindruck zu vermitteln. So stolpert der Hörer  erst einmal über ein kaum verständliches Französisch, über wenig Geschmeidigkeit, und auch die zusätzliche grässliche Lache am Schluss der Serenade kann am ersten gemischten Gesamteindruck nichts ändern.

Anders sieht es dann bei Boito aus, auch wegen des vergleichsweise besseren Italienischen, die deutlichere Identifizierung des derberen Charakters der Figur, die allerdings auch manchen Legatowunsch offen lässt. Das Flohlied, von Beethoven vertont und in der Orchestrierung von Schostakowitsch, verrät den nicht in seiner Muttersprache Singenden, klingt stellenweise zu abgehackt und ist so gesungen vor einem deutschen Publikum schlecht denkbar. Beethovens Pizarro kann von der kraftvollen,  nicht ermüdbaren Polterstimme trotz der Baritonlage der Partie profitieren, Mozarts Osmin von der satten Tiefe und einer beachtlichen Agogik. Hier erfreut trotz eines leichten Akzents auch die Textverständlichkeit bis hinab in die tiefsten Tiefen. Für Webers Kaspar gibt es ein wahrhaft teuflisches „Schweig“ und so sichere Koloraturen, dass man bei einer so schweren Stimme angenehm überrascht ist.

Zu den besten Tracks gehören die Ausschnitte aus Offenbachs Hoffmann, in denen auch das Französisch annehmbar ist.

Ganz und gar kein Verdi-Sänger offenbart sich Scott in der Arie des Pagano aus den Lombardi. Legato und Phrasierung entsprechen nicht den Anforderungen an einen Verdi-Bass, lediglich in der Cabaletta hört man Anklänge an einen solchen.

Zu wenig einschmeichelnd und geschmeidig gibt sich die Stimme für Berlioz`Mephisto, in der Serenade ausgesprochen ungefüge klingend. Nur Gutes hingegen kann man über die Interpretation von Mussorgskis Lied in Auerbachs Keller sagen.

Auch Englisches ist knapp mit Nick Shadows Arie zu hören und zu genießen. Für Alberich hat der Bass zu wenig Zwielichtiges, die Partie allerdings auch nicht  die optimale Tessitura. In den Vordergrund drängt sich eher das Bemühen um eine korrekte Aussprache als das Gelingen einer tiefgründigen Interpretation.

Lawrence Foster begleitet durchweg sensibel mit dem Orchestre Philharmonique de Marseille.

Insgesamt bewundert man das beeindruckende Material, wäre aber glücklicher, wenn im Vordergrund weniger das Streben  nach Vielseitigkeit als das Sichkonzentrieren auf die besonderen Fähigkeiten des Sängers und damit auf ein begrenzteres Repertoire gestanden hätte (Pentatone PTC 5186 585). Ingrid Wanja

Valentina Levko

 

Mit Bedauern hörten wir vom Tode der großen russischen Mezzosopranistin Valentina Levko, die am 18. August 2018 im Alter von 92 Jahren verstarb.  Der unersetzliche Kutsch-Riemens schreibt zu ihrer Biographie: Levko, Valentina (Nikolajewna), Mezzosopran, * 13.8.1926 Moskau; sie wurde an der Gnesin-Musikhochschule in Moskau ausgebildet und war auch Schülerin des Moskauer Konservatoriums. Ursprünglich studierte sie Violin- und Violaspiel, ließ dann aber ihre Stimmr ausbilden. Sie erregte das Aufsehen der berühmten russischen Altistin Maria Maxakowa, die ihr Unterricht erteilte und sie in ihrer Karriere förderte. 1957 begann sie ihre Bühnenlaufbahn am Akademischen Musiktheater in Moskau, nachdem sie dort einen Gesangwettbewerb gewonnen hatte. 1959 wurde sie an das Bolschoj Theater Moskau berufen und gehörte bald zu den bedeutendsten Künstlern dieses Opernhauses. Zahlreiche Gastspiele brachten ihr in Rußland wie in aller Welt großes Ansehen. So gastierte sie an der Mailänder Scala, an Opernbühnen in Deutschland, Frankreich und in Nordamerika. 1968 und 1970 unternahm sie ausgedehnte Konzerttourneen in Westdeutschland, bei denen sie vor allem das russische Volks- und Kunstlied zum Vortrag brachte. Auf der Bühne bewältigte sie neben den großen Altpartien aus dem russischen Opernrepertoire zahlreiche Rollen aus der gesamten Opernliteratur. Sie galt als hervorragende Darstellerin; sie wurde zur verdienten Künstlerin der UdSSR ernannt. Viele Schallplattenaufnahmen der staatlichen sowjetrussischen Produktion (Melodiya), darunter zwei vollständige Aufnahmen von »Pique Dame« von Tschaikowsky (als alte Gräfin, eine von 1966, die zweite von 1974), einiges davon auf Eurodisc (»Pique Dame«, als Gräfin in eben dieser Oper ist sie oben abgebildet/ centerlevko.ru) und auf Philips übertragen.  [Lexikon: Levko, Valentina. Großes Sängerlexikon, S. 14275  (vgl. Sängerlex. Bd. 3, S. 2058) (c) Verlag K.G. Saur]

Lindpaintners „Vespro siciliano“

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Noch eine Sizilianische Vesper? Nicht von Verdi? Aber Ja!. Nämlich Il vespro siciliano von 1843! Von dieser großen und bedeutenden Oper  Peter Joseph Lindpaintners – die in Bad Wildbad 2015 in der italienischen Fassung gespielt wurde – konnte man erstmals 2011 zwei beeindruckende Stücke in einem Konzert in Wildbad hören, wo die Oper zu Teilen komponiert wurde. Nun präsentiert Naxos den bei „Rossini in Wildbad“  aufgenommenend und heute fast gänzlich unbekannten Komponisten, der das Stuttgarter Hoftheater auf hohem Niveau leitete, mit einem vom Vormärz befeuerten Revolutionsstoff, lange vor Verdi. Ein Ereignis, dirigiert von Federico Longo! In dieser groß besetzten Oper singen Silvia Dalla Benetta, Ana Victoria Pitts, Danilo Formaggia und Cesar Arrieta, es spielen und singen  die Camerata Bach Choir Poznan und die Virtuosi Brunensis unter Federico Longo, Naxos 4 CD 8660440-43).

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Lindpaintner: „Die sizialinische Vesper“ – Theaterzettel der Uraufführung in Stuttgart 1843/Tosta

Erstmal die Rezension von Matthias Käther: Fast jeder berühmte Opern-Stoff ist mehr als einmal vertont worden, und inzwischen machen sich eine Menge Festivals und Opernhäuser den Spaß, unbekannte Opern mit bekanntem Inhalt aufzuführen. Nun liegt ein Mitschnitt vor von einer „Sizilianischen Vesper“, und zwar nicht von Verdi, sondern von Peter Joseph von Lindpaintner. (…) Lindpaintner war – zumindest in dieser Oper – kein Mann der Reform. Die Oper folgt den gängigen Belcanto-Mustern. Anders als in der kürzlich erschienenen „Catharina Cornaro“ seines Landsmannes Franz Lachner blitzt kaum so etwas wie ein Personalstil auf.

Nun muss das bei einer gut gebauten – und dieses Werk ist bis ins kleinste Detail gut gebaut! – Oper nicht immer ausschlaggebend für den Erfolg sein. Man kann, wie wir von zahlreichen zweitklassigen Opernpräsentationen auf diversen Festivals wissen, auch an solchen Spektakeln durchaus seinen Spaß haben. Doch hier ist diesmal viel falsch gemacht worden.  Dabei hatte man mit Volker Tostas kritischer Edition eine Steilvorlage für einen großen Abend beim Rossini-Festival in Bad Wildbad, das in den letzten Jahren immer wieder mit originellen bis genialen Ausgrabungen für Furore sorgte.

Doch diesmal war es ein Rohrkrepierer. Zunächst wurde mit der Übersetzung ins Italienische dieser deutschen Oper noch der letzte Anschein einer nationalen Anmutung geraubt, die Akustik der Trinkhalle wurde dem monströsen Werk nicht gerecht, und der Camerata Bach Choir klang eindeutig zu dünn. Auch die Sänger bleiben hinter den Anforderungen zurück. Sicher ist Danilo Formaggia ein akzeptabler Tenor – in kleinen Werken. In Buffe wäre er entzückend. Hier geht er als Fondi schon im Auftrittslied unter. Eine Spur souveräner und nobler, aber eigentlich auch zu klein besetzt: Mtija Meic als Carlo d’Anjou. Einzig Silvia Dalla Benetta als Eleonora und Ana Victoria Pitts als Page Albino waren dem gigantischen Werk stimmlich gewachsen. Für mich ein Flop – und doch muß man den Mut Wildbads bewundern, sich immer wieder solcher Werke anzunehmen. Vielleicht klappt es beim nächsten wieder besser. Matthias Käther

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 Zum Komponisten und Werk: Der 14. Februar 1844 ist ein großer Tag im Leben des 1791 in Koblenz geborenen, königlich württembergischen Kapellmeisters Peter Joseph Lindpaintner. Genau 25 Jahre nach seinem Dienstantritt im Jahr 1819 wird Lindpaintner mit dem „Ritterkreuz der Württembergischen Krone“ ausgezeichnet, mit dessen Verleihung die Erhebung in den persönlichen Adelsstand verbunden ist. Damit würdigt König Wilhelm I. die Verdienste Lindpaintners um die Stuttgarter Hofoper, die dieser wieder auf das künstlerische Niveau der legendären Zeit Jomellis (1753-1769) an der Hofbühne des Herzogs Karl von Württemberg geführt hat.

Der Komponist Peter Joseph Lindpaintner/Wiki

Der Komponist Peter Joseph Lindpaintner/Wiki

Insbesondere das Orchester entwickelt er zu einem der besten Klangkörper Deutschlands. Felix Mendelssohn schreibt: „Der Lindpaintner ist glaub‘ ich jetzt der beste Orchesterdirigent in Deutschland, es ist als wenn er mit seinem Taktstöckchen die ganze Musik spielte“, und er lobt weiterhin das „vortreffliche Orchester, das so vollkommen schön und genau zusammengeht, wie man es nur erdenken kann.“ Lindpaintner kam als erst 28-jähriger Mann aus München nach Stuttgart, und mit seinem Amtsantritt setzte das Aufblühen der Oper nach einer langen Zeit des Niedergangs ein. Er verdankt dies in erster Linie der strengen Disziplin, die er bei Orchester und Sängern einführt. Aber er sieht sich nicht in erster Linie als Dirigent und Organisator, als den man ihn nach vielen Jahren häufig wechselnder Direktionen angeworben hat, sondern als Komponist, und seine Zeitgenossen sehen das auch so. Der Stuttgarter Hofkapellmeister wird von maßgeblichen zeitgenössischen Musikern (Spohr, Schumann) und Theoretikern (Marx) in der Hochzeit seines Wirkens als Hoffnungsträger unter den deutschen Opernkomponisten geachtet; Mendelssohn müht sich sogar persönlich um eine Aufführung seiner Musik in den Gewandhauskonzerten, und in den populären Gattungen Instrumentalkonzert und Ouvertüre gilt er unbestritten als Koryphäe.

Lindpaintner: Herzog Carl Eugen von Württemberg (1737–1793)

Lindpaintner: Herzog Carl Eugen von Württemberg (1737–1793)

Sein Verhältnis zu Stuttgart bleibt über die Dauer seines 38-jährigen Wirkens jedoch stets ambivalent. Er ist sich bewusst, dass das lutherisch geprägte und in künstlerischer Sicht provinzielle Stuttgart einen schlechten Ausgangspunkt für eine Komponistenkarriere darstellt, vor allem wenn es um die Oper geht. Seinem Freund Bärmann in München gesteht er, dass eine erfolgversprechende Karriere als Opernkomponist eigentlich nur von Berlin, Dresden, München oder Wien ausgehen könne. König Wilhelms nüchterne Sinnesart, seine mäßigen Leidenschaften, seine Abneigung gegen jeglichen Prunk und seine ganz auf das Pragmatische gerichtete Religiosität; all diese Eigenschaften wirken wie ein Spiegel der geistigen Atmosphäre, die das alltägliche Leben in der Residenzstadt prägt. Ein Enthusiasmus für die Kunst ist nicht auszumachen; das Publikum sitzt für gewöhnlich auf seinen Händen. Doch Lindpaintners Amt in Stuttgart ist gut honoriert, und seine Stellung ist viele Jahre lang dank seiner ausgezeichneten Beziehung zum König unangefochten. Tatsächlich hat Lindpaintner mehrfach die Gelegenheit, nach Berlin, Dresden, München oder Wien zu wechseln. Er ist ein umworbener Musikdirektor und unterhält gute Beziehungen zu den in Frage kommenden Intendanzen. Mehrfach steht ein Wechsel kurz vor dem vertraglichen Abschluss, aber stets setzt sich sein Hang zur Bequemlichkeit und Sesshaftigkeit durch. Stuttgart wird für ihn zum goldenen Käfig.

Trotz der hohen Belastungen durch den Dienst am Hoftheater arbeitet er mit Feuereifer an seiner Komponistenkarriere, vor allem auf dem Gebiet der Oper. So kommen bis zum Ende seines Lebens (1856) einundzwanzig Opern verschiedenster Gattungen zustande, ein ganzes Kompendium der zu seinen Lebzeiten im Trend liegenden Opernformen, von der Opera seria (Demophoon 1810, später unter dem Einfluss der Erfolge Rossinis umgearbeitet in Timantes 1819) über die deutsche romantische Oper (Sulmona 1823, Der Bergkönig 1825, Der Vampyr 1828), die deutsche Spieloper (Die Macht des Liedes 1836, Libella 1855), die große historische Oper (Die Genueserin 1838, Die sizilianische Vesper 1843, Giulia oder die Korsen 1853) bis zur repräsentativen Festoper zur Einweihung des umgebauten Hoftheaters (Lichtenstein 1846), die nichts weniger darstellt als den Versuch, auf der Basis eines Romans von Wilhelm Hauff eine württembergische Nationaloper zu schaffen.

Lindpaintner;: „Il vespro sicialino“ (Naxos 4 CD 8660440-43)

Die Vielseitigkeit der Opernproduktionen Lindpaintners ist unter anderem auch Ausdruck für das Dilemma, in dem die deutschen Komponisten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stehen: Welchen Weg zu einem spezifisch deutschen Opernwerk sollen sie einschlagen? Das Publikum, an dessen Vorlieben das Repertoire weitestgehend ausgerichtet ist, bevorzugt hauptsächlich Opern französischen oder italienischen Ursprungs, die zu Dreivierteln die Spielpläne beherrschen. Die Kritik und verbreitete theoretische Schriften verlangen dagegen einen eigenen deutschen Weg, der letztlich immer wieder in Werke mündet, die die sinnlichen Bedürfnisse der Zuhörerschaft ignorieren. Auch Lindpaintner muss, etwa mit seiner Sulmona, die Erfahrung machen, dass allzu großer Anspruch einem Erfolg eher im Wege steht. Er geht danach andere Wege; mit seinen historischen Opern versucht er, im Gefolge Aubers, Rossinis und Meyerbeers „den großen Haufen“ anzusprechen, wie Spohr es eher verächtlich meint. Lindpaintner schreibt: „Ich unternahm es, meine Hand an ein Werk der größeren Gattung zu legen, und wollte es versuchen, des deutschen Volkes Herz und Ohr durch populär-fassliche Melodien zu gewinnen.“ Das Werk, über das er hier schreibt, ist seine Große heroische Oper in 4 Akten Die sizilianische Vesper, die den erfolgreichen Aufstand der Sizilianer gegen die Herrschaft der Franzosen unter Karl von Anjou im Jahr 1282 zum Thema hat.

Lindpaintner: Bühnenbild zur "Sizianischen Vesper" in der Stuttgarter Aufführung/Tosta

Lindpaintner: Bühnenbild zur „Sizianischen Vesper“ in der Stuttgarter Aufführung/Tosta

Das Werk: Tatsächlich liegt der Typus der in Paris zur Blüte gekommenen Großen historischen Oper bei den führenden deutschen Opernkomponisten am Ausgang der 1830er Jahre voll im Trend, und auch Lindpaintner ist damit bestens vertraut, da er alle maßgeblichen Opern dieses Typs schon in Stuttgart auf die Bühne gebracht hat. Die relativ liberale Theaterzensur des Verfassungsstaates Württemberg  ermöglicht es, die Werke entsprechend dem Original unverändert auf die Bühne zu bringen, auch wenn darin die Revolution zum Thema gemacht wird. Insbesondere die Werke Meyerbeers, noch dazu eines Landsmannes, werden in den 1840er Jahren für die führenden deutschen Opernkomponisten zum Vorbild, von dem man sich Impulse für die Schaffung einer modernen deutschen Oper erhofft. Und so schreiben Marschner, Lachner, Lindpaintner und Wagner alle ihre Versionen der Großen historischen Oper. Von diesen dürfte Lindpaintners Oper dem Meyerbeer’schen Modell am entschiedensten gefolgt sein, was in einer grundlegenden, stilkritischen Analyse noch zu belegen wäre. Spezifisch deutsche Elemente sind in diesem Werk in seiner nach dem damaligen Verständnis avancierten Harmonik, der durch Durchführungselemente stark angereicherten Orchestersprache und den immer wieder auftauchenden, volksliednahen Strophenliedern auszumachen, die beim deutschen Publikum sehr beliebt sind. Trotzdem bleibt der Eindruck einer im Gesangsmelos eher französisch-italienisch grundierten Oper bestehen. Neben Meyerbeer muss auch Aubers Muette de Portici als Vorbild genannt werden, mit der die Oper die in Italien angesiedelte Revolutionsthematik gemein hat, was zu ähnlichen musikalischen Formulierungen führt, ohne jedoch Aubers stilistische Anleihen bei der Opéra comique zu übernehmen, wie er überhaupt genau darauf achtet, keine bloßen Kopien seiner Vorbilder abzuliefern. Somit gelangt Lindpaintner trotz einer eklektischen Grundhaltung zu einem durch individuelle Abänderungen der verwendeten Modelle überzeugenden Ergebnis, bei dem er die von der jeweiligen dramatischen Situation erforderlichen modernen Stilmittel seiner Zeit einsetzt.

Lindpaintner: Der Librettist Heribert Rau/Freie Religiöse Gesellschaft Offenbach

Lindpaintner: Der Librettist Heribert Rau/Freie Religiöse Gesellschaft Offenbach

Das Libretto stammt von dem opernunerfahrenen Literaten Heribert Rau und muss trotz einiger Mängel zu den besseren deutschen Operntexten seiner Zeit gerechnet werden. Mit seiner direkten Sprache, die die lyrische Blumigkeit vieler deutscher Libretti vermeidet, stellt es sich den Anforderungen einer bühnenwirksam zu komponierenden Vorlage. Zudem gelingen Rau in den Auftritten Karls fesselnde Charakterportraits eines Machtmenschen, der bei Eleonores Heraufbeschwörung des Geistes des von ihm hingerichteten Konradin von Hohenstaufen sogar Macbeth-hafte Züge zeigt. Lindpaintner erhält Raus Buch Anfang 1842 und beginnt sofort mit Skizzen zur Oper. Die eigentliche Komposition schreibt er im Juli und August 1842 während der Theaterferien in Langenargen am Bodensee, wo er regelmäßig seinen Sommer verbringt. Daheim in Stuttgart instrumentiert er die Oper im Winter 1842/43 und schließt die Partitur am 29. Januar 1843 ab. Die Ouvertüre schreibt er erst wenige Wochen vor der Premiere; sie trägt das Datum vom 24. April 1843. Die Uraufführung findet am 10. Mai 1843 statt. Die Rezension der AMZ von der Premiere belegt den enthusiastischen Erfolg der Oper: „Stuttgart, den 10. Mai. Gestern wurde hier im königl. Hoftheater zum ersten Male Lindpaintners neue Oper: Die sizilianische Vesper gegeben. Wenn nicht zu leugnen ist, dass Lindpaintner früher stets eine ziemlich mächtige Opposition fand und dass das Stuttgarter Publikum im Allgemeinen ein sehr kühles ist, das sich nur selten aus seiner teilnahmslosen Ruhe heraus begibt, so bringt es dem verdienstvollen Autor doppelt Ehre, wenn seine neue Oper mit einem Beifall, mit einer Wärme aufgenommen wurde, die bisher hier unerhört war und sich während der ganzen Aufführung erhielt und steigerte, so zwar, dass, was hier überhaupt noch nicht vorgekommen, der Komponist am Schlusse des Werks stürmisch hervorgerufen ward.“ Allein im Premierenjahr kommt es in Stuttgart zu vier weiteren Aufführungen, einer für die damalige Spielplangestaltung vergleichsweise hohen Zahl. Andere Städte folgen: München, Hamburg, Kassel, Braunschweig, Coburg, Breslau und Dresden. Das Werk wird der größte Erfolg Lindpaintners nach seinem Vampyr (1828). Doch nachdem die Oper die ersten Schritte einer erfolgversprechenden Karriere gemacht hat, wird es aus bisher unerforschten Gründen still um sie.

De gauche à droite : Lindpaintner, Spohr, Molique, Berlioz et Ella, partie d'une intéressante lithographie (où figure également Vieuxtemps) exécutée en 1853 d’après un dessin de Charles Baugniet (1814-1886), intitulée L’Analyse. Souvenir de la Musical Union (Neuvième Saison) et reproduite sur une page du riche site Hector Berlioz/mvnm.org

Im Kreise der Kollegen/De gauche à droite : Lindpaintner, Spohr, Molique, Berlioz et Ella, partie d’une intéressante lithographie (où figure également Vieuxtemps) exécutée en 1853 d’après un dessin de Charles Baugniet (1814-1886), intitulée L’Analyse. Souvenir de la Musical Union (Neuvième Saison) et reproduite sur une page du riche site Hector Berlioz/mvnm.org

Die Zeit des Vormärz läuft auf die Revolution 1848/49 zu; da sind Stücke mit einer Revolutionsthematik bei den Behörden nicht opportun. In Stuttgart kommt es zu insgesamt acht Aufführungen bis zum Jahr 1845, eine gute Zahl für ein neues Werk in dieser Zeit. Danach tritt im Theaterbetrieb aufgrund des Neubaus des Hoftheaters eine Pause ein, und das wiedereröffnete Theater wird 1846 wiederum mit einer neuen Oper Lindpaintners – Lichtenstein – eingeweiht. Darüber gerät Die sizilianische Vesper in Vergessenheit. Die Jahre danach sehen Lindpaintners Karriere mit Beginn der Intendanz von Ferdinand von Gall bereits im Abstieg begriffen. Es kommt zu Differenzen mit dem neuen Intendanten. Seine Kompetenzen werden beschnitten. Ein Absprung aus Stuttgart gelingt dem gebrochenen Lindpaintner nun nicht mehr; sein Pensionierungsgesuch wird abgelehnt. Lediglich sein weiter gutes Verhältnis zum König und seine Autorität als erfahrener Orchesterleiter bewahren ihn vor einem tieferen Abstieg. Lindpaintner stirbt am 21. August 1856 in Nonnenhorn am Bodensee, wo er auch begraben liegt. In Stuttgart kommt es noch zu einer Gedenkfeier, bei der sein Vampyr 1856 zum letzten Mal erklingt. Danach wird hier keine seiner Opern mehr gespielt.

Lindpaintner: Die Sopranistin Haus als Eleonore/Tosta

Lindpaintner: Die Sopranistin Haus als Eleonore/Tosta

Wildbad: Lindpaintners Arbeitseifer bleibt nicht ohne Folgen für seine Gesundheit. Im Oktober 1833 erkrankt er schwer, vermutlich an einem rheumatischen Fieber im Nackenbereich. Noch Jahre später leidet er des Öfteren an einem „Rheumatism im Genike, der so heftig ist, daß er mich manchmal zum Schreyen nötigt.“ Wie später sein berühmter, italienischer Komponistenkollege reist Lindpaintner nach Wildbad, wo er sich Heilung und Entspannung erhofft, so auch kurz nach den aufreibenden Wochen der Vorbereitungen zur Premiere der Sizilianischen Vesper. Belegt ist dies durch handschriftliche Eintragungen Lindpaintners im autographen Klavierauszug, den er im Mai und Juni 1843 in Wildbad fertigstellt und somit der Oper die Gestalt gibt, in der sie im weiteren in Stuttgart und anderswo aufgeführt wird. Aber nicht nur diese lokalgeschichtliche Kuriosität prädestiniert gerade dieses Werk zu einer Aufführung 2015 beim Belcanto-Festival Rossini in Wildbad. Wir können daran erleben, wie viel Belcanto in der deutschen Oper der vorwagnerschen Epoche steckt, die in ihrer Vielfalt im heutigen musikalischen Bewusstsein völlig unbekannt und durch Fidelio und Der Freischütz absolut nicht adäquat in den Spielplänen repräsentiert ist. Lindpaintner ist ein großer Rossinikenner und ist entscheidend an der Etablierung der Opern Rossinis im Repertoire des Stuttgarter Hoftheaters beteiligt. Wie ein roter Faden zieht sich durch Lindpaintners Opern eine Neigung zur Italianità. Über die Komposition seines Bergkönigs schreibt er, er habe bei der Niederschrift stets „Zeit, Mode, Deutsch u. Italienisch im Auge behalten“. Das italienische Melos seiner Sizilianischen Vesper ist also nicht nur als durch den Stoff bedingtes Lokalkolorit zu verstehen, sondern ist offenbar ein Grundzug seines persönlichen Stils. Nicht zufällig erscheinen die Klavierauszüge einiger seiner Opern mit deutschem und italienischem Text.

Lindpaintner: Der Bass Rauscher als Fondi/Tosta

Lindpaintner: Der Bass Rauscher als Fondi/Tosta

Rossini in Wildbad hat sich dazu entschieden, Lindpaintners Sizilianische Vesper als Il Vespro Siciliano in der italienischen Übersetzung Wilhelm Häsers, eines literarisch ambitionierten Sängers am Stuttgarter Hoftheater und Logenbruders Lindpaintners, zu spielen. Hiermit wird nicht nur der spezifischen künstlerischen Ausrichtung des Festivals Rechnung getragen; das italienische Sprachmelos unterstreicht auch die ohnehin in der Partitur angelegte Italianità von Lindpaintners Komposition, die in dieser Form mit einiger Wahrscheinlichkeit zum ersten Mal gespielt wird. Mit der Produktion von Lindpaintners Oper bereichert Rossini in Wildbad seine sehr verdienstvollen Entdeckungsreisen in das zeitgenössische und stilistische Umfeld Rossinis um eine lokale Facette, die die Überlappungen italienischer, französischer und deutscher Musikgeschichte in ein neues, bislang unbekanntes Licht taucht. Neben den gebotenen lokal- und musikgeschichtlichen Erkenntnissen ist das Werk aber auch ein wahrer Leckerbissen für den Opernfreund. Es bietet viel Eingängiges, Spannendes, melodisch Süffiges und in der hier gebotenen Zusammenstellung sogar Neues. Lindpaintner hält die Sizilianische Vesper für einen Höhepunkt seines Opernschaffens. Lassen wir uns also mit seiner Beurteilung des Werkes schließen, mit der er die Oper dem bayerischen König Ludwig I. empfiehlt: „Mein Bestreben aber, die Erfahrungen meines Kunstwirkens wie in einem Brennpunkt zusammenzufassen, war einzig darauf hingezeichnet nach meiner besten Ueberzeugung dem Vocale wie dem Instrumentale nur das Würdige, Wirksame, Eigenthümliche zu bieten und das Solide mit dem Modernen zu verbinden.“ (Foto oben: Michele Rapisardi: „I vespri siciliani“/ Wiki) © Volker Tosta, Stuttgart im Oktober 2014

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

„Wie aus der Ferne …“

 

Eigentlich ist es schade, dass die Bayreuther Produktionen, die Orfeo in seiner Festspielreihe herausbringt, nur gehört und nicht gesehen werden können. Jetzt ist der zweite Fliegende Holländer erschienen (C 936 1821). Den hätte ich zu gern auch optisch als DVD auf meinem Fernseher gehabt. Es ist der Mitschnitt der Eröffnungspremiere von 1959. Erstmals führte Wieland Wagner Regie bei dieser Oper. Die Vorgängerinszenierung, die zwischen 1955 und 1956 auf dem Spielplan stand, stammte von seinem Bruder Wolfgang. An die Stelle einer großen romantischen Ballade mit aktuellen Zeitbezügen war eine schärfere soziale Zeichnung des Geschehens getreten. „Obwohl Wielands neuer Inszenierungsstil … durch seine starke, ja atemberaubende theatralische Wirkung das Publikum überwältigte, verblüffte er jedoch auch durch seine ungewohnte Gegenständlichkeit und seinen Realismus“, schreibt Oswald Georg Bauer im zweiten Band seiner Geschichte der Bayreuther Festspiele. Die Bühne sei nicht entrümpelt, sondern – im Gegenteil – wieder voll geräumt worden. Dafür habe der Wagner-Enkel den Begriff des „magischen Realismus“ gewählt. Die Oper – wird Wieland Wagner weiter zitiert – spiele in einem „sozialen Milieu“, das sich nicht „symbolisieren und abstrahieren“ lasse. Das Mythische rücke auf tragische Weise in den „realen Bereich des Menschlichen“. Wer sich auf den Mitschnitt einlässt, wird davon auch hörend Zeuge, wenn – um das auffälligste Beispiel herauszugreifen – Daland (Josef Greindl) als fieser Kapitalist mit der Zunge schnalzt oder ähnlich gemeine Laute von sich gibt, wenn er seines Vorteils gewiss ist. Es scheint, als sei Greindl, der versierte Bühnenprofi, seinem Regisseur am genauesten gefolgt. Seine Interpretation gibt auch eine Vorstellung davon, was Wieland vorschwebte.

George London, (eigentlich George Burnstein, russischstämmiger Kanadier mit Wohnsitz in den USA) war schon bei den ersten Nachkriegsfestspielen 1951 als Amfortas mit dabei, hatte den Holländer bereits unter Wolfgang gesungen. Er wirkt stimmlich zwar etwas bemüht, ist aber schon deshalb eine ideale Besetzung, weil er, der gebürtige Kanadier, der seit 1935 in den USA lebte, das Fremde und Globale verkörpert. Auch stimmlich. Erstmals sang Leonie Rysanek die Senta in Bayreuth. Sie alternierte mit Astrid Varnay, die auch in der ersten Inszenierung besetzt gewesen ist. Sie klingt wie sie immer klingt, wirft sich mit Emphase in die Rolle, folgt ihrem inneren Triebe, sie kann nicht anders. Mir ist das zuviel Rysanek und zu wenig Senta. Es wirkt aus der Distanz seltsam, wenn sie Erik (Fritz Uhl) entgegenhält: „Ich bin ein Kind, und weiß nicht, was ich singe.“ Und den Schrei, den sie bei der ersten Begegnung mit dem Holländer ausstößt, kennt man aus vielen ihrer Opernabende. Große Oper. Ob das dem Regisseur zusagte? Beim Publikum kam sie sehr gut an. Nicht zuletzt soll ihr der große Erfolg – so berichtet Bauer – Anlass gewesen sein, die Gagenforderungen entgegen der üblichen Bayreuther Sparsamkeit in die Höhe zu schrauben. Jedenfalls wurde sie im Jahr darauf durch die erst zwanzigjährige Anja Silja ersetzt. Die bereits dreiundsechzigjährige Res Fischer gab der Mary starke herbe Konturen, während mir Georg Paskuda als Steuermann im ersten Moment wie eine Notlösung vorkommt. Ähnlich wie Uhl gehörte er nicht in die Kategorie der Schönsänger. In das realistische Konzept dürften sie gepasst haben. Am Pult stand Wolfgang Sawallisch, der eigentlich den neuen Ring hätte dirigieren sollen, die 1959 aber nicht zustande kam. Er war Mitte dreißig, hatte 1957 mit den Tristan in Bayreuth debütiert. Sawallisch folgte dem Regisseur mit einem klaren und schnörkellosen Klangbild. Gespielt wurde die genannt Dresdener Fassung ohne den Erlösungsschluss.

Den ersten Bayreuther Nachkriegs-„Holländer“ von 1955 hat Orfeo ebenfalls im Katalog (C 692 0921 1). Dirigent ist Hans Knappertsbusch.

Den bereits erwähnten ersten Bayreuther Nachkriegs-Holländer von 1955 hat Orfeo ebenfalls im Katalog (C 692 0921 1). Schon mit der aufbrausenden Ouvertüre wird vom Dirigenten Hans Knappertsbusch ein Standard gesetzt, der so selbst in Bayreuth vielleicht nie wieder erreicht wurde. Knappertsbusch, sonst dem großen Bogen verpflichtet, betont die Brüche dieser Musik und trumpft auch schon mal regelrecht ungehobelt auf. Als ob er dabei mit dem Fuße aufstampft. Es ist ein Lauern, ein Spucken in dieser Aufführung, alle Mitwirkenden scheinen immer wieder vor Abgründen zu stehen, die sich jäh und gefährlich auftun. Mir laufen die Schauer nur so über den Rücken. Vom ersten Ton an ist klar, dass diese Geschichte ein unheimliches Ende haben wird. Ohne die richtigen Sänger wäre Knappertsbusch natürlich aufgeschmissen gewesen, was er wohl auch ganz genau wusste. Sie folgen ihm ohne Wenn und Aber. Hermann Uhde ist eine ideale Besetzung der Titelfigur. Er singt sein finsteres Los weniger mit Verzweiflung sondern mit einer Würde und einem trotzigen Stolz, die man nicht zuvorderst bei dieser Figur sucht. Astrid Varnay ist eine wissende Senta, nicht das unschuldige Kind. Sie ist der engen Kaufmannswelt ihres Vaters verloren. Ihr Schicksal ist besiegelt, noch bevor sie zu der berühmten Ballade ansetzt, bei der sie der Dirigent zwingt, jedes Wort, jeden Punkt und jedes Komma auf die gestalterische Goldwaage zu legen. Das braucht Zeit. Varnays Atemreserven bei diesem getragenen Tempo, bei dem manchmal der ganzen riesige Apparat zum Stillstand kommt, sind schier unerschöpflich. Da stört es nicht so sehr, dass einige Töne scharf und überzeichnet sind. Wolfgang Windgassen als Erik kann sie nicht halten und singt das auch so. Er steht auf verlorenem Posten. Als wenig sympathischer Daland steuert Ludwig Weber das Seine bei. Betörend unschuldig singt Josef Traxel den Steuermann, der als einzige Figur nicht verstrickt ist in die Geschichte, auch wenn er die Landung des Holländer-Schiffes verschläft.

Diese „Lohengrin“-Aufnahme stammt vom 30. Juli 1967 (C 850 113D) – aus der ersten Bayreuther Saison ohne Wieland Wagner, der am 17. Oktober 1966 gestorben war.

Seiner Bayreuther Festspielreihe hat Orfeo auch den zweiten Lohengrin hinzugefügt. Auf den Mitschnitt von 1959 folgt unlängst eine Aufnahme vom 30. Juli 1967 (C 850 113D) – aus der ersten Saison ohne Wieland, der am 17. Oktober 1966 gestorben war. Regisseur dieser Neuproduktion ist Wolfgang Wagner gewesen, der die Last des berühmtesten deutschen Festivals fortan allein zu tragen hatte. Bei dem Mitschnitt handelt es sich nicht um die Eröffnungspremiere. Orfeo entschied sich für die Wiederholung eine Woche später, bei der James King Sandor Konya in der Titelrolle abgelöst hatte. Das sollte nicht er einzige Wechsel bleiben. In den weiteren Vorstellungen sangen noch Jess Thomas und Hermin Esser, der ursprünglich nur als einer der vier brabantischen Edlen besetzt war. Es ist der erste Lohengrin Kings, der auf Tonträgern überliefert ist. King war kein Neuling in Bayreuth. Bereits zwei Jahre zuvor hatte er als Siegmund auf sich aufmerksam gemacht, eine Rolle, die ihm mehr lag als der lyrische Lohengrin. Sein Schwanenritter lässt technisch keine Schwierigkeiten erkennen. King ist sehr sicher und professionell – und bestens zu verstehen. Der Auftritt wie aus einer anderen Welt. Metallisches Timbre ist sein unverkennbares Markenzeichen. Defizite offenbaren sich in der Gestaltung, die zu eindimensional und zu distanziert bleibt und die magische Stimmung bei der Ankunft nicht zu steigern vermag. Was sich schon Anfang der 1960er Jahre abgezeichnet hatte, tritt jetzt noch deutlicher hervor. Mit diesem Lohengrin wurden die Besetzungen bei den Festspielen spürbar internationaler. King, Grace Hoffman (Ortrud) und Thomas Tipton (Heerrufer) kamen aus den USA, Heather Harper (Elsa) aus Großbritannien und Donald McIntyre (Telramund) aus Neuseeland. Einzig Karl Ridderbusch (König Heinrich), die Edlen und die Edelknaben waren deutscher Zunge. Zu spüren ist das nicht. Nur wer genau hinhört und das Werk aus dem Effeff kennt, dem fallen die Petitessen bei der Aussprache auf. Eine falsche Betonung, eine verschluckte Endung, ein verwischter Konsonant. Viel mehr nicht. Was ausnahmslos alle Solisten leisten, um dieses Werk als die romantischste aller deutschen Opern zum Klingen zu bringen, sucht seinesgleichen. Bayreuther Standard vom Allerfeinsten!

Für Heather Harper war die Elsa nur ein kurzes Gastspiel bei den Festspielen. Sie kehrte in der Rolle 1968 nur noch einmal zurück. Bleibenden Eindruck sollte sie nicht hinterlassen. Kritiken, die im Booklet zitiert werden, rühmen ihren „leidenschaftlichen Ausdruck“. Sie habe „eine sehr edle, sehr mädchenhaft empfindungsreiche und stimmlich beseelte Elsa“ voller „Reinheit und Süße“ gegeben. Fünfzig Jahre danach klingt der Mitschnitt anders. Obwohl erste siebenunddreißig Jahre alt, fehlt es ihr nach meinem Eindruck gerade an jugendlichem Ausdruck. Sie wirkt etwas zugeknöpft. Unter historischen Gesichtspunkten sind diese zeitgenössischen Kritikermeinungen dennoch höchst interessant. Einige Urteile haben über die zeitliche Distanz nicht gehalten. Wahrnehmungen wandeln sich genauso wie der Vortragsstil. Und dass Grace Hoffman die Ortrud „fast zu schön“ gesungen haben soll, dürfte zudem nur aus der Tatsache zu erklären sein, dass Astrid Varnay als ihre Vorgängerin besonders scharfe Akzente gesetzt hatte. Schön klingt anders. Schön hat die Rolle Christa Ludwig gesungen, die damit leider nicht in Bayreuth aufgetreten ist. Bayreuth-Debütant McIntyre wirkt auf mich stilistisch am modernsten. Er stand am Beginn seiner Wagner-Karriere, in deren Verlauf er als Holländer, Wotan, Holländer, Kurwenal und Amfortas starke Maßstäbe setzte. Tipton erweist sich für den Heerrufer als wenig geeignet, weil er seine Verlautbarungen streckenweise wie Arien vorträgt. Allseits perfekt agiert Karl Ridderbusch als milder, ja sanfter und nachdenklicher König, dem das Schicksal Elsas nahe zu gehen scheint. Zumindest klingt es so. Er ist vom Erscheinen Lohengrins selbst tief ergriffen. Bis auf eine Vorstellung, die von Berislav Klobucar bestritten wurde, waltete Rudolf Kempe im Orchestergraben. Seinen viel beachteten Einstand auf dem Grünen Hügel hatte er 1960 mit dem Ring des Nibelungen gegeben. Im Booklet zitiert Peter Emmerich, Leiter des Pressebüros, die „Nürnberger Nachrichten“, die zu dem Schluss gelangen, dass Kempe nunmehr „mit dem Festspielorchester weit substanzieller“ umgehe, „als man das von ihm bisher“ gewohnt war. Da sei „Kraft, Farbe und Wohllaut“. Er habe die Partitur ganz von ihren „lyrischen Seite“ genommen. „Dabei blieb Kempe stets in den Grenzen einer sozusagen symphonischen Kammermusikalität, besorgt um durchsichtige Struktur, um die klare Scheidung des tonalen Grundkolorits der Gralsklänge und der finsteren Welt Ortruds…“. Durchgehend finde ich diese Einschätzung nicht bestätigt. Vielmehr weist der Mitschnitt Kempe als Dramatiker aus, der es auch schon mal kräftig krachen lässt.

Rudolf Kempe dirigierte den „Ring des Nibelungen“ zwischen 1960 und 1963. Bei Orfeo ist der Mitschnitt von 1961 herausgekommen (C 928 613 Y).

Noch ein Ring aus Bayreuth gefällig? Der wievielte eigentlich? Ich habe sie nicht gezählt. Schon auf die Gefahr hin, am Ende einen vergessen zu haben. Nach Keilberth, Knappertsbusch, Krauss, Böhm, Boulez, Barenboim, Thielemann nun auch Rudolf Kempe. Seit er für die EMI einen Querschnitt durch das Rheingold mit angepassten Überleitungen zwischen den einzelnen Szenen (1959), die Meistersinger-Gesamtaufnahmen (1951 in Dresden und 1956 EMI) und einen kompletten Lohengrin (1963 EMI), dem 1951 die Münchener Rundfunkproduktion bei BASF vorausgegangen war, vorgelegt hatte, war sein Name mit Wagner unauflöslich verbunden. Insofern war es nur logisch, dass er auch nach Bayreuth gerufen wurde. Dort dirigierte er den Ring des Nibelungen zwischen 1960 und 1963. Bei Orfeo ist der Mitschnitt von 1961 herausgekommen (C 928 613 Y). In Mono, dafür aber wie immer sorgfältig aufgefrischt. Seinen hohen Ansprüchen an den Klang bleibt das Label auch mit dieser Edition treu. Aus den Lautsprechern soll möglichst viel von dem herüber kommen, was das Publikum einst im Festspielhaus gehört hat. Alle in der Reihe erschienen Aufnahmen dokumentieren also nicht nur Sänger, Orchester und Dirigenten – sie dokumentieren auch die Akustik, die Atmosphäre, die Stimmung einschließlich aller möglichen Bühnengeräusche und Befindlichkeiten der Atemwege des Parketts, die sich in befreiendem Husten äußern. Als würde Luft in Gläsern konserviert. So etwas grenzt an Wunder. Erneut gelingt das Unmögliche. Auf CD kommen auch diesmal die jeweiligen Vorstellungen. Nachträglich wird nicht herumgeschnippelt, um aus verschiedenen Bändern eine astreines Produkt zusammenzubasteln. Beifall darf auch sein, weil der damals in Bayreuth meist zustimmend gewesen ist. Vorstellungen endeten nicht in einem Buh-Orkan, der sich in der Regel gegen die Regie richtet. LIVE ist im Logo der Bayreuther Festspielserie von Orfeo nicht ganz zufällig in Gold, Versalien und in herausragender Schriftgröße verankert. Live bedeutet Programm, Versprechen und Anspruch. Live ist, was wirklich geschah.

Dieser Ring des Nibelungen bewahrt auch die Patzer, die im Studio kein Aufnahmeleiter durchgehen ließe. Sie stören nicht, weil sie ein zutiefst menschlicher Faktor sind. Kempe war für die Neuinszenierung von Wolfgang Wagner engagiert worden. Sie löste die erste Nachkriegsdeutung seines Bruders Wieland ab und wurde anfangs kritisch beäugt. Im zweiten Jahr, in dem aufgezeichnet wurde, legte sich die Skepsis. Zustimmung überwog. Mit dieser Arbeit hatte sich Wolfgang endgültig auch als Regisseur etabliert. Kempe ist nicht vom ersten Ton an voll da. Er steigert sich. Im Rheingold fallen noch Koordinierungsschwierigkeiten zwischen Orchester und Bühne auf, gegen Ende des Vorspiels zum zweiten Aufzug der Walküre gibt es ein undefinierbareres Gewirr und beim Walkürenritt sollte man auch nicht zu genau hinhören. Nach und nach klingt es immer prachtvoller und sicherer aus dem Graben herauf. Gar nicht so leicht und transparent, wie gelegentlich zu lesen ist. Kempe packt durchaus auch kräftig zu und dreht gewaltig auf. Manchmal sind die Stimmen zu vordergründig. Dadurch verschieben sich akustische Proportionen. Besonders auffällig wird das im ersten Aufzug der Walküre. Régine Crespin und Fritz Uhl als Sieglinde und Siegmund fallen fast aus den Lautsprechern heraus. Ich war versucht, im Nebenzimmer nachzuschauen, ob sie sich dort aufhalten. So nahe sind sie. Wie kommt das? Sind die Mikrophone mit dieser Wirkung positioniert gewesen oder wurde beim Remastering vielleicht doch ein wenig zu stark an der Sängerschraube gedreht? Am meisten gewinnt dadurch die Wortverständlichkeit. Die Solisten, zu denen noch Gottlob Frick als auch stimmlich schwer bewaffneter Hunding tritt, sind ihre eigenen Textbücher. Angehende Sänger sollten sich das anhören. Sie würden sich – nicht zu ihrem Schaden – in einer Unterrichtsstunde für genaue Artikulation wiederfinden. Uhl ist zwar etwas deftig, singen aber kann er. Seine Reserven sind unbegrenzt. Eine Stimme, die nichts umhaut. Die Wälse-Rufe kommen aus voller Brust. Lyrik ist nicht seine Stärke. Die Crespin, holt aus ihrer Partie gestalterisch alles heraus, was ihr möglich ist. Die Rolle sitzt. Dennoch klingt sie etwas angestrengt und reserviert. Sechs Jahre später wird sie bei den ersten Salzburger Osterfestspielen die Brünnhilde in der Walküre singen. Was ihr erst bevorsteht, hat Astrid Varnay, ohne die das Nachkriegsbayreuth nicht vorstellbar ist, vernehmbar hinter sich. Nämlich ihre besten Tage als Brünnhilde. Sie singt die Rolle in der Walküre, in Siegfried und Götterdämmerung übernimmt Birgit Nilsson. Bei ihr sind für den besseren Sitz der Töne und die klaren Höhen Abstriche in der Ausdeutung die Figur hinzunehmen. Selten habe ich bei der Nilsson so wenig verstanden. Was die Varnay nur noch antippen kann, schleudert die Nilsson, ohne mit der Wimper zu zucken, heraus. Dabei sind beide gleichaltrig, geboren 1918 in Schweden.

Mit Ausnahme von 1953 wirkte Hans Knappertbusch zwischen 1951 und 1964 alljährlich bei den Festspielen mit. Den „Ring des Nibelungen“ leitete er auch 1956 bei diesem Mitschnitt (C 660 513).

Und Siegfried? „Der bläst so munter das Horn.“ Was Hagen – kein anderer als Frick – im ersten Aufzug der Götterdämmerung so treffend über den Helden bemerkt, liest sich wie eine Beschreibung der Leistungen von Hans Hopf. Obwohl schon 1951 als Walther von Stolzing in den Eröffnungs-Meistersingern unter Herbert von Karajan und als Solist bei der von Wilhelm Furtwängler geleiteten 9. Sinfonie von Beethoven mit dabei – Mitschnitte sind offiziell bei der EMI erschienen – sollten acht Jahre bis zu seiner Rückkehr auf den Hügel im Jahr 1960 verstreichen. Bis 1964 sang er durchgehend den Siegfried – mit unvergleichlichem Timbre – versiert, zuverlässig, robust. An die Stelle von Jugendlichkeit setzt er Erfahrung. Etwas knapp fällt hin und wieder die Höhe aus. Es gab in seiner Anwesenheit nie eine doppelte oder gar alternative Besetzung, geht aus den Annalen der Festspiele hervor. Hopf sagte auch nie ab. An seiner Unersetzbarkeit ließ er nicht den geringsten Zweifel. Dadurch erweist er sich als eine der Stützen dieser Produktion. Ein Fall für sich ist Otakar Kraus als Alberich. Offenbar hat ihn Kempe aus London mitgebracht, wo er schon 1957 in der Produktion in Covent Garden der Alberich gewesen ist. Davon gibt es bei Testament einen Mitschnitt. Ursprünglich stammt Kraus aus Prag. Dort wurde er 1909 geboren. Internationale Berühmtheit erlangte er mit dem Nick Shadow in der Uraufführung von Stravinskys The Rake’s Progress 1951 in Venedig. Mit Robert Lloyd, Willard White, John Tomlinson und Gwynne Howell hatte er gleich vier Schüler, die später berühmt wurden. Ein Schönsänger war Kraus nicht. Bei ihm überwiegt das gestalterische Element. Mich stört, dass die Stimme zu sehr schwingt. Sein Fluch im Rheingold verflüchtigt sich rasch in Sprechgesang. Dann fehlt einem schon der Gustav Neidlinger, der in Bayreuth als Alberich von niemandem ausgestochen wurde. Gerhard Stolze wabert als Loge umher und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich, sobald er den Mund aufmacht. Mime ist mit Herold Kraus grundsolide besetzt und produziert gelegentlich selbst Töne wie ein Heldentenor. Grenzen werden als darstellerischer Effekt gut verkauft. Kraus ist ein Profi allererster Güte, der heute Mime und morgen Pedrillo oder Jaquino sang.

1961 ist manches noch anders als in den Jahren zuvor. Es zeigte sich auch in Bayreuth, dass die Opernhäuser und mehr noch die Festivals zu Vorreitern der Globalisierung wurden. Mit Jerome Hines als Wotan und James Milligan als Wanderer teilten sich erstmals ein Amerikaner und ein Kandier die Rolle des Chefgottes. Mit Ausnahme des Holländers Anton van Rooy, der den Wotan von 1897 an sang, dürfte bis in die 1960er Jahre kein anderer Ausländer besetzt gewesen sein. Nach dem ewigen Hans Hotter, der in mindestens sechs Spielzeiten hintereinander als Wotan Wurzeln geschlagen hatten, waren plötzlich neue Töne zu vernehmen. Der vierzigjährige Hines verbreitet Frische in Stimme und Erscheinung, versehen mit einem Schuss Beliebigkeit. Ohne Schaden zu nehmen, kommt er über die nicht enden wollenden Erzählungen im zweiten Aufzug der Walküre. Da hatte ihm Hotter, der mehr Geheimnis und Spannung hineinlegte, einiges voraus. Bei Hines dauern sie gefühlt noch etwas länger. Dennoch hört er sich sehr gut an. Milligan ist gerade mal dreiunddreißig. Ihm sollten nur noch wenige Monate bleiben. Er starb im November desselben Jahres bei einer Probe in Basel an den Folgen einer Herzkrankheit. Auf der Schwelle zur Weltkarriere. Um so einen ist es wirklich schade. Er hatte das Zeug für einen Heldenbariton mit einer tragfähigen und stabilen Mittellage, aus der er sich gewaltig steigern konnte. Davon weiß er vor allem in der Rätselszene im ersten Siegfried-Aufzug Gebrauch zu machen. Sein Deutsch ist nahezu perfekt. So auf den Punkt wie er singt heute kaum jemand mehr. Dem ersten Eindruck nach lässt die Stimme auf einen reiferen Sänger schließen. Ein derartiges Volumen und diese Kraft sind für sein Alter ungewöhnlich. Noch sind nicht alle Kanten und Ecken dieser Naturstimme abgeschliffen. Das wirkt zusätzlich reizvoll.

Clemens Krauss dirigierte 1953 „Ring“ (C 809 113) und „Parsifal“ in Bayreuth. Eine Rückkehr wurde durch seinen Tod im Mai des folgenden Jahres vereitelt.

Für mich ist James Milligan die eindrucksvollste Gestalt dieses Mitschnittes, mit dem ihm nun ein klingendes Denkmal gesetzt wird. Nur in wenigen anderen Aufnahmen hat er mitgewirkt. Einiges gibt es von Arthur Sullivan, aus Kanada hat sich ein Messiah erhalten und bei der EMI ein Glyndebourne-Idomeneo, in dem er den Arbace singt. Mit Thomas Stewart als Donner und Gunther tritt noch ein Amerikaner in Erscheinung, der die kommenden zehn Jahre in Bayreuth maßgeblich mit prägen sollte – dann aber als Holländer, Wotan und Amfortas. Erst am Ende seiner Zeit bei den Festspielen gönnte er sich 1972 nochmals einen Gunther, der als eine der undankbarsten Rollen im ganzen Ring gilt. Als Episode erweist sich der Fasolt des Schotten David Ward, der sich in anderen Häusern als Wotan oder Holländer einen Namen gemacht hatte. Seien Bruder Fasolt, der im Siegfried als Wurm wiederkehrt, ist mit Peter Roth-Ehrang untadelig besetzt. Nur einmal kam der Amerikaner David Thaw als Froh bei den Festspielen vorbei. Sein Auftritt bleibt blass. Damit wurde eine Chance vertan, die Bedeutung der kleinen Rolle gebührend herauszustellen. Froh weist nach dem Gewitter im Rheingold der Regebogenbrücke den Weg nach Walhall. Für mich gehört diese Szene zu den allerschönsten Erfindungen von Wagner. Ich würde sie mit einem Tenor besetzen, der den Zuschauern durch Schöngesang den Atem verschlägt. Thaw aber verschlägt nichts. Regina Resnik, die noch als Sopran bereits 1953 als Sieglinde und dritte Norn Erfahrungen in Bayreuth gesammelt hatte, kam 1961 für nur ein Jahr als Fricka wieder, um Wagner mit einer veristischen Oper zu verwechseln. Ihre amerikanische Landsmännin Grace Hoffman, die 1961 als Waltraute, Siegrune und zweite Norn beschäftigt war, blieb in diversen Rollen bis 1970. Nicht unerwähnt soll Ingeborg Felderer bleiben, die 1961 als Woglinde, Helmwige und Waldvogel debütierte. Sie brachte es bis an die Met und trat auch unter dem Namen Ina Delcampo auf. Als Chefin des italienischen Labels Melodram versorgte sie später den Markt mit vielen Bayreuth-Mitschnitten, die allerdings nicht den Segen der Festspielleitung fanden, den Ruhm des Festivals und seiner exklusiven Besetzungen aber in alle Welt trugen. Nur einen Sommer sangen Wilma Schmidt als glücklose Freia, Gutrune und Ortlinde, sowie Elisabeth Steiner als Wellgunde und Grimgerde.

Kein anderes Festival ist so gut dokumentiert wie die Bayreuther Festspiele – in Schrift, Bild, Film und Musik. Schon in der Nazizeit wurden komplette Werke aufgenommen, die später auf Tonträger gelangten. Tannhäuser in der Pariser Fassung von 1930 ist leider nicht komplett überliefert. Der Wiederbeginn 1951 klingt in mehreren offiziellen Aufnahmen nach, die zwar auf Mitschnitten beruhten, nachträglich aber fast schon zu Studioproduktionen veredelt wurden. EMI, Teldec, Philips und Deutsche Grammophon stiegen sukzessive in dieses Geschäft ein. Bis heute sind diese Produkte zu haben. Decca schnitt bereits 1955 erstmal einen Ring in Stereo mit, versenkte die Bänder aber im Archiv, um der eigenen ersten Studioproduktion unter Georg Solti in London keine Konkurrenz zu machen. Erst als Testament 2006 damit auf den Markt kam, entpuppte sich dieses Unterfangen als eines der spannendsten Kapitel der Veröffentlichungsgeschichte. Echte Live-Atmosphäre hatten zunächst nur die Piraten-Labels verbreitet. Sie brachten die Mitschnitte vieler Rundfunkübertragungen, die zum alljährlichen Ritual wurden, als Plattenboxen heraus. Orfeo ist ziemlich spät auf diesen Zug aufgesprungen.

Mit dem „Tristan“ von 1952 ( C 603033D) in der Inszenierung von Wieland Wagner hatte Orfeo seine Bayreuther Festspiel-Edition begonnen.

Mit dem Tristan von 1951, der wie andere Titel auch, ebenfalls schon auf dem grauen Markt die Runde als LP und sogar CD gemacht hatte, wurde 2003 ein neues Kapitel bei Orfeo aufgeschlagen (C 603033 D). Im Grußwort der Box deutete nicht Wolfgang Wagner (1919 – 2010) an, das dazu manche Vorbehalte und „gewisse Zweifel“ zu überwinden waren. Angeblich soll sich der Bayerische Rundfunk geweigert haben, seine Bänder zur Verfügung zu stellen. Wie dem auch sei. Das Ergebnis zählt. Es stellte alles in den Schatten, was bis dahin kursierte. Nach mehr als fünfzig Jahren konnte Bayreuth endlich eins zu eins nachgehört werden. Für mich war das ein unvergesslicher Moment, der mir noch heute den Atem verschlägt. „Wie aus der Ferne längst vergang’ner Zeiten“, singt der Holländer, wenn er das erste Mal auf Senta trifft. Dieses Zitat ist für mich wie ein Motto für für diese klingende Festspielreihe. Kein Buch, kein Zeitungskritik, kein Bild – nichts konnte ersetzten, was da plötzlich aus den Lautsprechern kam. Endlich war begriffen worden, dass dieses Festival in seiner Bedeutung nur dann richtig erfasst werden kann, wenn es auch klingend bewahrt bleibt. Schlag auf Schlag folgten bei Orfeo die anderen Werke des so genannten Bayreuther Kanons, also jene Opern, die dort aufgeführt werden – teilweise in unterschiedlichen Produktionen. Mit dem jüngsten Ring ist der Vierteiler, für den Wagner das Festspielhaus errichten ließ, sogar dreimal im Katalog: 1953 (C 809 113), 1956 (C 660 513) und zuletzt 1961. Es darf so weitergehen. Rüdiger Winter  

In magisches Licht getaucht: Das restaurierte Denkmal von Richard Wagner im Großen Berliner Tiergarten. Es stammt von Gustav Eberlein und wurde 1903 eingeweiht. Foto: Winter

Dänische Klangbilder von 1867 bis 2017

 

Auf den Flügeln der Phantasie  – Dänische Klangbilder von 1867 bis 2017: Über 150 Jahre hat sich die Königliche Akademie der Musik in Kopenhagen als die große Institution im Musikleben Dänemarks erwiesen. Eine Abfolge großer Namen des dänischen Musikgeschehens – Schöpfer wie Interpreten – haben an der RDAM gewirkt. Eine beispiellose 12-CD-Ausgabe bei Dacapo malt ein einzigartiges Klang-Portrait der RDAM und wichtiger Aspekte des dänischen Musiklebens von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart. Nur wenige sind einem nicht-dänischen Musikliebhaber bekannt und zeigen eine verblüffende Vielfalt an Stilen und Formen. Neben solchen wie Niels Gade, Carls Nielsen  finden sich Komponisten wie  J. E. Hartman, Knudage RiIsager, Vagn Holmboe, Finn Höffding, Hermann D. Koppel, Per Nörgard, Hans Abrahamsen, Erik Höjsgaard, Niels Rosing-Schow, Svend Westergaard, Ib Nörholm und viele, viele mehr mit ebenso historischen wie neueingespielten Aufnahmen. Eine wichtige weitere Abteilung ist den Interpreten gewidmet, die einem Kontinentaleuropäer oft meistens unbekannt geblieben sind, namentlich die Sänger der Vergangenheit wie Else Paaske, Helene Gjerris, Otta Brönnum.  Natürlich kennt der aufgeklärte Vokalfan Tonny Landy und Kim Borg (wenngleich doch auch manche wichtige Namen fehlen – die Kriterien der hier vorgestellten Auswahl sind  etwas unübersichtlich – Oper ist nur mit Tonny Landys Beitrag aus Lucia di Lammermoor vertreten.). Daneben viele Instrumentalisten von Rang. Die 12-CD-Box bei Dacapo (8.201202) ist ein Cornocupium an akustischen Fundsachen, ein Who-is-Who in der dänischen Musik (mit Lücken). Sie ist allen anzuraten, die sich mit der bei uns wirklich so gut wie unbekannten Musik unseres nördlichen Nachbarlandes beschäftigen wollen.

Die alte Königliche Dänische Musik-Akademie am Andersen Boulevard in Kopenhagen/ Foto Booklet Dacapo

Meine alte und leider 2008  verstorbene Freundin, die Sängerin Inga Nielsen, hat mich immer wieder auf ihre nationale Musik hingewiesen – auf  Kunzen und dessen wunderbare Oper Holger Danke (die wir später vorstellen werden und die auch bei Dacapo eingespielt wurde), auf Nielsens Maskerade oder Saul og David und Heises spannende Königsoper Drot og Marsk, auf Friedrich Kuhlau oder Johann Adolf Scheibe. Dänemark ist ein Land mit reicher musikalischer (auch Opern-)Vergangenheit. Diese prachtvolle Box bei Dacapo hilft dem Suchenden auf die Sprünge und eröffnet ein Blick in ein anderes Land. Im Folgenden geben wir den Artikel von Toke Lund Christiansen aus dem Booklet in seiner englischen Übersetzung bei Dacapo wider. Eine starke Empfehlung. G. H.

 

Toke Lund Christiansen: There is a time to compose, to have work performed and published, a time to rehearse and perform, and finally there is a time to stop and take stock. For the composers and musicians of the Academy it is now an anniversary year, after 150 years of music.

The first audible tracks we have of the music surrounding the Royal Danish Academy of Music are recordings of instrumentalists and singers presenting themselves in the black grooves of old 78s. Today too, with a little good will, we can get an impression of how Dan­ish musical life unfolded from the 1890s and throughout the subsequent decades. We just have to accept a little ‚crackle‘ from the early recordings.

But there was also music before that. We can only guess how it sounded. From Carl Nielsen we hardly even have his voice. We know he spoke with a melodious Funen accent, but no one thought, in those days when it was possible, to preserve the voice of our na­tional composer. A single track is full of noise, and in the background we can hear Nielsen playing the piano, but the quality is just as technically poor as the unique recording that exists of Brahms playing a Hungarian fantasy.

Before Carl Nielsen, too, there was music in Denmark, although we cannot hear Gade’s violin or Hartmann’s organ playing. Part of the Academy’s celebration on the CDs consists of presentations of the music of the Golden Age composers played by among others the teachers of the Academy – past as well as present.

It is inherent in the Danish name of the Academy – Konservatoriet or the Conservatoire – that something is worth conserving. Much music and musical activity builds on tradi­tion, but a ‚conservatoire‘ also has an obvious obligation to take care of the more recent and not least the brand new music and tendencies. For that reason too, in the present box set you will also find a number of CDs which primarily present recent and the brand new music as it has developed in association with the Academy; a bouquet of composers who have been employed at the Academy for a short or long period, each of whom has helped to influence both the placing of the new sounds on the musical scene and the artistic milieu at the Academy.

From the past as from the present, when all is said and done, this will only be a fly­ing visit to the innumerable recordings that the instrumental and singing teachers of the Academy\have produced in the course of these many years. In this respect the aim has been to weave a ‚musical tapestry‘ in which the selected works visit the various musical spaces that together make up the pulsating life of the Academy, both as echoes from bygone times and as the sounds heard around the institution today. Not least, the students‘ own great achievement, the anniversary concerts in November 2015 and 2016, with Nielsen’s Fourth and Pelle Gudmundsen-Holmgreen’s percussion concerto Triptykon , tell us that music at the Academy is alive and kicking.

150 Jahre Königliche Dänische Musikakademie bei Dacapo: Kim Borg ist mit der „Schöpfung“ vertreten/ Wiki

Those who sang, and those who played: If we are to meet the musicians of the past at the Academy, we must build a memory palace or rather let our thoughts and imagination carry us back to the stately building on H.C. Andersens Boulevard. There it lies, not so easy to enter today, now that it is the Chinese Cultural Institute, which has wrapped the building in scaffolding and is rebuilding it for its Chinese purposes. First there was one building, then the neighbouring building was added, but at the beginning it was Niels W. Gade’s vision that became a temple of music here. Five floors were linked by a wrought iron staircase decorated with a wealth of con­volutions and ornaments, a staircase that is said to have come from the old royal palace of Christiansborg, burnt down in 1884. It is not so strange that in Jutland, where they have their own Academy, they call ours Kongekons (‚Kingcons‘).

With some difficulty we push the heavy oak main door open – the beginning of a small journey through the times. We ascend the marble steps only to be reminded on both sides that this was also Carl Nielsen’s domain. Here he had his daily workplace and here he end­ed up, although for a short period, as President of the whole caboodle. His daughter, Anne-Marie Telmanyi, has decorated the side walls of the main staircase with colourful frescoes; scenery with absolutely appropriate figures from ancient Greek culture and mythology – Apollo, Sappho, Athene, in light robes, all welcoming us.

Up in the narrow hall things are immediately more down-to-earth. N.W. Gade him­self sits a little ceremonially, captured in cool, chalky-white marble -even though he was not like that at all, but had unruly locks and ruddy cheeks. But here he is slightly tired, or so a young person might think, seated on his black plinth, a foundation that takes up more space than the Golden Age composer himself. But he is not the man we are to meet. How Gade played his music is something we can only read about. We are interested in the sounds from down through the ages that have been captured by technology. We hasten past him, for now we go up to the place where the music is playing.

The first person we meet on the stairs is a stocky figure. His head is large, his brow domed, he has dark wispy hair. Niels Viggo Bentzon has a jutting lower lip. He is forging ahead at full speed and is not very old, somewhere around 23. He has just played his Tocca­ta  up in the locality on the third floor, which was once called C2. Koppel was there. They were all there. It caused a furore. The composition, yes, but not least his incredible dexterity and conviction in the piano playing. He had refined his playing with the aid of his chum, the Hungarian-born visiting piano virtuoso Georg Vasarhelyi. We shall be hear­ing him too. Before that it was Christian Christiansen who had been Niels Viggo’s piano teacher. Niels Viggo found him, and „all the other bandits“, completely „knocked out with enthusiasm for Carl Nielsen“. Bentzon acknowledged his legacy from Nielsen, but he was preoccupied not least with Arnold Schönberg and in 1949 studied and recorded the latter’s short but compact Six Piano Pieces CD 9 For Bentzon the Academy, along with the publisher Edition Wilhelm Hansen, the newspaper Politiken and the publisher Gyldendal, were focal points more or less throughout life. He never became professor of composi­tion, and this prompted Arne Skjold Rasmussen to exclaim: „Damned if he needs to do anything but go around and be Niels Viggo Bentzon!“. Skjold Rasmussen had taken his diploma the same year as Bentzon, allegedly with a grade just under the composer’s. On the other hand, over the following years Skjold Rasmussen was to develop into one of the country’s most admired chamber musicians, and a Nielsen interpreter on the grand scale, while Bentzon’s piano playing gradually declined – just as it had done with Brahms. Skjold Rasmussen demonstrates his mastery in Nielsen’s Three Piano Pieces, recorded in 1952, but also in small pieces by Schumann and Mendelssohn.

150 Jahre Königliche Dänische Musikakademie bei Dacapo: Tonny Landy singt aus „Lucia di Lammermoor“/ Wiki

We proceed up to the first floor, and there we step into the ‚piano passage‘. Before the Academy President Poul Birkelund took the initiative to build the unfortunate bridge that connected the two almost identical mansions, there was only the one building for all the ac­tivities, and the ‚piano passage‘ was more of a ‚professorial passage‘ for the use of strings and singers as well as pianists. The individual localities were acoustically protected by white- painted, beautifully profiled double doors, and from inside the first room we hear Skjold Rasmussen’s characteristic, slightly hoarse but loud voice. Phrasing above all, and timbre!

We fly like airy spirits a little back and forth in time, and from the same room, through the double doors, comes the sound of similar stern words. Then there is a bang. The minor- subject student lb Hermann has had Beethoven’s 32 (bound!) thrown at him. That was my grandfather, Holger Lund Christiansen, taking the music in hand. Much more sensitively later in the day, and undeniably also a few years before (1942), when he practiced with his close friend the violinist Erling Bloch. It could have been the Kreutzer Sonata, but it wasn’t on that day. What I do hear is the Spring Sonatas languishing first subject. We ease the outermost door open a little, for we would like to listen too. During the war these two had held afternoon concerts at Geelsgard, up in Holte, of all Beethoven’s violin sona­tas. There was a curfew, and you had to be home before the night fell.

Yes, and Herman D. Koppel was impressed by Bentzon’s youthful daring. Koppel was some ten years older than Bentzon, and later generations dwelled mostly on Koppel’s many, often large-scale, compositions. In his younger years, however, Koppel was a piano- pounder of the first order. Later he once said to me that „it’s hard to keep your piano play­ing up to that high standard when you sit for so many hours with a pencil in your hand.“ In 1953 we hear Koppel at the Concertgebouw in Amsterdam – he got around as a concert pianist. Often, as here with the Third Piano Concerto, in his own compositions, but just as often with more or less the whole central piano repertoire in his baggage.

It is as if a light mist descends, and here in the ‚piano passage‘ a small but erect figure looms out of the fog: Johanne Stockmarr. A curious gaze, and with the years also small spectacles perched on her pointed nose. Her hair is elaborately put up, and she frequents the biggest European stages with ease. The ‚Royal Court Pianist‘ is dressed in white airi­ness, so it is probably summer. Johanne Stockmarr, along with Agnes Adler, was first lady of the piano in the time between the world wars. She had taken lessons with both Gade and Hartmann. At the other end of her long life she taught among others Skjold Rasmus­sen and Esther Vagning. Yes, the tradition leaves its footprints. As an echo from 1930 we hear Miss Stockmarr’s sensitive attack. It seems to be something by Chopin.

Well, hello maestro! I am undeniably somewhat flustered, for here comes Holger Gil­bert-Jespersen with his French Louis Lot flute case under his arm. My grandfather is fin­ished for the day and is soon on his way back to Klampenborg with a lit cigar in his mouth, dressed in plus-fours, all topped by a brown beret. He nods curtly without recognizing his grandchild, but then I haven’t been born yet. A cellist appears, Torben Anton Svendsen. He was not a teacher at the Academy, but was busy heading out for his new artistic field as drama director at the Royal Theatre. And then I really prick up my ears, for Gilbert- Jespersen was the maestro who made the solo flautist of the Vienna Philharmonic exclaim: „By God, I don’t know how you do it, Jespersen!“ Riisager’s extremely difficult Serenade is on the programme. This too, as well as the Spring Sonata, is to be recorded on HMV, His Masters Voice (the one with the doggy!), and it is to become a reference record­ing that the performers still have to relate to today. And what a piece! You can almost reel them off: „Ravel, Riisager, Roussel“. It’s in that class. I can only heave a deep sigh, but am drawn as if by magnetism over to the door just opposite.

150 Jahre Königliche Dänische Musikakademie bei Dacapo, das Domizil heute/ Wikipedia

Sometimes it is the double-basses that you hear rumbling in there, but right now (in 1949), it is unbelievably virtuoso cello figures that reach the ear. Boccherini’s Cello Sona­ta with an effortless ease that could come from a dexterous violinist. Erling

Blondal-Bengtsson is rehearsing with Vasarhelyi, and the former remains here in the local­ity (a few years earlier, now that we are flitting like angels or demons through time), and Vasarhelyi is replaced at the piano by a serious-looking fellow who has stuck his hands deep in his jacket pockets without bending his arms. The professor has close-set, dark eyes, a piercing gaze and greets me with a clear but nasal voice. I bow like the 16-year-old student I also am, well aware that the pianist Victor Schioler is also a trained medical doc­tor and is halfway through studying for a law degree, in order for him to manage the job as chairman of the Soloists‘ Society of 1921. A shiver goes up my spine. I can neither play the piano nor make diagnoses, and yet I am his successor in that venerable society.

One man is missing. Here he comes – Hoist. Cheerful, bare-headed, blinking a little, his violin case swinging back and forth as he walks. They are to play Schubert’s B-flat Trio and boy can they play, these three! The door stands ajar. Victor (what a name for a piano-tamer!), the young Blondal and then the leader of the Berlin Philharmonic for eight years, Henry Hoist. I remain standing and listen to all of it. And it continues, and I can’t get enough of it. Now (1955?) Blondal and Schioler are also practicing Brahms‘ in­tricate F major Cello Sonata, and you understand why they were both high­fliers on the international music scene. Hoist had spent the whole war and a subsequent decade in England, and had played the great violin concertos, including Walton’s, which he gave its first European performance. When he went to Berlin as a very young man from his birthplace Saeby in Denmark, and played his way to the lead violinist post, he even did the ‚Gypsy‘ scene in Berlin. That has been captured in a matchless recording of Sarasate’s violin magic, Zigeunerweisen with Heifetz – no, Hoist! Serguei Azizian nods. Yes, he was incomparable, the young Hoist. Serguei is not from Saeby, but from St. Petersburg. There they have proud traditions of violin playing. With the Copenhagen Philharmonic, his Danish orchestra, before he was hauled in by the Academy, he recorded Britten’s de­manding Violin Concerto.

So are we done with the violinists? No, not quite, for there was this folk-musician fam­ily from the Brorup area in South Jutland, whose third generation fostered a lead violinist and quartet player touched by God. He is most often seen with a violin under his chin. Above his Guadagnini violin, a face in living colour, crowned by chalky-white hair. Tongue in the corner of his mouth, and his sea-blue eyes wandering around and observing in a split second what has to be the focus right now in the music. Peder Elbaek was above all a Nielsen player, and here we hear him in a recording (1979) of the demanding solo pieces Prelude and Presto.

A little melody in perfect balance: That must be the Norwegian Robert Rifling. He could do it all, played everywhere, but we are listening to something as modest as Harald Saeveruds national hits back in 1950, Rondo amoroso and Koempeviseslatten (Ballad of revolt) ) 9 [13]-0. Even a little is not to be sneezed at, and what is highest, the Round Tower or a  thunderclap? The long ‚piano passage‘ resounds with high as well as low notes, chords and tirades, and I want to get it all in. We hear both song and piano playing, and I am enchanted by Debussy’s Suite bergamasque.  But wait, it’s time for my piano lesson! If only Blyme doesn’t get miffed. My Haydn sonata is not great art. Anker Blyme rises absent- mindedly from the Steinway grand, pushing his glasses up his forehead. He is tall and im­pressive. Should probably be president of some major country but it is also quite natural (hat he becomes the President of the Academy for a period. My lesson is shortened a little (and it’s short to begin with), for Niels Viggo Bentzon comes bursting in, and soon it’s all over with the delicate sounds of Debussy, for the two of them, NVB and Blyme, plunge into a hell-for-leather duet. Afterwards they talk about Bentzon’s Third Piano Sonata. Well, Blyme might well think it’s both difficult and worth rehearsing. It has been called „one of the twentieth century’s great piano sonatas“ (John Damgaard), and in the USA a whole PhD thesis has been written about its Hindemith-like structure.

I must take a break from the intense atmosphere of the ‚piano passage‘ and its many sounds. One floor up and straight ahead: the Banqueting Hall. There you can fall back on the high-backed chairs with the fine lyre carved in the back and enjoy the silence, bro­ken only by the clang of the trams and the screech of traffic from down on the boulevard. But no. Sound wells down from the organ up on the balcony. I know it, I think: Nielsen’s twilight work Commotion, acid test for all Danish organists. It is Bine Bryndorf who is mistress of the many pipes. The Academy’s small organ isn’t the one we can hear captured on CD, instead she chose the organ in the Nikolai Church (now Art Hall) in Copenhagen. Bine has studied Nielsen’s original stoppings and she here plays the organ, still unchanged today, that Nielsen could listen to in the early summer of 1931.

Well hello, Grethe! Commotio is also Grethe Krogh’s signature work. Fortunately re­corded and admired by both professionals and laymen. Grethe has just come from Paris. She has long since retired from the old Academy, but just watch whether she can control herself. A biography is in the pipeline, and down in Paris on Bastille Day (2004) she is premiering Fuzzy’s (Jens Wilhelm Pedersen’s) Cadences et tremblements a Notre-Dame. Refreshing and youthful, and with the Paris sound captured in a concert recording.

Fresh air! As I stride in towards Gammel Strand and Stroget, it is as if everything changes. The cars fade, a horse and carriage is followed by several more. Here it does not smell of gas and petrol, but of horse droppings and soot from Norrebro’s industrial chimneys. A funeral procession has gathered on its way towards the Cathedral. Inside sound the notes of the or­gan – the organ on which Weyse, Gade and later J.P.E. Hartmann played throughout almost 100 years. It is March 1900, and now he is dead, old Hartmann, even though people thought it would never happen. In the same month, and during a memorial service for Hartmann in London, Otta Bronnum’s clear soprano rings out in the church interior. Two years before this she has recorded among other thing Hartmann’s Flyvfugl, flyv (Fly bird, fly), under the more commercially euphonious stage name Otta Brony. Otta Bronnum was one of the Academy’s first singing teachers, but in her younger years she had an international career. As of December 1898, and for a year, she recorded no fewer than 16 tracks in London. These recordings are among the oldest preserved on lacquer discs anywhere.

Further back in time I cannot travel, and, slightly dizzy, I find a bench at the Glyptotek’s gardens. Can one have better company than two marvellous singers, the tenor Tonny Landy and the bass-baritone Kim Borg? We talk about anything but vocal technique, but I do ask Tonny about the recording of the aria from Nielsen’s opera Saul and David.

Yes, it was supposed to be with John Frandsen conducting, but that particular evening it was Ole Schmidt who stepped in. And then of course there is the Bel Canto tradition, which in this country probably goes all the way back to the singing-master Siboni. And Tonny hums a little something from Lucia di Lammermoor. Kim Borg, in tweed . heck, broad-shouldered and puffing on his pipe: „Oh yes, Haydn’s Creation“ , and the aria (“Nun scheint in vollem Glanze”) you mention were performed and recorded in Berlin in 1958, and that was with the ballet master Nijinsky’s son-in-law, Igor Markevitch, as conductor.“ And then we talk on about Nijinsky and Stravinsky, for both Tonny and Kim Borg have many interests, also outside the singing profession.

Who were the lucky audience in Roskilde that magical afternoon when the contral­to Else Paaske, along with the pianist (and later Academy President) Friedrich Giirtler, dreamed their way through Mahler’s Des Knaben Wunderhorn. One wishes one had been there, but fortunately the microphone was open, so special moments were captured like a drop of liquid resin that is later transformed into shining amber.

150 Jahre Königliche Dänische Musikakademie bei Dacapo: das RDAM-Orchester unter Michael Schönwandt/ Foto Booklet Dacapo/ s. dort die Fotografennamen

But we must go back to the old Academy on the boulevard, and we trudge up to the third floor, where the woodwinds are located. First he was an oboist and achieved a short but glorious career in the USA. Then back home in Copenhagen, Svend Christian Felumb became a member of the famous Wind Quintet, which also boasted talents like the flautist Holger Gilbert-Jespersen and the clarinettist Age Oxenvad. This variety of Danish oboe playing had its origins in Paris. The timbre is bright and perhaps a little on the nasal side. But that it how it was with timbre. The aesthetic expression is moulded in the training. Felumb was on a friendly footing with Carl Nielsen, so it is only natural that we should hear the Fantasy Pieces, opus 2, and it is even with another friend of Nielsen, Chris­tian Christiansen, at the piano. Later in life, as conductor of the Tivoli orchestra, Felumb became a tireless champion of the young composers in particular, while Christian Chris­tiansen was for many years President of the Academy.

It can be difficult to ignore the brass players. In the old Academy they were often ban­ished to the remoter localities, but that does not change the fact that here too music of the highest standard was played. Listen for example to Palmer Traulsen in Asger Lund Christiansen s opus 1, Concertino for trombone and large orchestra; a first per­formance in Tivoli on 4 May 1959 with the composer at the head of the Tivoli orchestra. I was there, and many people were especially enthusiastic about the cadenza, which it was thought Traulsen himself improvised. It was not the case, however. It was all carefully no- tated in the score by my 31-year-old father.

It may well seem that my time travels are on the nostalgic side, but listen: all that is happening today, you can yourselves go out in the city and hear. It’s happening here and now, and one day that too will become historic and will be studied with both magnifying glasses and ear trumpets! And by the way, it is wonderful that the old woodwinds from the Radio got together in 1947 and played Mozart’s little Divertimento in B flat major for the select six: two oboes, two bassoons and two horns, so we also have the opportunity to make the acquaintance of the icons Professor Ingbert Michelsen (French horn) and Carl Bloch (bassoon). The sound is bright and to our modern taste a little dry, but that’s how it was.

More up-to-date is Poul Birkelund’s spirited performance ofVagn Holmboe’s Solo Sona­ta for Flute CD. This is an unedited recording from Icelandic radio, and Poul himself was exceedingly happy about what he had achieved that afternoon in 1970 up on the volcan­ic island.

And recordings from our own time? Well, you have to listen for those, either here among the recordings or out on the musical scene of today. Oh, yes, we should just mention that the inimitable Bjorn Carl Nielsen’s sensual oboe is represented on this journey through time. A slow movement for oboe and chamber orchestra by the Czech Krommer.

It is a special pleasure that the Academy’s own symphony orchestra – without a sin­gle assistant from the ranks of the established professionals – fills a whole CD. First with Gudmundsen-Holmgreen’s Triptykon in the hands of the person it was writ­ten for, the percussion professor Gert Mortensen, and then an inextinguishable Nielsen’s Fourth, with no editing or other hocus pocus, and all under the baton of Michael Schonwandt.

So what is missing? Oh well, all the others are missing, for this is like a dream where everything passes before our eyes and ears. Many names do not feature in this spin of the kaleidoscope, this Laterna Magica, but those it was not possible to present in this CD box are not forgotten, for the singing and instrumental music at the Academy are interwoven in a pattern that is constantly changing, but always with respect for what came before. The art is thus also in showing respect for what is here right now, and what is on its way. But that’s a quite different story. Toke Lund Christiansen, Associate Professor at RDAM and flutist (Übersetzung James Manley/ Dacapo)

Angriffslustig

 

Vor fünfzig Jahren brach im Münchner Nationaltheater der damalige Bayerische Generalmusikdirektor Joseph Keilberth während einer Aufführung von Wagners Tristan und Isolde auf dem Dirigentenpult tot zusammen (wie bereits 1911 Felix von Mottl). Angeblich genau dann, als Tristan sein „Lass mich sterben“ sang. Keilberth war zu diesem Zeitpunkt gerade sechzig Jahre alt und stand auf dem Höhepunkt seiner Dirigentenkarriere. Der gebürtiger Karlsruher legte eine beeindruckende Laufbahn zurück, die ihn über Stationen in seiner Heimatstadt (wo er sich 1935 gegen Herbert von Karajan als GMD durchsetzte) und Prag (wo er seit 1940 dem Deutschen Philharmonischen Orchester vorstand) über Dresden, Berlin und Hamburg vor allen Dingen in bayerische Gefilde führte. Zwischen 1950 und 1968 amtierte er als erster Chefdirigent der Bamberger Symphoniker und ab 1959 zusätzlich als Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München. Größte Anerkennung erfuhr er insbesondere im Strauss- und Wagner-Fach, was in den 1950er Jahren in einem mehrjährigen Engagement bei den Bayreuther Festspielen gipfelte, wo er den Fliegenden Holländer, Tannhäuser, Lohengrin und den Ring des Nibelungen dirigierte. Der erst 2006 erstmals veröffentlichte Live-Mitschnitt des 1955er Ring, von der Decca betreut und als erste Gesamtaufnahme überhaupt in Stereo eingespielt, gilt vielen Kennern seither als einsame Referenz. Und doch hat er landläufig auch heute eher den Ruf eines gediegenen Kapellmeisters denn eines „Stardirigenten“, was er aber vermutlich auch nie sein wollte.

Nun also legt Icon/Warner anlässlich des 50. Todestages sämtliche Nachkriegsaufnahmen Keilberths in einer nicht weniger als 22 CDs umfassenden Box vor (90295 68926). Es handelt sich sämtlich um Einspielungen für die deutsche (und inzwischen verblichene) Firma Telefunken, die als eine der ältesten deutschen Firmen lange Jahre als eigenständiges Label existierte und sich dann in Teilen als Teldec mit der Decca Verband. Die hier erwähnten Aufnahmen sind zwischen 1951 und 1963 entstanden. Keilberth muss insofern als bedeutendster Vertragskünstler dieses Labels in den 1950er und frühen 1960er Jahren gelten. Viele der Aufnahmen waren seit langer Zeit vergriffen oder allenfalls als Japan-Import erhältlich; einige erscheinen nunmehr gar zum ersten Male überhaupt auf CD. Die Bandbreite ist gewaltig und legt Zeugnis ab vom sehr ausgedehnten Repertoire Keilberths, der gerne auf die Musik der Spätromantik reduziert wird. Die Wiener Klassiker Haydn, Mozart und Beethoven nehmen bereits viel Raum ein. Neben Haydns Sinfonien Nr. 85 „La Reine“ und 101 „Die Uhr“ sind die späten Mozart-Sinfonien ab der „Haffner“ enthalten (dazu die zumal damals selten eingespielten KV 200 und 202), ergänzt durch diverse Ouvertüren, Serenaden und Divertimenti. Der zupackende Stil des Dirigenten macht diese Aufnahmen, die bereits größtenteils in gut klingendem Stereo vorliegen, auch nach über einem halben Jahrhundert zu einem wahren Hörgenuss. Man fragt sich ernsthaft, wieso Keilberth in Sachen Mozart heutzutage fast vergessen ist. Diese Veröffentlichung könnte dafür sorgen, dass er künftig seinen gebührenden Platz neben den großen Mozart-Interpreten jener Zeit wie Karl Böhm und Otto Klemperer einnehmen kann.

Eine außerordentlich enge Verbindung hatte Keilberth auch zum Œuvre Ludwig van Beethovens. Hier liegt nun nicht nur ein beinahe kompletter Zyklus der Sinfonien vor (es fehlt einzig die Neunte, die indes in einer Aufnahme mit dem japanischen NHK Symphony Orchestra überliefert ist), sondern auch nicht weniger als fünf Ouvertüren. Mit einer einzigen Ausnahme (Sinfonie Nr. 8 noch in Mono) ist auch hier klangtechnisch nichts zu bemängeln. (Bei dieser Gelegenheit sei darauf verwiesen, dass auch die Achte in einem ganz späten Live-Mitschnitt bei Orfeo in Stereo erschienen ist.) Bei den Beethoven-Werken wird ein Charakteristikum dieser Telefunken-Einspielungen ersichtlich, nämlich dass auf verschiedene Orchester zurückgegriffen wurde. Neben den Bamberger Symphonikern und Berliner Philharmonikern, die ein Gros der Aufnahmen bestreiten, sind dies das Philharmonische Staatsorchester Hamburg und in einem Fall auch das Bayerische Staatsorchester. Man kommt nicht umhin, gerade den Berliner Aufnahmen das höchste künstlerische Niveau zu bescheinigen, wenngleich auch die Bamberger bereits in diesen frühen Einspielungen kurz nach ihrer Gründung eine für sich genommen außerordentlich hohe orchestrale Qualität vorzuweisen haben. Keilberths Beethoven ist keinesfalls überromantisiert, sondern kommt unprätentiös und zuweilen fast angriffslustig herüber. Als besonderes Highlight sei hier auf die Einspielungen der fünften und siebten Sinfonie verwiesen.

In der Früh- und Hochromantik dominieren in der Box die Freischütz– und Euryanthe-Ouvertüre von Carl Maria von Weber (leider nur in Mono), die „kleine“ C-Dur und die Unvollendete Sinfonie von Franz Schubert (erstere eine der frühesten Stereo-Aufnahmen überhaupt, Februar 1954, hier erstmals vorgelegt) und die „Frühlingssinfonie“ von Robert Schumann. Als besonders herausragend müssen die beiden Ouvertüren von Felix Mendelssohn Bartholdy, die selten gespielte „Meeresstille und glückliche Fahrt“ und die ungleich bekannteren „Hebriden“, benannt werden, bei denen Keilberth auf die Berliner Philharmoniker zurückgreifen konnte. Sehr prominent vertreten ist freilich die Spätromantik, die auch skandinavische (Griegs „Peer-Gynt“-Suiten Nr. 1 und 2) und tschechische Komponisten (zwei Tondichtungen aus Smetanas „Mein Vaterland“ sowie Dvoráks „Neue Welt“-Sinfonie, das Cellokonzert mit Ludwig Hoelscher, die Slawischen Tänze und die Carnival-Ouvertüre) berücksichtigt. Einen Schwerpunkt macht hier indes Johannes Brahms aus, dessen vier Sinfonien zwischen 1951 (Nr. 1) und 1963 (Nr. 3) mit nicht weniger als drei Orchestern eingespielt wurden. Die „Akademische Festouvertüre“, die „Tragische Ouvertüre“ und drei Ungarische Tänze (Nr. 1, 3 und 10) runden dies adäquat ab. Auch hier zeigt sich Keilberth als Kenner und macht besonders die Brahms-Werke mehr als hörenswert. Weniger als gut ist hier nichts.

Als einer der Klassiker in der Diskographie dieses Dirigenten gilt mit gutem Recht die Einspielung der eher unbeachteten sechsten Sinfonie von Anton Bruckner, die in einer spektakulären Aufnahme von 1963 mit den Berlinern enthalten ist. Hinzu gesellt sich eine kaum weniger überzeugende Interpretation der Neunten Sinfonie aus Hamburg. Von Bruckner ist der Weg zu Wagner nicht weit, so dass auch auf die hier enthaltenen Opernauszüge hingewiesen werden muss: Es handelt sich jeweils um die Vorspiele zum ersten und dritten Aufzug der Opern Die Meistersinger von Nürnberg und Lohengrin. Diese können selbstredend eher als Appetitanreger gelten, haben sich doch Gesamtaufnahmen erhalten, wie auch Keilberths Wagner ansonsten eher in Live-Tondokumenten überliefert ist, die glücklicherweise mittlerweile alle problemlos erhältlich sind. Zumindest lässt sich schon mittels dieser Vorspiele sagen, dass seine Wagner-Auffassung konträr war zu jener seines großen Antipoden Hans Knappertsbusch, des Giganten, hinter dem Joseph Keilberth schon optisch zurückstecken musste. Anders als auf das „Kann“-typische weihevolle Pathos setzt er auf energische, vorwärtsdrängende Zuspitzung und darf insofern als der modernere der beiden großen Wagner-Dirigenten gelten, was vielleicht auch seine Distanz gegenüber Parsifal erklärt, der als einzige Oper des Bayreuther Kanons unter seinem Dirigat nicht überliefert ist.

Doch nicht nur im schweren Fach brillierte Keilberth, wie die auf zwei CDs verteilten Walzer, Polkas und Märsche von Johann Strauss Sohn unter Beweis stellen. Man mag hier allenfalls mokieren, dass ein gewisser wienerischer Touch fehlt, entstanden die Einspielungen doch mit den Bamberger Symphonikern, doch gibt es auch hier handwerklich nichts zu bemängeln. Gut abgedeckt ist auch der andere Strauss, hier repräsentiert durch die Tondichtungen „Till Eulenspiegel“ und „Don Juan“, sinfonische Zwischenspiele aus dem Intermezzo, Walzer aus dem Rosenkavalier, Salomes Tanz sowie einem Potpourri aus der Schweigsamen Frau. Es nimmt nicht wunder, dass Keilberth besonders in Sachen Richard Strauss bereits zu Lebzeiten einen hervorragenden Ruf genoss. Nicht zuletzt setzte sich Joseph Keilberth aber auch für die Musik des zwanzigsten Jahrhunderts ein, wovon die letzten beiden CDs der Box zeugen. Neben der Ballettsuite sowie den Mozart– und Hiller-Variationen von Max Reger ist es vornehmlich Paul Hindemith, dessen Suite zum Ballett „Nobilissima Visione“ und die Sinfonische Metamorphose von Themen Carl Maria von Webers inkludiert sind.

Der informative Begleittext von Markus Bruderreck zitiert Keilberths Sohn Thomas, der keineswegs die zumindest umstrittene Rolle des Vaters im Nationalsozialismus verheimlicht. Der Dirigent spricht in seinem Tagebuch durchaus von eigenen Fehlern. Durch seine Bekanntschaft mit Reinhard Heydrich konnte er allerdings zahlreiche Orchestermitglieder in Prag vor einem Fronteinsatz bewahren und in einem Falle sogar eine Deportation verhindern. In seinem letzten Lebensjahrzehnt kam es zu einem vermehrten Rückzug Keilberths aus dem gesellschaftlichen Leben, sah er sich doch als aus der Zeit gefallen an. Gesundheitliche Probleme machten ihm seit den späten 1950er Jahren zudem zu schaffen (er litt an Diabetes). Freilich nahm die Anzahl seiner Auftritte als Dirigent deswegen mitnichten ab (so ab 1965 auch in Japan), so dass nur der innerste Zirkel von seinem Niedergang wusste und sein früher Tod die Öffentlichkeit umso mehr schockierte. Alles in allem eine höchst verdienstvolle Neuerscheinung, die Joseph Keilberth besonders jenseits des allseits geschätzten Operndirigenten endlich einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht und ihn auch als bedeutenden Interpreten sinfonischer Werke von der Wiener Klassik bis in die Moderne hinein ausweist. Von wegen gediegener Kapellmeister!

 

The Romantic Aspect in German & Austrian Classics: Nun wirft auch Profil/Hänssler anlässlich des 50. Todestages von Joseph Keilberth eine eigene Box auf den Markt, die zehn CDs enthält und einen Zeitraum von 1940 bis 1962 abdeckt (PH18019). Enthalten sind – wie der Titel bereits ankündigt – vor allem Komponisten der Romantik und Spätromantik, von Schubert und Weber über Schumann, Brahms, Bruckner und Wagner bis zu Reger und Pfitzner, aber auch wenig Bekanntes von Goetz und Wolf, wobei auf Orchesterwerke gesetzt wurde, seien es Ouvertüren, Vorspiele, Sinfonien oder Konzerte. Die meisten der enthaltenen Aufnahmen waren bereits auf CD erhältlich. Leider liefert das Booklet (wieder einmal) wenige Details zur Provenienz der Aufnahmen, wie bereits bei anderen Editionen dieses Labels. Dies wirft ein zumindest zweifelhaftes Licht auf das an und für sich löbliche Unterfangen. Dass nur Copyright-freie Aufnahmen bis 1962 inkludiert wurden, lässt zumindest den Verdacht aufkommen, dass hier bewusst auf die Nennung der ursprünglichen Rechteinhaber (meist wohl Telefunken) verzichtet wurde. Es gibt einige Überschneidungen mit der „offiziellen“ Box von Warner, so etwa bei Beethoven, Schubert, Weber, Wagner und Brahms. Die Ouvertüre zum Freischütz wurde offenbar der berühmten Berliner Gesamtaufnahme von 1958 entnommen und ist insofern bereits in Stereo, während jene zum Oberon auf 1953 datiert und mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester folglich noch in Mono entstand. Von Beethoven sind die Ouvertüren zu Coriolan und Fidelio sowie die Pastorale enthalten, allesamt tadellose Einspielungen mit den Bamberger Symphonikern von 1960, die freilich nur einen Vorgeschmack auf den (Beinahe-)Zyklus vermitteln. Die Bamberger kamen auch bei Werken von Reger, Schuberts Unvollendeter und Brahms‘ Ouvertüren und drei der Ungarischen Tänze zum Einsatz.

Eine Stärke der Box ist, dass hier nicht weniger als acht Orchester dokumentiert sind, was vom internationalen Renommee des Dirigenten zeugt. So sind schon die Prager Jahre (1940-1945) mit dem Deutschen Philharmonischen Orchester abgebildet, namentlich mit der Italienischen Serenade von Hugo Wolf und Vorspielen aus Pfitzners Palestrina. Klanglich fallen diese uralten Aufnahmen selbstredend ab, was auch für die Live-Mitschnitte gilt, die als solche indes nicht eindeutig gekennzeichnet wurden. Diskographisch von besonderem Interesse ist für den Sammler die Zauberflöten-Ouvertüre mit den Wiener Philharmonikern live aus Salzburg 1960 – eines der wenigen Tondokumente, welche von Keilberth mit dem österreichischen Spitzenorchester überliefert sind. Ebenfalls von den Salzburger Festspielen aus demselben Jahr ist der Mitschnitt der neunten Sinfonie von Bruckner, allerdings mit den Berliner Philharmonikern. Diese sind auch in weiteren Aufnahmen involviert, so besonders in der feurigen Einspielung der zweiten Brahms-Sinfonie – der chronologisch letzten Aufnahme dieser Edition. Dass Keilberth einer der bedeutendsten Interpreten der Musik von Richard Strauss war, geht bei dieser Neuerscheinung indes kaum hervor, ist doch lediglich das Vorspiel zur Ariadne auf Naxos aus Köln von 1954 beinhaltet. Die andere große Meisterschaft dieses Dirigenten, Musik aus den Opern von Richard Wagner, sind dafür deutlich prominenter vertreten, wenngleich in diesem Zusammenhang natürlich nur auszugsweise. Die Krone gebührt wohl der fulminanten Ouvertüre zum Fliegenden Holländer von den Bayreuther Festspielen 1955 – für den Kenner einer der besten Jahrgänge überhaupt. Löblich, dass hier die einst von Decca produzierte Stereo-Version zu Rate gezogen wurde – was eindeutig hörbar ist. Inkonsequent dafür, dass man die Tannhäuser-Ouvertüre vom Bayreuther Vorjahr nahm, liegt diese von 1955 doch ebenfalls bereits in Stereo vor – wie der komplette Ring des Nibelungen. Lohengrin ist mit den Vorspielen zum ersten und dritten Akt berücksichtigt, eingespielt 1957 mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg, mit welchem im nämlichen Jahr auch das Meistersinger-Vorspiel bestritten wurde. Warum man bei den Auszügen aus dem Ring wiederum auf klanglich sehr eingeschränkte Mitschnitte von 1953 zurückgriff (Walkürenritt, Vorspiele zum ersten und zweiten Akt aus Siegfried sowie Siegfrieds Trauermarsch), sei einmal dahingestellt. Der künstlerischen Qualität tut dies indes keinen Abbruch und führt den hohen Rang des Wagner-Dirigenten Keilberth eindrücklich vor Augen.

Erwähnenswert sind die drei Konzerte, die sich in der Box befinden: Bruchs Violinkonzert Nr. 1 mit Georg Kulenkampf und den Berliner Philharmonikern (1941), Schumanns Klavierkonzert mit Annie Fischer und dem Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester (1958) sowie Pfitzners Klavierkonzert mit Rosl Schmid und demselben Klangkörper (1951). Hier ist Keilberths intensive Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik festgehalten. Die mittlerweile selten gespielte Ouvertüre zum Barbier von Bagdad von Peter Cornelius sowie die fast unbekannte Ouvertüre zu Der Widerspenstigen Zähmung von Hermann Goetz beschließen gewissermaßen den Reigen; auch hier handelt es sich um mäßig klingende Rundfunkaufnahmen aus den 1950er Jahren. Insgesamt ist diese Box eher für fortgeschrittene Keilberth-Verehrer als für Anfänger gedacht, handelt es sich doch größtenteils um betagte Mono-Aufnahmen. Die wenigen bereits in Stereo produzierten Tondokumente sind auch anderweitig zu haben. Die Überschneidungen mit der Warner-Box sind verschmerzbar. Diese ist gleichwohl eindeutig vorzuziehen, schon aufgrund der größeren Vielfalt, aber auch wegen der überwiegend besseren Tonqualität und der überzeugenderen Aufarbeitung und Dokumentation der enthaltenen Aufnahmen. Daniel Hauser

Marschners Oper „Der Bäbu“

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2018 brachte die Neuburger Kammeroper unter ihrem langjährigen Intendanten Horst Vladar eine echte Opernrarität zur Aufführung: Der Bäbu von Heinrich Marschner. Diese komische Oper – im Jahr 1838 in Hannover uraufgeführt – war bereits die 50. Produktion  im Stadttheater von Neuburg an der Donau und neuerlich ein großer Publikumserfolg.

Heinrich Marschner (1795 – 1861) wandte sich schon früh mit Kompositionen der Musik zu, wobei der Thomaskantor Johann Gottfried Schicht sein Mentor war. 1817 wurde er Musiklehrer des Grafen Zichy in Preßburg, wo er seine ersten Opern schrieb und bald zu einem der führenden deutschen Komponisten seiner Zeit wurde. Im Jahr 1824 wurde Marschner Musikdirektor der Semperoper in Dresden und von 1827 bis 1831 war er musikalischer Leiter der Oper in Leipzig, wo er mit seinen Werken Der Vampyr und Der Templer und die Jüdin große Erfolge erzielte. Von 1831 bis 1859 war Marschner Hofkapellmeister der Oper in Hannover. Zu einem Schlüsselwerk der deutschen romantischen Oper wurde1833 Hans Heiling. Marschners Hoffnungen, in Berlin die Nachfolge von Gaspare  Spontini anzutreten, zerschlugen sich allerdings. Der Ruhm Meyerbeers und Wagners überstrahlte ihn, in seinen letzten Jahren war er fast vergessen.

Die Handlung der Oper Der Bäbu, deren Libretto Wilhelm August Wohlbrück verfasste und Horst Vladar für die Neuburger Kammeroper bearbeitete,  spielt  im Jahr 1820 in Britisch-Ostindien. Der gerissene Bäbu, ein selbstgefälliger Guru und Yogalehrer, ist ein Gauner und Betrüger. Nachdem er den Besitz des adeligen Ali Khan ergaunert hat, will er dessen Tochter Ranijana zur Frau. Sie liebt jedoch Captain Forester, der aus gesundheitlichen Gründen nach England zurückkehren musste. Um ihn dazu zu bewegen, täuschte sie sogar einen Selbstmord vor. – In England verlobt sich Forester mit Eva, der Nichte des Gouverneurs von Kalkutta. Wieder gesund, reist er nach Indien, da er sich seiner Gefühle unsicher ist. Als er Ranijana heil vorfindet, erwacht seine alte Liebe wieder. Eva, die den von ihm ausgestreuten Gerüchten von seinem Tod misstraute, taucht ebenfalls in Indien auf. Es wird chaotisch. Doch als Forester entdeckt, dass sein Freund Mosely und Eva einander lieben, scheint sich alles zum Guten zu wenden. Da bringt Ali die Nachricht, dass seine Tochter entführt wurde. Alle sind der Meinung, dass Bäbu dahinterstecken müsse. Tatsächlich finden sie Ranijana bei ihm. Es war ihr gelungen, den betrunkenen Guru in den Schlaf zu „tanzen“. Man überwältigt den völlig Verstörten und übergibt ihn der weltlichen Gerichtsbarkeit. Glücklich fallen sich die Paare unter dem Applaus der Freunde in die Arme.

Trotz dieser komplizierten und teils verworrenen Handlung der Oper gelang Horst Vladar – er war im Jahr 1969 Mitbegründer der Neuburger Kammeroper und ist seitdem auch ihr künstlerischer Leiter – eine treffliche und humorvolle Inszenierung. Im übrigen darf er als „Seele der Kammeroper“ und Tausendsassa bezeichnet werden, spielt er doch in dieser Produktion sogar drei Rollen: In der ersten Szene den Richter Muton, später zusätzlich Sir Tynebutt und einen der vier vermummten Räuber, die Ranijana entführen. Als Produktionsassistentin wirkte auch seine Frau Annette Vladar mit. Das kreativ gestaltete Bühnenbild, das auch das indische Flair äußerst anschaulich zur Wirkung brachte, schuf Michele Lorenzini. Für die Beleuchtung zeichneten Bernhard Kugler und Mario Liesler verantwortlich.
In der Titelrolle des Bösewichts Bäbu überzeugte der Bassbariton Stephan Hönig sowohl stimmlich wie auch durch seine starke Bühnenpräsenz. Immer wieder spielte er sein komisches Talent wirkungsvoll aus – wie auch der Chor als Gefolgschaft und Anhänger des Guru, die mit Mimik und Gestik großartig ihre kritiklose Treue spielten (Einstudierung: Norbert Stork). Der adelige Händler Jussuf Ali Khan wurde vom schlanken, großgewachsenen Bariton Joachim Herrmann dargestellt, der seine stärksten Szenen als liebender Vater hatte. Eine erstklassige Leistung bot die in Italien geborene Sopranistin Alessia Schumacher (Foto oben/ Kammeroper Neuburg) als seine bezaubernde Tochter Ranijana. Mit ihrer kräftigen Stimme meisterte sie nicht nur jede Höhe, sie brillierte auch darstellerisch, wobei sie als Gefangene des Bäbu auf köstliche Art den beschwipsten Guru schwindlig tanzte! Einige „Brava“-Rufe aus dem Publikum waren ihr verdienter Lohn. Ein gelungenes Debüt in der Neuburger Kammeroper! Man darf auf ihre weitere Karriere gespannt sein.

Marschner: „Der Bäbu“/ Szene mit Joachim Herrmann, Horst Vladar, Elmar Göbel/ Foto Kammeroper Neuburg

Ebenso erstklassig war die Leistung des Tenors Karsten Münster in der Rolle des Captain Henry Forester. Seine kräftige Stimme überstrahlte alle anderen Darsteller. Auch gelang es ihm, seine Liebesprobleme mimisch eindrucksvoll wiederzugeben. Stimmlich gut auch der kroatische Tenor Goran Cah in der Rolle seines Freundes Mosely, der sich in Eva verliebt und als Sänger gleichfalls ein gelungenes Debüt in Neuburg feierte. Als Eva Eldridge überzeugte die Ingolstädter Sopranistin Laura Faig sowohl stimmlich wie darstellerisch. Mit großem Temperament und köstlich-humorvoller Mimik gestaltete sie ihre Rolle auf glänzende Art. Ihr gegenüber blieb die elegante Sopranistin Ulrike Johanna Jöris als Lady Wrengthon, die Frau des Gouverneurs, ein wenig blass. In der komödiantischen Rolle des Gosain, Bäbus Vertrauten, konnte der Bariton Michael Hoffmann zur Freude des Publikums sein komisches Talent voll ausspielen. Sehr humoristisch legte auch Elmar Goebel in der Gerichtsszene die Rolle des Anwalts Butun Ghos an. Die musikalische Leitung des Orchesters des Akademischen Orchesterverbandes e. V. lag in den bewährten Händen von Alois Rottenaicher. Es gelang ihm, die vielschichtige Partitur des Komponisten, deren romantische Melodien immer wieder ins Ohr gingen, in allen Facetten  wiederzugeben.

Das begeisterte Publikum, das immer wieder den Sängerinnen und Sängern Szenenbeifall zollte, dankte am Schluss der fast dreistündigen Vorstellung allen Mitwirkenden mit nicht enden wollendem Beifall. Verdiente „Bravo“-Rufe gab es für Horst Vladar, dem man zu dieser neuerlichen Ausgrabung einer in Vergessenheit geratenen Oper gratulieren muss (28. 7. 2018). Udo Pacolt

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Den Artikel entnahmen wir mit besonderen Dank an den Autor und den onlinemerker für die freundliche Genehmigung! Fotos Kammeroper Neuburg.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Nostalgie als Nebenwirkung

 

Profil Edition Günter Hänssler! Das Logo lässt mich immer an Messingschilder an der Haustür denken. So abwegig ist dieser Vergleich nicht. Denn bei Hänssler kommt man ja immer irgendwie auch nach Hause, findet sich bei vielen Produktionen dieser ersten fünfzehn Jahre in der sicheren Umgebung der eigenen musikalischen Erfahrungen wieder, auf denen die lebenslange Liebe zur Musik gründet. Hänssler ist für mich immer auch Vergangenheitsbewältigung, positiv und produktiv. Ich versenke mich gern in die große Karl-Richter-Edition und frage mich, ob meine Zuneigung zu diesem Dirigenten, der mir einst Bach nahe brachte und mir zu einer ersten Vorstellung von musikalischer Vollendung verhalf, die Zeit überdauert hat und neben historisch informierten Interpretation noch bestehen kann. Das ist intellektueller und emotionaler Luxus, den ich Hänssler verdanke. Ich kenne bei weitem nicht alle Profil-Titel, welche die Firma verlassen haben. Es sind mehr als achthundert CDs. Ich staune, dass es so viele sind.

Im Regal sind meine Favoriten stets griffbereit. Neben dem schon genannten Richter sind das viele Folgen der Dresden-Reihen über die Staatsoper und die Staatskapelle. Entgegen des eigenen Ordnungsprinzips stehen sie alle in einer Reihe wie die gesammelten Werke Goethes. Fidelio ist also nicht unter Beethoven zu finden, Katja Kabanowa nicht unter Janacek und Fritz Busch nicht bei seinen dirigierenden Kollegen. Hänssler ist eine eigene Abteilung. Diese exklusive Aufbewahrung empfinde ist mehr als angemessen. Qualität gehört zu Qualität. Man muss sehr lange suchen und weit in die Vergangenheit zurückgehen, vielleicht sogar bis hin zu den ersten Langspielplatten der legendären Archivproduktion der Deutschen Grammophon, um vergleichbare Ausgaben zu finden – etwa zu der Sammlung „Gott welch Dunkel hier“ über die „Stunde Null“ des Dresdener Opernbetriebs nach dem Zweiten Weltkrieg. Günter Hänssler: „Nur ein Label mit einem klaren PROFIL, mit einem eindeutigen Wiedererkennungseffekt, hat heute noch eine Chance auf dem heiß umkämpften CD-Markt – um die Liebhaber klassischer Musik heute mit einem Produkt zu überzeugen braucht man Originalität und Innovation.“

Der Qualität der Dresdner Reihe tragen auch beispielhaften Booklets Rechnung. Sie können es hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer üppigen Gestaltung mit Bildbänden aufnehmen. Getreu dem Grundsatz, dass das Auge mithört, wurden die musikalischen Dokumente in ihren zeitgeschichtlichen Zusammenhang gestellt. Dabei ist nicht gespart worden mit Fotos, Faksimiles, Berichten und Erläuterungen über die technischen Umstände von Produktionen. Die Boxen strahlen Sinnlichkeit aus. Ich nehme sie gern zur Hand. Manchmal nur so, um durch ein Booklet zu blättern und mich in einen Text zu vertiefen. Meist klingen die Aufnahmen für ihre Zeit sehr gut. In das Remastering wurde gehörig investiert. Nostalgie scheint nicht beabsichtigt, sie stelle sich allenfalls als angenehme Nebenwirkung ein. Allgegenwärtig ist die kundige Handschrift von Steffen Lieberwirth zu spüren, dem „Project director and booklet editor“, wie er im Impressum genannt wird. Lieberwirth kommt vom Rundfunk, war Chefproduzent beim MDR und vereint in sich technische Kompetenz mit musikalischer Hingabe. Für so ein Unterfangen wie diese Dokumentationen ist er der richtige Mann, der Spiritus Rector. Ihm dürfte es auch zu verdanken sein, dass das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA) Aufnahmen zur Verfügung stellte, die sonst verschlossen geblieben wären.

Rosenkavalier und Dresden. Beide sind eins. Die Oper von Richard Strauss trat dort 1911 ihnen bis heute anhaltenden Siegeszug um die Welt an. Die Aufnahme, um die es geht, ist schon seit Jahrzehnten in Umlauf. Zunächst als Schallplattenkassette, zwischenzeitlich sogar als Opernquerschnitt, zuletzt auf CD bei Gala. Inzwischen haben das DRA und der Mitteldeutsche Rundfunk die originalen Bänder herausgerückt und zur Veröffentlichung bei Profil Günter Hänssler freigegeben (PH16071). Eingespielt wurde sie 1950 mit der Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Rudolf Kempe. Im selben Jahr war der Dirigent als Nachfolger Joseph Keilberth zum Generalmusikdirektor von Oper und Kapelle aufgestiegen. Bereits 1953 ging Kempe in den Westen, blieb Dresden aber bis zu seinem Tod verbunden. Mehrfach kehrte er zu Plattenaufnahmen zurück. Für dem Rosenkavalier, der vom Kempes Schwung und genauer Partiturkenntnis lebt, hat das Label vier CDs springen lassen, drei für die Oper, eine für den Bonus, der sich aus unterschiedlichen Aufnahmen mit Bezügen zu Dresden zusammensetzt. Darunter finden sich vier Szenen mit daran beteiligten Sängern. Margarethe Siems ist die Marschallin, Eva Plaschke von der Osten der Octavian und Minnie Nast die Sophie. Der feine Ton der Siems im gekürzten Monolog vermittelt immer noch eine genaue Vorstellung ihrer Wirkung und ihres Erfolgs in dieser Rolle, die sie bis zum Ende ihrer Karriere nie mehr loswurde. Tiana Lemnitz ist auszugsweise in zwei Versionen als Octavian zu hören, nämlich von 1936 und 1942. In dieser Rolle wurde sie auch – inzwischen dreiundfünfzig Jahre alt – für die Gesamtaufnahme herangezogen. Den ersten Nachkriegs-Rosenkavalier hatte es in Dresden 1948 gegeben, der ästhetisch noch sehr an der Uraufführung in den Dekorationen von Alfred Roller klebte. Als Marschallin war Dora Zschille besetzt. Sie kam aus dem Westen nach Sachsen, hatte Engagements in Duisburg und Hannover und hielt Dresden bis zu ihren Bühnenabschied 1971 die Treue. Die Zschille sang alles, was ihre Stimme, die sich vom lyrischen zum hochdramatischen Sopran entwickelte, hergab. Sie blieb weitgehend eine lokale Erscheinung und wurde lediglich für einige Rundfunkaufnahmen herangezogen. Frauen wie die Zschille waren damals die Stützen jedes Ensembles.

Projektleiter und unermüdlicher Kämpfer für die Rundfunkschätze: Steffen Lieberwirth. Foto: OBA/Hänssler

Für die Aufnahme wurde ihr Margarate Bäumer vorgezogen, die in einer ganz anderen Liga spielte, ihre besten Tage allerdings hinter sich hatte. Sie klingt betulich und bedient das Klischee der alternden Fürstin, die sich aus dem Leben zurückzieht und fortan nur noch „in die Kirch’n“ geht und mit Onkel Greifenklau, der „alt und gelähmt ist“, zu Mittag speist. Auch für die Lemnitz kam die Rolle viel zu spät. Den Jahren nach könnte sie fast die Großmutter des stürmischen adligen Jünglings aus großem Hause sein, den sie in Liebesdingen unterweist. Stimmlich ebenfalls. Sie klingt überreif und vermag sich nicht einen Tag jünger machen als sie ist. Ja, es scheint sogar, als büßte sie noch während der Aufnahme an Gestaltungsvermögen weiter ein. Im dritten Aufzug bekommt ihr der zweifache Rollentausch, dieses raffinierte Markenzeichen der Oper, gar nicht. Sie gurgelt vor sich hin. Mikrophone sind gnadenlos. Und es stellt sich die Frage, warum nicht die viel jüngere burschikose Christel Goltz, die den Octavian auf der Bühne sang, genommen wurde. Einzig Ursula Richter, deren Geburtsdatum für die Kurzbiographie im Booklet offenbar nicht zu ermitteln war, kommt mit ihrem Sopran der munteren Sophie nahe. Und der Ochs? Der wird von Kurt Böhme regelrecht in Beschlag genommen. Er hatte ein Abo auf die Rolle, schien darin zu baden und wurde dafür auch von Karl Böhm in der zweiten Gesamtaufnahme aus Dresden, die 1958 für die Deutsche Grammophon entstand, herangezogen. Er ist ein polternder Schwerenöter und als solcher beim Publikum sehr beliebt gewesen. Die Vorstellung, dass mit Ochs ein feister alter Fettwanst aus der entlegensten Provinz in das kaiserliche Wien einfällt, um dort vermeintlich jungen Mädchen unter den Rock zu greifen, hat sich bis lange gehalten. Ochs ist aber auch Opfer. Der steinreichen Armeeliefertanten Faninal ist scharf wie Dracula auf sein adliges Blut und will nur deshalb seine Tochter mit ihm verkuppeln. In seiner ländlichen Beschränktheit lässt sich Ochs erbarmungslos vorführen. Er ist „diesem Wien“ nicht gewachsen, sieht die Fallen nicht, die ihm gestellt werden und tapst prompt hinein.

Im Entstehungsprozess der Oper haben Strauss und sein Textdichter Hugo von Hofmannsthal der Figur, die nach meiner Auffassung zu ihren genialsten Schöpfungen gehört, viel Aufmerksamkeit gewidmet. Sie war zeitweise sogar als Titel für das Werk im Gespräch und dürfte am meisten zu singen haben. Ausgezählt habe ich die Zeilen nicht. Ochs ist nach dem Willen der Autoren Mitte dreißig und damit nicht nur dem Alter nach der Marschallin ebenbürtig. Er ist es ihr auch durch seine adelige Herkunft, er ist ein Verwandter, ihr Vetter. Sie hört seine deftigen Schilderungen des Landlebens im Heu der Ställe nur allzu gern. Ihr gegenüber kann er sich diese Offenheit erlauben. Man ist schließlich unter sich. Für ihr eigenes riskantes Liebesleben bevorzugt sie allerdings das seidene Lager des Boudoirs. Böhme ist für mein Gefühl zu eindimensional, zu sehr auf den lüsternen Wüstling festgelegt. Er wirft mit den Speckseiten des reichen Schweinezüchters hirten Zsupán aus dem Zigeunerbaron um sich. Dadurch bietet er die Folie, auf der sich die Marschallin zu vorderst als fromme Dame darstellen kann, die sie nicht ist. In der Aufnahme passiert zumindest akustisch genau das. Wer derlei Überlegungen ausklammert, wem die hörbaren Generationsverschiebungen egal sind, der hält eine stimmungsvolle Einspielung in den Händen, deren Anschaffung unbedingt zu empfehlen ist. Auch mit ihren eingeschränkten Möglichkeiten führen die Bäumer und die Lemnitz an vielen Stellen vor, was mit Noten und Text alles möglich ist. Wie Böhme erfassen sie den wienerischen Ton, welcher der ganzen Opern sein unverwechselbares Flair gibt. Akustisch ist die Aufnahme in ihrer Zeit belassen worden. Sie klingt sehr präsent, gelegentlich etwas robust, an den passenden Stellen schön polternd.

Neu sind auch diese Meistersinger von Nürnberg nicht. Neu ist wiederum der Rückgriff auf die Originalbänder. Und das zählt. Erstmals dürfte die Aufnahme bei Vox herausgekommen sein, noch als LP-Kassette. Später dann auf CD bei Myto. Als MP3 liegt sie bei Cantus vor. Der Klang war so schlecht nicht. Hänssler nahm sich die Rundfunkproduktion von 1951 vor (PH 13006). Es hat sich gelohnt. Alles, was bisher zu hören war, wird auf die hinteren Plätze verwiesen. Die Aufnahme wird in ihre alten Rechte eingesetzt. Sie klingt transparent und klar. Wie am ersten Tag. Vielleicht noch besser. Insofern kann sie es technisch mit vielen Produktionen aus späteren Jahren aufnehmen. Stimmlich sowieso. Vom ersten Ton an wird orchestrale Pracht entfaltet. Die Zuhörer werden regelrecht hineingezogen in das Werk. Der Eindruck ist so stark, dass man zuletzt darüber nachdenkt, in welchem Jahr die Aufnahme denn eigentlich entstand. Wirklich schon vor fast siebzig Jahren? Ist das kein Irrtum? Ist es nicht. Einmal schleift das Band während des Vorspiels. Wie bei einem Spulengerät, das im Begriffe ist, seinen Geist aufzugeben. Nanu? In diesem Moment kommt eine Ahnung vom tatsächliche Alter auf. Für diesen kurzen Moment. Als würde ein Schleier gelüftet. Schnell ist es vorbei. Die Musik gewinnt ihr Tempo zurück. Was sich in den nächsten Stunden im Orchester abspielt, macht Zeitrechnungen nebensächlich. Am Pult der Staatskapelle Dresden steht wieder Rudolf Kempe, der fünf Jahre später Wagners Meistersinger erneut für die EMI einspielte. Kempe war zum damals Generalmusikdirektor der Dresdener Staatsoper. Aufgenommen wurde in Mono. Während bei der Stereophonie ein räumlicher Eindruck durch mehrere Schallquellen erzeugt wird, schafft er es durch Fertigkeit – und Kunst. Ob Streicher, Holz, Blech oder Pauken. Kempe gewährt den einzelnen Instrumentengruppen viele solistisch anmutende Entfaltungsmöglichkeiten. Sie treten an den entsprechenden Stellen jeweils deutlich hervor, fallen aber nie auseinander, weil mit Kempe ein Kapellmeister vor ihnen steht, der alles lenkt und den großen Apparat mit fester Hand zusammenhält. Dadurch entsteht mitunter ein Höreindruck, der an ein frühes Stereo erinnert. Ein großer Vorzug der Aufnahmen ist das. Es wird deutlich, dass kein noch so perfekt ausgeklügeltes Aufnahmeverfahren ersetzen kann, was dem Dirigenten zukommt. Er befindet über die musikalische Qualität und nicht der Toningenieur.

Mehr als die Musiker sind es die Sänger, die dieser Produktion den historischen Touch aufdrücken. So wie sie singen, singt heute keiner mehr. Wissend und stets dem Wort verpflichtet. Immer ist alles zu verstehen. Wer den Text nicht kennt, könnte ihn anhand dieser Aufnahmen, die übrigens die erste Studioproduktion dieser Oper gewesen ist, auswendig lernen. Ideale Voraussetzungen dafür sind dadurch gegeben, dass alle Mitwirkenden deutscher Zunge sind. Sie haben gut gelernt, sind mit ihren Rollen oft seit Jahren vertraut, haben sie unter den verschiedensten Bedingungen und Dirigenten ausprobiert. Nichts wackelt. Die Bälle fliegen hin und her. Bühnenatmosphäre kann nicht anders sein. Oder sind diese Meistersinger von Nürnberg auch deshalb wie aus einem Guss, weil sie an nur einem einzigen Tage, nämlich am 29. April 1951 eingespielt wurden? Fast alle Sänger sind in den besten Jahren für ihre Partien. Ferdinand Frantz, der den Hans Sachs gibt, wurde 1906 geboren, ist zum Zeitpunkt der Produktion Mitte vierzig. Bernd Aldenhoff (Stolzing) und Kurt Böhme (Pogner) sind Jahrgang 1908, die Eva Tiana Lemnitz 1897. Sie ist Älteste im Ensemble, was auch zu hören ist, sie hat ihren Zenit deutlich überschritten und kann die Jungfer nicht mehr überzeugend darstellen. Die Lemnitz rettet sich mit all ihrer Erfahrung entschlossen in die Kunst. Sie zelebriert die Figur, macht hohe Schule daraus, statt sie mit wirklichem Leben zu erfüllen. Schade, dass nicht die 1913 geborene Elfride Trötschel besetzt worden ist, die die Eva zur gleichen Zeit mit großem Erfolg in Dresden auf der Bühne sang. Einige Namen auf der Besetzungsliste stehen für die Zukunft. Der 1916 geborene Gerhard Unger hatte erst nach dem Krieg begonnen. Er ist ein wunderbarer David, wirbelt jungenhaft, selbstbewusst und umtriebig durch die Produktion. Kein Wunder, dass ihn Kempe auch bei seiner zweiten Studioeinspielungen einsetzte. Aus seiner großen Szene im ersten Aufzug, wenn er dem Walther von Stolzing Sinn und Zweck des Meistergesangs erklärt, wird ein Kabinettstück ohnegleichen Theo Adam, Jahrgang 1926, später selbst ein bedeutender Sachs, sammelte erste Wagner-Erfahrungen als Seifensieder Hermann Ortel. Der gleichaltrige Gerhard Stolze, der es als Mime zu Weltruhm brachte, sang den Augustin Moser. Und die große Dresdener Bariton-Hoffnung Werner Faulhaber, der nur ein Jahr jünger war und 1953 tödlich verunglückte, ist mit zwei Rollen, Hans Foltz und Nachtwächter, vertreten. Um ihn ist es wirklich schade. Er hätte der Oper viel geben können.

Carl Maria von Weber Der Dresdener Freischütz: So steht es auf der Box (PH 10032). Die Verortung im Titel mag ungewöhnlich sein und auch etwas anmaßend anmuten, gerechtfertigt ist sie allemal. Die Produktion von 1951, einem Weber-Jahr (125. Todestag), dürfte zumindest im Osten Deutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein Neubeginn in der Auseinandersetzung mit der berühmten Oper gewesen sein. Dresden gilt als eine der wichtigsten Weber-Städte. Dort wirkte er nachhaltig am Hoftheater, dort komponierte er zwischen 1817 und 1820 den Freischütz, der dann aber in Berlin uraufgeführt wurde. Obwohl es schon 1949 Nachkriegs-Aufführungen gab, wurde schon zwei Jahre später eine Neuproduktion auf die Bühne gebracht. Während der Fidelio zur Eröffnung des Großen Hauses 1948 live im Rundfunk übertragen und dabei aufgezeichnet wurde, wurde, gingen die Produzenten diesmal ganz neue Wege. Das Ensemble zog ins Aufnahmestudio des Mitteldeutschen Rundfunks, zu dem der Steinsaal des Dresdener Hygienemuseum umfunktioniert worden war. Die Agathe wurde von Elfride Trötschel gesungen, das Ännchen von Irma Beilke. Max war Bernd Aldenhoff, Kaspar Kurt Böhme. Am Pult der Staatskapelle stand wieder Kempe. Abermals standen die originalen Bänder zur Verfügung. Für die Hörer von heute zahlt sich das aus. Über die Jahre geistert dieser Freischütz nämlich immer wieder mal auf dem grauen Markt umher, zuletzt sogar als Konzertmitschnitt ausgewiesen, was Unsinn ist. Selbst der gewöhnlich sehr zuverlässigen Führer durch Operngesamtaufnahmen von Karsten Steiger geht von einem gekürzten Live-Mitschnitt aus dem Jahre 1950 aus. Die neue Edition setzt nicht nur die in anderen Veröffentlichungen immer gestrichenen Dialoge wieder ein, die hörspielartig angelegt sind, sie stellt auch die Fakten wieder her.

Leider hat sich der Fidelio, mit dem das Großen Hauses der Staatstheater Dresden am 22. September 1948 eröffnet wurde, nur teilweise erhalten. Das einstige Schauspielhaus sollte bis zur Einweihung der wieder aufgebauten Semperoper 1985 Spielstätte für Opernaufführungen in der im Krieg zerstörten Stadt an der Elbe sein. Die große Arie der Leonore – die Partie wurde von Christel Goltz gesungen – fehlt ebenso wie die Arie der Marzelline (Elfride Trötschel), deren Duett mit Jaquino (Erich Zimmermann), die Arie des Rocco (Gottlob Frick) und der Gefangenenchor. Ohne Dialoge passt die Musik auf eine CD. Es muss eine packende Aufführung unter Leitung von Joseph Keilberth gewesen sein. Alle Mitwirkenden – zu nennen sind noch Bernd Aldenhoff als Florestan, Josef Herrmann als Pizarro und Heinrich Pflanzl als Fernando – sind sich der Bedeutung des großen Augenblicks bewusst. Mit solcher Hingabe dürfte diese Oper selten aufgeführt worden sein. Umso beklagenswerter ist es, dass nicht alles überliefert ist. Die Entscheidung von Hänssler für den Torso finde ich dennoch richtig (PH10033). Er genügt, um das kulturelle Ereignis in seiner historischen Bedeutung angemessen darzustellen, zumal es – wie vom Label bereits mehrfach praktiziert – eine ergänzende DVD gibt mit Berichten über die Aufführung, Erinnerungen von Zeitgenossen wie der Sängerin Lisa Otto, die seinerzeit in Dresden wirkte. Auch Steffen Lieberwirth kommt zu Wort und erzählt die spannende Geschichte der Ouvertüre, die zunächst dem Archivmaterial nicht zugeordnet werden konnte, schließlich aber doch zweifelsfrei identifiziert wurde.

Elfride Trötschel. Der Name ist mehrfach gefallen. In meiner Jugend hatte ich keinen Zugang zu dieser Sängerin. Zu leise, zu viel Gestaltung, zu viel Kunst. Die expressiven Stimmen lagen mir mehr, Sänger, die zubeißen, die die Töne herausschleudern, damit um sich werfen. Alles das ist die Trötschel nicht. Sie will, dass man genau hinhört, dass man sich einlässt. Sie kann auf ihre Weise streng und fordernd sein. Und dennoch nicht humorlos, wie ihre Ausflüge ins leichte Fach belegen. Walter Felsenstein, der Gründer der Komischen Oper Berlin, spricht in seinem bewegenden Nachruf sinngemäß gar davon, dass man in ihr die kommende Operettendiva sah. Ein Kompliment der Sonderklasse, denn dieser instinktsichere Theatermann dachte in der Musik immer grenzüberschreitend. Damit erfasste er auch das besondere Talent dieser Sängerin, die ihren Einstand an seinem Haus mit der Eurydike in Offenbachs Orpheus in der Unterwelt gegeben hatte. Er muss eine genaue Vorstellung von ihren ungeahnten Möglichkeiten gehabt haben. Die Trötschel als Erfinderin der Leichtigkeit? Sie kann also immer noch überraschen – mehr als fünfzig Jahre nach ihrem frühen Tod. Wen die Götter lieben, der stirbt jung, heiß es beim griechischen Dichter Menander. Nein, dieser Spruch bietet keine Erklärung. Ihr Leben blieb unvollendet. Was hätte sie noch alles singen können? Immerhin stand die erst am Beginn einer Weltkarriere. Es hat nicht sollen sein. Wir müssen uns an das halten was ist. Und das ist immerhin sehr viel.

Elfriede Trötschel (rechts) und Lisa Otto in der Oper „Die Zaubergeige“ von Werner Egk. Das Foto aus einer Aufführung der Berliner Städtischen Oper von 1955 entnahmen wir mit Dank dem Booklet.

Ihr Erbe ist reich und es macht reich. Die Plattenaufnahmen waren immer präsent, das meiste ist inzwischen auf CD übernommen worden. Neuzugänge tauchen gelegentlich auf. In privaten Sammlungen kursieren weitere Dokumente, darunter die Berliner Meistersinger unter Karl Böhm. Diese Sängerin hatte immer ihre Gemeinde, die sich mit den Jahren auch verjüngt hat. Hänssler hat eine bisher weitestgehend unbekannt geblieben Facette dieser Künstlerin entdeckt – die Liedsängerin (PH 13050). Sage und schreibe 38 Titel sind zusammengekommen, Schumanns „Mondnacht“ gar zweifach. Die enorme Vielseitigkeit der Trötschel auf der Opernbühne und auf dem Konzertpodium findet sich auch bei der Auswahl der Lieder. Reger, Strauss, Mahler, Hindemith, Schubert, Schumann, Brahms, Wolf.  Das sind die Namen der Komponisten dieser Edition, in Wirklichkeit dürften es mehr gewesen sein. Unterschiedlicher kann sich die Quellenlage nicht darstellen, was für den Spürsinn der Macher spricht. Es wurden Rundfunkaufnahmen des RIAS von 1949 mit der berühmten, Authentizität stiftenden Erkennungsmelodie aufgetan. Eine der beiden „Mondnacht“-Einspielungen entstand gar schon 1944 mir Michael Raucheisen am Klavier. Sie fehlt in seiner berühmten Liedersammlung, die in Schallplattenkassetten vorliegt und technisch teilweise sehr unzureichend auf CD übertragen wurde. Privatmitschnitte von Hermann Lauer bilden eine große eigene Abteilung. Strauss-Lieder mit Hubert Giesen entstanden bei einer Probe in der Privatwohnung. Offenbar hat sie der Sohn der Sängerin Andreas Trötschel großzügig zur Verfügung gestellt. Nicht nur das, er steuert im Booklet auch anrührende persönliche Erinnerungen an seine Mutter bei. Krönender Abschluss und platzgreifend auf der zweiten CD ist der Mitschnitt des letzten Liederabends 1956 im Dresdner Kurhaus Bühlau, bei dem sich das Publikum neben weiteren Liedern auch Arien erklatscht. Insgesamt sind es acht Zugaben, die Elfride Trötschel selbst ansagt. So wird auch ihre Sprechstimme überliefert, die mit der Gesangstimme völlig übereinstimmt. Unter den Zugaben ist das „Lied an den Mond“ aus Rusalka, mit dem man die Trötschel am häufigsten  verbindet. Kaum sind die ersten Töne angespielt, braust im Saal Wiedererkennungsbeifall auf. Das ist es, was die Leute hören wollen. Hans Löwlein am Klavier muss noch einmal von vorn anfangen. Auch ich habe sie als Rusalka zum ersten Mal bewusst wahrgenommen auf einer alten LP, die bei Eterna in der DDR erschienen war. In dieser Arie, die zumindest in Teilen auch ein Kunstlied sein könnte, tut sich eine direkte Verbindung zu ihrem Interpretationsstil der klassischen Lieder auf. Immer bildet die Melodie, die sie bis ins letzte Detail aufspürt, das Fundament für den Ausdruck. Nie ist es umgekehrt. Der Musik gehört das Primat, der musikalischen Linie ist alles untergeordnet. Das geht natürlich nur, wenn einer Sängerin dafür die entsprechenden Mittel zur Verfügung stehen. Bei der Trötschel macht sich Technik nie selbstständig. Ihre Stimme ist wunderbar gebildet. Sie hat gute Lehrer gehabt, darunter den Bariton Paul Schöffler und die Altistin Helene Jung. Es scheint, als mache ihr Singen nicht die geringste Mühe. Der Ton ist leicht, natürlich, die Noten vollkommen verblendet. Da passt nichts dazwischen, nicht einmal die Luft zum Atmen. Sie gebietet über ein Farbenspektrum wie die französischen Impressionisten in der Malerei. Farben, die sich nicht beschreiben lassen, die man in ihrem Falle nur hören kann. Damit gewinnt sie vor allem Strauss („Ophelia-Lieder“) und Mahler („Des Knaben Wunderhorn“) ins Flirrende gehende Wirkungen ab. „Keine Sopranistin gestaltet den Wunderhorn-Text so innig, schlicht und mädchenhaft wie die Trötschel“, sagte der Dirigent Otto Klemperer, der mit ihr 1954 die 4. Sinfonie von Mahler aufgenommen hat.

Elfride Trötschel 1956 bei ihrem letzten Liederabend in Dresden, der im Kurhaus Bühlau veranstaltet wurde. Das  Foto stammt aus dem Booklet.

Auffallend stark hat sich die Trötschel der neuen Musik zugewandt, ein Markenzeichen, das sie mit den wenigsten prominenten Kolleginnen ihrer Zeit teilt. Sie hat – belegt durch Plattenaufnahmen – Honneger, Orff, Henze gesungen, in der Edition finden sich Ausschnitte aus den „Marien-Liedern“ von Hindemith. Schade, dass es nicht den kompletten Zyklus gibt. Sie wendet sich Hindemith mit der gleichen Hingabe, Schönheit und Wahrhaftigkeit zu wie Schubert oder Mahler. Sie interpretiert neue Musik aus der Tradition heraus und nicht als Bruch mit der Tradition. Die Neutöner werden dadurch vielleicht nicht revolutionärer – dafür aber gnädiger. Leider sagt das in Wort und Bild sehr aussagekräftige Booklet nichts über die kurzen Gesprächseinwürfe im Anschluss an die Hindemith-Lieder. Verglichen mit den Ansagen im Liederabend dürfte die Sängerin dabei selbst zu Wort kommen mit einem Ausruf des Staunens über ihre soeben vollbrachte Leistung. Das rührt sehr an. Und auch der anwesende Herr – ist es der Pianist und Dirigent Richard Kraus? – bemüht das Wort „wunderbar“ nicht nur einmal. Dem ist absolut nichts hinzuzufügen. Wer das Haar in der Suppe sucht, wird keines finden. Nun gut, es ließe sich diskutieren, welche Lieder ihr besser gelingen als andere. So fand ich zunächst den Einstieg in das Programm mit Regers „Flieder“ etwas zu mächtig, musste diesen Eindruck aber verwerfen, noch bevor sie zum verhauchten Schluss des Liedes gekommen ist. Bei Reger sind derlei dramatische Kontraste nicht selten. Nicht nur das Timbre, sondern die künstlerische Gesamterscheinung von Elfride Trötschel mögen im Einzelnen etwas altmodisch wirken. Aber nur, weil diese genaue Art des Singens aus der Mode gekommen ist. Rüdiger Winter

15 Jahre Profil – Edition Günter Hänssler: „Nur ein Label mit einem klaren PROFIL, mit einem eindeutigen Wiedererkennungseffekt, hat heute noch eine Chance auf dem heiß umkämpften CD-Markt – um die Liebhaber klassischer Musik heute mit einem Produkt zu überzeugen braucht man Originalität und Innovation.“  (Günter Hänssler) Im Jahre 2003 erschien die ersten Profil-CD mit der Produktionsnummer PH03001 unter dem Label Profil: Die Heidelberger Symphoniker  präsentierten die Werke für „Viola d´amore and orchestra“ von Stamitz mit dem Solisten Gunter Teuffel. Zwei weitere Produktionen folgten kurze Zeit später: Joseph Schmidt, ein Porträt zum 100. Geburtstag, eine CD, die heute noch ein Bestseller ist und Mozarts Klavierkonzerte mit Rudolf Buchbinder und den Wiener Symphonikern. Gefeierte Referenzeinspielungen zum Start eines Labels – eine spannende Geschichte nimmt seinen Lauf. Nach 15 Jahren sind alle internationalen Schallplattenpreise eingefahren und heute mehr als 800 CDs veröffentlicht. „Ein freundlicher Mensch von der Presse sagte einmal über mich, ich sei der Sternstundensammler. Natürlich freut mich, wenn das andere über mich sagen. Mit dem CD-Label PROFIL veröffentliche ich seit zehn Jahren ,magische Momente‘ der klassischen Musik, das sind beim Publikum unvergessene Konzerterlebnisse, die Jahrzehnte  später immer noch die gleiche Magie auf die Hörer ausstrahlen – auch auf Tonträger. Ich frage mich heute bei  jeder Aufnahme, die ich aufspüre, ob bei der Vielzahl der Veröffentlichungen gerade diese den  Wert hat, auf den Markt zu kommen. Ist die Substanz da? Dazu muss man genau hören können, sehr genau! Nicht nur mit den Ohren, man muss mit allen Sinnen hören und fühlen, was an der Aufnahme das Außergewöhnliche ist. Viel Zeit verbringe ich den Archiven der Rundfunkanstalten und beiße mich durch die Bestände. Das Geniale vom Guten zu unterscheiden – das ist die spannende Herausforderung und auch Passion“, sagt Günter Hänssler und blickt auf seine Editionen, die schon lange erfolgreich auf den internationalen Märkten positioniert sind u. a. die Edition Staatskapelle Dresden, Semperoper Edition oder die Günter Wand Edition; diese Editionen enthalten stets Aufnahmen, die nie vorher auf Tonträger veröffentlicht wurden, aber mit großen Namen bestückt sind: Günter Wand, Christian Thielemann, Giuseppe Sinopoli, Bernard Haitink, Sir Colin Davis, Herbert Blomstedt, Wolfgang Sawallisch u. v. m.   PROFIL  schlägt die Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart und versteht sich so auch als Bewahrer musikalischer Traditionen – „Das klingende Gedächtnis“ zum einen, zum anderen wird bei Profil die Gegenwart genauso abgebildet, etwa mit den herausragenden Konzerte des WDR-Chefdirigenten Jukka-Pekka Saraste oder seinem Vorgänger Semyon Bychkov.  Die Kunden von Profil setzen auf höchste Tonqualität, deshalb ist Günter Hänssler überzeugt, dass es für die klassische Musik Träger geben wird, auch wenn Formen wie Streaming und Download weiter zunehmen werden. Deshalb wird bei Profil über neue Modelle des Internetangebots und Musik-Downloads nachgedacht. Hänssler: „Man muss in jeder Hinsicht immer flexibel und ideenreich auf den Markt reagieren können.“ Auch eine der vielen Stärken des kleinen, aber sehr feinen innovativen Plattenlabels aus Stuttgart, unter dessen Dachmarke auch das renommierte Label hänssler CLASSIC agiert./ Quelle Hänssler Profil

Das große Foto oben zeigt Günter Hänssler, den Gründer des Labels. Foto: Hänssler / privat

„Erreicht, was zu erreichen war“

 

Es ist schon etliche Jahre her, dass ich sie in Berlin besuchte. Wäre sie mir ganz zufällig auf der Straße begegnet, ich hätte sie ganz bestimmt erkannt. Schön war sie auf ihre ganz individuelle Art noch immer, die Stimme stark und mächtig, die Vokale dunkel und deutlich geformt. Ich dachte unwillkürlich an Phädra, und ich stellte mir vor, dass ich sie gern in einer der großen Frauenrollen auf dem Sprechtheater gesehen und gehört hätte. In „Bernarda Albas Haus“ zum Beispiel. Die Rede ist von Ingeborg Zobel, die einst auch an der Berliner Staatsoper Unter den Linden gefeiert wurde – wenngleich es nicht ihr Stammhaus war: als Ortrud in Wagners Lohengrin und als Amme in der Frau ohne Schatten von Richard Strauss. Bei unserem Treffen wohnte sie noch in der in der westlichen City der Hauptstadt. Es schien, als sei die gebürtige Görlitzerin dort angekommen, obwohl die inneren Bindungen an Meißen und seine Umgebung, wo sie viele Jahre lebte und ein Haus im Grünen besaß, geblieben waren. Sie genoss die aufstrebende Großstadt, ganz auf ihre Weise und machte doch um die Opernhäuser einen Bogen. Nur zweimal saß sie noch im Zuschauerraum – bei Tristan und Isolde und Samson und Dalia. Das ist alles. „Es ist vorbei“, sagte sie entschlossen. Man glaubte es ihr, weil weder Trauer noch Wehleid mitschwangen. Sie zog mit der ihr eigenen Konsequenz und Entschlossenheit einen Strich unter dieses andere Leben, das Leben einer erfolgreichen Opernsängerin. Blickte sie gern und zufrieden zurück? Sie zögerte mit der Antwort auf die Frage. „Ich habe alles erreicht, was ich erreichen konnte. Bis auf die Kundry habe ich alle Partien gesungen, die mich interessierten und die mir wichtig waren.“ Dennoch schaue sie nicht eigentlich „liebevoll“ zurück. Das klang dann doch etwas bitter. Aber sie legte versöhnlich nach: „Ich weiß eigentlich nicht, warum!“ Blitzte hier der alte unverwüstliche Zweifel auf, der viele Künstler plagt?

Ingeborg Zobel 1975 als Isolde in Dresden. In dieser Inszenierung von Harry Kupfer erzielte der bis dahin weitgehend unbekannte Heldentenor Spass Wenkoff seinen internationalen Durchbruch. Foto: OBA

Ingeborg Zobel, geboren am 31. Juli 1928, war immer streng mit sich selbst, streng und unerbittlich in ihrem Anspruch, an jedem Abend auf der Bühne das Letzte geben zu müssen. Das hättest du besser machen können! Diesen Selbstvorwurf kannte sie zur Genüge. Dabei hatte sie eigentlich keinen Grund dafür. Ingeborg Zobel erinnerte sich, dass sie schon von Kindheit an mit Musik gelebt hat. Obwohl sie eigentlich Physikerin werden wollte, entschied sie sich schließlich für die Sängerlaufbahn, weil ihr Talent von Leuten, die sich darauf verstanden, erkannt wurde. Die Ausbildung in Dresden gehörte zu den glücklichsten Zeiten ihres Lebens, sie hat dort Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre noch Christel Goltz, Elfride Trötschel und Joseph Keilberth gehört. Und es gab in der Stadt an der Elbe den legendären Lehrer, Musikwissenschaftler und Regisseur Professor Heinz Arnold, dem sie sehr viel verdankt, weil er Sängerpersönlichkeiten für das Theater erzog, die nie mehr davon loskommen sollten. Vielleicht hat sie gerade deshalb um den Liedgesang mehr oder weniger einen Bogen gemacht – von den Vier letzten Liedern von Strauss oder den WesendonckLiedern von Wagner, die ohnehin eine große Nähe zur Oper haben, einmal abgesehen. Ingeborg Zobel hätte ohne jeden Zweifel auch Brahms, Schumann oder Wolf singen können, fühlte sich nach eigenem Bekunden aber am freiesten, „wenn sie als eine Figur auf die Bühne ging“. Sie empfand die „Erschütterung der Figuren“ und legte stets großen Wert darauf, sie nicht nur von der Musik, sondern auch vom Text her zu gestalten. Noch bevor Götz Friedrich die Sängerin gehört hatte, sagte er zu ihr: „Wenn sie so gut singen, wie sie über ihre Partie reden, dann wäre es gut.“ Sie hat diesen Satz nie vergessen. Immer aus dem Text heraus gestalten! Das hatte auch Harry Kupfer gefallen, und so nimmt es nicht Wunder, dass sie diesen Regisseur neben Heinz Arnold als „die wichtigsten Persönlichkeiten“ bezeichnete, denen sie in ihrem Künstlerleben begegnete.

In diesem Mitschnitt aus dem Fenice von 1982 ist Ingeborg Zobel als Marschallin zu hören. Auf dem Cover wird irrtümlich Theo Adam als Ochs ausgewiesen, aber es singt Werner Haseleu die Partie. Der Mitschnitt entstand bei einem Gesamtgastspiel der Dresdner Semperoper in Venedig. Er ist bei Mondo Musica erschienen (MFOH 10707).

Nach dem Debüt 1952 in Cottbus und Stationen in Schwerin und Rostock war Ingeborg Zobel Mitte der sechziger Jahre ans Nationaltheater Weimar gekommen, wo die Zusammenarbeit mit Kupfer ihren ersten Höhepunkt erreichte. Damals sah ich sie zum ersten Mal. Als Leonore in Fidelio. Alles war plötzlich anders. Die Figuren auf dem Theater wurden für mich lebendig und damit erst begreiflich. Ich werde nie vergessen, wie sie sich im Schlussbild den männlichen Pferdeschwanz aufknüpfte und die langen Haare über ihre Schulter fielen – ein Symbol der Selbstbefreiung aus einer schier aussichtslosen Zwangslage. Und ich werde den auch Jubel dieser hellen Stimme nicht vergessen, die sich strahlend über das ganze Ensemble erhob. Überhaupt sind es immer wieder einzelne Momente und Gesten – und eben nicht nur die Stimme -, durch die mir die Sängerin Ingeborg Zobel vor Augen steht, als sei es erst gestern gewesen. Momente, die scheinbar nebensächlich sind, wie im ersten Akt des Rosenkavalier, als die Marschallin dem Baron Ochs ein Medaillon mit dem Bildnis von Octavian unter die Nase hält und fragt, ob dieser „den jungen Herren da als Bräutigamsaufführer haben“ wolle. Das also, so durchfuhr es mich unten im Parkett, ist der Abschied, das ist die Wende im ganzen Stück, das mir durch sie so wichtig wurde. Sie hatte dieses unnachahmliche Gespür fürs Detail. Sie war nie unverbindlich, routiniert und allgemein. Weimar war nicht nur eine „gute Zeit“ für Ingeborg Zobel, es war auch eine gute Zeit für uns Zuschauer, die extra angereist kamen, weil sie angekündigt war und weil jede dieser Kupfer-Inszenierungen eine Offenbarung war für uns nicht eben verwöhnte Operngänger in der DDR-Provinz. Im Rückblick sagte sie: „Kupfer war deshalb ideal für uns Sänger, weil er intensiv mit uns arbeitete und mit uns Theater spielte. Er hat uns viel Raum und Luft gelassen und davon wohl auch selbst profitiert.“

„Von Adam bis Zobel“: In diesem Buch stellt Boris Gruhl auf sehr persönliche Weise Sänger vor, die tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben – darunter auch Ingeborg Zobel. Es ist im Verlag der Kunstagentur Dresden erschienen (ISBN 978-3-00-044071-7).

Auf Weimar folgte Dresden, wo sich inzwischen auch Kupfer etabliert hatte und alsbald mit der ersten Neuinszenierung von Tristan und Isolde, die diesen Namen auch verdiente, einen Sturm der Beigeisterung lostrat. Wieder sollte es die Zobel sein, deren Namen mit dieser trunkenen, in üppigen Jugendstil getauchten Inszenierung, die 1975 in der DDR Operngeschichte schrieb, untrennbar verbunden ist. Ihr zur Seite als Tristan ein bis dahin nahezu unbekannter bulgarischer Tenor, der zuvor in Döbeln, Magdeburg und Halle ein Schattendasein geführt hatte, plötzlich aber in aller Munde war und alsbald auch in Bayreuth und New York auftreten sollte: Spass Wenkoff. Der aufstrebende Harry Kupfer war dem allmächtigen Übervater Walter Felsenstein zuvorgekommen. Der hatte Ingeborg Zobel nämlich in Dresden als Brünnhilde in der Walküre gehört und wollte mit ihr an der Komischen Oper selbst Tristan und Isolde inszenieren. Doch es wurde bekanntermaßen nichts daraus, weil Felsenstein „keinen Tristan für mich hatte“. Was es mit diesem „für mich“ – also für die Zobel – auf sich hatte, bleibt ungeklärt. Nach den Mutmaßungen der Sängerin könnte es „Koketterie oder Ausflucht“ gewesen sein. Oder aber Felsenstein hat den Nagel auf den Kopf getroffen und verstand doch mehr von Stimmen, als gemeinhin vermutet. Ingeborg Zobel bediente nicht die traditionelle Vorstellung, die über hochdramatische Soprane bis heute im Umlauf sind – nicht immer zu deren Vorteil. Sie kam aus der jugendlich-dramatischen Region und hatte diese niemals wirklich verlassen. Ihr standen zwar extreme Höhe und stimmliche Kraft zu Gebote, aber die Gestaltung von Partien wie eben die Isolde war immer stark dem Lyrischen verpflichtet. Sie opferte einer extremen Phrase niemals ein Detail der inhaltlichen Aussage. Sie war niemals nur laut. Ihr Erfolg und ihre Wirkung beruhten auf Gestaltung und nicht auf hohen Tönen, mit denen sich Hörer leicht und gern zufrieden geben. Wer also – um auf Felsenstein zurückzukommen – hätte der ideale Tristan für diese Isolde sein können? Es gab ihn einfach nicht. Nicht in der DDR. Auch Wenkoff war es letztlich nicht. Wolfgang Windgassen, der Lyriker unter den Heldentenören, der bis zum Schluss auch immer den Tamino sang, vielleicht. Aber der stand nicht zu Debatte. Die Überlegung ist rein rhetorisch.

Eines der wenigen offiziellen Tondokumente mit Ingeborg Zobel ist ein Querschnitt durch die Oper „Enoch Arden“ von Ottmar Gerster. Sie singt die Annemarie. Die Gesamtaufnahme wird im Deutschen Rundfunkarchiv aufbewahrt. Die Schallplatte, die immer noch antiquarisch zu finden ist, erschien beim DDR-Label Nova.

Ingeborg Zobel war – auch den Jahren nach – auf dem Höhepunkt der Karriere, als sie sich Isolde, Brünnhilde oder Elektra zuwandte. Sie hatte gut geplant und dadurch gewonnen. Ob Figaro-Grafin, Meistersinger-Eva, Agathe, Mimi, Jolante, Jenufa oder Amelia – im stilistischen Sinne fanden sich all diese unterschiedlichen Frauen aus früheren Jahren ihrer Karriere auch in den späteren sogenannten schweren Partien wieder, die aus ihrem Munde plötzlich gar nicht so schwer klangen. Ingeborg Zobel, eine lyrische Hochdramatische. Es ist ein Jammer, dass nur wenige Tondokumente überliefert sind. Im DDR-Rundfunk entstand 1965 eine Gesamtaufnahme von Ottmar Gersters Oper Enoch Arden unter Kurt Masur, von der es mal auf Schallplatte einen Querschnitt gab, der in jede Sammlung gehört. Im Rundfunkarchiv lagern auch die Senta-Ballade, der Elektra-Monolog und das Liebesduett aus Tristan mit dem sehr lyrischen (!) Dieter Schwartner, der vor allem in Dessau, Dresden und Leipzig in Erscheinung trat – auch als Tamino. Von einem Gastspiel 1982 im Teatro La Venice – und das ist ein Segen – hat sich ein Rosenkavalier erhalten, in dem sie die Marschallin singt. Der ist unter dem Label MONDO MUSICA auf CD erschienen und noch immer zu haben. Es ist wie so oft: Der Prophet gilt wenig im eigenen Land (Foto oben: Ingeborg Zobel als Isolde/ Foto Isoldes Liebestod/ Zobel). Rüdiger Winter