Lindpaintners „Vespro siciliano“

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Noch eine Sizilianische Vesper? Nicht von Verdi? Aber Ja!. Nämlich Il vespro siciliano von 1843! Von dieser großen und bedeutenden Oper  Peter Joseph Lindpaintners – die in Bad Wildbad 2015 in der italienischen Fassung gespielt wurde – konnte man erstmals 2011 zwei beeindruckende Stücke in einem Konzert in Wildbad hören, wo die Oper zu Teilen komponiert wurde. Nun präsentiert Naxos den bei „Rossini in Wildbad“  aufgenommenend und heute fast gänzlich unbekannten Komponisten, der das Stuttgarter Hoftheater auf hohem Niveau leitete, mit einem vom Vormärz befeuerten Revolutionsstoff, lange vor Verdi. Ein Ereignis, dirigiert von Federico Longo! In dieser groß besetzten Oper singen Silvia Dalla Benetta, Ana Victoria Pitts, Danilo Formaggia und Cesar Arrieta, es spielen und singen  die Camerata Bach Choir Poznan und die Virtuosi Brunensis unter Federico Longo, Naxos 4 CD 8660440-43).

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Lindpaintner: „Die sizialinische Vesper“ – Theaterzettel der Uraufführung in Stuttgart 1843/Tosta

Erstmal die Rezension von Matthias Käther: Fast jeder berühmte Opern-Stoff ist mehr als einmal vertont worden, und inzwischen machen sich eine Menge Festivals und Opernhäuser den Spaß, unbekannte Opern mit bekanntem Inhalt aufzuführen. Nun liegt ein Mitschnitt vor von einer „Sizilianischen Vesper“, und zwar nicht von Verdi, sondern von Peter Joseph von Lindpaintner. (…) Lindpaintner war – zumindest in dieser Oper – kein Mann der Reform. Die Oper folgt den gängigen Belcanto-Mustern. Anders als in der kürzlich erschienenen „Catharina Cornaro“ seines Landsmannes Franz Lachner blitzt kaum so etwas wie ein Personalstil auf.

Nun muss das bei einer gut gebauten – und dieses Werk ist bis ins kleinste Detail gut gebaut! – Oper nicht immer ausschlaggebend für den Erfolg sein. Man kann, wie wir von zahlreichen zweitklassigen Opernpräsentationen auf diversen Festivals wissen, auch an solchen Spektakeln durchaus seinen Spaß haben. Doch hier ist diesmal viel falsch gemacht worden.  Dabei hatte man mit Volker Tostas kritischer Edition eine Steilvorlage für einen großen Abend beim Rossini-Festival in Bad Wildbad, das in den letzten Jahren immer wieder mit originellen bis genialen Ausgrabungen für Furore sorgte.

Doch diesmal war es ein Rohrkrepierer. Zunächst wurde mit der Übersetzung ins Italienische dieser deutschen Oper noch der letzte Anschein einer nationalen Anmutung geraubt, die Akustik der Trinkhalle wurde dem monströsen Werk nicht gerecht, und der Camerata Bach Choir klang eindeutig zu dünn. Auch die Sänger bleiben hinter den Anforderungen zurück. Sicher ist Danilo Formaggia ein akzeptabler Tenor – in kleinen Werken. In Buffe wäre er entzückend. Hier geht er als Fondi schon im Auftrittslied unter. Eine Spur souveräner und nobler, aber eigentlich auch zu klein besetzt: Mtija Meic als Carlo d’Anjou. Einzig Silvia Dalla Benetta als Eleonora und Ana Victoria Pitts als Page Albino waren dem gigantischen Werk stimmlich gewachsen. Für mich ein Flop – und doch muß man den Mut Wildbads bewundern, sich immer wieder solcher Werke anzunehmen. Vielleicht klappt es beim nächsten wieder besser. Matthias Käther

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 Zum Komponisten und Werk: Der 14. Februar 1844 ist ein großer Tag im Leben des 1791 in Koblenz geborenen, königlich württembergischen Kapellmeisters Peter Joseph Lindpaintner. Genau 25 Jahre nach seinem Dienstantritt im Jahr 1819 wird Lindpaintner mit dem „Ritterkreuz der Württembergischen Krone“ ausgezeichnet, mit dessen Verleihung die Erhebung in den persönlichen Adelsstand verbunden ist. Damit würdigt König Wilhelm I. die Verdienste Lindpaintners um die Stuttgarter Hofoper, die dieser wieder auf das künstlerische Niveau der legendären Zeit Jomellis (1753-1769) an der Hofbühne des Herzogs Karl von Württemberg geführt hat.

Der Komponist Peter Joseph Lindpaintner/Wiki

Der Komponist Peter Joseph Lindpaintner/Wiki

Insbesondere das Orchester entwickelt er zu einem der besten Klangkörper Deutschlands. Felix Mendelssohn schreibt: „Der Lindpaintner ist glaub‘ ich jetzt der beste Orchesterdirigent in Deutschland, es ist als wenn er mit seinem Taktstöckchen die ganze Musik spielte“, und er lobt weiterhin das „vortreffliche Orchester, das so vollkommen schön und genau zusammengeht, wie man es nur erdenken kann.“ Lindpaintner kam als erst 28-jähriger Mann aus München nach Stuttgart, und mit seinem Amtsantritt setzte das Aufblühen der Oper nach einer langen Zeit des Niedergangs ein. Er verdankt dies in erster Linie der strengen Disziplin, die er bei Orchester und Sängern einführt. Aber er sieht sich nicht in erster Linie als Dirigent und Organisator, als den man ihn nach vielen Jahren häufig wechselnder Direktionen angeworben hat, sondern als Komponist, und seine Zeitgenossen sehen das auch so. Der Stuttgarter Hofkapellmeister wird von maßgeblichen zeitgenössischen Musikern (Spohr, Schumann) und Theoretikern (Marx) in der Hochzeit seines Wirkens als Hoffnungsträger unter den deutschen Opernkomponisten geachtet; Mendelssohn müht sich sogar persönlich um eine Aufführung seiner Musik in den Gewandhauskonzerten, und in den populären Gattungen Instrumentalkonzert und Ouvertüre gilt er unbestritten als Koryphäe.

Lindpaintner: Herzog Carl Eugen von Württemberg (1737–1793)

Lindpaintner: Herzog Carl Eugen von Württemberg (1737–1793)

Sein Verhältnis zu Stuttgart bleibt über die Dauer seines 38-jährigen Wirkens jedoch stets ambivalent. Er ist sich bewusst, dass das lutherisch geprägte und in künstlerischer Sicht provinzielle Stuttgart einen schlechten Ausgangspunkt für eine Komponistenkarriere darstellt, vor allem wenn es um die Oper geht. Seinem Freund Bärmann in München gesteht er, dass eine erfolgversprechende Karriere als Opernkomponist eigentlich nur von Berlin, Dresden, München oder Wien ausgehen könne. König Wilhelms nüchterne Sinnesart, seine mäßigen Leidenschaften, seine Abneigung gegen jeglichen Prunk und seine ganz auf das Pragmatische gerichtete Religiosität; all diese Eigenschaften wirken wie ein Spiegel der geistigen Atmosphäre, die das alltägliche Leben in der Residenzstadt prägt. Ein Enthusiasmus für die Kunst ist nicht auszumachen; das Publikum sitzt für gewöhnlich auf seinen Händen. Doch Lindpaintners Amt in Stuttgart ist gut honoriert, und seine Stellung ist viele Jahre lang dank seiner ausgezeichneten Beziehung zum König unangefochten. Tatsächlich hat Lindpaintner mehrfach die Gelegenheit, nach Berlin, Dresden, München oder Wien zu wechseln. Er ist ein umworbener Musikdirektor und unterhält gute Beziehungen zu den in Frage kommenden Intendanzen. Mehrfach steht ein Wechsel kurz vor dem vertraglichen Abschluss, aber stets setzt sich sein Hang zur Bequemlichkeit und Sesshaftigkeit durch. Stuttgart wird für ihn zum goldenen Käfig.

Trotz der hohen Belastungen durch den Dienst am Hoftheater arbeitet er mit Feuereifer an seiner Komponistenkarriere, vor allem auf dem Gebiet der Oper. So kommen bis zum Ende seines Lebens (1856) einundzwanzig Opern verschiedenster Gattungen zustande, ein ganzes Kompendium der zu seinen Lebzeiten im Trend liegenden Opernformen, von der Opera seria (Demophoon 1810, später unter dem Einfluss der Erfolge Rossinis umgearbeitet in Timantes 1819) über die deutsche romantische Oper (Sulmona 1823, Der Bergkönig 1825, Der Vampyr 1828), die deutsche Spieloper (Die Macht des Liedes 1836, Libella 1855), die große historische Oper (Die Genueserin 1838, Die sizilianische Vesper 1843, Giulia oder die Korsen 1853) bis zur repräsentativen Festoper zur Einweihung des umgebauten Hoftheaters (Lichtenstein 1846), die nichts weniger darstellt als den Versuch, auf der Basis eines Romans von Wilhelm Hauff eine württembergische Nationaloper zu schaffen.

Lindpaintner;: „Il vespro sicialino“ (Naxos 4 CD 8660440-43)

Die Vielseitigkeit der Opernproduktionen Lindpaintners ist unter anderem auch Ausdruck für das Dilemma, in dem die deutschen Komponisten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stehen: Welchen Weg zu einem spezifisch deutschen Opernwerk sollen sie einschlagen? Das Publikum, an dessen Vorlieben das Repertoire weitestgehend ausgerichtet ist, bevorzugt hauptsächlich Opern französischen oder italienischen Ursprungs, die zu Dreivierteln die Spielpläne beherrschen. Die Kritik und verbreitete theoretische Schriften verlangen dagegen einen eigenen deutschen Weg, der letztlich immer wieder in Werke mündet, die die sinnlichen Bedürfnisse der Zuhörerschaft ignorieren. Auch Lindpaintner muss, etwa mit seiner Sulmona, die Erfahrung machen, dass allzu großer Anspruch einem Erfolg eher im Wege steht. Er geht danach andere Wege; mit seinen historischen Opern versucht er, im Gefolge Aubers, Rossinis und Meyerbeers „den großen Haufen“ anzusprechen, wie Spohr es eher verächtlich meint. Lindpaintner schreibt: „Ich unternahm es, meine Hand an ein Werk der größeren Gattung zu legen, und wollte es versuchen, des deutschen Volkes Herz und Ohr durch populär-fassliche Melodien zu gewinnen.“ Das Werk, über das er hier schreibt, ist seine Große heroische Oper in 4 Akten Die sizilianische Vesper, die den erfolgreichen Aufstand der Sizilianer gegen die Herrschaft der Franzosen unter Karl von Anjou im Jahr 1282 zum Thema hat.

Lindpaintner: Bühnenbild zur "Sizianischen Vesper" in der Stuttgarter Aufführung/Tosta

Lindpaintner: Bühnenbild zur „Sizianischen Vesper“ in der Stuttgarter Aufführung/Tosta

Das Werk: Tatsächlich liegt der Typus der in Paris zur Blüte gekommenen Großen historischen Oper bei den führenden deutschen Opernkomponisten am Ausgang der 1830er Jahre voll im Trend, und auch Lindpaintner ist damit bestens vertraut, da er alle maßgeblichen Opern dieses Typs schon in Stuttgart auf die Bühne gebracht hat. Die relativ liberale Theaterzensur des Verfassungsstaates Württemberg  ermöglicht es, die Werke entsprechend dem Original unverändert auf die Bühne zu bringen, auch wenn darin die Revolution zum Thema gemacht wird. Insbesondere die Werke Meyerbeers, noch dazu eines Landsmannes, werden in den 1840er Jahren für die führenden deutschen Opernkomponisten zum Vorbild, von dem man sich Impulse für die Schaffung einer modernen deutschen Oper erhofft. Und so schreiben Marschner, Lachner, Lindpaintner und Wagner alle ihre Versionen der Großen historischen Oper. Von diesen dürfte Lindpaintners Oper dem Meyerbeer’schen Modell am entschiedensten gefolgt sein, was in einer grundlegenden, stilkritischen Analyse noch zu belegen wäre. Spezifisch deutsche Elemente sind in diesem Werk in seiner nach dem damaligen Verständnis avancierten Harmonik, der durch Durchführungselemente stark angereicherten Orchestersprache und den immer wieder auftauchenden, volksliednahen Strophenliedern auszumachen, die beim deutschen Publikum sehr beliebt sind. Trotzdem bleibt der Eindruck einer im Gesangsmelos eher französisch-italienisch grundierten Oper bestehen. Neben Meyerbeer muss auch Aubers Muette de Portici als Vorbild genannt werden, mit der die Oper die in Italien angesiedelte Revolutionsthematik gemein hat, was zu ähnlichen musikalischen Formulierungen führt, ohne jedoch Aubers stilistische Anleihen bei der Opéra comique zu übernehmen, wie er überhaupt genau darauf achtet, keine bloßen Kopien seiner Vorbilder abzuliefern. Somit gelangt Lindpaintner trotz einer eklektischen Grundhaltung zu einem durch individuelle Abänderungen der verwendeten Modelle überzeugenden Ergebnis, bei dem er die von der jeweiligen dramatischen Situation erforderlichen modernen Stilmittel seiner Zeit einsetzt.

Lindpaintner: Der Librettist Heribert Rau/Freie Religiöse Gesellschaft Offenbach

Lindpaintner: Der Librettist Heribert Rau/Freie Religiöse Gesellschaft Offenbach

Das Libretto stammt von dem opernunerfahrenen Literaten Heribert Rau und muss trotz einiger Mängel zu den besseren deutschen Operntexten seiner Zeit gerechnet werden. Mit seiner direkten Sprache, die die lyrische Blumigkeit vieler deutscher Libretti vermeidet, stellt es sich den Anforderungen einer bühnenwirksam zu komponierenden Vorlage. Zudem gelingen Rau in den Auftritten Karls fesselnde Charakterportraits eines Machtmenschen, der bei Eleonores Heraufbeschwörung des Geistes des von ihm hingerichteten Konradin von Hohenstaufen sogar Macbeth-hafte Züge zeigt. Lindpaintner erhält Raus Buch Anfang 1842 und beginnt sofort mit Skizzen zur Oper. Die eigentliche Komposition schreibt er im Juli und August 1842 während der Theaterferien in Langenargen am Bodensee, wo er regelmäßig seinen Sommer verbringt. Daheim in Stuttgart instrumentiert er die Oper im Winter 1842/43 und schließt die Partitur am 29. Januar 1843 ab. Die Ouvertüre schreibt er erst wenige Wochen vor der Premiere; sie trägt das Datum vom 24. April 1843. Die Uraufführung findet am 10. Mai 1843 statt. Die Rezension der AMZ von der Premiere belegt den enthusiastischen Erfolg der Oper: „Stuttgart, den 10. Mai. Gestern wurde hier im königl. Hoftheater zum ersten Male Lindpaintners neue Oper: Die sizilianische Vesper gegeben. Wenn nicht zu leugnen ist, dass Lindpaintner früher stets eine ziemlich mächtige Opposition fand und dass das Stuttgarter Publikum im Allgemeinen ein sehr kühles ist, das sich nur selten aus seiner teilnahmslosen Ruhe heraus begibt, so bringt es dem verdienstvollen Autor doppelt Ehre, wenn seine neue Oper mit einem Beifall, mit einer Wärme aufgenommen wurde, die bisher hier unerhört war und sich während der ganzen Aufführung erhielt und steigerte, so zwar, dass, was hier überhaupt noch nicht vorgekommen, der Komponist am Schlusse des Werks stürmisch hervorgerufen ward.“ Allein im Premierenjahr kommt es in Stuttgart zu vier weiteren Aufführungen, einer für die damalige Spielplangestaltung vergleichsweise hohen Zahl. Andere Städte folgen: München, Hamburg, Kassel, Braunschweig, Coburg, Breslau und Dresden. Das Werk wird der größte Erfolg Lindpaintners nach seinem Vampyr (1828). Doch nachdem die Oper die ersten Schritte einer erfolgversprechenden Karriere gemacht hat, wird es aus bisher unerforschten Gründen still um sie.

De gauche à droite : Lindpaintner, Spohr, Molique, Berlioz et Ella, partie d'une intéressante lithographie (où figure également Vieuxtemps) exécutée en 1853 d’après un dessin de Charles Baugniet (1814-1886), intitulée L’Analyse. Souvenir de la Musical Union (Neuvième Saison) et reproduite sur une page du riche site Hector Berlioz/mvnm.org

Im Kreise der Kollegen/De gauche à droite : Lindpaintner, Spohr, Molique, Berlioz et Ella, partie d’une intéressante lithographie (où figure également Vieuxtemps) exécutée en 1853 d’après un dessin de Charles Baugniet (1814-1886), intitulée L’Analyse. Souvenir de la Musical Union (Neuvième Saison) et reproduite sur une page du riche site Hector Berlioz/mvnm.org

Die Zeit des Vormärz läuft auf die Revolution 1848/49 zu; da sind Stücke mit einer Revolutionsthematik bei den Behörden nicht opportun. In Stuttgart kommt es zu insgesamt acht Aufführungen bis zum Jahr 1845, eine gute Zahl für ein neues Werk in dieser Zeit. Danach tritt im Theaterbetrieb aufgrund des Neubaus des Hoftheaters eine Pause ein, und das wiedereröffnete Theater wird 1846 wiederum mit einer neuen Oper Lindpaintners – Lichtenstein – eingeweiht. Darüber gerät Die sizilianische Vesper in Vergessenheit. Die Jahre danach sehen Lindpaintners Karriere mit Beginn der Intendanz von Ferdinand von Gall bereits im Abstieg begriffen. Es kommt zu Differenzen mit dem neuen Intendanten. Seine Kompetenzen werden beschnitten. Ein Absprung aus Stuttgart gelingt dem gebrochenen Lindpaintner nun nicht mehr; sein Pensionierungsgesuch wird abgelehnt. Lediglich sein weiter gutes Verhältnis zum König und seine Autorität als erfahrener Orchesterleiter bewahren ihn vor einem tieferen Abstieg. Lindpaintner stirbt am 21. August 1856 in Nonnenhorn am Bodensee, wo er auch begraben liegt. In Stuttgart kommt es noch zu einer Gedenkfeier, bei der sein Vampyr 1856 zum letzten Mal erklingt. Danach wird hier keine seiner Opern mehr gespielt.

Lindpaintner: Die Sopranistin Haus als Eleonore/Tosta

Lindpaintner: Die Sopranistin Haus als Eleonore/Tosta

Wildbad: Lindpaintners Arbeitseifer bleibt nicht ohne Folgen für seine Gesundheit. Im Oktober 1833 erkrankt er schwer, vermutlich an einem rheumatischen Fieber im Nackenbereich. Noch Jahre später leidet er des Öfteren an einem „Rheumatism im Genike, der so heftig ist, daß er mich manchmal zum Schreyen nötigt.“ Wie später sein berühmter, italienischer Komponistenkollege reist Lindpaintner nach Wildbad, wo er sich Heilung und Entspannung erhofft, so auch kurz nach den aufreibenden Wochen der Vorbereitungen zur Premiere der Sizilianischen Vesper. Belegt ist dies durch handschriftliche Eintragungen Lindpaintners im autographen Klavierauszug, den er im Mai und Juni 1843 in Wildbad fertigstellt und somit der Oper die Gestalt gibt, in der sie im weiteren in Stuttgart und anderswo aufgeführt wird. Aber nicht nur diese lokalgeschichtliche Kuriosität prädestiniert gerade dieses Werk zu einer Aufführung 2015 beim Belcanto-Festival Rossini in Wildbad. Wir können daran erleben, wie viel Belcanto in der deutschen Oper der vorwagnerschen Epoche steckt, die in ihrer Vielfalt im heutigen musikalischen Bewusstsein völlig unbekannt und durch Fidelio und Der Freischütz absolut nicht adäquat in den Spielplänen repräsentiert ist. Lindpaintner ist ein großer Rossinikenner und ist entscheidend an der Etablierung der Opern Rossinis im Repertoire des Stuttgarter Hoftheaters beteiligt. Wie ein roter Faden zieht sich durch Lindpaintners Opern eine Neigung zur Italianità. Über die Komposition seines Bergkönigs schreibt er, er habe bei der Niederschrift stets „Zeit, Mode, Deutsch u. Italienisch im Auge behalten“. Das italienische Melos seiner Sizilianischen Vesper ist also nicht nur als durch den Stoff bedingtes Lokalkolorit zu verstehen, sondern ist offenbar ein Grundzug seines persönlichen Stils. Nicht zufällig erscheinen die Klavierauszüge einiger seiner Opern mit deutschem und italienischem Text.

Lindpaintner: Der Bass Rauscher als Fondi/Tosta

Lindpaintner: Der Bass Rauscher als Fondi/Tosta

Rossini in Wildbad hat sich dazu entschieden, Lindpaintners Sizilianische Vesper als Il Vespro Siciliano in der italienischen Übersetzung Wilhelm Häsers, eines literarisch ambitionierten Sängers am Stuttgarter Hoftheater und Logenbruders Lindpaintners, zu spielen. Hiermit wird nicht nur der spezifischen künstlerischen Ausrichtung des Festivals Rechnung getragen; das italienische Sprachmelos unterstreicht auch die ohnehin in der Partitur angelegte Italianità von Lindpaintners Komposition, die in dieser Form mit einiger Wahrscheinlichkeit zum ersten Mal gespielt wird. Mit der Produktion von Lindpaintners Oper bereichert Rossini in Wildbad seine sehr verdienstvollen Entdeckungsreisen in das zeitgenössische und stilistische Umfeld Rossinis um eine lokale Facette, die die Überlappungen italienischer, französischer und deutscher Musikgeschichte in ein neues, bislang unbekanntes Licht taucht. Neben den gebotenen lokal- und musikgeschichtlichen Erkenntnissen ist das Werk aber auch ein wahrer Leckerbissen für den Opernfreund. Es bietet viel Eingängiges, Spannendes, melodisch Süffiges und in der hier gebotenen Zusammenstellung sogar Neues. Lindpaintner hält die Sizilianische Vesper für einen Höhepunkt seines Opernschaffens. Lassen wir uns also mit seiner Beurteilung des Werkes schließen, mit der er die Oper dem bayerischen König Ludwig I. empfiehlt: „Mein Bestreben aber, die Erfahrungen meines Kunstwirkens wie in einem Brennpunkt zusammenzufassen, war einzig darauf hingezeichnet nach meiner besten Ueberzeugung dem Vocale wie dem Instrumentale nur das Würdige, Wirksame, Eigenthümliche zu bieten und das Solide mit dem Modernen zu verbinden.“ (Foto oben: Michele Rapisardi: „I vespri siciliani“/ Wiki) © Volker Tosta, Stuttgart im Oktober 2014

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

  1. Peter

    Auf der Website eines grossen und bekannten deutschen CD-/DVD- und Buchvertriebs kann man sich Ausschnitte der gesamten Oper anhören. Und wenn diese auch nur kurz sind, gewinnt man doch einen gewissen Eindruck des Werkes. Und der deckt sich leider keinesfalls mit der hier vorliegenden Rezension. Das Werk scheint mir nicht ohne Grund von der Bühne verschwunden zu sein. Lindpaintner war wohl ein guter Dirigent und Orchesterdompteur, aber das heisst noch lange nicht, dass er deswegen ein guter Komponist gewesen sein muss. Der Rezensent gibt denn auch den Grund für das Scheitern der meisten deutschen Komponisten der nämlichen Epoche selbst schon an: sie berücksichtigten nicht die Vorlieben des Publikums, was halt längerfristig doch sehr wichtig ist. Denn wenn das gemeine Urteil freilich nicht immer das beste ist, so hat es über die Jahrhunderte doch eher selten gefehlt. Meisterwerke wurden und werden stets – auch von einer breiten Masse – erkannt. Und hier haben wir es definitiv nicht mit einem Meisterwerk zu tun, sondern mit einem bestenfalls intellektuellen Substrat musikalisch beliebter Strömungen der damaligen Zeit. In anderen Worten: Rossini, Meyerbeer, etc. Angereichert durch den damals meist schwerfälligen kdeutschen Stil kann da bei einer nicht ingeniösen Begabung freilich nicht viel Gescheites rauskommen. Und so haben wir es hier wohl mit einem der zahlreichen – zu Recht vergesseneren – Kuriosa zu tun, die löblicherweise (?) wieder ans Tageslicht gezerrt wurden, um die nicht unberechtigte Sehnsucht vieler Opernfreunde nach dem nicht Alltäglichen und sattsam Gehörten zu befriedigen. In diesem Sinne muss man Wildbad und Naxos wirklich loben. Ein gern gehörtes Meisterwerk wird sich daraus dennoch nicht ergeben…

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